Der Schlaf der Gerechten - Wolfgang Hilbig - E-Book

Der Schlaf der Gerechten E-Book

Wolfgang Hilbig

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Beschreibung

Ein Mann geht zum Briefkasten und gerät in seiner Erinnerung auf den täglichen Weg zur Arbeit im unheimlichen Heizkraftwerk einer Fabrik. Ein anderer entdeckt eine abgelegene Insel in einem See, auf der die Natur ein wucherndes, magisches Regiment entfaltet, und betritt noch einmal die Wildnis einer Nachkriegskindheit. Ein dritter kehrt in seine Heimatstadt zurück und fühlt sich verfolgt – nicht nur der Stadt, auch sich selbst entkommt er nicht. Wolfgang Hilbigs Figuren folgen einer verwischten Spur ins Unbewusste und Vergangene, die sich durch dunkle Erinnerungslandschaften zieht. Den Leser führt diese suggestive und musikalische Prosa in die unausgeloteten Tiefen der fünfziger und sechziger Jahre.

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Wolfgang Hilbig

Der Schlaf der Gerechten

Erzählungen

FISCHER E-Books

Inhalt

IOrt der Gewitter1.2.Die Flaschen im KellerKommenDer Schlaf der GerechtenIIDer NachmittagDie ErinnerungenDer dunkle MannAnmerkung des Verfassers

I

Ort der Gewitter

1.

Wir hielten nur einen kleinen Teil der Straße besetzt: unsere Straße, wie wir sie nannten, erstreckte sich, zur Stadt hin, bis zu jener Grenze, an der das Straßenpflaster begann – das holprige unebene Pflaster aus quadratischen Granitsteinen – bis zum Bahnübergang in der anderen Richtung, wo die Stadt, ihr bewohnter Teil zumindest, eigentlich schon zu Ende war. Das behäbige blecherne Läuten, das ertönte, wenn die weiß-roten Bahnschranken heruntergekurbelt wurden – ein kleiner Hammer erzeugte diesen Mißton, wenn er gegen die Innenwand einer flachen, schüsselartigen Gußform pendelte –, war gewissermaßen das Totengeläut der Stadt, denn hinter dem Bahnübergang lagen nur noch, rechtsseitig jedenfalls, unübersichtliche Trümmerfelder, aus denen schwarze Gebälke und Ruinenwände ragten: es waren die Reste ehemaliger Munitionsfabriken, in denen während des Krieges die Gefangenen eines Konzentrationslagers gearbeitet hatten.

Unser Teil der Straße war, abgesehen von den schmalen Bürgersteigen vor den beiden Reihen der Mietshäuser, noch nicht gepflastert. Zwischen den Bürgersteigen gab es nur eine geradlinige Sandbahn, dereinst vielleicht hell, seit unbekannten Zeiten aber schwarzgrau verfärbt, wie zum Beweis, daß ein Gemisch vieler Farben schließlich Dunkelheit hervorbringt. Kohlenstaub und Asche hatten sie bis ins Mark verfinstert, und dann war noch die rötliche Masse zermahlener Ziegel hinzugekommen, der Schutt der ausgebombten Häuser, mit dem man die Unebenheiten ausgefüllt hatte. Nach jedem Regenguß blickte man in ein Bett von düsterem zähflüssigem Schlamm; in der Trockenzeit der Sommer war die Straße ein unerschöpfliches Reservoir von Staub, der bis in die Treppenhäuser vordrang und der in der Mittagssonne zu glimmen schien; die Haut barfüßiger Jungen überzog er bis zu den Oberschenkeln hinauf mit einem Flor schwärzlicher Unantastbarkeit.

Wir, die Kleinen, langweilten uns und saßen an den langen Tagen des Sommers auf der Kante des Bürgersteigs, die Füße im Staub des Rinnsteins, und pafften Zigaretten; ihr Rauch war im Sonnenglast zwischen den Häuserreihen kaum wahrzunehmen. Und wir saßen auch auf den Eingangsstufen der Haustüren, die wegen des Staubs immer geschlossen waren: aus gewisser Entfernung stellten wir eine sichtlich verwahrloste Zusammenrottung dar, welche die Belagerung des Gehwegs nicht ohne Widerstand aufzugeben bereit schien. Man wechselte die Straßenseite, wenn man uns sah, oder man bog schon vorher in eine der Seitenstraßen ab; man begab sich unter die Schirmherrschaft großer Bäume, Kastanien oder Linden, von denen unsere Straße frei war, weshalb es da so gut wie nie einen Schatten gab.

Es mangelte zu dieser Zeit an Männern in der Stadt, die meisten der Kinder waren vaterlos, viele von ihnen blieben es für immer; die Zeit, die nicht vergehen wollte, lag auf ihnen wie ein Gewicht, das ihrem Wachstum hinderlich war. Was allein von der Langeweile befreien konnte, das war jenes Wachsen, das Großwerden, das alle anderen schon seit unberechenbarer Zeit erreicht hatten und worüber sie kein Wort mehr verloren. Und in den Büchern, die wir lasen, in den Geschichten, die wir erfanden und uns erzählten, gab es in der Regel nur Erwachsene, und zum allermeisten Teil kamen darin nur Männer vor. – Unweigerlich erkrankte man an dem bloßen Gedanken, daß man noch klein war, man wurde krank vor Langeweile … Väter, deren Stolz es war, daß man ihnen nachwuchs, gab es nicht. Oder sie waren Bürgermeister, Polizisten, Apotheker, Lehrer … oder Bergleute, die auf die Rente warteten und am Abend so müde waren, daß sie kein Wort mehr redeten. – Für die Mütter, so schien es, blieb man immer ein Kind, sie schienen vergessen zu haben, daß man einen Namen hatte, zeitlebens war man für sie das Kind, ein ewiges Neutrum … und ich hörte meine Mutter nach mir rufen, in den Zimmern, im Hausflur, über den Hof, durch alle Stockwerke erklang ihre helle Stimme … Kind, rief sie, wo bist du? Kind, wo bleibst du nur die ganze Zeit? – Und wenn wir einmal die Bahnlinie überquert hatten, um bis zu den Tagebauen zu gelangen oder in den Wald vorstießen, der hinter den Ruinenfeldern anfing, wenn wir den ganzen Tag auf unserer Straße, aus der Reichweite der Stadt und der Erwachsenen verschwunden blieben, so rief sie am Abend: Seht nur, was das Kind wieder angestellt hat, seht nur, wie das Kind wieder aussieht! – Sie rief es ungeachtet dessen, daß ich unversehrt, beinahe völlig unbeeinträchtigt zurückgekommen war und zur Sorge keinerlei Anlaß bot …

Es war eine Unannehmbarkeit: für Zeiten, die nicht abzusehen schienen, war man damit geschlagen, zu den Kleinen zu gehören, denen die Monate, die Jahre nur im Sinn einer dürren Theorie vergingen, in Form einer Abmachung, auf die Erwachsene sich versteift hatten, einen wirklichen Zeitverlauf gab es nur in der ungreifbaren Zukunft. Es war ein schwüles und uneinsichtiges Verhängnis, das über der ganzen Stadt, besonders deutlich aber über unserer Straße hing: Väter, die noch kleinere Kinder machen konnten, waren nicht vorhanden.

Die Kleinen, das war ein Sammelname, den wir fast nie ohne jenen verächtlichen Beiklang hörten, der erst dann zu schwinden schien, wenn die Großen in der Straße etwas von uns wollten. Sie meinten zum Beispiel, wir sollten »eine mit rauchen«; wir übergingen die Herablassung, setzten wählerische Mienen auf und langten zu. In Gedanken rollten wir die Zigarette zwischen drei Fingern hin und her, bis man uns auch noch Feuer anbot. Am liebsten hätten wir uns ein Streichholz am Stiefelabsatz angerisssen, was wir noch nie gesehen hatten. Aber wir hatten den Gesprächen der Großen zugehört, die es im Kino gesehen hatten, in der amerikanischen Zone von Berlin, die für uns ein völlig unerreichbarer Kontinent war. Wir waren noch nie im Kino gewesen, auch nicht in einem der beiden Kinos in der Stadt; außerdem waren wir nicht im Besitz von Stiefeln, die zu besagtem Zweck taugten. Die Großen rieben sich Streichhölzer am Glas von Schaufensterscheiben an; dies hatten wir gesehen und probierten es ebenfalls, wenn wir einer Schachtel Streichhölzer habhaft werden konnten … im Kindergarten und noch später in der Schule galt der Besitz von Streichhölzern fast als ein Akt von Sabotage … aber unsere Streichhölzer wollten an den Glasscheiben nicht zünden oder nur sehr selten, und meist wurden wir von den empörten Ladeninhabern verjagt.

Wenn wir uns die Zigaretten angesteckt hatten, rückten die Großen mit ihrem Anliegen heraus: die Dinge schienen gefährlich zu sein. Etwas Kniffliges mußte erledigt werden; wenn sie uns dafür anstellten, vermieden sie den Begriff Kleiner. Da aber jemand, der für die Sache tauglich gewesen wäre, besonders harmlos aussehen mußte, blieb die Herabsetzung indirekt erhalten. – Ich sah offenbar nie wirklich harmlos aus, deshalb ergingen die Aufträge regelmäßig an die, welche, aufgrund meines unmöglichen Geburtsdatums noch kleiner waren oder ein halbes bis ein ganzes Jahr jünger als ich. – Leichthin versprachen wir, die Sache in Augenschein zu nehmen, doch wir taten freilich selten etwas und waren danach eine Weile auf der Flucht vor den Großen. Die jedoch hatten schnell vergessen, was sie brauchten, oder es hatte sich als überflüssig erwiesen; nach einiger Zeit saßen wir wieder ungestört und gelangweilt auf der Bordsteinkante und erwarteten unser Älterwerden.

Und dieses Warten war widersprüchlich: einerseits war es unser Ziel, älter zu werden, um uns endlich zu erheben aus der Verfassung nutzloser, unfertiger Zwischenwesen, andererseits, und das war womöglich noch schlimmer, würde es uns hindern, auf Dauer verbündet zu sein mit der Gewalt des Sommers in unserer Straße. – Denn freilich sahen wir, wie die Erwachsenen unter der Hitze litten; wir nickten verständnisvoll, stimmten ihren Klagen gar zu, wir fluchten mit ihnen, wenn ein heißersehntes Gewitter nicht kommen wollte und wenn der Donner drüben im Osten über dem Wald steckenblieb. In Wirklichkeit aber nahmen wir die glühende Luft in uns auf, als müsse jedes Rinnsal von Sentimentalität in unseren Eingeweiden ausgetrocknet werden. Wir atmeten den Rauch ein, der aus den Rillen und Verwerfungen des Straßenstaubs stieg, wir nahmen die lähmende Stille der Nachmittage in uns auf wie den goldgelben Dunst alchemistischer Schmelzöfen, der uns zwar verjüngte, unseren Gesichtern aber das uralte Grinsen afrikanischer Dämonenmasken verlieh. – Wenn es in der Nacht oder am Morgen einmal geregnet hatte, sog die Mittagssonne alle Feuchtigkeit aus den Furchen der Straße, aus den tiefen Fahrspuren, die eingleisig, über die Bahnstrecke hinweg, bis hinaus zu den Tagebauen führten … und wenn es tatsächlich ein Gewitter gegeben hatte, und wenn der Himmel wieder weißblau war, hatten sich die Spuren in zwei Wasseradern verwandelt, so tief, daß das Wasser bis zu den Waden reichte, und auf ihrer Oberfläche schwamm ein hauchfeiner Film von rötlicher Asche.

Im Winter war die Straße felsenhart gefroren, in den Unebenheiten des erstarrten Schlamms zeigte sich das bedrohliche Glitzern von Reif. Nun bewegten sich täglich mit quälender Langsamkeit die unförmigen Aschewagen vorbei, die so breit waren, daß auf unserem Stück der Straße stets nur für einen von ihnen Platz war. Sie waren aus starkem, rostigem Stahlblech zusammengeschweißt, auch die Reste ihres verbrannten Anstrichs waren von rostroter Farbe. Mit ihrem nach unten sich verjüngenden Aufbau, die Schrägen sollten das Ausschütten der Asche erleichtern, glichen sie gepanzerten Schlachtschiffen; leicht schwankend, unter Knirschen und Ächzen, krochen sie qualmend stadtauswärts; die dicken, schwarzen, gummibereiften Räder fanden, das sah man, kaum Halt in den manchmal vereisten Spurrillen der Straße. Die Aschewagen hinterließen eine anhaltende Welle von salzigem Dunst zwischen den Häusern, den man schmeckte, dessen Schärfe man im Hals und in den Lungen spürte, und noch lange, nachdem die Wagen vorbei waren, schienen sich unsichtbare brandige Wogen in der Luft umzuwälzen. Die trapezförmigen Ungetüme schafften die Feuerungsrückstände aller Haushalte und der wieder instand gekommenen Industrieanlagen hinaus, um sie im ersten der Tagebaue zu versenken … der erste Tagebau war einst der größte gewesen – der allerdings nur zur Hälfte, in seinem tiefsten Bereich, Wasser enthielt –, inzwischen war er durch das Einfüllen von Asche, Schutt und Unrat zum kleinsten der sogenannten Restlöcher geworden. – Die Fahrzeuge wurden von ungeheuren Brauereipferden vorwärts geschleppt, die ebenso rostfarben waren wie die Aschewagen, die ebenso dampften und knirschten. Oben auf einer Holzbank saß ein schwarz vermummter, aschbraun überstäubter Fuhrmann, immerzu schnalzende Laute von sich gebend und aus einer krummen, verkohlten Pfeife qualmend. Die völlig phlegmatischen Tiere gerieten mit ihren Hufeisen auf den gefrorenen Schlammkronen in Schwierigkeiten und hielten ab und zu an; die lange, gebogene Peitsche des Kutschers senkte sich mit ihrer ausgezupften Spitze aus dem weißen Himmel auf die riesigen Hinterteile der Pferde, wo sie ein kunstvolles Schnellen vollführte, bis die gewaltigen Tiere, mit unwilligen, flatternden Geräuschen ihrer Nüstern, ihren Trott wieder aufnahmen; feine Aschewölkchen entstiegen ihrem Fell, wenn ihnen der Mann auf der Holzbank diese winzigen, wohlgezielten Florettstiche verabreichte, die manchmal wie entfernte Gewehrschüsse knallten.

Eines Tages waren zwei der armen Tiere selbst in die Asche gefallen und hatten das ganze sich gerade entleerende Fuhrwerk mit in die Tiefe gerissen. – Dies hatte uns der Schrankenwärter erzählt, der sonst kaum ein Wort von sich gab; das Unglück aber war für ihn zu schrecklich gewesen, als daß er es mit Schweigen hätte übergehen können. Der lockere Rand der Halde – nur durch den Frost sei er von einer trügerischen Festigkeit gewesen – habe unter der Last des Gespanns nachgegeben, der dabei stehende Fuhrmann habe sich selbst nur mit einem geistesgegenwärtigen Sprung nach hinten retten können. Die Pferde aber, in das Gewirr ihres Zaumzeugs verfangen, rutschten samt Wagen den steilen Hang hinab bis auf den Boden des Tagebaus, wo sie in die untergründige Glut einsanken, die nur von schwachen Schichten erkalteter Asche bedeckt war. Das brüllende Gewieher … nein, das Gekreisch der Tiere, sagte der Bahnwärter, sei bestimmt bis zur Stadt hinüber hörbar gewesen; der dumpfe Geruch von verbranntem Fell und Fleisch habe sich über die ganze Gegend verbreitet. – Mein Großvater, der Pferde mehr liebte als Menschen, so hieß es, sei aus dem nahen Schrebergarten zur Aschehalde gerannt, mit der Flinte in der Faust, doch bevor er den Unglücksort erreichte, wären die Pferde schon verstummt und vom Schlag getroffen gewesen. Trotzdem hätten die Männer noch von oben auf die zuckenden Fleischhügel geschossen, um sie zur Ruhe zu bringen, es sei zwecklos gewesen. Und schließlich habe der tränenüberströmte Fuhrmann seine Tabakspfeife in die Tiefen des Tagebaus geschleudert!

Viel später fiel mir ein, daß ich von einer vergleichbaren Szene in einem dicken Buch gelesen hatte, mit dem ich nie bis zum Ende gekommen war: ein Kapitän mit Namen Ahab hatte ebenfalls sein Pfeifenrohr, das ihm die letzte Freude war, über die Reling in die rollenden Fluten der See geschmissen, verzweifelt darüber, daß er einen riesenhaften weißen Wal nicht aufspüren konnte, auf den er seit unnennbaren Zeiten über alle Meere Jagd machte.

Jedenfalls hatte der Unfall den Besitzer der Pferde, den Fuhrunternehmer Bodling, einen Freund meines Großvaters, sofort ruiniert. Der wäre sodann zum Biertransporteur geworden, mit einem kleinen klapprigen Dreirad-Auto habe er die Bier- und Limonadenkisten zu den Geschäften gefahren und das Leergut wieder abgeholt. Da der zweite Fuhrunternehmer der Stadt nicht alle Asche allein bewältigen konnte, wurde von der Stadtverwaltung ein neuer motorisierter Müllwagen angeschafft, doch darüber verging der Rest des Winters und fast das ganze folgende Jahr. In der Zwischenzeit fuhren die Leute ihre Asche mit Handkarren selbst vor die Stadt; sie leerten die Tonnen, nach Einbruch der Dunkelheit, gleich in den Ruinenstätten jenseits des Bahnübergangs aus … was der Schrankenwärter zerknirscht beobachtete; aber er sagte nichts, er schwieg sich darüber aus. Und wenn es ganz schlimm wurde, begannen die Leute die Fahrspuren in der Mitte unseres Teils der Straße mit ihrer Asche aufzufüllen, wodurch sich die Straße vollends in eine hüglige, kaum noch passierbare Brachstrecke verwandelte, die im Frühjahr, wenn das Tauwetter einsetzte, ein Gemisch übler Gerüche absonderte, das erst im Sommer verbrannt und verschwunden war.

Das Gewehr meines Großvaters war zu einer Art Legende in der Stadt geworden, jedenfalls in dem Teil der Stadt, den wir überblickten und der von uns beherrscht wurde. Aus diesem Grund wurde ich plötzlich interessant für die größeren Jungen in der Straße, die den Krieg noch mit Bewußtsein erlebt hatten: der Krieg war für sie entschieden aufregender gewesen als der Frieden, als jene Zeit nach dem Krieg, die sich mehr und mehr in ein kontrolliertes Dasein verwandelte, in dem es jede Menge unausweichlicher Anforderungen gab, denen man nicht entfliehen konnte, und in dem die Zeit nach und nach in festgefügte Einheiten eingeteilt wurde, denen man sich zu stellen hatte, und zwar in der Hauptsache pünktlich und zuverlässig. Der Frieden, das war deutlich, wurde von den Uhren beherrscht, die Uhrzeiten hatten die Macht übernommen, und sehr schnell war zu bemerken, daß man der Macht der in Ordnung gebrachten Zeitabschnitte nicht mehr entging. Nicht umsonst erzählte man sich überall, daß die russischen Soldaten, die den Krieg verjagt und den Frieden gebracht hatten – und sie hatten den Krieg, wie es schien, leider auf Nimmerwiedersehen verjagt –, besonders verrückt auf die Uhren gewesen sein sollten, die sich an den Handgelenken der besiegten Deutschen befanden. Als die Amerikaner noch in der Stadt gewesen waren, hatte niemand auf deutsche Armbanduhren geachtet, die Amerikaner hatten auch nicht auf Zeit und Ordnung geachtet; dies hatten sie den Russen überlassen, gegen die sie kurz nach dem Beginn des Friedens ausgewechselt wurden, und man hatte es, so meinte man, ihren grinsenden Gesichtern ansehen können, daß sie den Russen in bezug auf Ordnung und Zeiteinteilung nicht besonders viel zutrauten. Sie hatten sich geirrt, denn die Russen setzten Leute in die Stadtverwaltung ein, die vom Aufräumen geradezu besessen waren; Aufräumen und Wiederaufbau … Ordnung und Sauberkeit, dies waren doch, wie man ahnte, besonders zählebige Tugenden der Deutschen, und dies wußten die Russen genau. Aber die Deutschen – zumindest einige von ihnen, und sie gehörten sogar zu den Erwachsenen – wollten dabei nicht recht mitspielen, sie schütteten des Nachts weiterhin ihre Asche und ihren Müll in die Spurrillen unserer Straße; es waren freilich nur diejenigen, die nicht selbst in unserer Straße wohnten. Der Frieden also hatte für eine gewisse Zeit zur Folge, daß die Straße mit dem beißenden Geruch aufgeweichter Asche verunreinigt wurde, der versetzt war mit dem Dunst verfaulter Gemüsereste und zerfließenden Fallobsts; zuvor unbekannte Populationen von Schmeißfliegen und Wespen tauchten aus dem Nichts auf und besetzten die Straße; und es geschah immer öfter, daß überfahrene Ratten beseitigt werden mußten, die zwischen den beiden Bürgersteigen herumlagen. Das Übel hörte erst auf, als Polizeiposten durch die Straße zu patrouillieren begannen, dunkelblau uniformierte Männer, jeweils zu zweien, von denen einer mit einem Revolver bewaffnet war.

Der Unrat verschwand, aber die Polizeistreifen blieben; sie schritten nicht nur nachts die Straße auf und ab, bald waren sie auch tagsüber zu sehen; und wenn uns nicht schon der Essiggestank des Mülls und die Schmeißfliegen aus der Straße vertrieben hatten, so waren es die Blicke dieser Polizisten, die uns argwöhnisch beobachteten, und unter deren Augen das Rauchen von Zigaretten unmöglich war. Wir verzogen uns über die Stadtgrenze zu den Tagebauen hinaus, wo wir uns auf einmal mitten unter den Großen befanden, was aber längst noch nicht bedeutete, daß wir zu ihnen gehörten. Ich handelte mir dafür die Mißbilligung meiner Mutter ein, die das ganze Gebiet hinter dem Bahnübergang für eine einzige Gefahrenzone hielt.

Kind, sagte sie zu mir, du bist noch nicht so groß, daß du allein an die Tagebaue gehen kannst. Du kennst dich dort nicht aus, und du kannst noch nicht schwimmen! – Ich übrigens, das vergaß sie nie zu erwähnen, konnte in deinem Alter schon längst schwimmen. – Geh doch lieber ins Stadtbad, sagte sie. Dort bist du mir viel besser aufgehoben. – Und sie gab mir die zwanzig Pfennige Eintrittsgeld, die man dort an der Kasse zu entrichten hatte. Im Stadtbad gab es ein Planschbecken für Kleinkinder, in dem man unmöglich untergehen konnte; zu den Kleinkindern gehörte ich entschiedenermaßen nicht mehr, aber man wurde von einem Bademeister unweigerlich zurückgejagt, wenn man sich dem Schwimmbecken der Großen, das mit einem Sprungturm ausgestattet war, nur auf wenige Schritte näherte.

Ich sparte mir das Eintrittsgeld für andere Zwecke auf: tagsüber war ich außer Reichweite meiner Mutter, die in der Konsumverkaufsstelle am anderen Ende unserer Straße beschäftigt war, und ich begab mich, zusammen mit den anderen, die so unbeaufsichtigt waren wie ich, weiterhin zu den Tagebauen. – Dort befanden wir uns mitten unter den Großen, deren Gruppen schon männlich und weiblich gemischt waren, und unversehens wurde wieder das Gewehr meines Großvaters zum Gesprächsstoff. Sie näherten sich uns – wir lagen, noch angezogen, auf einem Grasplatz abseits des lärmenden Badebetriebs –, und ich bemerkte, nicht ohne Genugtuung, daß sie den Hauptteil ihrer Aufmerksamkeit auf mich verwandten … auch dies hätte meine Mutter nicht gern gesehen.

Sie liehen mir plötzlich ihre zerlesenen Bücher aus – das war schon früher gelegentlich passiert: eines davon war die Geschichte des einbeinigen Waljägers Ahab, worin eine erhebliche Anzahl von Seiten fehlte, weshalb ich, ganz abgesehen davon, daß mir das Buch viel zu dickleibig war, sehr schnell das Interesse daran verlor –, nun aber waren es jene dünnen, doppelspaltig gedruckten Romanhefte, die allesamt aus West-Berlin stammten, und die ich viel spannender fand. Sie handelten in der Regel von den Abenteuern … vielmehr von den unausgesetzten Schießereien einer unbesiegbaren und immer wiederkehrenden Figur, deren Name schon auf den grellbunten Titelblättern stand: Buffalo Bill oder Tom Brack der Grenzreiter oder Coyote, der Reiter mit der schwarzen Maske … ich verschlang die Hefte kiloweise, und ich mußte schnell lesen, da sie stets nach ein, zwei Tagen zurückgegeben werden sollten oder weitergereicht wurden an jemanden, der schon dringend darauf wartete. Dies nun sah meine Mutter mit dem äußersten Unwillen, denn sie war der Meinung, ich werde durch diese Lektüre bis ins Innerste und endgültig verdorben. – Die Großen vermachten mir plötzlich allein ihre Zigaretten und ließen die anderen aus … schließlich war ich der Älteste der Kleinen und offenbar im Begriff, so sagte mir mein Gefühl, die Großen im Wachstum langsam einzuholen.

Aber es ging, und das enttäuschte mich zunehmend, allein um das mysteriöse Gewehr, dessen Anblick mir Großvater verweigerte. – Wenn wir im Gras hockten wie Indianer mit untergeschlagenen Beinen, tauchten die Schatten der größeren Jungen hinter uns auf – ich spürte sofort die mißtrauischen Blicke der Erwachsenen, von denen sich auch immer einige unter das Strandleben mischten –, die Sonne verdunkelnd neigten sie sich über uns und raunten: Ist es ein Karabiner? Eine Jagdbüchse, eine einläufige oder eine doppelläufige? Oder ist es ein Kleinkaliber? Wir hätten die Munition dafür …

Ich war der Mittelpunkt, und am liebsten hätte ich gesagt: es ist eine Winchester! – Das war jene Art eines Stutzens, von der in den Romanheften ununterbrochen die Rede war.

Ob wir das Gewehr nicht einmal mitbringen könnten, wenn wir hierher kämen … nur müßten wir dann drüben ins Moor zum Baden gehen, weil wir dort ungestört wären. Oder wir müßten mit dem Gewehr in den Wald kommen und uns dort einen Treffpunkt ausmachen!

Es fiel mir nicht ein, zu bestreiten, daß es das Gewehr gab; seine Existenz, an der ich bis zu der Erzählung des Schrankenwärters selbst gezweifelt hatte, verschaffte mir ein unglaubliches Ansehen. Doch bezüglich des Umstands, daß es für mich unerreichbar blieb, fielen mir keine guten Ausreden ein. Also stimmte ich halb zu, halb lehnte ich ab … Es sei viel zu auffällig, dauernd über das Gewehr zu reden, sagte ich.

Denkst du etwa, wir würden dich verpfeifen? fragten sie voller Empörung.

Das nicht, aber es ist doch ganz schön gefährlich, wenn zu viele davon wissen, erwiderte ich. Und ich schob den Sachverhalt tagtäglich vor mir her; einerseits gingen mir die Großen mit ihrer dauernden Fragerei auf die Nerven, andererseits bangte ich um den Verlust ihrer Aufmerksamkeit: es hätte bedeutet, daß mir auch der Zuwachs neuer Romanhefte entgangen wäre, deren Inhalte in meinem Kopf herumspukten und die meine Gedanken fast gänzlich beschäftigten. Ich würde, das wußte ich, selbst vergleichbare Geschichten erfinden müssen, wenn der Nachschub der Hefte eines Tages abriß …

Es ging nicht immer friedlich zu an den Tagebaustränden: die Großen fanden außerordentliches Vergnügen daran, sich sogenannte Ton- oder Schlammschlachten zu liefern … und nicht nur sie, sondern auch der weibliche Teil des Strandvolks, der sich in den Hintergrund zurückzog, um von dort aus sicherer Entfernung jeden der klatschenden Treffer zu bejubeln und mit Beifall zu feiern, je nach dem, für welche der kämpfenden Gruppen sie Partei ergriffen hatten. – Mit den Händen oder auch mit schaufelartigen Gegenständen grub man am Rand der Gewässer fette und klebrige Ton- und Lehmklumpen aus, formte sie zu faustgroßen Bällen, die man um sich aufhäufte, und nachdem sich jede der Gruppen einen Platz gesucht hatte, der möglichst viel Deckung bot, hinter kleinen Hügeln, hinter Schilf oder den niedrigen, schiefstehenden Bäumen, die manchmal aus dem Schilf ragten … Plätze, die so dicht am Wasser lagen, daß man sich möglichst schnell neue Tonbälle heranholen konnte … wenn alle auf dem Posten waren, dann ging die Sache mit großem Gebrüll los. Wenn der Feind aus der Deckung sprang und einen Angriff wagte, dann hieß es »Sperrfeuer«, und ein Hagel von Wurfgeschossen flog durch die Luft, bis sich die Angreifer wieder zurückzogen, aber selbstverständlich nur strategisch, denn der Angriff hatte den Vorrat an Tonkugeln auf der Gegenseite drastisch dezimiert. Wenn nun einer beauftragt wurde, Nachschub an Tonerde heranzuschaffen, mußte er die Deckung verlassen und zog damit ein Bombardement auf sich, das ihn, suchte er nicht Schutz im tiefen Wasser, an den Rand des Erliegens brachte … und gerade solche Aktionen wurden mit doppelter Lautstärke gefeiert. Das Ganze konnte sich über Stunden hinziehen, es endete in der Regel damit, daß eine der Parteien kapitulierte, meist mit den Worten, man habe keine Munition mehr. Es wurde ihnen befohlen, mit erhobenen Händen herauszukommen; und wenn sie das taten, schoß man die letzten Bälle auf sie ab, allerdings nur bis zur Höhe der Oberschenkel, denn alles andere wäre feige gewesen. – Wenn es schon böse Folgen haben konnte, wenn jemand von einer der scharf geworfenen, schweren und kompakten Tonkugeln im Gesicht getroffen wurde – besonders dann, wenn man die Kugel zuvor in lockerem Kies gewälzt hatte, um ihre Wirkung zu vervielfachen –, was erst konnte geschehen, so fragte ich mich, wenn einer der Fronten … und manchmal waren es drei Fronten, von denen die dritte, die schwächste, regelmäßig mit derjenigen konföderierte, welche die größten Siegesaussichten besaß … wenn einer solchen Front plötzlich das Gewehr meines Großvaters zur Verfügung gestanden hätte.