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Weil die Frauen im Dorf etwas über die betagte Elli Wahlstedt und deren Nachbarssohn Pepe erfahren haben, beschließt man, etwas zu unternehmen. Zu spät. Elli hat Pepe längst gebeten, sie zu einem nicht benannten Ziel zu fahren. Bald vermutet der junge Mann, sie hat gar kein Ziel, es treibt sie nur aus der Schusslinie des Dorfklatsches. Lange Zeit sieht es auch ganz danach aus. In der nahen Stadt strebt Elli beinahe kopflos von einem Ort zum anderen und erzählt Geschichten aus ihrem Leben, bis sie sich zu einer Fabrikhalle fahren lässt. Dort geschah vor fünfundzwanzig Jahren ein Unglück, das mit Pepes Leben eng verknüpft ist, aber totgeschwiegen wurde. Hatte Elli diesen Tag nur für Pepe geplant? Nicht nur Ellis lange gehütetes Geheimnis wirft Pepe total aus der Bahn…
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Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Maxi Hill
Am Ende bleibt ein Zauber
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Es geschah vor 25 Jahren
KAPITEL I - Die Sache mit Elli Wahlstedt
Koffer packen
Der erste Schritt
Der Mann im blauen Wams
Heimat ist ein Gefühl
Zwei Spielarten der Liebe
Die letzte Mission
Kapitel II - Zwei Himmel für ein Leben
Zeit der Offenbarung
Brüche und Umbrüche
Zwischen Schuld und Sühne
Strafversetzt
Elli in Bedrängnis
Eine neue Aufgabe
Kapitel III - Zu guter Letzt
Liebe Leserin, lieber Leser
Maxi Hill
Impressum neobooks
An diesem eiskalten Morgen erschrak Elvira bei Brigadier Webers Worten: »Zuerst der Kesselwagen der Freunde.«
Diese Freunde, das waren die sowjetischen Besatzer. Das Brudervolk. Der große Lehrmeister.
Sie erinnerte sich an die Gruppe sowjetischer Soldaten, die sie am ersten Tag nach ihrer Degradierung in der Nähe des Werktores gesehen hatte, durch das sie fortan zu gehen hatte.
»Er steht schon in der Halle«, sagte Weber mit einer Handbewegung, die zur Eile trieb. Nur Willi Waschke, der wie zumeist neben ihr stand, murmelte leise vor sich hin: »Das grenzt an Wahnsinn.«
In der Brigade gab es außer Elvira keinen Anfänger oder Quereinsteiger. Alle kannten die Dienstvorschriften aus dem Effeff. Ob einer dasselbe ahnte, was Willi Waschke auf dem Weg zur Halle durch den Kopf ging, blieb unergründet.
Alle gingen an ihre Plätze mit denselben gleichgültigen Gesichtern wie jeden Morgen. Elvira — seit Langem an schweigendes Dulden gewöhnt — bestieg ihren Kran, ihre Kanzel, die Geborgenheit bot und Abstand von den Unbilden der Welt. Hier oben dachte sie daran, wie sie die Jahre mit ihrem Kind gestalten würde, wenn es erst einmal so weit sein würde, dass es mitentscheiden konnte. Sie würde sich auf alle Fälle mehr Mühe geben als ihre Mutter. Und sie würde keine Sekunde länger dem untreuen Mannsbild hinterher trauern. Vorfälle, wo auch ein pflichtvergessener Vater wieder stolz auf seinen Sohn blickte, gab es genügend. In Klein-Pepes Fall war es schlicht unwahrscheinlich, aber nicht gänzlich unmöglich.
Ihre eigene Konsequenz war es, mit der sie sich aus dem Schlamassel, den Martin Breuning angerichtet hatte, befreien konnte — ohne fremde Hilfe, wenn sie Willi Waschke mal außen vor ließ.
Hier in Webers Brigade war sie längst angekommen in relativ kurzer Zeit. Ein gutes Jahr war erst vergangen. Ein Jahr vollgestopft mit Veränderungen und Erkenntnissen. Ein Jahr, um Vertrauen füreinander zu schmieden. Hier würde ihr jetzt nichts mehr passieren — nicht in dem Sinne, wie es ihr passiert war.
Solange sie auf ein Kommando von den Kollegen tief unter ihr wartete, erinnerte sich Elvira merkwürdigerweise an ein paar Worte von Willi Waschke. Sie hatte ihm ehrlich anvertraut, sie sei jetzt angekommen in der Brigade, in die sie strafversetzt worden war. Jetzt könne ihr nichts mehr passieren.
»Dir kann überall etwas passieren. Bei dieser Schlamperei warte ich täglich auf ein Unglück.«
Unter ihr begannen die Kollegen am Kesselwagen der Freunde zu hantieren. Auf der anderen Hallenseite fuhr der Kollege der Che-Guevara-Brigade den zweiten Kran und bediente den Rest der Schicht.
Gerade dachte sie darüber nach, wie die Brigaden hier in der Produktion zu ihren Namen gekommen sein mögen, als eine furchtbare Helligkeit durch die Halle schoss und ein Druck alles erzittern ließ.
Ihre Ohren wurden taub, ihre Augen geblendet. Stichflammen reichten beinahe bis zur Kanzel. In Sekundenschnelle quoll dicker Qualm in Nase und Rachen, nahm ihr die Sicht und die Luft zum Atmen. Sie versuchte, den Abstieg zu erreichen. Es wäre blanker Mord. Durch diese Hölle bis nach unten? Das konnte sie nicht riskieren, ihr vaterloses Baby wartete in der Betriebs-Kinderkrippe auf ihren Feierabend…
»Angesichts der Vergänglichkeit macht man keine Scherze«, sagt Erna lächelnd. Sie streicht über ihre bunte Kittelschürze, ohne die sie keiner Arbeit nachgeht. Hier auf dem Friedhof kommen die Frauen heute einer Pflicht nach, die sie dem Dorf und den Verstorbenen schuldig sind.
»Das ist kein Scherz!«, erwidert Vera Kulka. Sie ist die jüngste der drei Frauen, die sich gar nicht so zufällig treffen, wie man meinen mag. Elfriede Strunz ist mit ihrem Mann hier, der die Hecke verschneidet. Aber Vera hatte sie zu sich gewinkt. Vera ist die einzige von den drei Frauen, die noch mit beiden Beinen im Leben steht, wie man sagt, wenn jemand einer geregelten Arbeit nachgeht.
»Ich hab΄s von Bernd Lux.« Nicht nur in diesem Dorf kennt man den agilen Vorsitzenden der Stadtverordneten. Sein Name steht für Wahrheit und Mut.
Bernd Lux kam vom Bündnis΄90 und hat sich in der Stadt einen Namen gemacht. Er kann klar sagen was er meint, ohne Sperenzchen. Zumeist folgen die Abgeordneten seinen Argumenten.
Vielleicht wäre es klüger, den Mund zu halten. Das kann Vera nicht. Es gibt das etwas geradezurücken im Dorf, und das will sie hier besprechen, möglichst auch mit Kurt Strunz.
»Bernd Lux weiß es von Elli selbst. Dann wird es wohl stimmen.«
»Diese Elli Wahlstedt?«, entfährt es Elfriede Strunz. Im Dorf wissen die Leute vom Kriegsbeil, das Elfriede gegen Elli Wahlstedt nicht begraben kann. Und das ist ihr gutes Recht.
Unschlüssig gehen ihre Augen zu Kurt, der seine Arbeit an der Hecke nicht unterbrechen will. Auf Kurt ist Verlass. Elfriede hatte sich am Grab ihrer Eltern zu schaffen gemacht, bis Vera kam, und mit ihr die Erna.
Vera holt tief Luft. Mit so wenigen Worten will sie die Sache noch nicht auf sich beruhen lassen. »Man hätte bei der Elli Wahlstedt an so vieles denken müssen, aber daran? Wer hätte das gedacht.«
Erna zwängt ihre Fäuste in die Taschen der Kittelschürze und richtet ihren Rücken gerade. »Die Elli … irgendwie hätte man es ahnen können. Die Wahlstedts sind anders gestrickt als unsereiner. Oder?« Die Frauen rücken näher zusammen. Die alte Vertrautheit macht Erna zufrieden. Sie mag es, mit den beiden zu reden. Vera und Elfriede sehen in ihr nicht die Alte, deren Kraft nachlässt und die schon abseits steht im Dorf.
»Und…? Was ist mit dem Jungen? Weiß er es?«, lässt Elfriede Strunz nicht locker. Vera zieht den Kopf dichter zu Elfriede und flüstert beinahe, als ob es außer ihnen niemand hören darf.
»Ich weiß es nicht. Noch nicht. Aber dein Kurt könnte doch mal… Ich meine, der ist doch mit der Elli ganz gut…« Vera streckt ihren Kopf wieder gerade. Sie legt großen Wert darauf, nicht als neugierig zu gelten.
Zumeist, wenn Frauen etwas ausbaldowern, bleiben die Männer abseits, bis zu einem bestimmten Punkt. Elfriede ist ratlos. Ob auch Kurt wissen sollte, was sie jetzt weiß? Gerade weil Kurt so oft bei Elli aushilft, ist Elli seit Jahren der Stachel in Elfriedes Fleisch. Wenn Kurt jetzt erfährt, was es mit der Elli auf sich hat, was könnte daraus werden? Bis jetzt glaubt man im Dorf ihren Sorgen. Sie liegen an Ellis Anziehung auf Kurt. Elfriede Strunz hat den Mund nicht nur am rechten Fleck, auch der Zuspruch der Leute zu ihrem Verhalten gefällt ihr.
Wie die drei Frauen so stehen, schwirren Schwalben aufgeregt um sie herum. Sie schimpfen und fordern ihr Recht. In der Nacht hatte es geregnet. Ausgerechnet nahe dem Eingang zum Friedhof, da, wo die Frauen jetzt plaudern, hatte der Regen den Boden aufgeweicht. Ein besonderer Boden. Das wissen alle, deren Höfe und Stallungen den glückbringenden Seglern als Gastgeber dienen. An diesem frühen Tag schimpfen die Vögel auf drei Menschen, die ihre Nöte des Nestbaues ignorieren. Wie Pfeile stürzen sie herab, füllen rasch ihre Schnäbel mit Schlamm und schießen zurück in die Höhe. Unterwegs mischen sie die schlammige Beute mit ihrem Speichel und tragen das Baumaterial zu ihren Nestern in den Nischen der Wände auf den Höfen. Auch bei Elfriede und Kurt Strunz nisten sie seit Jahren. Nicht die Rauchschwalben mit ihren majestätischen Schwänzen. Die kleinen Mehlschwalben finden unter dem Dach ihrer Scheune genügend Platz.
Heute haben die Frauen, die Schwalben aus Prinzip verehren, kein Gespür für deren Not. Heute sind sie mit einer anderen Sache befasst, erfüllt, fast benommen. Das Neueste erfährt man immer durch Zufall. Seit Jahren ersetzt der Friedhof den einstigen KONSUM, den ihnen die Zeit genommen hatte. Früher konnten sie sich dort einander mitteilen oder auch nur zuhören. Es gab immer jemanden, der etwas zu berichten hatte. Ihren geliebten KONSUM der Helga Regel gibt es nicht mehr — schon fünfzehn Jahre. Das Grab der Helga liegt an der Hecke, da, wo der Kurt gerade noch am Werken ist. Deshalb kann Vera in Ruhe berichten. Sie ist Helga Regels Tochter und erfüllt ihre Pflicht seit acht Jahren an Mutters Grab. Es gibt kein Zuviel. Es gibt nur ein Zur-rechten-Zeit. Jeder im Dorf hat ein besonderes Gespür für die rechte Zeit vom Bepflanzen bis zum Abdecken kurz vor dem Schnee.
Kurt Strunz schneidet die Hecke mit Akribie, und das nicht nur hier. So manch einer in der Gemeinde möchte von seinem Geschick etwas abhaben, aber der dörfliche Stolz lässt jeden selbst zur Schere greifen. Nur Elli Wahlstedt greift gerne auf Kurt zurück, seit ihr Richard vor fünf Jahren auf dem Gottesacker seine Ruhe gefunden hat. Elfriede glaubte lange nicht, dass alles harmlos ist, wenn Kurt nach getaner Arbeit noch bei Elli sitzen bleibt und sie ihn zum Dank bewirtet. Einmal hatte das etwas Gutes. Elfriede erfuhr durch Kurt von Ellis Plan: Richards Grab sollte anders werden als alle Gräber hier. Ohne polierten Stein und ohne heuchelnden Spruch.
Über das «heuchelnd» hatte man sich die Mäuler zerrissen. Als ob die Leute im Dorf alles Heuchler oder gar Erbschleicher wären. Der Pfarrer hatte gemeint, ein Grab ohne Spruch sei christlich genug.
Elli hatte von der Tuschelei erfahren und wollte den Platz neben der kleinen Kirche plötzlich nicht mehr. Sie hat ihren Richard in der Stadt zur Ruhe gebettet.
Das alles ist jetzt fünf Jahre her. Was sollte man darüber noch lamentieren.
Elfriede schert als Erste aus dem Plauderkränzchen der Frauen aus. Kurt hatte ein Zeichen gegeben. Er hält vom Dorfklatsch nicht viel.
Das Blut rauscht in Elfriedes Ohren. Das Herz hämmert unangenehm. Wie soll sie bei Kurt nur beginnen? Er wird sie gleich fragen.
In angemessener Distanz bleibt sie stehen, zupft am Blatt einer Petunie und wartet.
Kurt Strunz ist ein besonderer Typ Mensch. Wenig kompliziert. Wenig dickfellig. Die Leute im Dorf haben kein Problem mit einem wie Kurt, sofern er nicht bei Elli schwadroniert.
Die Sonne scheint Elfriede ins Gesicht. Sie schließt für einen Moment die Augen: Vielleicht wäre es besser, Kurt die Sache mit Elli ganz zu verschweigen? Mit offenen Augen weiß sie, das bringt nichts. Nicht bei Kurt. Irgendwann kommt er dahinter, schließlich kennt sie Veras Mitteilsamkeit. Die Sache mit Elli Wahlstedt wird schnell im Dorf die Runde machen, ganz sicher. Das Dorf schläft nie. Dann würde Kurt ihre Heimlichkeit übel nehmen.
Sie kennt ihn zu gut. Seit Jahren leben sie ganz dicht beieinander, sieht man von wenigen Stunden ab, in denen Kurt einmal anderen Leuten im Dorf hilft. Elli zum Beispiel.
Im nächsten Moment legt Kurt die Schere auf die Hecke. Hier auf geweihtem Boden benutzt er stets die große Handschere. Hier ist Stille angebracht, wenn auch nicht in Grabes-Traurigkeit.
Gemeinsam raffen sie den Grünschnitt auf und tragen ihn zum Kompost, danach gehört der Tag allein Kurt und Elfriede.
Nach wenigen Stunden und vielen Worten von seiner Frau Elfriede kommt Kurt Strunz ins Grübeln. Noch nie hatte er auf Elli Wahlstedt etwas kommen lassen. Nach langem Schweigen weiß er, was zu sagen ist. »Wenn das stimmt, dann müssen wir etwas tun.«
Und Kurt Strunz tut etwas.
»Ich packe in meinen letzten Koffer…« Elli Wahlstedts Gedanken sind in ihrer Kinderzeit. Wie hatte sie das unendlich währende Gedächtnisspiel gehasst, weil sie nicht wusste, warum einer seinen Koffer packen sollte. Damals verreiste niemand. Erst recht wusste sie nicht, warum man sich all die Dinge merken sollte.
»Schuhe, Jacken, Röcke, Hosen, Taschen…« Ihre Finger zählen mit. Über die Lippen huscht ein winziges Lächeln.
Seit Richards Tod vor fünf Jahren war Elli Wahlstedt für kurze Zeit wieder mit sich selbst und mit der Welt im Reinen gewesen. Jetzt ist es Zeit auszubrechen. Abzubrechen. Auszusteigen…
Mit dem Jungen will sie fahren. Mit diesem Jungen, der nichts von alldem weiß, was sie seit über zwanzig Jahren bewegt. Schweigen ist manchmal eine große Schuld.
»Waschtasche. Jogginganzug. Die neuen Pantoffeln. Nachthemden.«
Ihre Hand schlägt sanft an die blasse Stirn, dann trapst sie noch einmal zum großen Wäscheschrank im Schlafzimmer und sucht nach einem ganz besonderen Stück, einem, das Richard einst in buntem Geschenkpapier auf ihren Geburtstagstisch gelegt hatte. Sie hat es nur selten angezogen. Ganz oben im hinteren Stapel muss es noch liegen. Die Höhe ist vermutlich der Grund, warum sie das Fach über Jahre missachtet hatte. In ihrem Alter vermeidet man — wenn es zu vermeiden geht — auf einen Stuhl zu steigen. Es gibt nicht viel, was man lassen kann, wenn man allein lebt. Heute bugsiert sie den Stuhl vor den Schrank. Fast kommt ein Glücksgefühl über sie, als sie den Hauch in rosa und mit Rüschen besetzt in ihren Händen hält. Sie legt ihn aufs Bett und lässt ihn dort liegen. Seltsame Gedanken kommen zu einer Zeit, wo sie nutzlos geworden sind:
Wie leicht konnte sie Richard zu einem Entschluss bewegen, den sie längst gefasst hatte. Diesen Entschluss — den Jungen betreffend — hatte sie Richard nach einer zähen Zeit seiner Weigerung in diesem Nachthemd abgerungen.
In ihren guten Jahren schliefen sie oft ohne jedes störende Textil. Diese Zeit ist lange vorbei und auch das, was diese Zeit ihr gegeben hat. Es gab Höhen und Tiefen. Es gab Lügen und Wahrheiten. Es gab Sorgen und Tränen, auch solche des Glücks. Es gab die Selbstüberschätzung und sogar Selbstbetrug. Es gab sichtbaren Wohlstand und dazwischen fast unbemerkt die scharf verleugnete Armut der Seele und des Geistes. Gegen letzteres hatte sie in jener Nacht gesiegt. Davon ahnt niemand etwas, das Nachbar-Ehepaar Hanschke ausgenommen.
Für eine gewisse Zeit war sie stolz auf sich gewesen, bis passieren sollte, was Richard vorausgesehen hatte.
Ihr Plan mit dem Jungen sollte schwieriger werden als gedacht. Diesen Rückschlag nutzte Richard für seinen Entschluss, aufs Dorf zu ziehen. Vermutlich glaubte er, sie würde den Jungen aus den Augen verlieren und endlich zur Ruhe kommen …
Richard und Elli Wahlstedt haben ihr Leben genossen, sich zahlreiche Wünsche erfüllt und kaum gestritten. Gleichwohl litt mal die eine und mal die andere Seele. Jeder versuchte, sein Inneres totzuschweigen, woran man letztlich noch schwerer trug. Manchmal kam sie sich neben Richard überflüssig und unnütz vor, manchmal wie eine falsch platzierte Tischnachbarin. Dann wieder erhob er sie zur ungekrönten Königin, ganz danach, wie viel von der Art Liebe sie ihm gegeben hatte, die er begehrte.
In manchen Jahren wurde sie krank daran, in anderen überwog das Gefühl, einen recht guten Menschen an ihrer Seite zu haben.
Richard hatte alle Vorkehrungen getroffen, die Zelte in der Stadt abzubrechen. Es werde zu Ellis Vorteil sein, sagte er. Welchen genau er meinte, war unklar.
Diesmal zog sie heimlich alle Register und letztlich war die Freude doch noch auf ihrer Seite. Sie wusste von ihrer Kollegin Rosel, dass deren Tochter Gretas Ehe kinderlos war. Sie kannte Greta und es war nicht schwer, ein Gespräch zu nutzen. Greta saß am Tresen und verkaufte Tickets. Es gab deshalb nur spärliche Kontakte. Aber es gab hin und wieder Zusammenkünfte, und da war Elli nicht zimperlich, ihre Chance zu nutzen.
Leicht war die Entscheidung der Hanschkes nicht, auch wenn sie nicht gleich auf Gedeih und Verderb getroffen werden musste. Elli hatte Greta etwas versprochen, was sie auch halten wollte. Aber dann kam Richard mit seinem Traum vom Haus auf dem Lande.
Es sollte noch dauern, bis Greta Hanschke mit Klein-Pepe und ihrem Mann Axel direkt neben ihrem Grundstück in ein verlassenes Haus einzog. Nicht einmal Richard wusste: Es war der Lohn für Ellis Geschickes. Ein Lichtblick. Was man beginnt, muss man beenden — so oder so.
Niemand im Dorf ahnt, was Elli mit dem Jungen verbindet. Niemand. In diesem Dorf der geregelten Umstände ahnt auch keiner, wie das Leben spielen kann, wie es Leid und Not versprüht und Existenzen ruiniert.
Gut möglich, dass ihr Plan für den heutigen Tag neue Wunden reißt. Noch glaubt sie nicht, der Junge könnte es ihr danken. Sie wird auch das kalkulieren und je nach Verlauf des Tages entscheiden. Eine zweite Chance wird es nicht geben.
Als sie in dieses Haus gezogen sind, auf dieses Dorf, hatte sie das Gefühl, es drohe hier eine Gefahr. Sie könnte den Boden unter den Füßen verlieren. Schon damals war sie sicher: Heimat ist ein Gefühl.
Einmal hat es ihr die Sprache verschlagen. »…unser Dorf«, hatte Richard gesagt. »Unser Dorf?«
Für Elli war dieses Dorf nie ihr Dorf. Für Richard selbst war es das auch nicht. Er war es, der dem ganzen Zinnober dörflicher Tradition Ignoranz entgegengebracht hatte. Manchmal wollte sie es ihm mit Worten beibringen, aber Richards Eigensinn und die Worte von Elli waren selten ein gutes Gespann. Es kostete sie viel Kraft, vorzuleben, wie gute Nachbarschaft gehen könnte. Leider bemerkte Richard ihre Mühe nicht. Sein Gartenzaun war das Ende für Gemeinsamkeit. Er hätte nie verstanden, was Elli damit bezweckte, auf die Dörfler zuzugehen, nicht abseits zu stehen. »Was soll daran lustig sein«, fragte er einmal, »wenn man sich fremden Zwängen hingibt.«
Ellis Gedanken sind unumstößlich: Man muss groß geworden sein in diesem Dorf, um dessen Menschen zu verstehen. Sie weiß nicht, wie viele Kinder hier geboren werden. Sie weiß nicht, wie viele Menschen hier verwurzelt sind. Wie viele in der alten Kirche ihre Hochzeitsschwüre teilen, wie viele auf dem Friedhof liegen, Fremde wie Hiesige. Sie hat erst lernen müssen, dass alles Fremde nichts wert ist, sogar auf dem Gottesacker nebenan.
Dieses Dorf ist nicht geschaffen für Menschen, die der Tradition nicht dienen. Für Elli stand fest: Man darf nicht abseits stehen, keine Schwäche zeigen, sich nicht einschüchtern lassen…
Diese Vorsätze waren leichter als das Leben. Man konnte sich täuschen an bunten Gärten, die nach Liebe riechen. Man glaubte an Brüderlichkeit bei den brechend vollen Tischen beim Schützenfest.
Elli hoffte zu lange, die breitgezogenen Lippen und die inständigen Worte waren ehrlich. Dann kam der Tag, als sie spürte, nicht dazuzugehören.
Familie Wahlstedt gehörte nie dazu, da konnte Richard noch so sehr seinen Kopf schütteln und meinen, es interessiere ihn nicht. Sie hätte gerne dazugehört, aber Heimat wurde ihr das Dorf nie.
Vermutlich ist es diese Distanz, die ihr die Angst vor dem Tag genommen hat, an dem sie einst die Füße voran dieses Haus verlässt…
Seit Richard nicht mehr im Haus herumschleicht, lebt Elli Wahlstedt tonlos vor sich hin. Das fünfte Jahr. Ein langer, fader Stummfilm. Auf einem Dorf ist er besonders stumm, besonders fade. Dabei müsste sie das Leben doch kennen, war selbst auf einem Dorf geboren worden — als fünftes Kind mitten im mörderischen Krieg.
Elli denkt seit Jahren wieder einmal an ihre Mutter. Kriegswitwe mit fünf kleinen Kindern, die immer Sehnsucht hatten. Wonach, das wussten sie nicht, weil sie nicht wussten, was es so gibt im Leben der anderen.
Mutter hatte viel gegrübelt, wenn sie auf ihrer Ritsche vor dem Küchenherd saß und den Rauch ihrer Zigarette in das offene Feuerloch blies. Rauchen musste sie. Das beruhigte ihre Nerven, aber es änderte das Grübeln nicht. Wochenlang — Tage wie Nächte — hat sie ihr Leben um und um gewälzt. Hat nach Fehlern gesucht, nach Missetaten, die sie begangen haben musste, wenn sie der Herrgott so strafte. Sie hatte keine gefunden.
»Unser Herr und Gott hat ihn zu sich genommen«, predigte der Pastor bei der Gedächtnisfeier der gefallenen Kriegshelden, zu denen auch Vater Johannes gehörte. Seither wollte die Mutter mit keiner Art Herren mehr etwas zu tun haben. Immerhin hatte sie ihren Kindern den Religionsunterricht nicht verboten. Sie grämte sich zwar, wenn sie den weiten Weg ins Nachbardorf zur Kirche mussten. Sie fand es nutzlos. Warum sollten sie das Beten lernen, wenn sie Wünsche hatten oder keinen Weg mehr sahen? Sie sollten sich auf ihre eigene Kraft besinnen. Sie sollten nirgendwo den Rücken krümmen und die Hände falten. Diese Freiheit der Entscheidung grub sich fest in das Wesen von Elli.
Als der Koffer gepackt ist und gut verschlossen, setzt sie sich auf eine Kante und sinniert, ob sie alles Nötige eingepackt hat. Sie muss sich noch dem Anlass gemäß anziehen. Das dunkelblaue Kostüm hängt gebügelt und gebürstet an der Garderobe, und die passenden Pumps stehen blitzblank im Flur. Sie wird die lachsfarbige Bluse anziehen, Blau und Lachs, eine Farbkombination, die nach Richards Geschmack wäre. Sie hingegen bevorzugte stets Ton-in-Ton.
Den kleinlichen Hader vergangener Jahre, den es bisweilen mit Richard gab, kann sie heute nicht mehr verstehen. Sie fühlt sich gerade heute so nah bei sich und doch so fern von dem, was ihr Wesen bisher ausgemacht hat. Als stehe sie noch fest mitten im Leben, freut sie sich auf ihren Entschluss für diesen Tag. Sie wird den entscheidenden Schritt gehen. Sie wird so tun, als will sie nicht so allein sein, wie sie in den letzten Wochen war, seit sie und Greta Hanschke zum ersten Mal uneinig auseinandergegangen sind.
Wie stets im Leben wird Elli noch erfüllen, was unerfüllt ist.
Die Schwalben sind zurück. Im Tiefflug schnappen sie nach Fliegen. Nicht, dass man Schwalben im Dorf sonderlich mag. Sie sind nur Gast auf Zeit, wie Elli Wahlstedt. Anders als Elli werden die Schwalben die Höfe der Nachbarn mit ihren Hinterlassenschaften beschmutzen und so manchen Umbau vereiteln, weil sie Schutz genießen, mehr als Elli je genossen hat. Die eleganten Segler sorgen seit Jahren für dörflichen Selbstbetrug. Schwalben bringen Glück. Das ist noch der geringste. Wie könnte auch nur eine Schwalbe an eines Menschen Glück denken? Am Glück muss man schmieden. Daran glaubt sie noch immer, auch wenn sie das Leben bisweilen anderes lehrte. Sie hat einst geschmiedet am Lebenslauf des Jungen, der zum Glück seiner Eltern wurde, ungeplant, wenn auch mit Zweifeln beladen.
Greta Hanschke hatte im rechten Moment auf Elli gehört, damals. »Gleiches Blut ist kein Garant für Glück…« Warum hört sie jetzt nicht auf ihre Mahnung? Der Junge hat das Recht auf Wahrheit.
Elli hatte Greta schon tags zuvor angerufen. Sie wollte nicht so Auge in Auge zur Ausrede gezwungen sein. Hat nur gefragt, ob Pepe sie mal wieder fahren kann.
Pepe ist ein guter Junge. Greta und Axel haben ihn mit all der Liebe erzogen, die Menschen zu geben imstande sind. Es hätte durchaus schief gehen können. Man kann keinen Menschen von seinen Genen befreien. Charakter ist die Unfähigkeit, anders zu sein. Sie wusste es von Anbeginn, dass es gelingt. Sie ahnte es. Das Wesen eines Menschen ist unzerbrechlich, aber in jungen Jahren ist es noch formbar.
Die Uhr an der Wand schlägt gerade neun Uhr. Elli steht hinter der Gardine und schaut über den kleinen Hof, den Richard vor zwanzig Jahren liebevoll gepflastert hatte. Auf die kleinen grünen Inseln zwischen den Mustern aus Stein hatte Elli vehement bestanden. In Gedanken sieht sie Richard, der die Dinge des Lebens wie die auf seinem Hofe sehr genau nahm. Wie er die kleinen Koniferen wässerte, die sich nicht wehren konnten gegen den Wasserschlauch. Auch gegen seine Gartenschere konnte sie nichts ausrichten. Damit gab er allen Gewächsen merkwürdige Formen. Sogar die rosa bis lila blühenden Rhododendren wuchsen, wie er es wollte. Erst seit drei Jahren blühen sie üppig, wie sie es selbst möchten und wie es auch Elli gefällt.
Hinter der blühenden Hecke bleiben zwei Frauen aus dem Dorf stehen. Sie stecken die Köpfe zusammen, schauen abwechselnd zu Ellis Fenster und dann wieder zum Briefkasten. Die eine hält ein bräunliches Papier in der Hand. Sie zögert, es in den Briefschlitz am Gartenzaun zu zwängen.