Werke, Band 2: Erzählungen und Kurzprosa - Wolfgang Hilbig - E-Book

Werke, Band 2: Erzählungen und Kurzprosa E-Book

Wolfgang Hilbig

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Beschreibung

Wolfgang Hilbigs grandiose Erzählungen sind sein eigentliches Hauptwerk: unverwechselbare Erkundungsgänge durch die Landschaft der Seele, die in der gesamten deutschsprachigen Literatur ihresgleichen suchen. Mit ungeheurer poetischer Imagination und einer einzigartig suggestiven Sprache erzählt Wolfgang Hilbig von Alltag und Arbeitswelt in der DDR, von den Strudeln der Wiedervereinigung, von der verlorenen und doch endlich gefundenen Heimat. Vor allem aber handeln diese Erzählungen davon, wie ein Mensch, allen Verführungen und Bedrohungen zum Trotz, zu sich selbst findet – und damit vom größten und letzten Abenteuer der Jetztzeit: von der Entdeckung des eigenen Ich. Dieser Band – Band 2 der Werkausgabe – sammelt sämtliche Erzählungen von Wolfgang Hilbig in der Reihenfolge ihres Entstehens. Ergänzt werden sie um bisher nie publizierte Texte aus dem Nachlass. Ein Nachwort von Katja Lange-Müller rundet den Band ab. »Eine der wichtigsten Werkausgaben der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.« Uwe Schütte, Wiener Zeitung

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Seitenzahl: 1272

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Wolfgang Hilbig

Werke

Band 2: Erzählungen und Kurzprosa

Erzählung/en

Fischer e-books

Mit einem Nachwort von Katja Lange-Müller

Wolfgang Hilbig Werke

 

Herausgegeben von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

S. Fischer

Zu Lebzeiten veröffentlichte Texte

Aufbrüche

Es war ein Sommer und den ganzen Sommer lang Tage, an denen ich mich ärgerte, zu spät aus dem Bett gekommen zu sein, zu spät in Hemd und Hose gekommen zu sein, zu spät heraus aus dem Haus, so spät, daß es mich kaum erfrischte, aber weshalb auch, der Morgen verjagte meine Müdigkeit jeden Tag, wenn es noch nicht zu spät war, nicht so spät, daß ich schon ermüdete, wenn es schon wieder auf Mittag zuging, und wenn es mir zu langsam meinen Weg hinunterging. Am Ende des Weges erreichte ich einen alten toten Kanalarm, der mich anlockte, aber vielleicht erreichte ich ihn nie, denn ewig, den ganzen Sommer, ging ich, manchmal zu langsam, manchmal zu schnell, daß mir der Schweiß ausbrach, wenn ich verweilte auf Flecken, die das volle Sonnenlicht traf, und selbst während schnellen Gehens spürte ich, wie die Erde in diesem Sommer heiß wurde, ich spürte es am Brennen meiner nackten Fußsohlen, wenn ich auf den seltenen Steinen stand, die auf der festgestampften Erde heiß geworden waren. Aber verweilte ich denn, trieb ich mich nicht jeden Tag zur Eile, wenn ich unschlüssig auf dem Weg stand, als hätte ich etwas vergessen. O Unglück, o üble Laune, wie war ich meines Bleibens, meines Schweigens ach so sicher, und der Verlockung dieses alten, vor Jahren aufgebrochenen Kanalarms. Ach verweilte ich denn, auf dieser heißen Stelle, in der Nähe des Hauses, wie ich es nannte, manchmal, in dieser Behausung, wenn ich gar nicht aus dem Haus kam, manchmal im Gras, das ungeheuer wuchs, und manchmal auf dem Lehm am Ufer, der trocken und rissig war, hart wie Flaschenscherben, unten, wo der Wasserspiegel gefallen war. Oft genug fehlte mir nichts, aber oft genug gab es Dinge, die mir vergessen schienen, aber nein, oft genug gab es nichts, was mir fehlte, wenn mein Vergessen ungeheuer wuchs. Manchmal, viel zu oft, ach, mußte ich mich ausruhen, die Eile, die Hektik flimmerte mir in den Schlagadern, das Gras und das Dickicht, das ich zügellos nannte, das meinen Weg säumt und seine Schatten ausbrütet, darin der Tau bis zum Mittag bleibt, bis am Mittag die Hitze hindurchdringt und die zügellosen Richtungen der wilden Kirschbäume über mir in ihrem Dampf stehen, einem gedachten Dampf, der meine Augen schließt, wenn ich einschlafe, übermüdet und durchnäßt und schläfrig in diesem grünen Dampf aus heißem Tau, der mir eine Last war. Sooft ich hier bin, und ich bin es diesen ganzen Sommer lang, lockt mich dieses Dickicht, ich soll hineinstürzen, schlafen, und vergessen, was mir fehlen könnte an Dingen, die ich brauchen könnte für meinen Weg, hundert Meter lang. Es fehlte mir nichts, und konnte ich nicht warten, wenn ich mich antrieb, auf mich einredend in unbeendigten Sätzen, und meinen Atem verschlang, auf den nächsten Tag, an dem es Morgen war, nicht Mittag, um mir zu sagen, heute, weshalb nicht heute, gutgelaunt und ruhig hinunter, ins Boot und durch den Kanal dann, hinaus auf den See dann, um nicht mehr umkehren zu müssen. Doch sooft ich verweilte, leicht noch, als sei es früher Morgen, bekämpften der Tau und das Dickicht meine Eile, bevor ich noch vollends schlief, war es Mittag, erwachend glaubte ich, es sei Abend, jedesmal, noch ehe ich ihn vergaß, sah ich meinen Wohlstand im vergehenden Licht, und geschwächt und müde, müde meines Zorns und müde meiner Bosheit, müde meines Unglücks, stürzte ich aufs Lager, und weiter ging ich, die ganze Nacht hindurch, schwor mir, nicht müßig zu sein, nicht zu verweilen, nichts zu vergessen. Selbst im Traum noch brach ich auf, kaum eingeschlafen, erreichte ich das Ufer, sah das Boot am Ufer, sah, daß es leck war, längst vertrocknet, verrottet die Planken. Und ich sah meinen Wohlstand im Licht der Nacht, und ich schwor mir, Feuer zu legen an die Hütte, in der ich hauste, morgens, sobald ich meine Müdigkeit los war, Feuer, um mich zu befreien vom Alkohol dieses Sommers und den Büchern, mit denen ich hier war, Feuer, sobald ich genas, an das Bett und die Bücher, die ich nicht mehr las, Feuer, an den Schrank meines Wohlstands, Feuer, um die Bretter meiner Möbel und Wände zu verwandeln in ein Dickicht aus Feuer. Aber am Morgen, wenn ich erwachte, war ich zu müde, oder ich hatte es vergessen. Bevor ich hierherkam, war ich eines Wohlstands leid, in welchem breite alte, verheiratete Frauen am Vormittag über den Fensterbrüstungen hingen und auf die Postfrau warteten, ich haßte es, dort zu sein, wo ich war, wenn es Sommer war, Sommer, in denen die Kühlschränke sich regelmäßig wie automatische Uhren aufzogen, was mich erboste, und über die Fenstersimse die Federbetten ausgelegt wurden, deren Formen ich bewunderte, oder wenn in den Höfen die falschen Teppiche geprügelt wurden, daß der Lärm mich erboste. Ach nein. Ich wollte fortgehen, hierherkommen, ich wollte in Lumpen gehn vor Trauer. Ich erinnere mich kaum noch, es war, als ob meine Trauer mich so erboste, daß ich alles zu Geld machte, zu möglichst viel Geld, das ich an mich riß und an meinem Körper verbarg, daß ich die Bücher nahm und hierherkam, wo ich überlegte, und wartete, daß es mir besserging, um über den See setzen zu können. Habe ich etwas vergessen. Ah, hier sind den ganzen Sommer lang Tage, an denen ich aufwache mit dem Gedanken: jetzt, noch diesen Morgen, an diesem Tag oder nie, noch in diesem Sommer. Bis ich es dann für zu früh halte, für zu spät, bis die Sonne über mich herfällt, die Müdigkeit, die Unkenntnis. Und ich hatte großes Verlangen nach einem anderen Wohlstand, nach den mäßigen Temperaturen anderer Ufer, die ich im Schlaf noch sah, wie ich sie doch gekannt habe, die schneeweißen Häuser von Obereselsrück, Kanaans grüne Hügel voll von Pfefferminze, davor, dahinter die Ebenen von ruhigen Flüssen durchzogen, habe ich etwas vergessen, großes Verlangen nach Geld, nach langsamen Büchern ohne Handlung, nach grauen Himmeln, nach Himmeln, aus denen es auf Kuhherden regnet. Nein, ich wollte aufhören zu reden, beginnen zu schweigen, doch ich habe es vergessen, ja, ich wollte bellen und heulen wie ein Hund, grunzen und singen wie ein Flußpferd, aber nicht mehr verweilen in dieser redenden Ödnis. Es ist ein Dickicht, das im Herbst modernd zusammenbricht, im Frühjahr aus dem Schlamm schießt, ich nenne es zügellos. Es ist dieser lähmende Torso eines Kanals, aufgebrochen, aufgebrochen und abgebrochen vor Jahren, von seinen Baggern im Stich gelassen, Sinnbild aller unvollendeten Arbeit, Sinnbild aller sinnlosen Aufbrüche, verendet in einem Dickicht von Arbeit, seine Berge von Lehm und Kies, die hier nicht heimisch werden wollen, diese unterirdische Erde, von jungem Gras durchbohrt und ungeheuer verwüstet. An diesem flacher werdenden Wasser, darin mein Boot verfault. Habe ich etwas vergessen. Ich bin meines Bleibens und Schweigens hier so sicher, daß ich es nicht beginne. Ich habe vergessen, es riecht nach unserm Ursprung. Nach Schilf, es riecht nach Ursprung und Geburt unter dieser ausfließenden Sonne, es riecht nach Ursprung, nach alkoholischem Sommer, nach Geburt und Umkehr über dieser heißen Stelle im Schlaf. Erwachte ich endlich, ich fände hinunter, das Boot trüge mich noch, ich vergäße die Rückkehr, ich würd mich davonmachen, alles zurücklassen hier, um zu entkommen.

Bungalows

Bungalows, so nennt man diese elenden Hütten, errichtet aus von Brettern gerahmter Preßpappe, grün gestrichen stehen sie hinter der Gaststätte, dicht am Wald. Mit einem Kollegen, der meist nicht da ist, bewohne ich eine dieser Hütten, die übrigen sind unbewohnt, der größte Teil des Personals hat sich gleich zu Sommerende in Richtung Stadt auf und davon gemacht, ich bin also fast immer allein hier. Was habe ich zu tun nach meinem Abendessen, das mir stets zu reichlich ausfällt, mit melancholischem, steinschwerem Leib gehe ich hinaus, die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, den Sandweg um das Gasthaus herum durch den Garten, zum See, ein Stück auf die Anlegebrücke hinaus, um in den Nebel und die Dunkelheit zu sehen. Gegen sieben Uhr wird es schon dunkel, die Luft über dem Wasser ist frisch, aber es ist mir noch nicht zu kühl, ich bin die kühlen Abende gewöhnt. Es ist kein Wind, der Schatten eines kleinen Bootes liegt starr an der Brücke, am Himmel gibt es nur wenige Sterne, irgendwo ist ein Mond zu ahnen, geradeaus kann ich nicht weit sehen, ein hoher unbeweglicher Nebel liegt riesenhaft auf dem reglosen schwarzen Wasser.

O welch ein Herbst. Aus dem obersten erleuchteten Fenster des Gasthauses dringt Gelächter in den Garten, wie jeden Abend wird dort oben gefeiert. Das stört mich nicht, ich habe da oben nichts zu suchen. Aber ich wende mich um und schaue durch den Garten zurück, er ist leer bis auf die mächtigen Kastanien, Gartenstühle und Tische sind längst weggebracht, aus dem Fenster dringt ein Lichtstreifen, verliert sich in den Kronen der Kastanien, die schwarz davorstehen, an den Rändern glänzen, nur mattes Licht ist im Garten, aber ich kann sehen, wie Blätter langsam von den Kastanien fallen.

O welcher Herbst, selbst die Tage unter der noch warmen Sonne werden nebliger, je früher die Nachmittage enden, weißer Dunst, wattig, steigt aus dem Wasser, es kommen kaum noch Gäste an den Nachmittagen, sie sehen schon jetzt nichts als Verödung, die winterliche Verödung dieses Ortes, und ich verbringe die Nachmittage müßig, warte auf die Abende, an denen es auf die Panik zugeht. Im Winter wird hier ein eiskalter Ort sein, die Stadt wird weit sein, dann möchte ich meine Fehde mit dem Gaststättenleiterehepaar beendet und mich zurück zur Stadt geflüchtet haben. Tagsüber gehe ich barfuß, das tut gut im kühlen Sand, nach Einbruch der Dunkelheit in dünnen Badesandalen aus Gummi, um meine Füße vor den dürren Kastanienschalen zu schützen, die hier massenweise umherliegen, ich höre das Rascheln meiner Sandalen im Laub, die gelben Blätter, die tagsüber immer häufiger fallen, tagsüber scheint die Sonne noch, aber die Nebel werden immer beharrlicher, in lichten Stunden ist der See hellblau, kurz vor dem Schilf sitzen Schwärme schwarzer Enten auf dem Wasser. Aber jetzt ist es dunkel.

Bungalows. Ich erinnere mich der vielen Geschichten über die Forscher und Jäger Afrikas, die ich früher gelesen habe. Mit Federzeichnungen. Die Bungalows solch einer Zeichnung standen am Urwaldrand, flache Dächer bis über die offenen Veranden, längliche Gebäude, weißgetüncht, mit festen hölzernen Fensterläden, die Veranden nach Art von Pfahlbauten auf dicke, in die Erde gelassene Balken gesetzt, davor sich die Bewohner mit ihren Tropenhelmen präsentierten, selbstsicher in ihren albernen knielangen Hosen, die hellen dünnen Beine in hohen Schnürstiefeln, den Patronengurt um den Leib, oft mit der Waffe in der Hand. Die schwarzen Eingeborenen dagegen waren gut gebaut, nackte glänzende Körper, in ehrerbietiger, insgeheim aber verachtungsvoller Haltung, direkt aus dem Urwald, in ihrer Vielzahl und in ihren verwirrenden, unberechenbaren Einfällen wie eine unbekannte, gefährliche Vegetation. Doch die Weißen wußten ihren Bungalow zu verteidigen, mit ihren Feuerwaffen, es gab Geschichten, da tauchten plötzlich nachts aus dem Wald Scharen schwarzer Gestalten auf, lange Speere mit breiten Spitzen schwingend, massenhaft schwarze Gestalten rings um den Bungalow, die plötzlich in grelles Geheul ausbrachen, kaum aufzuhalten durch das schwache Gewehrfeuer.

Mit solch einem Bungalow ist meiner hier nicht zu vergleichen. Die Gegend hier ist unwegsam, die Gaststätte, zu der die Bungalows gehören, ist nur mit den Fahrgastschiffen, die im Sommer mehrmals täglich hier anlegen, zu erreichen, sie befindet sich in einer einsamen, malerisch wilden Gegend am Ende des Sees, und die Stadt ist weit. Irgendwo auf einer Insel im See hat man Spuren einer unendlich weit zurückliegenden Zeit entdeckt, sogar ein holzgeschnitztes Götzenidol sollen die Archäologen gefunden haben. Die Hunnen, wüste Kriegerhorden aus fernen Teilen Asiens, sollen auf ihren verheerenden Feldzügen bis in diese Gegend gedrungen sein, mordend und plündernd unter ihrem sagenhaften König Attila. Ich weiß nicht, ob diese Geschichten wahr sind. Irgendwann habe ich gesehen, wie sich ein Zeichner die Hunnen vorgestellt hat. Blankrasierte Schädel mit schwarzen Bärten, asiatischen Augen, denen der Zeichner einen finsteren, hinterhältigen Ausdruck verliehen hatte, in den Fäusten gebogene, haarscharfe Waffen.

Diese Gegend hier ist größtenteils unwegsam. Ich kenne den Anblick des Waldes von den Tagen her, gleich hinter den Bungalows beginnt er, gegen den Strand hin ist er von teilweise umgefallenen Zaunfeldern abgegrenzt, vor seinem Betreten wird gewarnt. Zuerst ist er noch licht, wenig Unterholz zwischen den Bäumen, die sich auf dem nassen Boden kaum halten können, hohes Gras, keine Wege, große umgestürzte Bäume überall, rindenlos und abgestorben, der Boden ist sumpfig, alles Sumpf, schwarzer Morast, große mattblinkende Wasserlachen überall, und bald wird der Wald dichter, wirr und verfilzt, undurchdringliches Gebüsch, dunkelgrünes hohes Wassergras, keine Tiere, nur Vögel, und der Boden ist Sumpf, nasser, tiefer, schwarzer Sumpf. Es gibt keinen Weg durch diesen Wald, es gab noch nie einen, wozu auch, denn hinter diesem Wald kommt für Ewigkeiten wieder Wald, Sumpf, Wasser, ebenso weglose, unbekannte Strecken weiter.

Aber wie, wenn es doch geheime Wege gibt. Pfade, die nur sie kennen und sonst kein Mensch, sie waren ja vor vielen hundert Jahren schon hier. Und dieser Bungalow, diese zerbrechliche Hütte, in der ich kein Gewehr habe. Und hätte ich eins, ich glaube, es wäre sinnlos gegenüber ihren krummen, scharfen Waffen. Außerdem bemerke ich sie erst, gelähmt vor Schrecken, wenn sie nachts in meiner Tür stehen. Sie kommen lautlos und geduckt die geheimen Wege entlang, Mann hinter Mann, ihre Reihen nehmen kein Ende, sie kommen aus allen Richtungen, kein Zweig knackt unter ihren Sohlen, sie kennen die Wege durch den Sumpf. Und sicher kommen sie zu gleicher Zeit über den See, unzählige Feuer tauchen aus dem Nebel auf, das sind die schmalen Kanus, jedes mit einer Fackel am Bug. Sie kommen von dieser Insel irgendwo im See, von all den bewaldeten Ufern, sie sind schon am Strand, sie löschen die Fackeln und kommen, ich spüre es mit meinem beschwerten Leib, wie sie kommen. Ich habe sie nicht bemerkt. Sie kommen unbemerkt und lautlos, aus dem Wald, über den See, von allen Seiten. Vielleicht sind diese Geschichten wahr, und es gibt sie und sie kommen, ich weiß nicht.

Epitaph

Am Anfang sucht man die Lichtungen in den Forsten. Nicht das Dunkel der Tannen, man sucht das Grün der Birken, nicht die Kiefern, die unübersehbaren Heere jener schwindelnden Vertikalen, deren Häupter den Himmel, auf den sie weisen, dennoch verbergen. Ein Sonnenstrahl von dort, eine dieser schrägen immateriellen Bahnen, staubgefüllt, als sei ihr Ende eben kräftig in den Nadelboden gestoßen, erfüllt die Düsternis mit dem bekannten harzigen Goldschimmer, eine späte Mittagsstunde lang, und das Holz, diese wahrscheinlich unendlichen, hügelauf, hügelab sich streckenden Festmeter, die sich schon nach dem Kreischen der Säge sehnen, duften unverkennbar nach einem menschenunmöglichen Alter, es ist reifes, gealtertes Holz in der Trockenheit kühl gebliebener Hallen, Keller unter den Sommerhöhen, das Holz duftet nach geschnittenen Brettern, das Leben in den Bäumen scheint etwas unsagbar Geringes, Unbedeutendes.

Es ist die Nässe der Koppeln, aus der man kommt, beiderseits der Landstraßen erstreckt sich das staatliche Weideland, die einst so sauber angelegten Bewässerungsgräben, jetzt zerfahren und zerstampft, sind ausgeufert und haben die Niederungen in Sümpfe verwandelt. Man sieht keine Kühe grasen auf den Koppeln, berauscht von Zucker, Traubenzucker, berauscht von sättigendem Gemüse, das hier grün und bitter aus Wasser und Sumpf in die Luft wächst, selber ganz grün und das Gehirn geschwollen wie ein Hügel, erwarte ich eher eine Herde von Wölfen, die, meiner nicht achtend, hier schmatzend weidet, keine Kühe, denn das Land gehört der Armee. Ein pensionierter Bauer, im Sommerhaus, das er bewohnt, auf der verglasten Veranda, in der Deckung hinter einem Leiterwagen, trotz Verbots Limonade verkaufend, treibt als einziger hier noch seine Schafe auf die Weide, doch seine Herde zählt schon mehr Hunde als Milchvieh, blödsinnige friedliche Köter, erledigt von der Vegetation, traben sie dösend uns in den Weg, die Schafe, räudig und ganz vergiftet vom viel zu fetten Grün, sind beinahe bösartiger, aber scheinbar verwechseln wir sie immer öfter mit den Hunden, denn sie bellen heiser auf, wenn wir der Veranda zustreben, im Drillich naß bis zu den Knien, um Limonade zu kaufen, rote und gelbe Limonaden für einundzwanzig Pfennig die Flasche, und damit dem ewig mißgelaunten Bauern unser Aufenthalt nicht leid wird, geben wir fünfundzwanzig Pfennig, sechs, siebenmal an manchen Tagen lassen wir die fauligen Gummiverschlüsse schnappen und trinken, aus reiner Langeweile, das fade zuckrige Zeug, bis uns der Schweiß aus den Poren bricht, rülpsend und schweigend trotten wir zurück zur Funkstation, im September wird der Alte vielleicht Bier verkaufen, stoßen wir hervor, die Kohlensäure bis an die Augen, ich sehe schon die Kanonen weiden in dem dämmrigen Grün und ich setze mich ab, am Horizont, unter den Wolken, die immer dunkler werden, will ich die schwärzliche Grenze des Forsts überschreiten. Streifzüge, nenne ich diese unerlaubten Entfernungen, und ich träume von den Mündungsfeuern, die mich dort begrüßen werden.

Im September, erschrocken, daß ich zu weit in den Wald geraten war, begann ich noch einmal nach einer Lichtung zu suchen. Als würde die Helligkeit dort auch mich treffen, suchte ich nach einem großen Felsbrocken, auf dessen warmem Körper ich schon einmal gesessen hatte.

Was hatte ich wohl dort gedacht, geträumt, glaubte ich, es noch einmal träumen zu können. Ich hatte gewußt, das Leben ist nicht herausgefordert. Nicht im mindesten, ich tat es nicht, keiner von uns tat es. Ohne daß es mich vielleicht ärgerte, dachte ich seltsam lange über die Bedeutung dieser Worte nach. Wir haben das Leben nicht herausgefordert, und wir werden unser Schicksal nicht finden.

Der Stein, den ich in einem der lichten Flecken fand, ist so groß und unhandlich, daß er ewig weiter hier liegen muß, oval wie eine auf den Boden gestülpte Schüssel, verbirgt er die andere Hälfte in der weichen Erde, ja er muß rund und rauh gewesen sein, und ungeheure Gletscher, vor Urzeiten, als die Mark gefroren lag, haben ihn geformt und hierhergeschleift, er ist so glatt unter der Sonne, daß es selbst den Flechten nicht gelingt, in seine Masern einzudringen. Das Gras um ihn herum ist dunkelgrün und hoch, von einer Sorte, die im Frühjahr zuerst grünt und lange im Herbst noch grün ist, saftig und süß. Weich, als ich mich hineinlegte, dicht an dem Stein, daß sein winziger Schatten mir die Augen bedeckte, beruhigend in der hellen Wärme, und ich dachte daran, daß nichts, kein Zeichen, kein einziges Wort in die warme rätselhafte Glätte des Steins gemeißelt war. Nein, nicht der Ansatz eines Hiebs mit dem Eisen, und dieser Gedanke schläferte mich ein, obwohl ein Drängen war, als sei ich schon vermißt, als trommelten Finger auf einen fichtenen Schreibtisch, nervös, als wolle man keineswegs ohne mich aufbrechen in die große Weltkatastrophe, ah, ich sah inmitten der Koppeln, aus Milchglas gebaut, eine kühle Halle, in der die blassen Limonadenkisten aufgebahrt waren, und da all ihre Flaschen leer getrunken waren, mußte ich erscheinen. Ich blickte empor in das tiefe Blau des Himmels, dieser Blick aus dem Schatten machte mich trunken, und noch ehe ich, über den pietätvollen Birken, dieses Blau verdorben sah von einem eigentlich unmöglichen Aufflammen, druchzogen sah von den Bögen der Kondensstreifen, atmete ich die heiß mich durchströmende kränkliche Süße, die aus dem Gras stieg, und ich fühlte die sengende Atemluft der Erde, locker, locker, als atmete einer in seinem Fleisch unter dem Stein. Und schlummernd, narkotisch schlummernd, als sei ich eingeschlummert an einem mild kochenden Loch in der Brust, dachte ich an den Namen, der auf dem Stein stehen mußte. Ich überlegte dringend, welcher Name es sein könne. Vielleicht im September Bier, und es würde erlaubt sein, welch ein Leben würde der September fordern. Kein Name gegraben in den Stein, dessen Ende mich süß besänftigte, und ich dachte an die Worte, die auf ihm stehen mußten, die ich aber nirgends finden konnte, irgendwo mußten sie warten: hier ruht

Idylle

Es wuchs ein so einladendes Gras unter den Bäumen. Schon seit einer Stunde hatte ich eine Wut auf meinen hellen Anzug, mein weißes Hemd, ärger noch zürnte ich der vollgestopften Tasche, die ich zu tragen hatte. Der Fuhrmann eines in der beginnenden Hitze träger werdenden Pferdefuhrwerks, der mich ein Stück mitgenommen hatte, hatte mir einen Weg abseits der Überlandstraße empfohlen, dieser sei der kürzere Weg zur Stadt; ich war gleich nach der Morgendämmerung aufgebrochen, in der Stadt erwartete mich eine neue Mietwohnung. Nun schätzte ich die Zeit auf acht Uhr, es war ein von Sonne verzauberter Septembermorgen. Es war ein nördlicher Landstrich, das Land war eben wie ein Tisch, und mir schien, es gäbe, ganz gegen die Erwartung, besonders lang anhaltende Sommer in dieser Gegend, von Anfang Mai bis Ende September beherrschte der Sommer die Wälder. Mein Weg führte durch baumbestandene Wiesen, die Bäume standen nicht zu dicht, und doch konnte ich nicht weit vorausschauen. Es wollte schon heiß werden, meine neuerworbenen Schuhe waren mit hellem Staub bedeckt, meine Füße schmerzten leicht in dem noch ungeschmeidigen Leder, ich dachte daran, daß das Gras am Wegrand noch kühl und frisch sein mußte, niemals in meinem dreißigjährigen Leben hatte ich wirklich im Gras gelegen, welch unglückseliges Versäumnis, welche bösartigen Umstände hatten mich gehindert, diese Wohltat auszukosten. Sich ins Gras legen, sich ganz dem schwerelosen Rauschen ergeben, das durch die Trommelfelle, die geschlossenen Lider in das gestörte Gehirn dringt, dies mußte es gewesen sein, dessen Entbehrung der niemals bewußt zu machende, stumme Fluch war, der allezeit über meinem Leben hing. Ich ging weiter, seit dem frühen Morgen rauchte ich mit der freien Hand eine Zigarette nach der anderen, das Nikotin brannte mir auf der Zunge, und ein dickflüssiger Schleim in meinem Mund war von giftiger Bitterkeit; ich war zu zeitig aufgestanden am Morgen, doch war mein Körper noch kaum müde, meine Nerven waren müde, es hielt sich etwas wie eine halbe Betäubung in meinem Kopf. Bevor ich mich wirklich hinlegte, wurden die Bäume vor mir dichter, ich hörte ein Rauschen, als ob gerade vor mir ein Wasser rauschte, eine hohe Hecke von Unterholz stand plötzlich zwischen den Bäumen und gewährte meinem Weg, ein gestampfter Pfad nur mehr, einen winzigen Durchschlupf. Hinter der Hecke, als ich sie durchquert hatte, erblickte ich einen breiten Bach, der durch ein Wehr gestaut wurde, rauschend fiel das Wasser über dieses Wehr und bestand in einem Geräusch über der Gegend, das wie eine unsichtbare Wolke wassernen Staubs war. Ich mußte mich erst an dieses Rauschen gewöhnen, um die übrigen Laute des Morgens darüber wieder aufnehmen zu können. Längs des Wehrs führte eine Holzbrücke über den Wasserlauf hinweg, mitten in einen großen verwilderten Garten oder eher eine Art Obstplantage hinein, um die sich lange Zeit niemand gekümmert haben mochte. Das Gezweig der Bäume wuchs verworren und unverschnitten, die ungeernteten Früchte waren herabgefallen und faulten im Gras, von Wespen umschwirrt, Gesträuch und Kraut schoß überall empor am Fuß der Bäume, über dem ganzen Garten schien ein Duft von altem Honig zu hängen. – Als ich über die Brücke hinweg war, sah ich, etwas weiter entfernt, am Bach eine alte Mühle stehen, deren riesiges Schaufelrad zu zwei Dritteln aus dem Wasser ragte. Das Rad stand still, ich kam näher und sah, daß das Holz schwarz war, vollgesogen mit Wasser, verfault, die Schaufeln zerbrochen, dicht über dem Wasser war es grün vom Algenbewuchs, der obere Teil bleichte aus und wurde schon wieder weiß in der Sonne. Die Mühle war unbewohnt, die Türen aus der Füllung gerissen, Sonnenstreifen fielen über die Flurböden, die von Schutt und Scherben bedeckt waren. Von außen schien wilder Wein das alte Fachwerkgemäuer zusammenzuhalten, wie eine grüne Woge umspülte er das ganze Gebäude, wuchs bis dicht unter das Dach und zu den zerbrochenen Fenstern hinein. – Es ist heiß, sagte ich, dies ist eine Mühle. Eine unbewohnte Mühle. – Meine Gedanken waren vielleicht erschreckend banal, doch erschreckten sie mich nicht. Mein Kopf schien undurchdringlich, völlig verschlossen, ich mußte mich wiederholen: Das ist eine Mühle, sie ist unbewohnt. – In den Zimmern befand sich außer einem wackligen Tisch, einem zerbrochenen Stuhl, den Trümmern eines eingefallenen Kachelofens, außer zerlumpten Gardinenresten, Zeitungsfetzen auf den Dielen, nichts mehr; irgendwer hatte seine Notdurft in einer Ecke verrichtet; der Treppe, die in den Keller hinab, wahrscheinlich in die ehemaligen Arbeitsräume führte, traute ich mein Gewicht nicht zu, ich stieg vorsichtig die Holzstiege in den oberen Stock empor, in den Zimmern dort fand ich die gleiche schmutzige Leere vor. In den Zimmern und Fluren herrschte jetzt ein Dämmer in der Art, als wäre es draußen sehr warm geworden, als flute weißes Sonnenlicht über das Dach, die Wiesen, den Bach. Ich blickte aus dem Fenster des oberen Stockwerks und sah, daß das grüne Wasser jetzt von einer blendenden, flimmernden Farbe war, daß es gespiegeltes Sonnenlicht grell in der Gegend versprühte, davon Reflexe in dem dicht neben meinem Kopf wuchernden Weingerank spielten und flammten. Als ich ins Erdgeschoß zurückkehrte, fand ich es dort halbdunkel und kühl, nur durch die kleinen Fenster schossen quadratische Strahlen von Licht schräg gegen den Boden, es war, als sei es der dicke Staub, der die Luft hier so kühl hielt, ein Staub, der hier alles zudeckte, der älter schien als der auf meinen Schuhen. Ich glaubte plötzlich, wenn ich mit dem Finger Staub von der Tischplatte streifte und davon kostete, müsse ich auf der Zunge den bekannten Geschmack von der mehligen Außenseite eines Brotlaibs haben. Als ich wieder ins Freie trat, spürte ich, daß ich durstig war. – Ich will Wasser trinken, dachte ich, und wirklich stieg ich schon die niedrige Böschung zum Bach hinab und beugte mich zum Wasser. Das Wasser floß hier fast unmerklich, von hier aus sah ich es dunkel und sauber, zu tief, als daß ich auf den Grund schauen konnte. Ich schöpfte Wasser und trank, es war kalt und schmeckte leicht nach Algen. Ich spülte mir den Nikotingeschmack aus dem Mund und spie ins Wasser, sah die Bewegung langsam hinwegtreiben, zurück blieb mein Spiegelbild, wie es da hockte in dem hellen Anzug, das Ende der roten Krawatte hing ins Wasser. Ärgerlich sprang ich die Böschung wieder hinauf, ich war versucht, meine Tasche, die dort stand, mit einem Tritt ins Wasser zu schleudern. Dann aber dachte ich, es sei vernünftiger, zuvor ein kurzärmliges Hemd und eine leichte Leinenhose aus der Tasche zu nehmen. – Dies ist mein erster vernünftiger Gedanke heut, sagte ich; alles, was ich dachte, war so unendlich banal, unbefriedigend, und doch mußte ich es denken. – Danach kann ich die Tasche ins Wasser werfen. Ins Wasser werfen, sagte ich, ich sagte es, als ob ich sprechen lernte, die Tasche ins Wasser, samt den Schuhen, samt Anzug und Krawatte. Soll er davonschwimmen, der Ballast, die Bäche entlang, die Flüsse entlang, die Ströme entlang, meinetwegen bis in die Weichsel, bis in die Donau, bis in die Ozeane. – Müde nahm ich die Tasche wieder auf, wandte mich ab von der Mühle und begann langsam, am Bach entlang, zurückzugehen. – Schon immer habe ich eine Mühle gewollt, eine Wohnung in einer Mühle, dachte ich, und ich gehe langsam fort. Wenn auch langsam. – Ich sagte mir, dies müsse aufhören mit meinem Kopf, unbedingt, die einzigen Gedanken, die mich nicht stören werden, sind boshafte, zornige Gedanken, es sind die besten Gedanken, die man haben kann. Boshafte, zerstörerische Gedanken. Zum Teufel, es gibt keine Veranlassung dazu, nicht an diesem Tage, nicht hier und nicht in dem Land, in dem ich lebe. – Aber ich vergaß so schnell, ich hatte vielleicht auch die Gründe für all meine boshaften Gedanken vergessen, was war es, das mir ein so schnelles Vergessen ermöglichte, ich suchte in meinem betäubten Kopf und fand, daß alle Gründe für meinen Zorn verflogen waren; was war das, in diesem Land – das Gas der Sonne, das Gas des Friedens, der Dunst der Stille, die hier verfiel und am Werk war, nahe bei dieser verfallenden Mühle – daß mein belebender Zorn ertrank in dieser ruhigen Eintracht von Wasser und Sonne. – Du solltest dich ausruhen, dachte ich, doch zuvor noch umkleiden, es wäre nicht gut, sich in dem hellen Anzug ins Gras zu legen. – Aber ich schleuderte die Tasche schon von mir und streckte mich aus. Das Gras war wohltuend warm und feucht, das Sonnenlicht fiel mir in die Augen, und blinzelnd, fast schon ohne Bewußtsein, bemerkte ich den nahenden Schlaf. – Soll doch der Teufel in diese Stadt gehen, dachte ich, soll sich der Teufel beruhigen lassen dort, in der Sicherheit der Stadt. – Dieser Gedanke beruhigte mich, mein Bedürfnis nach Schlaf war so stark, mein Körper federleicht, ich wußte, daß ich eigentlich schon schlief, und doch, daß ich gleich aufstehen und zur Mühle zurückgehen konnte, die Füße nur über den Spitzen der Halme, getragen von Sonnenwärme und Schlaf, und ehe ich tief in den Schlaf fiel, redete ich, was soll ich dort in der Stadt, in dieser Wohnung hocken, Miete bezahlen, Steuern, fressen, saufen, leben wie andere Leute, vergessen, die ganze Zeit beschäftigt sein zu vergessen, im Sessel sitzend vergessen, durchs Fenster auf die vergessene Straße stieren, bis ich mich kaum aus dem vergessenen Sessel erheben kann, um mich mit meinen Krawatten zu erdrosseln. Soll ich Leute kennen dort, Leute, vor deren Freundlichkeit mich schüttelt. Soll ich arbeiten dort, arbeiten, arbeiten. Wie öde, wie erbärmlich, zu arbeiten. Wie verkommen, sich zu frisieren, zu rasieren, wie elend, sich zu waschen und zu kleiden nach der Mode. Wie traurig, gesund und in Ordnung zu sein, ruhig, vergeßlich, wie langweilig, wie langweilig zu wissen, in welchem Land ich lebe, und dies ohne Zorn zu wissen, und dies immer und ohne Zorn in dem öden Bewußtsein haben zu müssen. –

Und innerhalb dieses Schlafs schon stehe ich auf, wandere hinüber zur Mühle, trete, naß und schmutzig, ungekämmt und wild, in die Zimmer.

He Müllerin, schrie ich laut schon auf dem Flur, es ist an alles gedacht. Sieh diese Flasche Branntwein in dieser Faust, nichts habe ich vergessen. Eile, eins von deinen süßen, mehlbenetzten Broten aufzuschneiden. Den ganzen Sommer lang wirst du mich nicht zurückhalten müssen. Und an den Winterabenden, wenn das Haus widerhallt von unserem Gelächter, werden wir wissen, wofür ich gut bin. Dann werde ich Holz schlagen, daß der Rauch unseres Feuers, sichtbar, und mit Macht, aus dem alten Schornstein fährt.

Die verlassene Fabrik

Nach dem Verschwinden der Dämmerung am Wintermorgen, das Kraftwerk mit seinen Lichtern, die weit über die Ebene protzen, die Gespenster sind mit der grauen Luft verflogen; oder sie haben sich in die Helle aufgelöst, die noch imstande ist, die Lampenstrahlen in dieser Ferne da drüben den Blicken gestirnt darzubieten; es ist eine Helligkeit, die den Blick trübt und wäßrig überschwemmt, wenn die Lampen in der verschwundenen Nacht strahlten, beginnen sie nun zu stechen. Weit dahinter, weit hinter den ebenen Feldern stehen wieder die Nebel, lange Breiten angefüllt mit Nebeln, mit nichts als Nebeln.

Dort drüben bin ich der einzige, allein in meiner Nähe durchsuchte ich das Terrain in den Nebeln, ich allein bin es, der sich das Auge blindstößt an einem Schlüssel, der im Schloß einer verquollenen Tür rostet.

Der Gedanke, der mich trieb, war die Idee, daß man das neue Kraftwerk nur gebaut hat, weil man die alte Fabrik in den Nebeln nicht mehr auffinden konnte. Das rußige, rotschmutzige Gemäuer umstreifend, das über der halben Höhe der unteren Fenster schon wieder unsichtbar ist, glaubte ich, selber in trübweißer Unwirklichkeit vergehen zu müssen, bis ich endlich die Tür öffnete und eintrat. Die alten Produktionshallen, ihre traurige verwirrende Leere, kamen mir seltsam bekannt vor, in den Lampen, die von Restströmen, Abfallelektrizität gespeist waren – irgendein kaum noch durchlässiger Leiter mußte bis zu den Aggregaten des Kraftwerks reichen –, glühte ein schwankendes, oft fast erlöschendes Licht, in dem die Schatten der schrägen rostigen Gerüste, auf denen sich einst die Förderbänder bewegt hatten, sich dehnten und wieder zusammenzogen, unter ihnen ging ich weiter, stieg vorsichtig über schlüpfrige Bahngeleise, mied die eisernen Treppen, die nach oben führten, tastete mich durch einen dunklen Zwischengang zu einem tickenden Geräusch vor, das anschwoll, sich vervielfachte, bis ich in eine Halle kam, in der von den Wänden, von der Decke, an vielen Stellen Wasser rann und tropfte. Nach einer Weile schien mir dieses Geräusch fast ohrenbetäubend, der Boden war mit Wasser bedeckt, dessen Tiefe zunahm, je weiter ich vordrang; ich wagte mich nicht in die Nähe der Wände, wo wegsperrende Kabel und offene Sicherungskästen von der Nässe überflossen waren, denn auch hier brannten noch die Lampen. Viele der Fenster zeigten noch an, daß sie nach draußen, ins Freie führten, sie waren von dichten, vielfachen Spinnweblagen überzogen, in denen die Feuchtigkeit glitzerte, die zu Speerspitzen zerbrochenen Scheiben aber ließen manchmal den Blick auf die milchige undurchdringliche Nebelwand frei. Als ich den Raum verließ, hätte ich mich von den Tropfgeräuschen entfernen müssen, aber ich irrte mich, je weiter ich kam, hörte ich mehr Wasser, manchmal war es ein Klatschen und Schwappen in dem Labyrinth der Räume, oft ein Poltern, als würden feste Materialstücke von den Gewölben gespült, das Wasser einer Vielzahl gieriger Rohrbrüche schwemmte durch alle Wände. Zunehmend wird es kälter, Reif scheint trübe, rötlich-weiß von den Mauern. Die Böden der Räume mit immer mehr Schutt bedeckt, an dem das dunkle, gefrierende Wasser sich staut, manchmal rätselhafte, verrottende Maschinenteile. Irgendwann, unausweichlich, das Ausgleiten auf dem Holz faulender Kisten, langes Hinschlagen, Aufrappeln, bewußtloses Erschrecken, Rudern mit den Armen, panische, tierische Versuche, wieder hochzukommen, dann das Abwarten eines verwundeten Froschs am Boden, die langsame Einsicht, daß es nicht möglich ist, wieder aufzustehen, während das Blaken der Glühbirnen immer dunkler wird. Und nun das unhörbare Singen, mit dem das Wasser mit dünnem Eis sich überzieht, mit dem der Frost sich durch die abgestandene Dunkelheit spannt, das Geräusch von Schritten, die sich entfernen, die in einem Nebengang sind, ein Tappen, das der Schwamm der Wände über Jahre gespeichert hat, die Schritte in anderen Hallen, manchmal leiser, manchmal Totenstille. Schritte, ein Schürfen, deutlich eine Stimme, die einen unmöglich zu verstehenden Satz sagt. Mehrmals sich wiederholend das Echo eines halben Wortes, nur des letzten Vokals aus einem Wort.

Erinnern, daß, kaum war ich in der ersten Halle, die Tür hinter mir sich schloß, der Schlüssel umgedreht wurde. Deutliche Erinnerung an dieses harte Krachen des Riegels, der sich doch von außen lautlos betätigen ließ. Ich spüre mein Alter, daß ich es war, der mich einschloß, der uralte Mann, der hier eingesperrt wurde, hier werde ich wiederhergestellt, werde wieder in meinen Vater verwandelt, in meinen Großvater, in meinen Urahn, ich erkenne es an meiner schlaffen gegerbten Gesichtshaut, weiße Bartstoppeln, schweißgetränkt, Nebel in den Schlohen des Haares, Spinnweben in den Brauen. Und bald beginnen, mit einem rostigen kreischenden Lärm, von dem nichts nach draußen dringt, die Förderbänder sich einzuschalten, schleppen zuerst stockend, dann immer gleichmäßiger die schwarze Erde zu den Pressen, die gepeinigt aufheulen, bis sie krachend und ächzend das stoische Gleichmaß ihrer Arbeit verrichten.

Tief in der Vergangenheit begonnener Winter, hinter den Ebenen, wo er den Nebeln nicht entweichen kann, ebenso uraltes Eis, das langsam schmilzt und langsam wieder einfriert, kalt und zerrissen hängt sein bewegungsloses Triefen aus den geplatzten Rohren, kein Wärmehauch, der das Glitzern des Todes von den Wänden löst, die Gebirge der Nebel abtaut, der Heizer liegt erschlagen unter seiner Kohle.

Der Durst

Abends, in der sommerlichen Dämmerung, bei leichtem Südwestwind, füllen sich alle Straßen und Plätze dieser Stadt mit einem süßlichen, kaum zu ertragenden Leichengeruch.

Überall werden die Fenster geschlossen, die vereinzelten Spaziergänger ziehen sich in die überfüllten, dicht verriegelten Wirtsstuben zurück. Jeder weiß, es sind dies die Abgase einer am Stadtrand befindlichen Fabrik zur Herstellung irgendwelcher Grundstoffe für Waschmittel, wo mengenweise Kadaver, Tierkadaver, zu diesem Zweck verkocht werden und wo man bei Einbruch der Dunkelheit zu arbeiten beginnt.

Aber keiner der Trinker in den Wirtsstuben weiß, wann dieser Geruch in den Straßen wieder aufhört, man schließt Fenster und Türen auch in den Kneipen, zieht Vorhänge vor, man setzt sich fest, als sei man entschlossen zu trinken, bis der frühe Tag anbricht, man meidet die Straßen wie aus Angst vor einer Epidemie, man sitzt und trinkt im Bewußtsein eines Geruchs vor den Türen, der, ein blaues Gas, mit einem matten Phosphorschein durch die Nacht leuchtet, man glaubt ihn mit zehrender Kraft an der Außenhaut der Häuser, man glaubt das nach dem Innern hin sich ziehende Austrocknen im Holz der Türgebälke zu hören, man muß dieses Bewußtsein in sich ertränken. Man muß trinken, bis jede Erinnerung an dieses abscheuliche Gas einer trunkenen, schwankenden Gedankenflut Platz macht, die nur noch um das immer schwerer zu durchschauende Treiben im Innern der Wirtsstube kreist. Gelb und grün ist alles, was der Seuche zu wehren vermag. An der gelben, feucht beschlagenen Theke, die hinter Dunstnebeln von Tabakrauch und dicker Atemluft zu verschwinden droht, werden endlose Serien von Biergläsern abgefüllt, die, einander jagend, auf die Tische wandern, die Tischtücher sind zu Boden gefegt, und auf den nassen Platten gleiten die Gläser eiliger in die geöffneten Hände, viele, viele, gelbe schaumgekrönte Gläser, die bald einander zu durchdringen scheinen, daß man sie plötzlich als eine einzige Woge von kühl-bitterem, weißgelbem Bierschaum gegen sich anrollen sieht, so flach aber noch, daß sie den runden, geöffneten Mund verfehlt, sie geht über die Hüften hin, und aus allen Öffnungen, saugend vorschießenden Eingängen, Schlauchenden, fließen die unaufgenommenen Reste zurück, verrinnen in schnellen Schlingen auf der Diele; die Stimmen im Raum haben die Stärke und Wüstheit eines Sturms, sie tönen in den Brüsten der Anwesenden, während ihre aufgesperrten Münder keinen Laut zu entlassen scheinen. Indessen ist der Durst immer drängender, unauslöschlich geworden, während er, schon selbst Materie und sein Verlangen sprachlos ausweisend, von allen Körpern tropft und rinnt; das Innere der offenen Münder ist grün gefärbt und Schwamm, der panisch die drohende Austrocknung vorzeigt, während schon alle Klarheiten in den Köpfen einer schaumigen, sprühenden und fließenden Wirrnis Platz gemacht haben, während die Augen schon Pilze bilden, ruht der gelbe Schemen der Theke wie ein Fels in den Nebeln, und von dort trifft die zweite Woge ein, die sich an den Hälsen bricht, zum ersten Mal das Haar benetzt, und du hast wieder zuwenig abgekriegt, du erhebst dich, fast auf die ausgestreckten Arme stürzend, du willst deinen aufgelösten Körper nach vorn schleppen, auf das gelbe Licht der Theke zu, denn dein Durst ist unbändig, riesig, infernalisch, aber die dritte Woge schleudert dich zurück, sie wirft dich um, du gehst unter, wie durch einen weichen, flexiblen Kanal, dem sich die Sperren sämtlicher Schleusen gelöst haben, durchströmt dich ohne Halt die Flüssigkeit, hintenübersinkend, spürst du deinen Durst grotesk und lächerlich werden, während die ersten deiner Glieder davontreiben, spürst du den idiotischen und grünen Durst eines im Flüssigen lebenden Wesens, ein Durst, der unabhängig von jeder Befriedigung weiterbesteht. Die Münder aller Anwesenden haben sich zu schaumschlagenden Lefzen erweitert, sind aufgequollen zu zottigen Rüsseln, verlängert zu amphibischen Schnäbeln, alle Körper sind glänzend grün und mit silbernen Schuppen bedeckt, alle Glieder stark und geschmeidig, mit gespreizten Schwimmhäuten, pendelnden Flossen, Fischschwänzen und rhythmisch vibrierenden Kiemen versehen, alle sind tauchende, schwimmende, gleitende Wesen, die Blasenströme entlassen und sich mit den offenen Schnauzen berühren, es ist entsetzlich, wie sie sich, in obszönem Wohlsein, in Höhe der trüben Lampen auf den Rücken drehen und eine Weile unbeweglich, durch bloßes Näseln noch Leben zeigend, die weißgelben schillernden Bäuche aneinanderlegen. Du siehst es mit Grauen, sprachlos und schon weit von allem Menschsein entfernt, mit triefenden schweren Fellen behangen, unter glucksenden Geräuschen nach Atem ringend, umzingelt von Tritonengrunzen, von Nereidenkichern, von der Brünstigkeit großer schaumsaugender Muscheln angegriffen, angestarrt, und schon die krebsigen, nesselbehaarten Umschlingungen zuckender Fangarme um Lenden und Schenkel, fast instinktiv schon beheimatet in einer Welt von Nässe und Nebeln, fast schon untergegangen in der Tiefe der wahren Ungeheuer, doch noch immer sinnlos durstig; aber endlich, lange nach der Polizeistunde schon, des Schreckens gewahr, springst du taumelnd auf, wirfst die Arme in die Höhe, um zu schreien, um durch dein Schreien der menschlichen Brust Raum zu geben, aber da fühlst du dich schon untergefaßt, gepackt und eingereiht in eine schläfrige, sich wiegende Runde und einbezogen in einen getragenen, flutend und ebbend intonierten Gesang, der wie das träge Strömen schwereren Wassers von Mund zu Mund fließt.

Wenn zu dieser Stunde – die Luft ist wieder sauber, der Südwest hat den Verwesungsgeruch längst aus der Stadt vertrieben – ein Reisender die leergeblasenen Straßen durcheilt, hinter dem Fenster einer Wirtsstube Licht bemerkt und mehrmals dringend, aber vergeblich, um Einlaß klopft, zuerst verwundert, dann aber erbost eine Verwünschung ruft: Die Pest über diese Stadt ..., antwortet seinem der Fensterscheibe erschrocken sich nähernden Ohr ein aus Lärm geformter, schwerfälliger Gesang, der ihm Erklärung und Bedrohung zugleich scheint, immer aber viel zu undeutlich, als daß er beides weniger zu ahnen als zu begreifen imstande wäre:

 

Es ist bekannt, es ist bekannt

früher und heut im Feuerland

wie Fell und Knochen verbrannt.

Für Geld, sei schlau

verkauf den Hund und verkauf die Sau

verkauf die Ziege an Ponikau

das Geld löscht den höllischen Brand.

Der Reisende spürt den Schrecken in allen Gliedern, sein Durst ist vergessen. Er, der aus einer immer wohlriechenden Gegend stammt, aus einer Zeit nach der Sintflut, in der alle Wesen ihren Gattungen zugeordnet, Land und Meer voneinander geschieden sind, glaubt die Stadt von wilden Tieren beherrscht, die sich in einem aus gelben und blauen Opferfeuern gemischten, rituellen Licht gegenseitig kreuzen, um die ärgsten Monstren zu erzeugen, ach, er würde sich glücklich schätzen, dürfte er den Rest der Nacht in den Feldern verbringen, fliehen, noch ehe die Treiber mit Knüppeln aus allen Türen stürzen, er sieht die stillen, im ersten Morgenlicht lauernden Häuser, er würde ihnen den Gestank eines Stalles am Rand der Felder vorziehen.

Der Leser

Der Leser, gäbe es ihn, wäre folgendes Wesen: ein Mensch, von hinten anzusehen, der gebeugt am Tisch sitzt, unter starker Lampe, reglos zumeist, mit oder ohne Brille, mit oder ohne Augen, sichtbar oder unsichtbar der Kopf. Ein liniertes Heft vor sich auf dem Tisch, füllt er mit schnellen Schriftzügen, behende die Seiten umblätternd, Zeile um Zeile, bis er, endlich am Ende, die Stirn auf das vollgeschriebene Heft sinken läßt; ein tiefer Seufzer, der sagt, daß nichts es ermöglichen kann, das einmal Geschriebene wieder zu löschen. – Längst sank mit aller blauen Schwere die Nacht, es ist Sommer, ein später Sommer in einem späten Jahrhundert, durchs halboffene Fenster sind Falter hereingeflogen, die sich mit vernehmlichem Klirren gegen das Glas der Glühbirne werfen. – Indessen sitzt der Leser über dem aufgeschlagenen Buch, wer weiß, ob er liest, nie hat er eine Seite umgeschlagen, er ist vielleicht eingeschlafen, oder er ist der sitzen gebliebene Schatten dessen, der aufstand vom Stuhl, durch seine Farbe schimmert das Schwarzweiß der Seiten. Wäre er der Leser, er säße gebrochen am Tisch, mit von der Tischplatte gefallenen Händen, mit zarten sinkenden Schultern, das Haar fiele ihm über die Brillengläser. Doch es wäre, als flüsterte aus jedem Wort des schwarzen hieroglyphischen Heers, das die Seiten bedeckt, eine Stimme, eindringlich, um den Leser zu wecken. – Wer, wenn nicht er, sofern er lebte, wünschte das Ende der Nacht herbei; es ist als verlöre die Lampe an Kraft, als kröche durch die Drähte ihrer Leitung das Dunkel heran. – Und der Leser sitzt über dem Buch, und seine Hand blättert, blättert die Seiten um. Ruhig zuerst, zwischen je zwei Seiten eine Zeit geduldig wartend, dann ungeduldiger, schneller blätternd, schneller Seite um Seite, schlägt er um, mit bleichem Gesicht voller Zorn und Angst, mit geballten Fäusten wie rasend ganze Bündel von Seiten umschlagend, mit den Schultern, mit gesenktem Kopf, aufheulend fast, schiebt und stößt und drückt er die zu Wänden wachsenden weißen Seiten beiseite, aber kein Wort, keine einzige Letter findet er auf den leeren Blättern. – Gäbe es den Leser, nur mit den Augen, nein mit Feuer und Schwert, nur mit dem Mund spie er all seine Wörter ins leere Buch. Unverlöschlich bliebe sogar der den endlichen Abschluß der Arbeit krönende Seufzer der Freiheit.

Die Beschreibung

Abends gegen elf Uhr kehrte ich aus der Stadt zurück, so konnte ich das Urlaubs- und Schreibzimmer in dem Dorf B. ohne besondere Eile noch vor Mitternacht erreichen. Ich ging den ein wenig längeren Weg durch den Park, um in der Dunkelheit schon Erinnerungen an die Eindrücke dieses Urlaubs zu sammeln: zwei Wochen nach Sommerende, das Jahr verloren, vor mir eine lange kalte Zeit öder unerquicklicher Arbeit … und eigentlich schon nicht mehr der Jüngste. Wenige Tage vor meiner Abreise, ich konnte mich gleich zu ihr entschließen, mit vor Müdigkeit empfindlichen Gedanken, deren Wörter, ich hatte Wörter nötig zu meinen Erinnerungen, in ungekanntem Ausmaß unfrei und feige waren, daß mir alle Anwesenheit in meinem Bewußtsein verdorben war, daß ich mir diesen Urlaub, diese erbärmlichen drei Wochen im Jahr, als gescheitert eingestand. – In dem weiträumigen Park herrschte, trotz der sternenklaren Nacht, unter riesenhaften Alleen schwarzer Buchen, stellenweise die ärgste Finsternis, doch ich fühlte mich auf der schnurgeraden Betonbahn so sicher, daß ich sie sogar verließ, um ein Stück das Ufer des Sees zu begleiten, dessen größte Bucht den Park zur Linken begrenzte. Ich mußte nur an der richtigen Stelle durch das dann schon verwilderte Gehölz auf den Beton zurückkehren, um bald vor einer Halbbogenbrücke über einem Bach anzukommen, nach dieser Brücke, nach einem lichten Gelände dahinter, wäre ich dann schon fast im Dorf. Als ich aber am See stand, war ich irritiert, am jenseitigen Ufer war das Wasser von ungewöhnlich starken Lichtreflexen geflammt, alle Windungen des dort unebenen, zerrissenen Ufers waren von einem grellen Licht aus unsichtbarer Quelle überstrahlt, das in seiner Beweglichkeit einer Feuersbrunst täuschend ähnlich war. Einen Augenblick glaubte ich, es sei in der dort drüben befindlichen Ausflugsgaststätte ein Brand ausgebrochen, doch als ich, um freie Sicht zu haben, noch dichter ans Wasser trat, fand ich deren trübe Lichter, die soeben gelöscht wurden, an ganz anderer Stelle, nämlich um mindestens einen halben Kilometer weiter im Innern der Bucht, also viel näher gelegen als erwartet. Dort, wo das blendende Leuchten lag, gab es keine Häuser, womöglich fuhren dort Boote mit starken Scheinwerfern, Polizeiboote oder Militärfahrzeuge, die von den mit Gestrüpp überfilzten Landzungen verborgen waren. Einen denkbaren Grund für die Anwesenheit von Booten dort gab es nicht, weite Schilffelder verhinderten das Herankommen an die Ufer vom See her, Morast, Sümpfe den Zutritt auch vom Lande. Um mich nicht zu verirren, kehrte ich sofort auf die Betonbahn zurück; in der Stille meines Gehens auf dem Waldboden waren alle Geräusche der Nacht, die zuvor im Hallen meiner Schritte auf dem Beton unter den Buchen unhörbar geblieben waren, deutlich an meinem Ohr. Nun war ein lärmendes, wütendes Hundegebell hinzugekommen, zuerst aus der Richtung des Dorfes B., schloß es den Park, gleichwohl von fern, bald von allen Landseiten ein, dann waren es laute menschliche Stimmen, die Unterhaltungen ganzer Gruppen junger Männer, die mir entgegenkamen, wahrscheinlich aus der nun geschlossenen Gaststätte, vergeblich suchte ich einige Gesprächsfetzen aufzufangen, in der Hoffnung, die Wirren dieser Nacht würden mir erklärt, aber Stimmen, die laut und schrill unverständliche Worte zwischen den Bäumen riefen, verhinderten dies, Stimmen riefen und Stimmen antworteten, das Bellen der Hunde war zu einem rasenden Geheul angewachsen, blieb aber außerhalb des Parks, nie hatte ich während der drei Wochen in B. eine solche Anzahl von Hunden gehört. Gleichzeitig nahm ich einen unverkennbaren Brandgeruch auf, den ein leichter Wind aus dem Dorf herübertrug; in den Himmelsfetzen, zu denen ich zwischen dem schwarzen Laubgetürm aufblicken konnte, stand ein kleiner gelber Herbstmond, unscharf, als müsse sein Leuchten unter ihm treibende Nebelschwaden durchdringen, die ihn umgebenden Sterne dagegen schienen von glitzernder, eigenartiger Klarheit. Vor mir trieb ein schwerer Brandgeruch zwischen den Bäumen, es roch nach glühender Asche, nach einem Schwelbrand auf einer Müllhalde, als ob modrige Stoffe, altes Gerümpel, ausrangierte Matratzen brannten oder verkohlten, vergebens suchte ich mich zu erinnern, ob ich je, auf dem Weg ins Dorf, so dicht an einer Müllablage vorübergekommen war. Winselnd, von etwas Unbekanntem gepeinigt, jaulten die Hunde; eine Gruppe Betrunkener kam mir entgegen, von denen einer, vom Weg abkommend, in ein Gebüsch torkelte, was die übrigen zu lautem Gelächter bewog, ohne daß sie mich bemerkten, gingen sie unter lautem Stimmenaufwand vorüber, ich konnte nicht ausmachen, ob sie stritten oder sich noch immer vor Belustigung anschrien. In kurzen Abständen kamen mehr Leute, singende Betrunkene, meist jüngere männliche Personen, ganze Gruppen, aus denen, nach rückwärts gewandt, laute Wörter durch den Park gerufen wurden. Ich fragte mich, ob niemand außer mir den Qualm, das wüste Heulen der Hunde bemerkte, alle mir Entgegenkommenden gingen eilig, aber es schien sie nichts zu verstören. Eine matte Laterne zwischen den Bäumen war kaum sichtbar in den Rauchschwaden, die sie umzogen, in ihrem Lichtkreis auf der Erde, durch den ich hindurchmußte, mischten sich diese Wolken mit ihren Schatten, daß ich glaubte, ins Leere treten zu müssen; wieder im Dunkeln fand ich mich plötzlich inmitten einer Gruppe beweglicher Schemen, es war ein halbes Dutzend Betrunkener, in einem lauten Palaver begriffen, erschrocken stand ich still, auf das Wirrwarr der dicht vor mir auf- und niedertauchenden Gestalten starrend, die im nächsten Moment auf mich aufprallen mußten, ich hörte Lachen und schnelles Sprechen, täuschte mich ein paarmal, als ich glaubte, ich würde angesprochen, aber ohne daß mich einer der mich umkreisenden Körper auch nur berührt hätte, verschwanden sie hinter dem Lichtkegel der Lampe, ich hörte ihr Lärmen noch in einiger Entfernung.

Ich dachte daran, wie chancenlos ich einer plötzlichen Gewalttätigkeit, einem Überfall einer solchen betrunkenen Horde gegenübergestanden hätte, Flucht wäre die einzige Möglichkeit gewesen. Doch ich sagte mir, daß, da niemand die Herkunft des Qualms, der immer fetter, beißender wurde, erklärlich zu finden schien, alles selbst so schnell wie möglich aus dem Park zu fliehen bedacht war. – Eigentlich, glaubte ich, hätte ich Bach und Brücke längst erreichen müssen, mir war die Herkunft des unausgesetzten Hundegebells, die Nähe dieser brennenden Müllhalde so rätselhaft, daß ich zu fürchten begann, ich habe mich verirrt – verirrt auf einer Flucht, die ich schon vorher, aus einem mir entfallenen Grund, begonnen hatte –, ich sei in die Irre gegangen in einer mir unbekannten Gegend, in der man einen mir vollkommen unverständlichen Dialekt sprach, eine andere Sprache … ich habe, ohne es zu wissen, eine Grenze überschritten, eine Grenze, von der ich nichts geahnt hatte. – Wie ich auf den Gedanken kam, daß es mir unmöglich bleiben würde, mich zu verständigen, daß jeder mir nicht sofort verständliche Satz eine Drohung sein konnte, war ich schon von dieser Idee bedroht, die mir ebenfalls unverständlich war, diese Idee enthielt eine Drohung, die mich in einer unabsehbar früheren Zeit erreicht hatte, die ich, ob ihrer Frühzeitigkeit, nicht ernst genommen hatte. – Ich suchte mich zu erinnern, ob mich jemand gewarnt hatte, ganz sicher hatte mich jemand gewarnt, aber wer war es, und was hatte die Warnung gemeint; niemals, glaubte ich zu wissen, konnte ich begreiflich machen, daß Warnungen an mich keinen Sinn hatten, da ich sie nicht verstehen konnte.

Ein Stück vor mir mußte sich augenblicklich eine seltsame, groteske Szene abspielen. Eine heisere erschöpfte Männerstimme stieß in kurzen Abständen Schreie aus, in denen ich, mehr aus einem Instinkt heraus, das Rufen eines Frauennamens zu erkennen glaubte. Verschiedene Stimmen, Stimmen jüngerer Männer, antworteten den Schreien, aus irreführenden Richtungen, ganz offenbar, um den Rufer zu täuschen, ihn in eine falsche Richtung zu locken, denn diese Stimmen ahmten, mehr oder weniger gekonnt, aber deutlich, eine Frauenstimme nach, die einen Männernamen rief. Es war mir einen Moment unbegreiflich, wie die Männerstimme auf dieses öde, in seinem Gleichmaß bald ermüdende Spiel eingehen, reagieren konnte, dennoch antwortete sie immer gehetzter, kreischender mit dem Rufen des mir unverständlichen Namens, um selbstverständlich desto häßlicher genarrt zu werden. Dieses Geschrei näherte sich mir, und wenig später erreichte ich, in dem Rauch fast blinden, tränenden Auges, die Brücke, erkannte ihre verschwommenen Lampen auf dem gebogenen Geländer über mir, doch erst als ich die Betonstufen erstieg, sah ich die kleine, beängstigend unsicher gegen das großräumig verstrebte Stahlrohr gepreßte Gestalt eines älteren Mannes, der diese Schreie hervorstieß, sie auch hier oben auf der Brücke kurzatmig, unverständlich weiter aus dem weitgeöffneten, schaumgefüllten Mund schleuderte und bei jeder der teuflischen Antworten zusammenfuhr und mit aufgerissenen Augen Blicke in die Nacht vor und hinter sich warf. Noch ehe ich ein Wort an ihn richten konnte, riß er sich vom Geländer der Brücke los und stürzte, an mir vorüber, hinter mir die Stufen in einem Tempo hinab, daß ich einen Unfall befürchtete, und in das Dunkel hinein, immer weiter die kaum noch menschlichen, röchelnden Schreie ausstoßend, die ich noch aus beträchtlicher Entfernung hörte, da sie wieder an Kraft zu gewinnen schienen, und immer weiter antworteten ihm, von verschiedenen Orten und unverzüglich, diese weibischen Männerstimmen, mit jenen mir unverständlichen Wörtern, vor denen der Mensch auf der Flucht war.

In diesem Augenblick schien mir untrüglich, daß ich den kleinen Mann gekannt hatte, gleichzeitig aber war mir bewußt, daß ich nie erfahren würde, woher; wenn es tatsächlich eine Bekanntschaft war, mußte sie in großer zeitlicher Ferne stattgefunden haben, oder, noch eigenartiger, sie würde mir erst in der Zukunft geschehen. – Der Rauch ließ sofort nach, als ich den Bach überquert hatte, ich war über die Brücke wie durch einen unsichtbaren Spiegel gegangen, die Luft war sauber, das Stimmengewirr dieser Nacht ließ nach. Nur das Hundegebell scholl weiter, aber in die Ferne gerückt und in anderen Dörfern, ich bemerkte es wieder, als ich schon über die Dorfstraße von B. ging, alles war unverändert, alle Häuser ruhig hinter den Hecken und Zäunen, an denen ich, wie allabendlich in den vergangenen Wochen, durch die sandigen Vertiefungen entlangstolperte. Kurz darauf saß ich in der für diesen Urlaub gemieteten Kammer, in der oberen Etage am geöffneten Fenster. Es war halb zwei Uhr morgens, ich begriff nicht, wie ich eine solche lange Zeit für den Weg aus der Stadt hatte brauchen können. – Obwohl ich niemals zu solcher Zeit einen wachen Menschen in diesem Dorf bemerkt hatte, hörte ich noch einmal in dieser Nacht Stimmen. Zwei Männer gingen, laut aufeinander einredend, ja, streitend, unter meinem Fenster vorbei; so angestrengt ich auch lauschte, auf eine Erklärung hoffte, verstand ich wieder nicht einen der in dieser Nähe gesprochenen Sätze. Ich blieb sitzen, bis die Stimmen unhörbar waren, dunkel fühlte ich die unbeschreibliche Drohung. Ich schloß das Fenster und legte mich zu Bett; noch lange ohne Schlaf, lauschte ich in die Finsternis, spürte ich, wie ich jedes Verständnis für das unhörbar gewordene, aufgeregte Fortbellen der Hunde verlor. – Mein Aufenthalt hier war zu Ende, er war in seiner letzten Nacht schon vergessen, es gab Namen davon, Nächte voller Dörfer und Stimmen, voller Rauch und Gestirne über dem Dunkel, nichtswürdige Namen, die ich schon immer gekannt hatte, nichts aber ließ sich in meinem Gehirn bewahren. Es war ein Aufenthalt, vergangen in einer Zukunft, in der ich die unberührte Hauptperson eines Erlöschens war, darin es zwecklos war, nach einem Rest zu suchen, ich dachte an eine Nacht, die immer hätte da sein können, aber nie war, ich hatte keinen Namen für den Verlust.

Er