Inhaltsverzeichnis
Lob
HAUPTRISIKO IST DAS ALTER
PROLOG
1. KAPITEL – Vom Jemandsland ins Niemandsland
2. KAPITEL – Der verborgene Schatz im Keller
3. KAPITEL – Wanderjahre eines Forschers
4. KAPITEL – Endstation Sehnsucht: Adieu, mon amour
5. KAPITEL – Der Kabelbrand im Gehirn
6. KAPITEL – Der frühe Tod des Alois Alzheimer
7. KAPITEL – Die Alzheimer-Mäuse
8. KAPITEL – Das Dorf der Dementen
GLOSSAR
BIBLIOGRAPHIE
ALZHEIMER GESELLSCHAFTEN (STAND: JUNI 2006)
GEDÄCHTNISKLINIKEN UND ÄRZTE MIT GEDÄCHTNISSPRECHSTUNDEN
PERSONENREGISTER
SACHREGISTER
Copyright
»Erinnerung ist das Seil, heruntergelassen vom Himmel, das mich herauszieht aus dem Abgrund des Nicht-Seins.«
Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
HAUPTRISIKO IST DAS ALTER
Was die Wissenschaft über Ursachen der Alzheimer-Krankheit weiß und auf welche Therapien für die Zukunft sie hofft Von Christian Behl
Die moderne Medizin hat durch verbesserte Heilungsmethoden und gezielte Vorbeugungsmaßnahmen die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen erheblich verlängert. Zu der Zeit, als Alois Alzheimer 1906 entdeckte, was ihn unsterblich machen sollte, wurden nur fünf Prozent der Bevölkerung überhaupt 65 Jahre alt. Heute liegt die durchschnittliche Lebenserwartung sogar bei 75 Jahren (Männer) und 81 Jahren (Frauen).
Unsere Gesellschaft überaltert und vergreist. Daraus ergeben sich ganz neue Sinnfragen des Lebens. Zum Beispiel: Wie können wir Menschen möglichst gesund und in Würde altern? Erfolgreiches Altern, Successful Aging, heißt das Zauberwort. In Hochglanzmagazinen und Talk-Shows spricht man auch von Anti-Aging, ein schrecklicher und zugleich erschreckender Begriff, und meint damit letztendlich Unsterblichkeit. Schon etwa 500 vor Christus hat Hippokrates davon erzählt, dass während des Alterns des Menschen alle Körperteile und Organe nach und nach vom Verfall betroffen werden. Allerdings ist fast keine Störung so folgenschwer wie die als Folge krankhafter Veränderungen in unserem Hirn. Denn die Qualität unseres Lebens und die Fähigkeit, es selbst zu bestimmen, hängen dramatisch und unmittelbar von einem funktionierenden Gehirn ab.
Was würde uns also ewige Jugend nützen, wenn wir sie nicht mehr begreifen könnten? Wir können uns mit Kosmetika die Haut geschmeidig halten, den Bauch straffen, Fett absaugen lassen, fehlende Haare verpflanzen usw. Die Möglichkeiten der Anti-Aging- und der Schönheitsindustrie, den Schein der Jugend zu bewahren, sind fast unbegrenzt. Aber was tun gegen den zunächst nur schleichenden, dann immer schneller fortschreitenden Verlust des Gedächtnisses und damit der persönlichen Erinnerungen, des Hauptmerkmals der Alzheimer-Krankheit?
Trotz intensivster Forschung gerade in den letzten beiden Jahrzehnten ist bis heute in der Alzheimer-Forschung die Frage aller Fragen nicht beantwortet: Was ist die exakte Ursache dieser tödlichen neurodegenerativen Erkrankung des Menschen? Welche Moleküle in der Zelle spielen verrückt?
Denn nur dann, wenn die Ursache dieses tödlichen Nervenzelluntergangs im Gehirn feststeht, lassen sich effektive und – wie der Mediziner sagt – kausale Therapien entwickeln. Nur dann, wenn wir wissen, was die Krankheit verursacht, können wir uns daranmachen, das Problem zu lösen, nämlich den Krankheitsprozess zu unterbrechen oder zu verhindern, dass die Alzheimersche Demenz überhaupt ausbricht.
Natürlich hat seit der Erstbeschreibung der später nach Alois Alzheimer benannten Krankheit die Forschung riesige Fortschritte gemacht. Und es gibt mehrere Hauptverdächtige, die bereits Alzheimer, stundenlang durchs Mikroskop blickend, entdeckte. Was er sah, waren »Herdchen, welche durch Einlagerung eines eigenartigen Stoffes in die Hirnrinde bedingt sind«. In der Mitte der 80er-Jahre wurden diese Stoff-Einlagerungen als Ansammlung eines kleinen Eiweißstückchens mit dem Namen Beta-Amyloid identifiziert.
Der Bauplan der Eiweiße (Proteine) der Zellen ist auf der Erbsubstanz, der DNA, verankert (der Biochemiker sagt »kodiert«), und das Gen, verantwortlich für das Amyloid-Protein, war bald identifiziert. Dieses Amyloid im Alzheimer-Gehirn ist ein ganz besonderes Eiweiß, denn es verklumpt außerhalb der Nervenzellen, lagert sich ab. Veränderungen im Amyloid-Gen, Mutationen als Launen der Natur, wie sie auch bei vielen anderen Erkrankungen des Menschen eine Rolle spielen, sind als Ursache für vererbbare familiäre Formen der Alzheimer-Krankheit entlarvt. In der Folge wurden zwei weitere Gene in mutierter Form im Genom verschiedener Familien, in denen sich die Alzheimer-Krankheit über Generationen festgesetzt hat, entdeckt. Auch diese hängen indirekt mit diesem seltsamen Amyloid zusammen.
Wenn also die Amyloid-Ansammlungen im Gehirn so bedeutend sind, wie entsteht dieses Eiweiß? Welche Maschinerie verursacht die Herstellung des Amyloids in den Nervenzellen? Auch diese Amyloid produzierenden Enzyme, die so genannten Sekretasen, wurden mittlerweile entdeckt und deren molekularer Bauplan beschrieben.
Aber sind alle Fälle der Alzheimer-Krankheit, immerhin etwa eine Millionen Menschen leiden bereits daran in Deutschland, durch einen genetischen Defekt, eine Mutation, verursacht? Nein. Die bisher hier erwähnten vererbten Formen der Alzheimer-Krankheit, die ohne Ausweg ihre tödliche Botschaft an die nächsten Nachkommen weitergeben, repräsentieren nur einen kleinen Bruchteil aller Alzheimer-Patienten. Das Krankheitsbild ist offensichtlich viel komplizierter, lässt sich nicht reduzieren auf die genetischen Fälle, wo das Konzept gilt: mutiertes Gen, höhere Aktivität der Amyloid herstellenden Sekretasen, frühzeitiger Ausbruch der Krankheit. Die Mehrzahl der Alzheimer-Patienten, 90 bis 95 Prozent, leiden an der so genannten zufälligen (sporadischen) Alzheimer-Krankheit, das heißt, die Krankheit bricht ohne genetischen Grund aus. Einziger überzeugender Risikofaktor der sporadischen Formen ist das Alter. Je älter der Mensch wird, desto höher das Alzheimer-Risiko. Dennoch, die Entdeckung einer möglichen Rolle des Amyloid-Proteins half der gesamten Alzheimer-Grundlagenforschung entscheidend weiter, denn die Gehirne der familiären und der sporadischen Alzheimer-Fälle sind in fast identischer Weise geschädigt.
Ein zweites wesentliches Merkmal, das Alzheimer bereits damals fand, nannte er »aufgeknäuelte Fibrillen«, die nach dem Untergang der Nervenzelle als biochemische Grabsteine die Ursachen für den Tod des Patienten bergen. Auch diese Fibrillen sind aus Eiweißen aufgebaut, darunter ein Protein namens Tau, das bei Alzheimer-Patienten chemisch verändert ist. Im Gegensatz zum Amyloid-Protein kennt man die eigentliche, normale Funktion dieses Proteins in gesunden Nervenzellen wenigstens in Ansätzen. So ist das Tau-Protein ein entscheidender Teil eines äußerst feinen Netzwerks von Bahnen, das Verkehrsadern gleich den Transport von Stoffen, beispielsweise vom Zellkörper bis zu den Enden der Nervenzellen, den Synapsen, ermöglicht. An den Synapsen werden Informationen an die benachbarten Nervenzellen weitergegeben. Sie sind die Orte, an denen Gedächtnis entsteht, Erinnerungen durch elektronische und chemische Signale festgehalten werden.
Parallel zu den die Alzheimer-Forschung dominierenden Amyloid- und Tau-Hypothesen haben sich andere Erklärungsansätze entwickelt. So wird der besondere schädliche Einfluss von giftigen Sauerstoffradikalen, der so genannte oxidative Stress, ebenso diskutiert wie eine wichtige Rolle des Immunsystems oder eine Störung des Stoffwechsels der Glucose, des Brennstoffs für das Gehirn. Oder ist die Alzheimer-Krankheit eine beschleunigte Verhärtung der Gehirnarterien, eine besonders ausgeprägte Arteriosklerose im Gehirn?
Möglicherweise sind alle genannten Prozesse, Proteine und Faktoren zu irgendeinem Zeitpunkt mehr oder weniger prominent an der Entstehung der Alzheimer-Krankheit beteiligt. Völlig offen dabei ist, welche kleine Veränderung, welcher Vorgang in den Nervenzellen denn nun genau die Initialzündung dieser tödlichen Kaskade von Ereignissen im Gehirn ist. Möglicherweise ist es auch das Zusammenspiel mehrerer Prozesse.
Natürlich waren die Forschungsleistungen der letzten Jahrzehnte enorm, aber man hüte sich vor allzu schneller Übertragung von experimentellen Ergebnissen auf den Menschen. Natürlich werden Alzheimer-Patienten auch heute schon behandelt. Aber womit? Zumeist mit Medikamenten, die den Informationsfluss an den Nervenkontaktstellen, den Synapsen, stabilisieren. Diese Therapien sind aber rein symptomatisch, ähnlich der Bekämpfung des Symptoms Fieber nach einer bakteriellen Infektion als eigentliche Ursache. Auch helfen die aktuellen Alzheimer-Medikamente häufig nur kurze Zeit, verlangsamen ein wenig den Gedächtnisabfall, der sonst noch stärker wäre. Eine leichte Verzögerung des Krankheitsverlaufs, ein kurzer Aufschub, kann bei manchen Patienten in der Tat erreicht werden. Für den einzelnen Patienten und sein pflegendes Umfeld ein großer Erfolg.
Doch eröffnet man das fatale Zahlenspiel, das uns viele Millionen Patienten für die nächsten zwanzig Jahre prognostiziert, so steht die Medizin immer noch hilflos da. Daher ergibt sich zwangsläufig die Frage nach effektiver Vorbeugung. Was kann man denn gegen das Einsetzen dieser Todesspirale in den Nervenzellen tun, und vor allem: Wann sollte man damit anfangen? Vor einigen Jahren antwortete der amerikanische Neurologe Dennis Selkoe, einer der Begründer der Amyloid-Hypothese, auf die Frage nach den Möglichkeiten, der Alzheimer-Krankheit vorzubeugen, mit: »Choose your parents properly and die young«, »Suche dir die richtigen Eltern aus und stirb früh!« Aber was, wenn man die »falschen« Eltern hat oder alt werden will? Eine Vielzahl von Maßnahmen zur Vorbeugung wurde in zahlreichen Patientenstudien untersucht. Übrig bleibt neben der auch für andere Erkrankungen so wichtigen ausreichenden Versorgung mit Antioxidantien und Vitaminen (Vitamin C und E) eine möglichst kalorienbewusste Ernährung und eventuell Gehirn-Leistungstraining, »Gehirn-Jogging« im Alter. Gerade Letzteres kann möglicherweise auch die Regenerationsfähigkeit unseres Gehirns verbessern, getreu dem Motto »Use it or lose it«, »Gebrauche dein Hirn oder verliere es«! Zusätzlich wird oft auf die vielen positiven Effekte der Sexualhormone, allen voran Östrogene, auf das Gehirn hingewiesen. Östrogene sind für die Entwicklung des Gehirns und die Stabilisierung seiner Funktionen essentiell, bei beiden Geschlechtern. Die Frau verliert ihre Östrogene mit der Menopause, Ersatz des Hormons hilft bei manchen Frauen.
Aber ein solcher Östrogenersatz nach der Menopause ist nicht ganz unproblematisch. Auch wenn die experimentellen Daten stark sind, die eine bedeutende Rolle der Östrogene beim Schutz unserer Nervenzellen unterstützen, ist noch sehr viel Forschung nötig, um abzuklären, ob ein Hormonersatz für alle Frauen wirklich angezeigt ist. Denn aufgrund ihrer Breitenwirkung im gesamten Körper werden Östrogene häufig auch mit dramatischen Nebeneffekten in Verbindung gebracht.
Die Biochemie des Alterns muss entschlüsselt werden, um einen möglichen Einfluss auf die Biochemie der Alzheimer-Krankheit verstehen zu können. Bricht die Erkrankung möglicherweise nur deshalb aus, weil die Nervenzellen im Alter einfach zu schwach werden, den jahrzehntelangen Kampf gegen die Krankheit weiterzuführen? Wie verändern sich die Biochemie von Amyloid und Tau und der oxidative Stress im Laufe der Alterung einer Nervenzelle? Verschieben sich möglicherweise die Abläufe so dramatisch, dass die Zelle im Alter einfach ausbrennt?
Von der gesamten Gesellschaft, ob politische Entscheidungsträger oder Betroffene, die eine effektive Alzheimer-Therapie dringend benötigen, wird dabei noch sehr viel Geduld verlangt werden müssen. Und von uns Wissenschaftlern wird dabei neben dem selbstverständlichen höchsten persönlichen Einsatz in der Forschung vor allem verantwortungsvoller Umgang mit den erreichten Ergebnissen erwartet. Denn bei allem Leid, das diese tödliche Erkrankung des Gehirns auslöst, wäre es fatal, den Erkrankten und ihren Angehörigen falsche Hoffnungen zu machen.
Professor Dr. Christian Behl,
44, hat nach dem Studium und der Promotion in Neurobiologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg drei Jahre lang am Salk Institute for Biological Studies in San Diego, USA geforscht. Nach acht Jahren Forschungsarbeit am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München und der Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität übernahm Behl 2002 an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz den Lehrstuhl für Pathobiochemie der medizinischen Fakultät. Zusätzlich leitet er seit 2003 das Institut für Physiologische Chemie und Pathobiochemie sowie seit 2005 das neu gegründete Interdisziplinäre Forschungszentrum für Neurowissenschaften (IFZN). Seit dem Forschungsaufenthalt in San Diego beschäftigt sich Christian Behl mit den molekularen Ursachen des Nervenzelluntergangs beim Menschen und hier vor allem mit der Alzheimer-Krankheit und neuen Ansätzen der Prävention und Therapie.
KontaktUniv.-Prof. Dr. rer. nat. Christian Behl, Institut für Physiologische Chemie & Pathobiochemie Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Duesbergweg 6, 55099 Mainz E-Mail:
[email protected] www.uni-mainz.de/FB/Medizin/PhysiolChemie/www.ifzn.uni-mainz.de
PROLOG
Vor mir liegt das aufgeschnittene Hirn einer Toten. Zum ersten Mal im Leben sehe ich so etwas, und es berührt mich unangenehm, als würde ich die Intimsphäre eines Menschen verletzen, in sein Innerstes schauen. Für den Mann, der mir das Mikroskop einstellt, ist der Umgang mit fremden Gehirnen ein alltägliches Geschäft. Er öffnet einen rechteckigen schwarzen Holzkasten, holt vorsichtig winzige Glasplättchen mit Präparaten heraus und betrachtet sie fast andächtig, bevor er mir die farbigen Tupfer unterschiebt. Einen ähnlichen Gesichtsausdruck hatten die Pfarrer meiner katholischen Kindheit, wenn sie uns gähnenden Ministranten zur Frühmesse die Hostie zwischen die Zähne schoben.
Dies ist nicht der Leib des Herrn. Es sind Teile der Hirnrinde einer längst vermoderten Frau. Nicht irgendeiner Frau: Was mir unter dem Mikroskop in tausendfacher Vergrößerung wie eine Mondlandschaft mit Erhebungen, Verkrustungen, Tälern erscheint, ist das zerstörte Gehirn von Auguste Deter. Sie ist am 8. April 1906 in der Städtischen Irrenanstalt Frankfurt gestorben und in der Geschichte der Medizin als Auguste D. unsterblich geworden. Nach ihrem Tod hatte ein Arzt bei der Untersuchung ihres Gehirns zahlreiche kleine Ablagerungen von der Größe eines Reiskorns und verklumpte Bündel von Nervenfasern vorgefunden, was ihm »eigenartig« vorkam, und in diesen Veränderungen hat er die Ursachen einer seltsamen Krankheit vermutet, die später nach ihm benannt wurde.
Er hieß Alois Alzheimer.
Die an dieser Krankheit leiden, und das waren zum Ende des 20. Jahrhunderts in Deutschland etwa eine Million Menschen über fünfundsechzig und in den USA schon mehr als vier Millionen, verlieren langsam den Verstand. So wie Auguste Deter. Schlimmer: Ihnen entgleitet auf einem unaufhaltsamen Absturz ins Nichts ihre Identität, ihr Selbst. Sie verstehen die Welt nicht mehr. Nur am Anfang ihres freien Falls merken sie noch, wie sie die eigene Biographie verlässt und damit das, was ihr Leben ausgemacht hat. Darum sind die ersten Phasen der Krankheit, so seltsam dies klingen mag, für die Betroffenen viel schlimmer als kurz vor dem Tod das Endstadium. Diese dann totale Umnachtung ist für uns, die wir in einer Wirklichkeit jenseits ihrer Realität leben, das eigentliche Schreckensszenario, kann aber für die Erkrankten die Gnade ihrer letzten Jahre sein. Am Ende mag sogar gelten: Glücklich ist, wer vergisst.
Das darf man doch nicht mal denken.
Zu Beginn meiner Recherchen auf den Spuren Alzheimers, auf der Suche nach der leise verlöschenden und der für immer verloschenen Zeit, wäre ich tatsächlich über solchen Zynismus noch erschrocken gewesen. In vielen Gesprächen haben mir Wissenschaftler, Ärzte, Pfleger, Therapeuten bestätigt, dass in diesem sentimentalen Versprechen einer Operettenmelodie jedoch viel Wahrheit steckt. Manche meiner Vorstellungen über Alter und Tod sind deshalb gestorben. Beim Übergang von der einen in die andere Welt wird zum Beispiel nicht nur betroffen geweint, sondern auch unbeschwert gelacht. Während ich diesen Satz schreibe, sehe ich die sechsundachtzigjährige Frau vor mir, die in ihrer Vorstellung zwölf Jahre alt ist und morgens zur Schule gehen will und die geradezu glücklich ist, wenn der Stationsarzt sie untersucht, denn sie hält ihn für ihren über alles geliebten Klassenlehrer. Das kann sie nicht mehr klar ausdrücken, aber noch so zum Ausdruck bringen, dass der Sinn klar wird. Bald wird auch dieser Wahn verlöschen. Sie hat in der echten Welt höchstens noch ein Jahr vor sich, und in dieser Zeit wird ihr nichts Schlimmes mehr widerfahren, nur der Tod. Die traumatische Erfahrung, dass der Körper den Geist überlebt, hat sie bereits hinter sich.
Geht es ihr nicht viel besser als dem Musikprofessor, der erst am Anfang seiner Irrfahrt steht und den Namen der Krankheit, die von ihm Besitz ergreift, gar nicht wahrhaben will? Der sich einfach weigert, solange das noch geht, sie zur Kenntnis zu nehmen? Der alternativ versucht, die sich verlangsamenden Fertigkeiten seines Verstandes auszugleichen durch Vorausplanungen, basierend auf lebenslanger Erfahrung, was von seiner Umgebung als Weisheit bewundert wird? Der aber natürlich ahnt, dass er keine Chance hat, weil hinter der nächsten Ecke schon die ersten jener gesichtslosen Gespenster lauern, die ihn von nun an begleiten werden.
Die Realität außerhalb unseres Kopfes, die Außenwelt, bestimmt zwar unser Verhalten. Aber die Eindrücke werden gemischt mit selbstbewussten, selbst entwickelten Vorstellungen von Leben und Sein, der Innenwelt. Die komplizierte und fein ausgewogene Mischung ergibt den Verstand. Den kann man zeitweise außer Kraft setzen, sozusagen ausschalten. Ein Fall von Liebe zum Beispiel lässt Menschen ihren Verstand verlieren. Das geht bei Gesunden vorüber. Nur Verrückte sehen die Realität auf Dauer nicht mehr. Alzheimer-Kranke zum Beispiel. Weil ihre Realität verrückt ist, die Außenwelt fremd und die Innenwelt nicht mehr fähig, sinnvoll darauf zu reagieren. Die Verbindungen sind unterbrochen, das Netzwerk zwischen ihrer Welt und der wirklichen Welt ist gestört.
Der Verstand hat sie verlassen.
Meine Reise führte mich nicht nur in viele verlorene Vergangenheiten, sondern aus ihnen direkt in die Zukunft, denn weltweit wird von Pharmakonzernen in hochgerüsteten Labors nach einem Mittel geforscht, um das unheimliche Siechtum namens Alzheimer zu behandeln und zu heilen. Angesichts der dramatisch ansteigenden Zahl von Kranken – in Deutschland etwa 50 000 neue Fälle pro Jahr – winkt dem Multi, der das Medikament als Erster auf den Markt bringt, ein Milliardengeschäft. Die Spezialisten, die sich mit dem Hirnleiden beschäftigen und nach Ursachen suchen, wissen außerdem, dass sie bei entsprechendem Erfolg nicht nur die Chance auf Ruhm und Reichtum haben, sondern vielleicht sogar mal sich selbst retten, denn Alzheimer kann jeden treffen. Auch das motiviert.
Von Begegnungen und Erlebnissen im Niemandsland, auf der Suche nach dem erschreckenden, immer noch nicht erklärbaren Leiden und seinen Auswirkungen will ich berichten wie von einer Expedition ins Unbekannte. Es war nicht nur eine Reise, die mit Fahrplänen zu tun hatte oder mit Straßenkarten oder mit Flugstrecken, mit Terminen bei Erkrankten und ihren Familien, bei Pflegern und in Heimen, bei Ärzten und in Kliniken, in staubigen Archiven und in blitzenden Laboratorien. Vieles in Sachen Alzheimer habe ich gelernt über die Bildschirme meiner Computer, denn im Internet gibt es fast 30 000 Möglichkeiten, Begriffe im Zusammenhang mit Alzheimer anzuklicken – Selbsthilfegruppen, Leitfäden für Betroffene, Fachliteratur etc. Wichtiger: Jeder noch so schwache Hinweis auf eine mögliche neue Spur wird im elektronischen Netz vermeldet, jedes Hoffnung machende neue Testergebnis unter den Fachleuten ausführlich diskutiert.
Über Nacht ging ich in ein Labor der Cambridge University in England, da waren erste Versuche mit Kulturen künstlicher Nervenzellen abgeschlossen worden. Am Morgen schnell ins Forschungszentrum eines Pharmakonzerns nach New Jersey, wo ein Molekularbiologe die mit Alzheimer zusammenhängenden Eigenschaften einer bestimmten körpereigenen Substanz entdeckt hatte, von der ich bislang nicht mal wusste, dass es sie überhaupt gab. Am Ende meiner Reise wird sie mir geläufig sein wie eine Abkürzung aus meinem ganz alltäglichen Leben. Nachmittags nach Schweden in die Sahlgrenska-Universität, da erfährt man immer etwas Neues, weil sich im hohen Norden Hunderte von Experten ausschließlich mit der Ursachenforschung in Sachen Alzheimer beschäftigen. Abends dann noch ins »Salk Institute for Biological Studies« nach La Jolla, Kalifornien, denn dort gab es faszinierende Erkenntnisse über Zellen, die in tot geglaubten Regionen des Gehirns überlebt haben.
Aber vor allem will ich davon erzählen, wie ich auf den Spuren Alzheimers jenseits der veröffentlichten biographischen Fragmente sein zweites, sein unbekanntes Leben fand. Verbindungen zur Krankheit, die seinen Namen trägt, sind nicht zufällig. Denn nicht nur seine Entdeckungen unter dem Mikroskop, sondern auch seine Geschichte und vor allem die seiner Nachkommen handeln indirekt vom Vergessen und dem, was am besten vergessen wird. Es ist eine typisch deutsche Geschichte. Eine Geschichte, die auf andere Weise mit dem Vergessen zu tun hat. Der fränkische Kleinbürger war verheiratet mit einer aus Frankfurt stammenden Weltbürgerin, die in New York gelebt hatte. Sie starb selbst für damalige Verhältnisse zu früh, und auch Alzheimer selbst wurde nicht sehr alt. Ihre Kinder waren nach der verbrecherischen und für so viele Menschen tödlichen Logik der Gesetze, dem Unrecht, das im Tausendjährigen Reich zwölf Jahre lang rechtens war, keine reinrassigen Arier, und selbst für deren Kinder galt noch eine menschenunwürdige Ordnung: Sie wurden als Mischlinge zweiten Grades bezeichnet. Wie die Nachkommen Alzheimers überlebten und mit welchen Tricks und wer ihnen dabei half und wann sie sich endlich ihrer verdrängten jüdischen Geschichte bewusst wurden – auch das steht im Protokoll meiner Reise.
Ich gebe zu: Als ich mit den Planungen begann, wusste ich über Hirnleiden gerade so viel wie unbedingt nötig. Die Hölle ist, du lieber Himmel, doch immer in den anderen, warum zum Teufel sollte ich mich näher mit Alzheimer beschäftigen?
Weil es uns alle treffen kann.
1. KAPITEL
Vom Jemandsland ins Niemandsland
Alter Depp, sagt der Volksmund, oder blöde Alte. Chronische Hirnerkrankung, sagt der Mediziner. Stimmt alles. Die Alzheimer-Krankheit, häufigste Ursache für verwirrende Veränderungen im Alter, die als Demenz bezeichnet werden, ist die schwerste aller psychisch bedingten organischen Störungen. Sie beginnt mit scheinbar zufälliger Vergesslichkeit, mit der Suche nach Begriffen, die gestern noch vertraute Begleiter waren, mit Fremdsein in einer gewohnten Umgebung. Der Schlüssel ist verlegt. Die Brille unauffindbar. Wie hieß bloß der Nachbar, der immer so freundlich grüßte? Mit dem Auto an der falschen Ecke abgebogen. Den Herd nicht ausgemacht. Zum dritten Mal dieselbe Wäsche in den Trockner gepackt. Ein Buch gelesen und beim zweiten Kapitel schon den Anfang wieder vergessen. Aus dem Fahrstuhl zum eigenen Büro im Stockwerk darunter ausgestiegen. Das sind die ersten Zeichen – und Menetekel zugleich.
Die so Getroffenen wehren sich mit großer Macht und kleinen Tricks gegen die dämmernde Erkenntnis, auf schwankendem Grund zu gehen. Das Gedicht aus der Jugendzeit noch auswendig aufsagen zu können, aber vergessen zu haben, was sie zum Frühstück aßen. Sie verdrängen ihre aufsteigende Ratlosigkeit und ihre plötzliche Panik anfangs erfolgreich und errichten sich ein paar Geländer, an denen sie sich unauffällig festklammern können. Dabei unterdrücken sie ganz einfach ihre Verstörung, weil ihnen ihr Zustand nicht nur vor Fremden, sondern sogar vor ihren Angehörigen peinlich ist. Die Alzheimer-Krankheit ist immer noch eine Tabu-Krankheit, eine Art Aids im Gehirn. Wer mag schon zugeben, mehr und mehr zu verblöden, unaufhaltsam abzusinken in eine irre Realität? Krücken gegen schwindende Geistesgegenwart sind große Zettel in der Brusttasche, am Telefon, im Badezimmer, am Kleiderschrank, in der Küche. Hinweise, auf denen Banalitäten stehen, über die bisher nicht nachgedacht worden war, weil sie automatisch abliefen: Zahnbürste blau, Socken vom Fuß nach oben anziehen, erst Hörer abnehmen, dann wählen etc. Im Beruf Einprägen von Hilfen wie: Schreiben Sie mir das mal auf, damit ich es in Ruhe nachlesen kann. Entschuldigung, ich war mit meinen Gedanken ganz woanders, was haben Sie gesagt?
Gleichzeitig ziehen sich die Kranken, die sich anfangs noch nicht für richtig krank halten, sondern eher ratlos sind über ihre Ausfälle und diese mit einer vorübergehenden Schwäche wie der bei einer Erkältung verwechseln, Stück für Stück in ihre Welt zurück. In der wähnen sie sich sicher, weil sie da nur mit sich sind. Auftretende depressive Verstörungen gehören zwar schon zum Krankheitsbild, aber Depressionen hat doch jeder mal, was soll’s. Sie bauen für ihren Rückzug scheinbar nachvollziehbare, sinnvolle Erklärungen wie eine Schutzmauer um sich herum auf, geben vor, müde zu sein oder keine Lust zu haben, Freunde zu treffen, einen Film anzuschauen, in Urlaub zu gehen. In der Tat sind sie erschöpft und ausgelaugt, denn das Festklammern im Jemandsland vor dem Abgang ins Niemandsland kostet sie Kraft.
Bis es nicht mehr geht. Bis sie nicht mehr verbergen können, dass sie anders geworden sind. Weder vor der Familie noch vor den Mitarbeitern. Bis die Hilfskonstruktionen sie nicht mehr tragen. Bis sie unaufhaltsam abstürzen ins Nichts. »Ich kann spüren, wie ich diesen rutschigen Abhang hinuntergleite. Ich empfinde eine Traurigkeit und Angst, die ich nie zuvor erfahren habe«, beschrieb der Amerikaner Larry Rose diesen Zustand, solange er ihn noch in Worte fassen konnte. Wie ihm geht es allen Kranken. Bis sie im Wortsinne die Zeiger auf ihrer Uhr nicht mehr erkennen und ihre Zeit bestimmen können. Bis ihre Uhr stehen bleibt. Für immer.
Gefangen in einem Labyrinth, das nicht einmal einen Ausgang hat, wächst unaufhörlich und schleichend die Angst vor totaler Isolation. Eine Angst, die sie anfangs vor Entsetzen geradezu lähmt, von der die Kranken irgendwann nicht einmal mehr erzählen, sich mitteilen – und damit die Last mit anderen teilen – können, weil am Ende ihre zu Leerformeln degenerierte Sprache kaum mehr einer versteht. Sie werden sich auf der Abreise in die Nacht selbst fremd, und ihre Verzweiflung lässt gleichzeitig die verzweifeln, die sie doch ganz anders kannten. »Unbemerkt, in Stücken und Stückchen, entglitt ihr die Vergangenheit, alles Gewesene löste sich auf und verschwand. Die Gegenwart trat auf der Stelle, eine Zukunft gab es nicht«, schildert Leonore Suhl, eine an Alzheimer erkrankte Greisin, in ihrem Roman »Frau Dahls Flucht ins Ungewisse«. Elie Wiesel lässt in »Der Vergessene«, seiner fiktiven Geschichte von Vater und Sohn auf der Suche nach ihrer jüdischen Heimat, den von Alzheimer getroffenen alten Mann sagen: »Ich hatte Angst, in eine bodenlose Tiefe zu stürzen, wo mich das Lachen des Bösen erwartete.« Und jener Ingenieur Larry Rose, der in seinem Bericht »Ich habe Alzheimer« die ersten Phasen seiner Krankheit notierte, den noch spürbaren und merkbaren und beschreibbaren Verfall, bis ihn sein Zustand endgültig stumm machte: »Meine Gedanken sind verworren, entbehren jeglicher Ordnung. Ich spüre einen Zorn, eine Wut in meinem Kopf. Sie ist nicht zielgerichtet, hat keinen genauen Gegenstand – sie lässt sich nicht auf etwas Bestimmtes fixieren. Diese Wut richtet sich weithin gegen mich selbst.«
Es kann bis zu dreißig Jahre dauern, ehe die ersten Symptome der Krankheit auffällig werden. So lange schlummert sie unentdeckt im Gehirn, das – grob aufgeteilt – aus Hinterhirn, Mittelhirn und Vorderhirn besteht. Der hintere Teil ist zuständig für Herzschlag und Atmung und die normalen Bewegungen des Körpers. Im Mittelhirn wird zum Beispiel der Wechsel zwischen Schlafen und Wachen koordiniert. Die Alzheimer-Krankheit beginnt im limbischen System des Vorderhirns, einem dicht geknüpften Netzwerk von Nervenzellen und Leitungsbahnen. Hier werden die vegetativen und hormonellen Vorgänge des Körpers gesteuert, hier befinden sich das Gedächtnis und die Emotionen, die angeborenen Triebe und die erworbenen Instinkte. Hier entstehen Liebe und Hass, Furcht und Mut.
Genau hier bilden sich die ersten eiweißhaltigen Ablagerungen, die amyloiden Plaques, und zwar außerhalb der Nervenzellen. Ablagerungen von solchen Proteinen kommen bei allen älteren Menschen vor – übrigens auch bei anderen Säugetieren wie Affen und Hunden -, ohne deren geistige Fähigkeiten zu beeinträchtigen. Normalerweise werden sie von den dafür zuständigen Enzymen vernichtet, bevor sie sich zu Plaques zusammenballen, und diese Bruchteile dann einfach aus dem Gehirn weggeschwemmt.
Bei der Alzheimer-Krankheit dagegen springt plötzlich die Produktion dieser Spaltprodukte an, sie vermehren sich dann geradezu dramatisch. Die körnigen Eiweißbrocken besetzen nach und nach, oft über zwanzig Jahre lang, die gesamte Festplatte Großhirnrinde, in ihrer Umgebung sterben alle Nervenzellen ab. Eine ausgewachsene Plaque, ein Zehntel so dick wie die Seite, auf der dieser Satz jetzt steht, bedeckt die Fläche von etwa hundert Neuronen. Eine befallene Zelle zieht die andere mit in den Abgrund, und dies geschieht in einer rasenden Kaskade, einem unaufhaltsamen Prozess, schneller und schneller. Die unheilvolle Vermehrung ist nicht zu stoppen. Die Wege werden blockiert. Der Transport von Botenstoffen, den Neurotransmittern, die normalerweise für den blitzschnellen Austausch von Informationen sorgen und in Milliarden von Schaltungen die Signale zwischen den Nervenzellen mit einer Geschwindigkeit von hundert Metern pro Sekunde hin und her jagen, wird mit wachsender Zahl von Proteinklumpen immer schwieriger, irgendwann dann unmöglich. Neue Wahrnehmungen können deshalb nicht mehr verarbeitet und verglichen werden mit den gespeicherten Erfahrungen. Das Koordinatensystem des Lebens wird verrückt.
Wie das genau funktioniert, dass nichts mehr funktioniert, habe ich mir von Ursachenforschern in Sachen Alzheimer immer wieder erklären lassen. Zu Beginn meiner Reise ins Zentrum der Krankheit assoziierte ich Freie Radikale, die bei dem Anschlag aufs Gehirn entscheidend beteiligt sind, mit Ex-Terroristen, die in den Genuss einer Amnestie gekommen waren. Die Assoziation ist so wahnsinnig nicht, denn was in Wirklichkeit passiert, ist ein Attentat gegen den Verstand. In der Schaltzentrale des Gedächtnisses, das die Form eines Seepferdchens hat – und davon abgeleitet seinen lateinischen Namen Hippocampus -, wohnt der Geist des Menschen.
Der wird vertrieben.
Dies ist, ich weiß, medizinisch inkorrekt ausgedrückt, denn es gibt keinen Beweis für den Geist des Menschen, der zum Beispiel unter dem Mikroskop sichtbar wäre. Es gibt keinen Beweis dafür, dass im Hippocampus plötzlich ein Vakuum entsteht, was der Computer durch entsprechende Zahlenreihen dokumentiert. Für Molekularbiologen und Biophysiker und Neurologen bin ich von allen guten Geistern verlassen, wenn ich mich der Alzheimer-Krankheit auf diesen Wegen nähere. Wissenschaft basiert auf überprüfbaren Gesetzen und Prinzipien und versucht die systematisch so zu organisieren, dass die Realität klarer wird. Das schließt zum Beispiel Schöpfungslehre aus, und auch Gott darf nicht mitspielen. Naturwissenschaft und nichts sonst ist das Schwert des Geistes. Die menschliche Art, definiert Edward O. Wilson, amerikanischer Evolutionsforscher und Begründer der Soziobiologie, »ist ein Produkt der biologischen Evolution, die Menschen entstanden in einem Umfeld biologischer Habitate, und keine Philosophie und keine Religion macht einen wirklichen Sinn ohne Berücksichtigung von Punkt eins und Punkt zwei«.
Reicht denn nicht der medizinisch feststellbare Horror ganz ohne Transzendenz? Die Diagnose ALZHEIMER bedeutet nämlich nicht etwa ein unmittelbares Todesurteil. Viel furchtbarer: Der nach auffälligen Symptomen, nach Messungen der Gehirnströme, mentalen Tests und eingehender klinischer Beobachtung erstellte Krankheitsbefund, Treffsicherheit achtzig Prozent, ist die Ankündigung des langen Abschieds vom normalen Leben. Keine ärztliche Kunst vermag den beginnenden Verfall jenes Gehirnteils zu stoppen, der für Emotionen zuständig ist, für die Bilder aus dem Album einer unverwechselbaren Biographie, für die eigene Persönlichkeit.
Trotz aller Fortschritte der Medizin ist kein Mittel gegen diesen Altersschwachsinn entdeckt worden, denn tote Nerven und Nervenzellen können nicht – oder noch nicht? – repariert werden. Andere gesunde Zellen im Körper gleichen Verluste immer wieder bis zum Lebensende durch Teilung aus. Rote Blutzellen werden automatisch erneuert, denn in jeder Sekunde sterben rund 2,5 Millionen von ihnen, Lungenzellen schaffen es über achtzig Tage, bevor sie ersetzt werden müssen, Magenzellen nur knapp zwei Tage. Wer siebzig Jahre alt wird, ist zehnmal neu geboren, denn alle sieben Jahre erschaffen unsere Zellen uns neu.
Das Gedächtnis aber erlischt, es kann nicht neu geschaffen werden, jede der pyramidenförmigen Nervenzellen birgt eine ganz spezifische Erinnerung in sich. Wenn sie verkümmert, ist diese Erinnerung tot. Edward O. Wilson: »Der Abruf von Bildern aus der Langzeitdatenbank, die kaum oder gar nicht mit spezifischen Ereignissen gekoppelt sind, ist Gedächtnis; das Abgerufene, mit etwas Bestimmtem gekoppelt und auch noch vom Nachhall spezifischer Gefühle begleitet, ist das Erinnern.« Das hat er nicht mir allein gesagt, das habe ich mir in seinem großartigen Buch »Einheit des Wissens« gelesen.
Einigen Wissenschaftlern ist es gelungen, Nervenzellen zu züchten, aber die Kunstprodukte haben in ihrem Kern keine Erinnerung. Was sollen sie tun im Gehirn? Und an welcher Stelle? Versuche mit Ratten, Mäusen und mit Embryonenzellen sind Experimente der Hoffnung und gleichzeitig – besonders was die menschlichen Substanzen betrifft – als unerlaubter Eingriff in die Natur umstritten. Nach viel versprechenden Versuchen mit embryonalen Stammzellen von Mäusen folgten Züchtungen, ausgehend von menschlichen Stammzellen aus künstlich gezeugten Embryonen. Stammzellen sind die Mütter aller Zellen, sie können in jede Funktion hineinwachsen, für alle Notfälle im Körper benutzt werden. Sie sind allmächtig. Müssten theoretisch in der Lage sein, bei Krankheiten des Gehirns, Alzheimer und Huntington und Parkinson, die Aufgaben der verstorbenen Nervenzellen zu übernehmen. Wie das vielleicht tatsächlich machbar ist, habe ich mir bei Abstechern von meiner Reiseroute angeschaut, auf den Strecken, die in die Zukunft der Medizin führen. Man muss wohl genauer sagen: führen könnten, denn keiner weiß, ob es nicht nur Irrwege sind – und ob es überhaupt ethisch vertretbar ist, mit embryonalen Stammzellen zu forschen.
Weil die Medizin in den letzten Jahrzehnten so große Fortschritte gemacht hat, gibt es so viele Alzheimer-Kranke. Was wahnsinnig klingt und doch logisch ist: Früher starben die Alten früher, manche sagen sogar: rechtzeitig, solange sie noch gesund waren. Heute leben sie dank modernster Therapien und Medikamente länger – und entsprechend lange dauert das Sterben. Im Diesseits zwar noch vorhanden, aber bereits im Jenseits angekommen.
Wie fühlen Sie sich denn? wurde in einem Fernsehfilm eine alte Frau gefragt, und mühsam sagte sie, ganz gut, doch: ganz gut.
Was könnte denn besser sein?
Das Leben.
Dr. Gerhard König, einst Demenzforscher beim Pharmariesen Bayer in Wuppertal, hatte für die Heimsuchung namens Alzheimersche Krankheit ein anschauliches Bild gefunden, das ich nie vergessen habe, weil es in so klaren Farben gemalt war. Wenn hinter einem Haus ein Müllhaufen liegt, so König, ist das im Prinzip ja kein Problem. Man räumt ihn halt irgendwann weg. Falls man diesen Müllhaufen aber nicht wegschafft, aus Faulheit oder aus Nachlässigkeit, entstehen weitere Probleme. Das Regenwasser läuft nicht mehr richtig ab, Würmer siedeln sich an, es beginnt zu stinken und zu vergammeln, was wiederum Ratten anlockt, und der Rasen, der unter dem Müll liegt, der stirbt. Dieser Müllberg, das sind die Amyloid-Plaques, und die sind anfangs nicht das Problem, weil sie nicht so zahlreich sind, weil man sie wie den Müllberg einfach umgehen kann – in unserem Fall: weil die Botenstoffe im Gehirn dennoch durchkommen.
Irgendwann aber wird, um sein Beispiel auszumalen, der tägliche Gang zum Einkaufen oder zur Arbeit schwierig, weil wir durch den Müll am Haus kaum mehr durchkommen. Wir hätten ihn doch wegräumen sollen. Nun beißen uns die Ratten. Die Entsorgung einzelner Müllteile ist nicht mehr möglich, der Berg ist ein harter Klumpen geworden, die Wege insgesamt sind verstopft. Eine Schneise zu schlagen bringt nur kurzfristig Entlastung, denn der Müllberg an sich, der bleibt. Wir haben weder etwas an den Ursachen der Verstopfung geändert, noch rechtzeitig den Abfall weggeräumt.
Wieder übersetzt: Die Alzheimersche Krankheit, die Belästigung im Kopf, springt irgendwann an, wenn der Müll zu hart geworden ist und der Berg nicht mehr umgangen werden kann. Wir brauchen eine Substanz, sagte König, die entweder den Müll ganz wegräumt oder vor jedes Haus einen Müllmann hinstellt oder die Ratten abschießt. Einfach wegziehen, um im Bild zu bleiben, wäre das keine Lösung? Das wäre im übertragenen Sinn vergleichbar mit gezüchteten Nervenzellen, das geht theoretisch natürlich auch. Die toten Nervenzellen zurücklassen und mit frischen ein neues Leben beginnen. Aber der Briefträger hat unsere Adresse nicht mehr, es gibt keinen Anschluss mehr fürs Wasser, für den Strom. Gezüchtete Nervenzellen haben ja keine Erinnerung.
Und falls ein Arzt den Müll im Kopf, die Veränderungen rechtzeitig bemerkt hätte, was mit Computertomographie bei anderen Krankheiten des Gehirns, wie Tumoren, doch möglich ist?
Würde nichts daran ändern, dass nichts mehr zu ändern ist, denn bei dieser Form von Demenz gibt es keinen Begriff wie »rechtzeitig«. Wenn Alzheimer-Kranke endlich zum Arzt kommen oder zum Arzt gebracht werden, weil sich die meisten bis zuletzt dagegen gesträubt haben und mit aller Kraft vor sich und ihren Angehörigen ihren Zustand möglichst lange verbergen wollten, haben sie – statistisch gesehen – noch fünf Jahre zu leben. Die Patienten sterben in der ihnen verbleibenden Zeit jeden Tag ein bisschen mehr, ohne schon wirklich sterben zu dürfen. Ein vorübergehender Stillstand des demütigenden Abfalls, dieses unwürdigen Zustands, der mit Medikamenten unter beträchtlichen Nebenwirkungen manchmal erreicht werden kann, gilt beim schleichenden Hirntod als Fortschritt. An entsprechenden Mitteln arbeiten viele.
Weil die für Kreislauf und Atmung zuständigen Bereiche im Hinterhirn im Gegensatz zu den anderen Teilen funktionieren, bleiben die psychisch Erkrankten aber physisch noch ziemlich lange gesund. Kranker Geist in einem noch intakten Körper. Nur der Zerfall in jenem Areal unseres Zentralorgans, das Erfahrungen speichert und Emotionen und Erlebtes, ist nicht zu stoppen. Die Patienten verlieren im wahrsten Sinn des Wortes ihre Orientierung, weil im Laufe der Zeit wegfällt, woran sie sich festhalten könnten. Zuerst verdämmert ihre Erinnerung, dann verödet ihr Verstand, dann versinkt ihre Rede in sinnlosem Gebrabbel. Wenn sich der normale Tod ihrer gnädig erbarmt, hat der mit ihrer ursprünglichen Erkrankung eigentlich nichts zu tun und wird als Lungenentzündung, Herzinfarkt oder Schlaganfall registriert.
Das Wesentliche, nämlich andere zu erkennen und sich zu erinnern, löst sich einfach auf. Es gibt keine Rettung vor dem sich öffnenden schwarzen Loch der unendlichen Leere. Am Ende dieses Kabelbrands ist die Hälfte der Nervenzellen im menschlichen Gehirn zerstört, und dann sind, so unfassbar diese Zahl sich anhört, über fünfzig Milliarden Zellen tot. Jeder Mensch verliert normalerweise täglich etwa hunderttausend Nervenzellen, für immer, denn sie sind ja nicht ersetzbar, und das summiert sich bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von siebzig Jahren auf rund zwei Milliarden. Aber da es sicher hundert Milliarden Nervenzellen gibt, sind diese zwei Milliarden eine zu vernachlässigende Größe.
Anders beim unheimlichen Verfall während der Alzheimer-Krankheit. In der letzten Phase vor der Erlösung ist das Gehirn manchmal auf zwei Drittel seines ursprünglichen Umfangs geschrumpft. Erst post mortem – und das Sterben muss nicht »nur« fünf Jahre, es kann mitunter sogar schreckliche zehn Jahre und mehr dauern – lässt sich auf dem Seziertisch in der Pathologie die klinische Beobachtung einer Alzheimer-Demenz mit absoluter Sicherheit bestätigen. Die Diagnose sieht dann etwa so aus:
Schmale Hirnwindungen und breite Furchen statt breiter Hirnwindungen und schmaler Furchen wie bei Gesunden. Erweiterte Hirnkammern. In der Großhirnrinde Millionen von unauflöslichen Eiweißknötchen, ebenjene Amyloid-Plaques, die steinernen Platten des riesigen Friedhofs im Kopf. Verkrustete eiweißhaltige Fadenknäuel winziger Nervenfasern in den Zellen, Neurofibrillenbündel, die unter dem elektronischen Mikroskop in tausendfacher Vergrößerung aussehen wie schwarze Haarzöpfe ohne Kopf. Amerikanische Wissenschaftler haben diese Todesboten treffend Ghost-Tangles getauft. Verklumpt die Hälfte aller Synapsen. Über nur millionstel Millimeter breite Spalten, die Trennungsgräben zwischen einzelnen Nervenzellen, sind vor Ausbruch der Krankheit Informationen und Erkenntnisse blitzschnell im Gehirn weitergeleitet worden. Synapsen überbrücken die Wege zwischen den Zellen. Sie senden und empfangen Tausende von biochemischen Substanzen. Innerhalb der Zellen geht es elektronisch zu, denn Impulse werden elektrisch übertragen wie ein Stromstoß, zwischen den Zellen wird mit Hilfe chemischer Übertragungen kommuniziert.
Von ihrem Bauplan her sind alle Nervenzellen gleich, zumindest sehen sie etwa gleich aus: Kern oder Kopf (Soma), ein dichtes Geflecht von Ästen (Dendriten), ein sich fortsetzender Auswuchs, der manchmal mehr als einen Meter lang sein kann und tief ins Rückenmark reicht, Axon genannt. Bei Gesunden stehen Pyramidenzellen miteinander in Kontakt durch Aussprossungen, und durch diese tauschen sie sich aus. Dendriten empfangen die elektrischen Signale, Axone geben sie weiter, scheiden dabei an ihrem Ende chemische Botenstoffe aus, die überspringen die Synapsen und sorgen für den reibungslosen Austausch von wichtigen Nachrichten. Das geht bei Alzheimer-Kranken nicht mehr. Die Substanz, die als Überträger jener von Zelle zu Zelle zischenden Informationen nötig ist, wird auch nicht mehr hergestellt. Also können die Botschaften nicht mehr weitergegeben werden. Ohne Botenstoff funktioniert das Gehirn nicht mehr, es erstarrt. Funkstille. Ein Motor ohne Benzin fängt an zu stottern, und irgendwann bleibt er stehen. Beim Auto kann nachgetankt werden, im Gehirn geht das nicht.
Um die Dimensionen der Veränderung deutlich zu machen: Eine Plaque besetzt nicht nur die Fläche von hundert Nervenzellen, sondern ebenso die Fläche von einer Million Synapsen. Wissenschaftler diskutieren immer noch darüber, ob Amyloid-Plaques und verfilzte Neurofibrillen die Ursachen des Hirnleidens oder die Auswirkungen sind. Die Mehrheit der Forscher hält die Ablagerungen, die durch Umwandlung von normalen Zellproteinen in schädliche Endprodukte entstehen, inzwischen für die Ursache der Erkrankung. Die Experten haben aber nur Theorien darüber, warum sie bei den einen entstehen und bei den anderen nicht, und das werden sie mir noch ausführlich erklären müssen.
Diese Knoten und Faserbündel sind nicht nur bei verschiedenen Erkrankungen des Gehirns wie der Parkinsonschen oder der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit nachzuweisen, es gibt sie auch bei gesunden alten Menschen über fünfundsiebzig. Die Menge dieser »Herdchen« und »merkwürdiger Veränderungen«, wie sie einst Alzheimer nannte, ist entscheidend für den Ausbruch der Krankheit, die seinen Namen trägt: »Nichts spricht wohl gegen die Annahme«, schrieb damals der Arzt in seinem erst 1911, also fünf Jahre nach Entdeckung der Krankheit, veröffentlichten und inzwischen berühmten Referat über »Eigenartige Krankheitsfälle des späteren Alters«, dass der unauflösliche harte Kern »seine Entstehung der Ablagerung irgendeines noch unbekannten Stoffwechselprodukts in der Hirnrinde verdankt«.
Die Gründe für diesen abnormen Stoffwechsel sind bis heute unbekannt, obwohl durch Methoden moderner Molekularbiologie, die Erforschung von Erbsubstanzen an Hand von Molekülen und durch Fortschritte der Gentechnik einige wenige Ursachen definitiv bestimmt sind. Bei den Erkenntnissen über die Wirkungen sind die Forscher natürlich weiter als Alzheimer am Beginn des letzten Jahrhunderts, sie kennen sogar bestimmte Risikofaktoren, die zum Ausbruch der Krankheit führen, zum Beispiel Vererbung, zum Beispiel Gendefekte, zum Beispiel traumatische Hirnverletzungen.
Dass sich die Ergebnisse in Plaques zeigen, hat allerdings schon damals der Mann gesehen, der die Psychiatrie mit dem Mikroskop betrieb. Die Definition von Alois Alzheimer, die präzise Beschreibung dessen, was er unter dem Mikroskop entdeckte, und seine Schlussfolgerungen daraus gelten im Prinzip noch immer. Man weiß zwar immer mehr darüber, was da oben im Kopf bei den Kranken passiert und wie sich das in verschiedenen Stadien äußert. Doch immer noch weiß keiner, warum es passiert. Die Lehre vom Erkennen und von der Behandlung organisch bedingter Nervenkrankheiten fasziniert deshalb die Forscher weltweit. Vom Jahreskongress der Neurologen, bei dem sich regelmäßig bis zu 25 000 Experten treffen, wird berichtet, dass sich etwa die Hälfte von ihnen ausschließlich mit dem Morbus Alzheimer befasst.
Was haben die Opfer der Krankheit von klugen Theorien, da es doch keine Medikamente gibt? Ist es nicht eher noch schlimmer, zu wissen, dass man nichts weiß, und hilflos mit ansehen zu müssen, wie ein Mensch vergeht und zu einem Wesen ohne Eigenschaften wird, augenscheinlich vertrottelt, in Wirklichkeit schwer krank? Alzheimer-Patienten im letzten Stadium ihrer Krankheit, ohne die Stütze Gedächtnis, existieren in einer Gegenwart, die keinen Sinn mehr ergibt, weil Vergangenheit fehlt und Zukunft erst recht. Sie sind abwesend von sich selbst: lachen und weinen, aber sie wissen nicht mehr, warum. Sie empfinden in ihrer Selbstvergessenheit noch Zuneigung und Liebe, Abneigung und Hass, aber sie können diese Gefühle nicht mehr mitteilen. Wutanfälle und Aggressionen sind keinesfalls der Beleg dafür, dass frei nach der Lehre von Konfuzius mit dem Tod des Geistes das Gute gestorben und das Böse geblieben ist. Solche Ausbrüche sind oft nur ein Ausdruck verzweifelter Ohnmacht, Schreie mit der anders nicht mehr auszudrückenden Bitte um Hilfe. Eine Erkenntnis, die weder ihnen noch ihren Angehörigen hilft. Denn die müssen ja genauso hilflos ertragen, was nicht zu ändern ist.
»Antworte mir. Komm mir zu Hilfe«, fleht der Enkel in Elie Wiesels Roman den toten Großvater in einem stummen Gebet an, »dein Sohn braucht dich, und ich brauche dich auch. Mein Vater versteht keinen Menschen mehr, und keiner versteht ihn. Als sei er verrückt geworden. Aber das ist nicht der Fall. Man sagt doch, ein Verrückter besäße wie ein Tier, das geopfert werden soll, eine gewisse Einsicht oder wenigstens eine primitive Form von Verstand, der anders geartet ist als bei uns. Aber bei ihm ist der Verstand, ist der Geist selbst betroffen. Großvater, er ist krank … Sein Leiden hat einen Namen, aber er weigert sich, ihn zur Kenntnis zu nehmen.«
Stellen Sie sich das mal vor, sagte mir der Wissenschaftler, bei dem ich zum ersten Mal unter dem Mikroskop Teil der Hirnrinde eines Menschen betrachtet habe, Sie wissen nicht mehr, wo Sie sind, und Sie wissen nicht mehr, wer Sie sind, und Sie wissen nicht mehr, was Sie tun. Sie verlieren Ihre Würde, ergänzt er leise, obwohl Sie doch nur Ihren Geist verloren haben und nicht Ihre Seele. Stellen Sie sich das mal vor.
Das will ich nicht und rette mich vor dem Albtraum dieser Vorstellung deshalb mit simplen Fragen: Was genau heißt Amyloid? Was machen Proteine? Woraus bestehen die? Welche Funktion haben Enzyme? Was passiert da oben im Kopf? Ich muss darüber mehr wissen, obwohl ich nach dem Abitur nie wieder etwas hören wollte von Biologie und von Chemie, und von Physik und von Mathematik erst recht nicht. Ich muss über die Grenzen meiner gesunden Halbbildung hinausgehen. Ich muss mich dabei nicht blöde stellen.
Ich bin es.
Aus Proteinen bestehen fünfzig Prozent des Trockengewichts aller Körperzellen. Proteine in Form von Enzymen regeln den Stoffwechsel des Körpers. Bis hier ist mir alles klar. Der Arzt und Biologe Rudolf Virchow hat vor rund hundertfünfzig Jahren steinharte Ablagerungen in zerstörten Nervenzellen entdeckt, lerne ich dazu, und die hat er als Amyloide bezeichnet, weil sie ihn an stärkeähnliche Stoffe in Birnen erinnerten. Inzwischen weiß man, dass Amyloide aus Eiweißprotein bestehen, genauer aus einem zwischen 39 und 42 Aminosäuren langen Protein. Aminosäuren sind organische Verbindungen, Grundstoffe des Lebens, die chemischen Bausteine der Proteine und die Eiweißstoffe wiederum die wichtigsten Substanzen für lebende Organismen, also auch für Menschen. Diese Eiweißmoleküle heißen Beta-Faltblätter, und davon abgeleitet nennt man die Grabsteine im Gehirn inzwischen in der Fachsprache »Beta-Amyloid-4-Protein« oder noch kürzer: bA4. Bei Gesunden werden diese Proteine durch Enzyme, von denen die Stoffwechsel im Körper betrieben werden, bereits außerhalb der Nervenzellen unschädlich gemacht und die winzigen Brocken aus dem Gehirn auf Nimmerwiedersehen abtransportiert. Enzyme sind eine Art molekularer Scheren, sie zerschneiden die Feinde im Kopf. Es entstehen keine Plaques. Bei Alzheimer-Kranken funktioniert dieser alltägliche Vorgang nicht mehr, bei dem nur harmlose Spaltprodukte abfallen. Da fangen diese Enzyme fatalerweise innerhalb der Zellmembran an zu schnipseln, zu zerstören, nämlich genau da, wo sie gar nicht arbeiten sollen. Sie verwandeln sich von Helfern zu Mördern. Das Eiweißmolekül wird an der falschen Stelle gespalten, nicht mehr weggespült, es klumpt sich in Amyloiden zusammen, die unauflöslich sind. Warum das so ist? Allgemeines Achselzucken bei den Experten.
Ein anderes Protein, das Tau-Protein, ist zuständig für die Stabilisierung der Transportwege im Gehirn, für die insgesamt etwa 360 000 Kilometer langen Leitungen zwischen den Millionen von Synapsen und Nervenzellen. Tau-Protein ist ein stäbchenförmiges Phosphat-Molekül, zugleich Autobahnpolizei und Straßenwacht, und zuständig für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur oben im Hirn. Durch Fehlsteuerung degeneriert das Tau-Protein und macht das Gegenteil von dem, was es eigentlich sollte, es lässt die Leitungen, die es stärken müsste, brüchig werden, bis sie zerfallen. In den Schlaglöchern wuchert es fest. Tau-Protein verfilzt zu starren Bündeln, die das Innere der Nervenzellen besetzen, bis die abgestorben sind und die anderen Parasiten des Geistes übrig bleiben. Die Neurofibrillen. Wodurch diese Mutation ausgelöst wird, weiß wiederum keiner. Sicher ist: Bei Alzheimer-Kranken ist der Anteil an Tau-Protein dreimal höher als bei Gesunden. Und dieser Anteil steigt mit zunehmender Demenz.
Neurologen wissen nur, was da in den Nervenfasern abläuft und welche Wirkungen das im Gehirn hat: Die körpereigenen Proteine geraten außer Kontrolle. Statt ins Gewebe ausgeschüttet zu werden, ballen sie sich in den Synapsen, ausgerechnet an den sensiblen Stellen, wo die Empfangsstränge für die Zellen liegen. Bald geht wie bei einem Verkehrsstau buchstäblich nichts mehr. Das Kommunikationssystem stirbt ab. Am Ende sind alle Verbindungen im Vorderhirn tot. Alle Leitungen gekappt. Alle Relaisstationen außer Betrieb. Keiner weiß, und ich natürlich auch nicht, wie viel die Kranken noch mitbekommen von diesem Verfall und ob das Begreifen, nichts begreifen zu können, der entsetzlichste Teil ihrer Verzweiflung, ihrer unendlichen Angst ist.
Wandern sie vielleicht deshalb so ruhelos herum, auf der Suche nach ihrer für immer verlorenen Zeit? Diese Eigenart bei den Patienten mit der »eigenartigen« Krankheit fiel bereits Alois Alzheimer auf. Über den Tagelöhner Johann Feigl, medizinhistorisch der zweite berühmte Fall in der Geschichte der Krankheit, notierte er unter dem Datum des 12. Juni 1908: »Im Garten geht er, ohne sich aufhalten zu lassen, solange man ihn gewähren lässt, im raschen Tempo, obwohl er völlig in Schweiß gebadet ist, immer einen kreisförmigen Weg herum, wobei er ständig die langen Schöße seines Rockes mit der Hand wickelt und krampfhaft zusammenhält.«
Diese krankheitstypische Ruhelosigkeit hat vor ein paar Jahren den amerikanischen Architekten David Hoglund auf eine nahe liegende Idee gebracht, als er den Auftrag zum Bau eines Pflegeheims speziell für Alzheimer-Patienten bekam. In einem kurzen Satz: Wenn die unbedingt laufen wollen, muss man ihnen Platz zum Laufen geben. Logisch. Er wollte zwar hier in Oakmont im US-Bundesstaat Pennsylvania keine Art von psychiatrischer Rennstrecke bauen, auf der die verwirrten Alten bis zur physischen Erschöpfung in die Unendlichkeit gehen sollten. Aber das Ergebnis seiner Überlegungen, ein großzügig und weitflächig angelegter Gartenpfad, ist Teil der Therapie geworden, wird inzwischen als beispielhaft gepriesen und, wo immer es geht, nachgebaut.
So entfällt das nicht nur bei Alzheimer-Kranken übliche Festbinden in Betten und Rollstühlen oder das Ruhigstellen durch Psychopharmaka, die vorübergehend Erleichterung schaffen, aber auf Dauer nur dem meist überforderten Personal helfen, nicht den Patienten. Je mehr ich darüber lese, desto weniger erstrebenswert scheint mir ein hohes Alter zu sein.
Bei einer überraschenden Stichprobe in 26 Pflegeheimen stellte man in Deutschland im Sommer 1998 übrigens 2200 »freiheitsentziehende Maßnahmen« fest, wie das in feiner Umschreibung der Amtssprache heißt. Grob gesprochen wären das, Nacht für Nacht, in den rund 8000 Häusern hochgerechnet 380 000 angebundene Heimbewohner. Diese Zahlen haben keinen überrascht, die Empörung verflog schnell, denn die Zustände waren seit Jahren bekannt. Sie zu ändern fehlte angeblich das Geld. Die meisten unserer Alten, entschuldigte sich ein ertappter christlicher Anstaltsleiter, merken doch eh nicht mehr, was mit ihnen geschieht. Überhaupt reden wir doch nur von höchstens fünf Prozent der als Senioren bezeichneten Bevölkerung, die anderen fünfundneunzig leben doch noch in ihren eigenen vier Wänden. Die bindet doch keiner an, die verlaufen sich doch höchstens mal.
Beim Zuhören kam in mir der unchristliche Wunsch hoch, der Herr möge solche Menschen im Alter mit der Einweisung in eines dieser totenstillen Heime belohnen und möglichst lange warten, bevor er sie zu sich rufen lässt. Nach dieser gemeinen Vision ging es mir besser.
Hoglund plante von Anfang an große freie Flächen auf dem Gelände von Woodside Place, auf dem sich Patienten bewegen konnten, ohne von Türen, Treppen, Wegkreuzungen, Wänden aufgehalten zu werden. »The Wandering Problem«, wie Psychiater das mit einem treffenden Fachausdruck nennen, definiert die merkwürdige Tatsache, dass Alzheimer-Kranke unentwegt ihrer zerstörten Innenwelt entfliehen wollen, in der die Bedeutung von Wörtern und Bildern abgestorben ist. Umschreibt Fluchtversuche aus dem Gefängnis, in dem sie sich eingeschlossen fühlen. Sie versuchen offensichtlich laufend, etwas Unaussprechliches zu finden, aber was das sein könnte, scheint ihnen entfallen zu sein. Zwei Begriffe lassen sich dabei manchmal in verwirrten Schreien überall auf der Welt noch heraushören, in jeder Sprache: zu Hause und Mutter. Wie Kinder, aber ohne deren Prinzip Hoffnung, sind die Alten zurückgeworfen auf den Anfang, als ob ihr Leben gerade beginnt, statt zu enden. Ist durch diesen Zustand erklärbar das Greif- und Saugeffekt genannte hemmungslose Verhalten im letzten Stadium der Krankheit? Das verzweifelte Festklammern an anderen Menschen, an der symbolischen Mutter?
Das lässt sich zwar so interpretieren, aber nicht belegen, weil es aus dieser Welt der letzten Schreie keine verwertbaren Meldungen mehr gibt. Man kann die Betroffenen ja nicht mehr fragen. Der deutsche Neurologe Günter Krämer hat vor ein paar Jahren seine Erfahrungen mit Alzheimer-Kranken in einem schmucklosen, sehr menschlichen und deshalb verständlichen Buch aufgeschrieben. Grundlegende Bedürfnisse nach Liebe und Geborgenheit bestehen während der Krankheit weiter, stellte er fest, und zwar in allen Phasen. Ähnlich wie bei kleinen Kindern, die Nähe und Zuflucht bei ihren Eltern suchen, tritt dann umgekehrt die Situation ein, in der Eltern wieder zu Kindern und Kinder zu Eltern werden.
In Woodside oder in der niederländischen Kleinstadt Emmen, wo ebenfalls andere Umgangsformen mit den Pflegefällen des Alters erprobt werden, ist die durch keine Abzweigung gestörte Endlosschleife eine von vielen Ideen, mit denen man versucht, tägliche Niederlagen gegen die Alzheimer-Krankheit erträglicher, menschenwürdiger zu gestalten. Es geht nur um Niederlagen, Siege gibt es bei dieser Erkrankung nicht mehr. Besuchen Sie uns mal, hatte mir ein Leiter des holländischen Heims am Telefon gesagt, schauen Sie sich alles an. Erleben Sie mal die Wirkung, bevor Sie sich mögliche Ursachen erklären lassen. Piet Schievink fügte hinzu: »Erwarten Sie aber keine Wunder.« Was ich dort später erlebt habe, kam mir aber in der Tat wie ein Wunder vor.
Weltweit schätzt man die Zahl derer, die an der »Krankheit des Vergessens« leiden – denn es gibt nur Schätzungen, weil die meisten Alzheimer-Kranken daheim gepflegt werden, von ihren Verwandten dabei hilflos mitleidend erlitten -, auf fünfzehn Millionen Menschen. In Entwicklungsländern ist das Siechtum fast unbekannt, da wird, wie man weiß und schon lange nicht ändert, früh genug an anderen Krankheiten gestorben. Es sind mehr Frauen als Männer an Alzheimer erkrankt, aber das ist einfach zu erklären, denn Frauen haben eine größere Lebenserwartung als Männer und erkranken deshalb absolut gesehen häufiger. Es existieren einfach mehr alte Frauen als alte Männer, deshalb mehr Kranke unter ihnen.
Selten betrifft das Gehirnleiden Menschen unter fünfzig, fast ausschließlich alte über fünfundsechzig werden getroffen. Da die Lebenserwartung in den reichen Staaten des Westens wächst, ist bis zum Jahre 2040 mit einer Steigerung der Erkrankungen um fünfzig Prozent zu rechnen. Dann wird, sagen kühle Statistiker, jeder Sechzehnte über fünfundsiebzig, aber schon jeder vierte über achtzig an dem von Alzheimer erkannten Hirnschwund verkümmern, und dies ist nicht nur ein unvorstellbares Schicksal. Dies kann vor allem unvorstellbar teuer werden. Mehr als 400 Milliarden Dollar pro Jahr würde allein in den USA dann die Pflege der Alzheimer-Kranken kosten. Derzeit sind es 125 Milliarden. Die Verwüstung der Innenwelt, die mit einer von der Außenwelt nachsichtig belächelten Vergesslichkeit beginnt, ist jetzt schon nach den großen Killern Schlaganfall, Herzinfarkt und Krebs die häufigste Todesursache bei allen Menschen, und zwar ohne geschlechtsspezifische Unterschiede.
Gestorben wird erst einmal psychisch, nicht physisch, und das bedeutet: Die Krankheit an sich ist zwar unheilbar, führt aber nicht unmittelbar zum Exitus wie die anderen drei. Bei Gott kein Trost. Wer an Krebs erkrankt, weiß zwar in den meisten Fällen, dass er kein Morgen mehr haben wird und fortan den Tod als treuen täglichen Begleiter, doch bleibt bis zum Schluss die Erinnerung an ein ganz persönliches Gestern. Selbst die hat ein Alzheimer-Kranker verloren, denn die ist nach und nach erloschen.
Typisch deutsches Endzeitgemälde, widerspricht der Hamburger Neurologe Dr. Jan Wojnar meinem resignativen Bild der Nacht. Typisch deutsch: Nur die dunkle Seite sehen. Den Horror. Das Grauen. Never look to the bright side of life. Die meisten von denen, die im Endstadium der Alzheimer-Krankheit bei uns leben, sind viel zufriedener als Gesunde im gleichen Alter.
Ich glaubte ihm kein Wort, und das merkte er. Hatte ich nicht gerade auf dem Flur einer Station die verstörten Alten herumschlurfen sehen, den Blick gerichtet ins Nirgendwo, auf jeden Fall nicht mehr von dieser Welt? Hatte ich nicht beobachtet, wie sie regungslos vor einem Spiegel standen und in ihm den Menschen nicht erkannten, der doch ihr Spiegelbild war? Wojnar ahnte, woran ich dachte, und lächelte dennoch milde. Klingt für Sie absurd? Völlig verrückt? Sie werden schon noch begreifen lernen, warum das einfach logisch ist.
Ich rette mich zunächst in die andere Vergangenheit. In eine, die ich begreifen kann. Auguste Deter, deren Hirnrindenpartikelchen an einem heißen Sommertag vor mir liegen, wurde Ende des Jahres 1901 in die Irrenanstalt am Affensteiner Feld in Frankfurt eingeliefert. Sie hatte ihren Mann, einen Kanzleischreiber bei der Eisenbahn, nicht mehr erkannt, wirres Zeug geredet und war für ihre Familie zu einem Pflegefall geworden, mit dem die alleine nicht mehr fertig wurde. Die Anstalt sollte sie nicht mehr verlassen können, dort wird sie nach viereinhalb Jahren Leiden sterben.
»Sie fand sich in ihrer Wohnung nicht mehr zurecht, schleppte die Gegenstände hin und her, versteckte sie, zuweilen glaubte sie, man wolle sie umbringen, und begann laut zu schreien«, berichtete nach ihrem Tod Alois Alzheimer seinen Fachkollegen über die Symptome bei ihrer Einlieferung, von denen ihr Frankfurter Hausarzt nach bestem Wissen auf chronische Hirnparalyse geschlossen hatte. Die zuhörenden Geheimräte bei der »37. Jahrestagung der Südwestdeutschen Irrenärzte« am 3. November 1906 nahmen Alzheimers kurzes Referat eher gelangweilt hin. Kein Diskussionsbedarf, verzeichnete das Protokoll. Diese bedauernswerte Frau war offenbar ein Fall von Demenz, etwas früh in dem Alter, also wohl präsenile Demenz, aber die vom Kollegen Alzheimer beschriebenen Symptome waren doch eindeutig. Der Nächste, bitte.
Demenz ist abgeleitet aus dem lateinischen dementia, Blödsinn, und bezeichnet auffällig eintretenden geistigen Verfall im Alter. Dass manche alte Menschen verkalken und dabei mehr und mehr verblöden, schien zu Alzheimers Zeiten gottgewollt und vor allem kein Problem, denn nur fünf Prozent der Bevölkerung wurden damals überhaupt fünfundsechzig oder gar älter. Insofern mag das Desinteresse der Irrenärzte in Tübingen verständlich sein. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Kindes, das 1870 geboren wurde, lag bei 37 Jahren. Wer es über die statistische Grenze in seine sechziger Jahre schaffte, dann ein wenig wunderlich war, gestört und nicht mehr Herr seiner Sinne schien, wurde bis zum Ende meist im Schoße der Familie aufgefangen.
Demenz muss nicht immer etwas mit Verblödung zu tun haben, die kann in der Tat normal sein. Nur senile Demenz war als Begriff in der Medizin bekannt und als Krankheit akzeptiert.
Das weiß natürlich auch Doktor Alzheimer.
Die Patientin, die im November 1901 auf seine Station gebracht wurde, ist aber erst einundfünfzig und sie fällt deshalb unter den üblichen Irren auf. Alle Erscheinungsformen ihrer psychischen Störungen gleichen denen der senilen Demenz, die Alzheimer an verschiedenen Patienten registriert und handschriftlich in deren Krankenblättern festgehalten hat. Deshalb vermutet er bei ihr zunächst eine Art von präseniler Demenz. Auch solche Fälle hat er in den vergangenen Jahren beobachtet.Tagsüber bei seinen Visiten als Klinikarzt, nachts forschend im Labor, wenn er zusammen mit seinem Freund Franz Nissl bei der Hirnuntersuchung Verstorbener nach den Ursachen der Auswirkungen sucht, die er schon am lebenden Fall gesehen hat. Die nächtliche Arbeit ist unbezahlt, denn für solche Forschungen hat man nicht nur in Frankfurt kein Geld. Es wird aber von den Ärzten erwartet, sozusagen als eigene Initiative zur Fortbildung. Alzheimer selbst sah das genauso: »In Wirklichkeit ist nicht einzusehen, warum nicht der bessere Anstaltsarzt der sein sollte, der neben seiner Berufsarbeit auch die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychiatrie zu fördern bemüht ist.«
Fünf Jahre nach diesem seltsamen Gespräch lässt sich der Nervenarzt das Gehirn der inzwischen verstorbenen Auguste Deter nach München nachschicken. Dort leitet er seit 1903 das Labor der Königlichen Psychiatrischen Klinik in der Nußbaumstraße. Alzheimer hat die Patientin, die ihm so seltsam erschien und deren Verhalten angesichts ihres Alters in keines der bekannten Muster von Demenzerkrankungen passte, nicht vergessen. Was er in Frankfurt als Kliniker beobachtet und aufgeschrieben hat, kann er nun als Pathologe im Labor überprüfen. Er vermutet, einer neuen Krankheit auf der Spur zu sein, denn eine Krankheit ist ja nicht so einfach plötzlich vorhanden wie ein Käfer oder eine Blume, und es muss sie nur noch einer mit dem richtigen Blick erkennen. Vieles muss passieren, bevor eine Erkrankung als atypisch auffällt und nicht falsch als eine bestimmte Form unter den bekannten Krankheiten eingeordnet wird. Es tauchen vielleicht über Nacht Patienten mit Symptomen auf, die man sich nicht erklären kann. Aber erst wenn diese eigenartigen Fälle verstorben sind, entdeckt eventuell der Neuropathologe in ihren Hirnrinden ebenso eigenartige Veränderungen, die wahrscheinlich die Ursachen für die Auffälligkeiten waren. Beides zusammen – Symptome und Veränderungen im Hirn – ergeben ein Krankheitsbild und könnten, ja müssten auffallen. Doch nur dann, wenn, wie damals üblich, der Kliniker auch Forscher war, der Arzt am Krankenbett identisch mit dem, der nachts forschend am Mikroskop saß.
Alzheimer kam schon seine Frankfurter Patientin ziemlich »eigenartig« vor, und ihr Gehirn, das er dann in seinem Münchner Labor zerschnitt, erst recht. Beide Eindrücke miteinander zu verbinden war seine eigentliche Leistung. Die Folgen von Demenz im Alter kannte die Psychiatrie schon vor Alzheimer. Er aber hat während der Untersuchung der Hirnrinde die ihm durch die Visiten bekannten Veränderungen und die jetzt nach dem Tod feststellbaren neurologischen Merkmale in eine ursächliche Beziehung gesetzt und daraus richtige Schlüsse gezogen. Ihm war klar, dass es eine Verbindung geben musste zwischen dem einen und dem anderen, und genau davon hat er berichtet, als er in Tübingen ans Rednerpult trat.