(k) EIN HUNDELEBEN - Maxi Hill - E-Book

(k) EIN HUNDELEBEN E-Book

Maxi Hill

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Beschreibung

Trotz seiner Hundephobie nimmt der IT-Spezialist Jonny Flint einen verwahrlosten Labrador mit nachhause und erlebt Dinge, die er niemals für möglich gehalten hat. Nach einer Intrige lag Jonny völlig am Boden. Sein Dilemma machte ihn zum unnahbaren Menschen. Erst, als er diesen verwahrlosten Hund mit nachhause genommen hat, änderte sich sein Leben wieder. Den Menschen gegenüber bleibt er skeptisch. Nach glücklichen Monaten mit seinem besten Freund, den er Ajax nennt, sieht er die Suchmeldung einer Familie, die nach ihrem Hund fahndet. Dieser Einstein ist das Abbild von Ajax. Soll Jonny die einzige Freude in seinem Leben einfach wieder hergeben? Für Jonny beginnen dramatische Zeiten, nicht nur wegen Ajax…

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EPUB
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Seitenzahl: 298

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Maxi Hill

(k) EIN HUNDELEBEN

Nicht nur für Hundeliebhaber

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

SCHOCKIERT

SECHS MONATE ZUVOR

KEIN VERWAHRLOSTER KÖTER

DAS LEBEN IST GEMEIN

ES KANN DER FRÖMMSTE NICHT IN FRIEDEN LEBEN…

TRIEBTÄTER

EIN UNBEUGSAMER HUNDEWILLE

KRISTIN

DIE KEHRTWENDE

EIN VORFALL

ABSCHIED

EINSTEIN UND KEINE RÜCKKEHR

EIN ANDERES DRAMA

EIN SINNLOSES LEBEN

KEIN SINNLOSES LEBEN MEHR?

EINE NEUE ZEITRECHNUNG

ABBITTE VONNÖTEN?

EIN TREFFEN

KNOCK OUT

KALTGESTELLT

IM HIMMEL AUF ERDEN IST NOCH PLATZ

FREUNDE FÜRS LEBEN

Impressum neobooks

SCHOCKIERT

»Menschen halten sich Hunde, weil sie zu feige sind, selbst zuzubeißen!« Ein kluger Mann, der das sagte. Klar, hatte ich stets anderes im Kopf, als zuzubeißen. Wäre ich sonst da gelandet, wo ich war, als es Ajax noch nicht gab?

Jonny Flint schlägt mit der rechten Hand sanft auf seine Schenkel: »Ajax! Komm her! Hierher…! «

Der Hund gehorcht und legt seine Schnauze auf das Knie seines Herrchens, das ihn gerettet hat.

Was für ein schöner Tag. Die Sonne scheint, die Finken schlagen und die Meisen huschen aufgeregt von Ast zu Ast. Nestbau. Balztanz. Mein Gott, diese Tiere. Gott allein weiß, warum er seinen Priestern die Ehe verbietet.

Ajax trollt wieder davon. Unweit beschnüffelt er seelenruhig das kleine Hündchen, mit dem diese rotblonde Frau seit einiger Zeit an der Stadtmauer entlang spaziert, immer, wenn auch Jonny Flint mit Ajax im Park spielt. Ihm ist dabei nie ganz wohl. Die Bilder in seinem Kopf sind alles andere als beruhigend. Ihm ist nicht zum ersten Mal zumute, als kenne er diese Frau, deren flammendes Haar ihrem Zwergspitz gleicht. Hätte sie braunes Haar, wäre sie ihm vermutlich gar nicht aufgefallen, aber dieses Haar leuchtet vor der ehrwürdig braunen Mauer, und das erinnert ihn an etwas ganz Bestimmtes. Manchmal schaut er ihr heimlich nach, in seinem Kopf das Bild, wo rotblondes Haar im Nichts verschwindet. Heute dreht er sich nicht um, aber dieses Bild ist in seinen Kopf eingebrannt und gibt ihm eine Erinnerung, von der er nicht genau weiß woran. Etwas aus seinem alten Leben? Etwas aus einem Traum, der ihm bisweilen kommt und von dem er nicht weiß, was er davon halten soll? Man weiß bei so vielen Dingen im Leben nicht, was man von ihnen halten soll, aber dieser Traum verwirrt ihn. Wer könnte erwarten, dass ihn diese Frau nicht wütend macht? Wer weiß schon, was ein anderer Mensch im Schilde führt.

Wenn er sein Leben der letzten Jahre in einem Satz zusammenfassen müsste, würde er sagen: Einmal Hölle und zurück. Und dieses Zurück hat er Ajax zu verdanken. Alles könnte inzwischen wieder sehr schön sein… so schön bleiben. Ajax war seine Rettung. Er hat ihn abgebracht von seiner selbstzerstörerischen Phase. Was war er bloß für ein Idiot. Nicht mehr nur der Fachidiot. Beileibe auch nicht mehr der Hahnrei. Ein ausgewachsener Volltrottel per excellence war er geworden — unverschuldet.

Seit ein paar Minuten ist seine Zufriedenheit über sich und seinen Hund einer ganz anderen Sorge gewichen. Wann hatte er sich je im Leben gesorgt. Um wen? Um nichts, nicht um Kristin, nicht einmal um sein gutes Leben, das man ihm zerstört hat. Gründlich.

Erst hatte er sich geärgert, an diesem Tag genau an dieser Platane vorbeigelaufen zu sein. Er geht sonst nie dort entlang. Warum heute? Um dieser Frau aus dem Wege zu gehen? Idiot du…!

Schon ein paar Schritte später hat er sich eingeredet: Es war ein Glück. Vielleicht war es das letzte dieser Plakate, die in dieser Stadt hängen. Stark anzunehmen, so vergilbt wie das Papier schon ist…

Jonnys Hand in der Tasche seiner Jacke ballt sich zur Faust. Beinahe zerknüllt er das vom Wetter verblichene Papier. Der Zorn ist zurück in seinem Gemüt. Zorn, den er fast ein Jahr lang auf alles und jeden hatte, und den er gepflegt hatte wie ein Baby, weil es ihm dann besser zu gehen schien. Vor einigen Minuten hatte er den Aushang entdeckt und von der Platane gerissen. Die Ecken, die jemand mit breiten Zwecken am Stamm befestig hatte, fehlen dem Fetzen jetzt.

Er ist nicht nur wütend. Er ist nervös. Das Blut in seinen Adern kocht. Einen solchen Zustand kennt er seit langem nicht mehr. Noch einmal zieht er das Papier heraus und faltet es auseinander. Was, wenn jemand glaubt, sein Ajax wäre dieser entlaufene Hund namens Einstein? Und man kann es glauben. Diese Ähnlichkeit! Aber sollte ein Hund ohne Grund mehr als fünfzehn Kilometer weit laufen…?

Wenn es dieser Einstein wäre, dann müsste er ausgebüxt sein, weil es ihm nicht gut ging wo er war. So sah er jedenfalls aus, damals nahe den Mülltonnen … Das war im Oktober. Jetzt haben wir Mai. Wenn ihr jetzt erst nach dem Hund sucht…! Pech, meine Lieben.

Ajax‘ kommt wieder zurück. Seine Schnauze auf dem Männerknie gibt Jonny jenes Gefühl, das er zuletzt vor langer Zeit hatte, als er Kristin noch liebte und noch gerne mit ihr geschlafen hat. Seitdem gab es ein solches Gefühl nie wieder. Der eklatante Unterschied zu Kristin: Wenn Ajax eines Tages ebenso wie sie aus seinem Leben verschwindet, geht er jämmerlich ein. Jämmerlich…

Jonny krault die dichte Wolle und nimmt Ajax bei den Ohren, wie es der Hund gerne hat. Ajax schließt die Augen und genießt.

Es geht ihm gut. Es geht ihm doch gut bei mir, wer sollte etwas gegen mich und meinen Hund haben? Auch die Leute im Wohnblock werden sich wieder beruhigen.

Er beugt sich zu seinem Freund, den besten, den er seit Kindertagen hat. Sein Gesicht spürt Ajax‘ feuchte Nase: »Da soll doch einer kommen und sagen, du bist Einstein! Soll er doch kommen! Einstein, wie albern!«

Ajax‘ Augen sind plötzlich nicht mehr entspannt, seine Ohren stehen steif und sein Schwanz wedelt aufgeregt.

Einstein? Liegt das Lauern an Einstein…?

Jonny streichelt seinen Hund liebevoll zwischen den Augen. Er ist voller Zweifel, jetzt fühlt er etwas davon, wie verändert Ajax ist.

»Guten Tag.« Jonnys Kopf schnellt herum, als habe ihn jemand beim Stehlen ertappt. Diese Frau! War sie nicht längst mit ihrem abgebrochenen Zwerg im Nichts verschwunden?

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich eine Weile zu Ihnen setzte.«

»Nö«, bringt Jonny heraus, rückt aber flugs ans andere Ende der Bank, was Ajax aus seinem Lauschen reißt.

»Ist gut Ajax! Alles gut.«

Diese Frau, denkt er immer wieder. Das kann doch nicht wahr sein… Aber im Handumdrehen kommt die Erleuchtung: Eine vom Amt, die ihm Ajax nehmen will. Nur diese Eingebung zählt noch.

Langsam trottet Ajax wieder dem Hündchen nach, das unentwegt mit dem Schwanz wedelt.

»Ein schönes Tier, Ihr Labrador«, sagt die Frau. Sie richtet ihr Haar, als würde der Wind es zerzaust haben, dabei liegen die wundervollen Wellen auf ihrer Schulter, als habe sie ein Künstler drapiert. Sie streckt ihren Rücken, zupft an der Bluse unter der Jacke und räuspert sich ungeschickt.

»Ajax heißt er? Wie dieser griechische Held«, sagt ihre weiche, melodische Stimme, die wie seinem Traum enthoben wirkt, den er mal belächelt, mal in Sorge erinnert. Jetzt überwiegt das innere Lächeln: Wenn du wüsstest, warum mein Ajax Ajax heißt. Ist allemal besser als Einstein, denkt Jonny. Aber wohl ist ihm nicht dabei… Nicht mehr seit diesem Nachmittag. Dabei hat er noch nicht einmal eine Ahnung davon, was ihn bald erwartet.

SECHS MONATE ZUVOR

Ich sitze auf der kleinen Mauer und lasse die Beine baumeln. Mein Mädchen lacht mit den anderen der albernen Clique, die sich den Tag mit Müßiggang vertreibt. Fast hysterisch, aber jedenfalls aufreizend finde ich Kristins Stimme, die ich von allen heraushöre. Eine Flasche wird herumgereicht und Kristin knutscht diesen Kerl, den ich nicht ausstehen kann. Warum knutscht sie einen anderen. Ich bin doch auch hier bei ihrer Clique, die sich bisweilen zusammenfindet. Nur ihr zuliebe bin ich hier. Ich könnte schließlich auch … Aber ich bin nicht an anderen Frauen interessiert. Eigentlich langweile ich mich total. Viel lieber würde ich jetzt am Rechner sitzen und die Schnittstellen suchen, die ich für das Programm brauche, das langsam Gestalt annimmt, von dem ich noch niemandem in der Firma etwas verraten habe. Warum auch?

Über mir rauschen die uralten Pappeln, die ehrwürdigen Buchen und stolzen Erlen unter dem langsam erblassenden Himmel. Der straffe Wind in den höheren Schichten der Atmosphäre hat die Wolkenränder verzerrt. Bizarre weiße Formen schweben durch das letzte Blau des Tages.

Ich bin kein Romantiker, aber pure Natur ist mir allemal lieber als unnatürliche Menschen.

Neben mir steht wie aus dem Nichts diese zierliche Frau: Kurzgeschnittenes rotblondes Haar, das sich flott im Winde bewegt, aber die Sommersprossen fehlen im Gesicht, wie man sie Rotblonden nachsagt. Sie ist schön und sie ist sanft, sanfter als Kristin. Sie ist die Natur pur. Ihre ungeschminkte Haut ist lotosglatt, ihre Augen sind groß und mandelförmig, ihre Wimpern dicht und die Lippen weich wie Erdbeercreme. Sie lächelt mich an, und ihre Stimme, obwohl sie nur ein einziges Wort sagt, ist weich und melodisch. Ein Mädchen, wie ich es mir immer gewünscht habe.

»Komm!« Sie greift behutsam nach meiner Hand und führt mich weg von hier. Weg. Aber wohin…? Ganz hinten, wo sich die uralte Stadtmauer im Nichts verliert, ist ein Licht. Ein heller Schein… Die Frau wirft mit einem Ruck ihr lockeres Haar aus der Stirn und steht direkt vor mir. Ihre Lippen formen sich, als bettelte sie um einen Kuss. Ich stehe starr und kann es kaum fassen. Nur zögernd beuge ich mich zu ihr herab… Das Bild vor meinen Augen verschwimmt zu einer Nebelwand. Die Frau…? Wo ist die Frau? Sie ist fort, während ich hier stehe und wie ein Idiot ins Nichts starre. Ich will sie aus dem Nebel ziehen… Ich will nach ihr rufen… Nichts von beidem gelingt.

Jonny Flint lag in seinem Bett und schrie nach dieser Frau… Davon wachte er auf.

Was war das? Dieser Traum ließ ihn mal wieder eine Stunde lang nicht los. Warum träumte er solchen hirnrissigen Mist? Sollte er langsam verrückt werden?

Zwei Stunden saß er da und stierte die Wand an. Lust hatte er zu nichts. Dieses Wetter… Sein Rücken… Sein Kopf… Er versuchte, Teile seines Traumes zurückzuerinnern. Es gelang ihm nicht. Und doch war der Traum in ihm drin sehr schön, das wusste er gewiss, aber er sollte ihn so schnell vergessen, wie er gekommen war. Nur die knutschende Kristin blieb in seinem Kopf. Ein Wunder war das nicht…

Er schlurfte zur Küche und schaute nach, ob das, was er im Hause hatte, für heute reichte. Einen Kanten Brot und einen Rest Margarine fand er im kleinen Kühlwürfel. Kein Bier, kein Wein, nichts, was ihm diesen grauen Tag erhellen könnte — oder eben nicht erhellen. Manchmal reichte es, wenn er nach ein paar kräftigen Schlucken schlafen konnte. Schlafen! An nichts denken. Nichts sehen. Nichts hören. Vielleicht aber träumen…

Bei Kristin hätte es keinen solchen Leerlauf gegeben, den jeder Mensch einmal braucht — nur eben nicht permanent, wie ihn Jonny Flint seit einem Jahr erduldete. Mit Kristin musste er immerzu auf Achse sein, viel Geld in die Hand nehmen und es mit Inbrunst verprassen. Er hatte es zu spät erkannt: Kristin war ein Biest… Aber zugebissen hatte er auch gegen sie nicht.

Fast ein ganzes Jahr lebte er schon ein Leben, das er sich niemals zuvor hätte vorstellen können.

Fast ein ganzes Jahr war kein Begriff für einen, um den es ständig Nacht war. Der Tag war nur Geräusch. Um fünf kam das Rossmann-Auto und lud rumpelnd neue Ware aus. Beim Rückwärtsfahren piepte es, und er konnte hören, ob es ein geübter Fahrer war oder nicht. Um sechs kam die Müllabfuhr und weckte mit dem Gepolter der Kübel und dem aufheulenden Motor die übrigen Leute im Block. An zwei Tagen in der Woche wurden gegenüber beim Amt LKW-Ladungen von Blechkisten abgeholt oder gebracht. Er wusste nicht, welche Fracht das Blech zu schützen hatte, aber jede Bewegung vom Blech auf der Ladefläche wie auch auf dem Beton kratzte und schepperte. Und wenn dann die Kisten mit höllischem Getöse über die Laderampe schinderten und wenn sie später per Rollbrett den braun-getäfelten Hügel zum Hintereingang hinauf gehievt wurden, ging das Gedröhn durch all seine Nervenbahnen. Wer könnte es dabei im Bett lange aushalten? Täglich viertel vor zehn Uhr schlug sein Nachbar gegenüber, der alte Herr Springer, seine Wohnungstür so heftig zu, dass man an ein Erdbeben denken konnte. Einmal musste er es dem Alten sagen, aber seither … Ach, Schwamm drüber. Halb elf kam die Postfrau mit ihrem gelben Elektro-Fahrrad. Ihre Fracht waren bunte Kataloge, aber nur wenig persönliche Post. Briefmarken waren nicht nur für ihn zu teuer geworden. Er wusste es von der Frau selbst. Er hatte sich empört, dass er nur noch unverlangten Ramsch im Kasten hatte, aber die Frau sagte: Zum Glück, sonst würden wir alle keine Arbeit mehr haben.

Bisweilen fuhr er dennoch mit dem Aufzug hinunter zum Briefkasten, um zu sehen, ob sich das Arbeitsamt gemeldet hat. Es meldete sich nicht. Seine bisherige Arbeit, die große Chance, Freude an der Arbeit zu haben, hatte er verspielt, schuldlos, wie er glaubte. Er war der Programmierer bei seiner Firma, dem Schmalz-Marke-ting-Consulting. Er hatte mit allem gebrochen, ein- für allemal. Dass es so schwer sein würde, etwas Adäquates im Arbeitsmarkt zu bekommen, war schlicht undenkbar. Dieses Land hatte keine Chance für ihn. Überqualifiziert! Dass ich nicht lache! Man kann nie zu klug sein, und man kann nie zu gut angezogen sein. Wer sagte das noch? Egal. Ist ohnehin nicht mehr mein Bier.

Gegen elf Uhr klingelte der Mann von «Essen auf Rädern» Sturm bei dem alleinstehenden alten Herrn Springer, der über alles meckerte, der aber ebenso hilflos zu sein schien wie Gusel, seine Nachbarin. Und wenn dieser tätowierte Kerl auftauchte, der Enkel, oder wer weiß, wer das war, flogen offenbar die Fetzen hinter Springers Tür.

Jonny hätte die Reihe seiner Klagen fortsetzen können, aber wozu? Sein Tag war strukturiert allein von Geräuschen und Abläufen. Ab vierzehn Uhr ging bei ihm nicht mehr viel, da war die Luft raus…

Früher war er nach der Arbeit bei jedem Wetter gerne auf einem Gang an der Spree entlang. Dort stehen über dreißig Fitnessgeräte. Einige davon hatte auch seine Firma medienwirksam gesponsert. Er hatte sie alle ausprobiert und seine Lieblingsgeräte längst gefunden. Jetzt saß er am Abend in seiner Bude und schaltete den Fernseher ein. Das Programm kotzte ihn an, nur noch Krimis und Ratesendungen oder Shows, in denen ungleiche Menschen mit ihren Kräften protzten. Und wenn einmal ein anspruchsvoller Film gesendet wurde, dann kam ganz bestimmt eine Szene um Liebe und Sex, und er schaltete weg, weil das Leben so verlogen ist; Liebe inbegriffen.

Liebe und Sex lagen für Jonny Flint Welten zurück. Sein Dasein fand in einer kühlen Wartehalle statt. Es fuhren einige Züge von hier ab, aber keiner für ihn. Keiner, der ihm ein lohnendes Ziel versprach.

Ein solches Ziel wäre ein geordnetes Leben, zu dem ihm die Kraft und die Lust fehlten; kein Vegetieren, kein Warten, worauf auch immer. Er wusste nicht einmal, worauf er warten könnte. Außer essen und trinken, pinkeln und endlich pennen zu gehen, gab es nichts, was ihn zum Aufstehen von seiner Couch zwingen könnte. Heute aber musste er. Er hatte mordsmäßigen Hunger.

Vor dem Supermarkt war die Hölle los. Der Parkplatz war voller Autos. Tausende nasse Autodächer ergaben ein wogendes Meer. Haben die alle keine Arbeit? Was wollen die hier? Jetzt? Jonny Flint schaute auf seine Armbanduhr. Ohne die vertrauten Geräusche hatte er kein Zeitgefühl mehr. Verflixt! Gleich schließen die hier.

Vom Hähnchengrill wehte ein verführerischer Duft in seine Nase. Er sollte doch … Er könnte sich doch heute mal etwas anderes leisten. Ein halbes? Oder wenigstens ein Viertel…?

Hinter den Mülltonnen schob sich ein zotteliges Etwas vor und glotzte ihn mit bettelnden Augen an. Mach, dass du wegkommst. Erst einmal ging er nach drinnen, um das Wenige zu kaufen, was unbedingt nötig war. Ob er sich dann noch etwas frisch Gegrilltes leisten will oder kann, wird sich zeigen.

Der Grill drehte sich noch ununterbrochen, aber es standen längst keine Kunden mehr an. Nur der dreckige Köter schlich noch immer herum. Jonny hatte im Markt auf den Wein verzichtet, weil er den Entschluss gefasst hatte, sich ein Stück vom duftenden Hähnchen zu leisten. Auf dem Bord vor dem heißen Grill lag auf einem Teller einsam ein halbes Hähnchen.

»Kannst Du mir ein Viertel schneiden?«, sagte er und war selbst erstaunt, dass er es als Frage formuliert hatte. Es hatte ihn schließlich viel Energie gekostet, nicht mehr freundlich zu sein, zu keinem… Diese Welt verdiente keine Freundlichkeit.

»Was soll ich mit dem anderen Viertel machen, jetzt … Ich mach gleich Schluss. Siehst doch, dass sich keiner mehr darum reißt.«

Ärgerlich, dachte Jonny und wollte wieder gehen. Aber der Duft regte allzu sehr seinen Speichelfluss an. Vermutlich würde der ihn bis in die Nacht hinein verfolgen, und ein solches Gefühl von Verlangen konnte er nicht auch noch gebrauchen. Umständlich lange kramte er in seinem Portmonee, als er hörte, wie der Verkäufer sagte: »Also gut, ein halbes zu 70 Prozent.«

»Ist 'n Wort«, maulte Jonny, aber etwas war da um seine Beine herum. Solange er vorsichtig nach dem Rechten schaute, wickelte der Verkäufer das fetttriefende Hähnchen in ein Pergamentpapier und legte es in die weiße Plastiktüte, dann kassierte er tatsächlich nur siebzig Prozent und reichte ihm die Tüte. Um Jonnys Beine strich dieser Köter. Das Fell war ganz sicher einmal hell gewesen, jetzt war es dreckverschmiert und zottig, dass es einen jammerte.

»Gehört der zu dir?«, fragte er den Mann. Der putzte mit einem schmierigen Lappen über den Tresen, beugte sich weit darüber hinaus, zog die Mundwinkel nach unten und seinen Kopf rasch wieder zurück. »Dieser Köter da? Gib dem einen Tritt. Zu mir gehört der nicht. «

Jonny nahm die Tüte und hatte keinen Grund mehr, noch immer nett zu sein. Seine Stimme war wieder so rau und kratzig wie zuletzt immer. »Den Tritt hättest du ihm längst geben können. Ist doch deine Bude, um die er schleicht.« Mit einem lässigen Fingerzeig von seiner Stirn in Richtung nachhause entfernte sich Jonny Flint. Zu dem Köter sagte er so laut, dass es der Kerl hören musste: »Vertraue keinem Menschen, der keine Tiere mag.« Ein schlechter Witz. Das wusste er. Er mochte ja selber keine Tiere. In seinem Kopf grollte lediglich unerklärliche Wut gegen den Mann, der immer im Schlaraffenland lebte und keine Seele zu haben schien: Blödmann! Kannst mich mal!

»Und danke für den Preisnachlass!«, rief der Mann Jonny hinterher, als er die Luke schloss. Jonny scherte sich nicht mehr um den Schnee von gestern. Geschäft ist Geschäft. Erst an der Ampel merkte er, dass der Köter noch neben ihm war. Seine dreckige Schnauze dicht an seinem Beutel, in dem obenauf die pure Verführung lag.

»Das könnte dir so passen«, knurrte er den Hund an. Als die Ampel auf Grün sprang, trottete das Tier mit ihm über die Fahrbahn, und es wich ihm auch später nicht von der Seite. Er mochte keine Hunde, aber noch weniger mochte er, wenn ihm ein Mensch auf der Pelle saß. Mit dem Köter konnte Jonny getrost reden. Er redete ohnehin viel zu selten: »Hast du kein Herrchen? Wo ist denn dein Frauchen. Geh schon, lauf nachhause, die warten schon auf dich.« Der Hund war ebenso stur wie er selbst. So schwerfällig, wie das Tier lief, musste es krank sein, zumindest verkrätzt. So genau kannte er sich mit Hunden und deren Krankheiten nicht aus. Mit Tieren generell nicht.

Kurz vor seiner Haustür traf das ungleiche Gespann auf den Alten, der bei «Essen auf Rädern» sein Mittagsmahl bestellt. Es schien ihm, als sprühten die greisen Augen Gift und Galle, aber er verkniff sich jedes Wort. Seit ihrem heftigen Schlagabtausch beschwerte sich der Alte nur noch beim Pförtner über Jonny Flint, aber der Pförtner sagte, Nachbarschaftskonflikte gehörten nicht zu seinem Aufgabengebiet. Das war nur recht und billig. Das riesige Haus brauchte Ordnung und Sicherheit, deshalb gab es neben dem Hausmeister, der sich Facility-Manager nannte, noch den Sicherheitsdienst rund um die Uhr.

Stocksteif stand der alte Mann und verfolgte das Schauspiel seines verhassten Nachbarn.

Wow, dieses zottige Etwas ist dem Alten ein Dorn im Auge. Wie schön!

Zum Hund sprach Jonny lauter als gewollt: »Ich würde dich ja mitnehmen, aber ich kann nicht. In diesem Haus leben zu viele böse Menschen. « Flugs war der Alte außer Hörweite und Jonny jauchzte leise.

Der Hund schubberte sein Fell an seiner Wade und schaute mit trüben Augen zu ihm herauf. Es schien ihm, als habe er einen Narren an seiner Stimme gefressen. Seit er mit ihm redete, wedelte er mit dem feucht-verklebten Schwanz, der bisher am Hinterteil eingeklemmt kaum zu sehen war. Auch leckte das Tier die fremde Männerhand, die den Beutel trug. Seine andere Hand war gerade bemüht, die Haustür zu öffnen.

Jonny fühlte die warme Zunge des Tieres auf seiner Haut. Irgendetwas ging dabei in ihm vor, was er später niemandem zu erklären imstande gewesen wäre. Nur sein Traum kam ihm in den Sinn. Dieser irrsinnige Traum…

»Na los, komm schon mit. Eine Nacht. Verstanden?«

Zwei Frauen im Aufzug rümpften ihre Nasen. Die eine raunte: »Der könnte mal ein Bad vertragen.« Jonny wusste nicht, wen sie meinte, immerhin duscht er regelmäßig. Heute meinte man wohl den Hund.

Die andere Frau kicherte: »Bad? Bei dem hilft nur noch eine Bürste und gaaanz viel Ajax. Sowas müsste man in Wohnhäusern verbieten.«

Jonny war diesseits der Elbe aufgewachsen, aber von Ajax und Meister Propper hatte er dennoch eine Ahnung.

In seiner Küche duftete es wie lange nicht mehr herrlich nach frisch gegrilltem Hähnchen, aber das Tier schien dermaßen verpestet zu sein, dass er es weder auf seinen durchgetretenen Teppich, noch auf irgendein Möbelstück loslassen wollte. Ruhe zum Essen hätte er somit nicht.

Mechanisch drehte er den Wasserhahn über der Wanne auf und schüttete etwas Haarshampoon hinein. Es schäumte und duftete, weshalb ihm wieder dieses Scheuermittel Ajax in den Sinn kam.

»Komm schon du räudiges Etwas. Rein hier.«

Der Hund stand unschlüssig da. Vermutlich kannte er nicht einmal eine Badewanne. Oder er war bisher bestraft worden, wenn er … Ach. Was auch immer. Komm her…

Jonny hob das Tier in das lauwarme Wasser und begann sein Fell zu waschen. Je heller es wurde, desto mehr Spaß machte es dem Mann, und auch dem Hund schien die Prozedur besser zu gefallen, als Jonny geglaubt hatte.

»Von wegen Ajax. Das beste Shampoon bekommst du bei mir. Das beste, hörst du? Ja, hören wirst du ja wohl, aber verstehen…? Was ist das bloß für ein Hundeleben!«

Jonny schrubbte und knuddelte das Tier, wie er noch nie ein lebendes Wesen geknuddelt hatte – Kristin in ihren guten Jahren ausgenommen, aber Kristin hatte seine Liebe gar nicht verdient. Dann spülte er akribisch den Schaum herunter, immer darauf bedacht, das Wasser lauwarm zu halten. Der Hund schüttelte sein Fell, es spritzte an die Fliesen, an den Spiegel und sogar bis zur Badezimmertür, was keine große Leistung war, so klein, wie das Bad seiner Wohnung ist. Miststück. Morgen muss ich wieder putzen! Das weißt du gar nicht zu schätzen!

Er opferte eins seiner großen Handtücher und frottierte das Tier trocken. Ein schönes Tier, dachte er für einen Moment. Aber er dachte auch an sein Hähnchen, auf das er sich so gefreut hatte.

»Na, jedenfalls bist du jetzt sauberer, und du riechst auch besser als mit Ajax. Da staunst du, was? Ajax!«

Als würde das Tier nie woanders gewesen sein, trottete es ins Zimmer, setzte sich vor die Couch, hob seinen Kopf und legte die Ohren an. Deren Spitzen waren bräunlich gefärbt und gaben den einzigen Kontrast zum cremeweißen Fell. Der Schwanz wedelte über den Teppichboden, als könnte er irgendetwas nicht erwarten. Jonny wurde in diesem Moment klar, dass es jetzt nicht nur um seinen eigenen Hunger, um seinen großen Appetit ging. In diesem Moment ging es auch um Ajax und sein nacktes Überleben. Ein so schönes Tier kann man nicht auf die Straße zurücklassen. Nicht ein so schönes Tier.

Er setzte sich an den Tisch, stützte mit einer Hand seinen gedankenschweren Kopf, bis er merkte, er war überhaupt nicht gedankenschwer. Keine Lebensangst, keine Wut auf Himmel und die Welt. Sein Problem hatte vier Beine, eine kalte Schnauze und ein wunderbar helles Fell.

Noch glaubte er nicht daran, dass sich in seinem Leben überhaupt noch etwas ändern könnte. Nur wenn er auf das Tier schaute, das leidend und zugleich mit den Augen bittend neben ihm saß, seinen Kopf reckte, aber nicht zuschnappte, wie es ein unerzogener Köter tun würde, ging etwas durch Jonnys Leib, das er früher als Hoffnung belächelt hätte.

Akribisch löste er die salzige Haut vom Hühnchenfleisch und teilte mit Ajax, was er gerade hatte. Es tat ihm nicht einmal leid für seinen eigenen genussentwöhnten Magen. Im Gegenteil. Er hatte zwar keinen blassen Schimmer, wie man mit einem Hund umgeht, was er frisst und was zu tun ist, aber das alles konnte man lernen. Er hatte schon so viel im Leben gelernt, wovon er niemals geglaubt hat, es einmal zu brauchen.

Die erste Lektion in Sachen Hund bekam er in diesen Minuten: Die kalte Schnauze eines Hundes ist erfreulich warm gegen die Kaltschnäuzigkeit mancher Menschen, zu denen er einst selbst gehörte.

Der Hund fraß. Und wenn ein Hund frisst, hat er Vertrauen. Ein merkwürdiger Tag, dachte Jonny. Du denkst und tust Dinge, für die du noch gestern dich und andere Menschen belächelt, vielleicht sogar verachtet hättest. Du denkst nicht mehr nur an dich und dein vermaledeites Leben. Du denkst an ein Wesen, das du ganz automatisch Ajax nennt und das dir folgt, sooft du diesen Namen aussprichst.

Dieser Tag wurde zum Abgang von seiner Bühne, die über ein Jahr lang nur Tragödien spielte. Ein Abgang, der keinem seiner bisherigen Abgänge glich. Nicht dem aus seiner Heimat. Nicht dem von Kristin. Nicht einmal dem von seinem einst sorgenfreien Leben. Dieser Abgang sollte ihn nicht in einen Strudel reißen. Er sollte ihm stattdessen Flügel verleihen und zugleich wieder Boden unter seine Füße setzen.

KEIN VERWAHRLOSTER KÖTER

Nun war er nicht mehr allein, aber er hatte ein ganz neues Gefühl: Mit einem Hund ist es allemal besser als mit nervigen Menschen. Und von dieser Spezies Mensch hatte er sich im letzten Jahr zwar notgedrungen, aber endgültig befreit. Leider nicht von allen.

Zuerst fällt ihm der alte Herr Springer ein, mit dem er seine Fehden austrug, sooft er dem Alten über den Weg lief. Aber auch die Sache mit seiner Nachbarin Gusel war alles andere als erbaulich.

Jonny Flint schlurfte von der Küche zur Couch und setzte sich an deren Ende, dicht zu dem Tier, das entkräftet auf der braunen Decke lag, die er zwischen der Couch und der Heizung ausgebreitet hatte. Ob Ajax schlief, konnte Jonny nicht sagen, aber die unruhigen Bewegungen unter dem Fell gefielen ihm gar nicht, dabei lag der Kopf flach auf der Decke, als schliefe der Hund tief und fest.

Es könnte dich noch viel Mühe kosten, bis das Tier wieder gesund und kräftig genug ist. Vielleicht doch nur ein Strohfeuer für dich?

Wie er so auf das Häufchen Unglück schaute, kamen ihm ganz seltsame Gedanken. Auch dieser Hund hatte ein Dilemma, so wie er selbst seit einem Jahr in einem steckte, das ihn in diese Hölle befördert hatte. Jetzt führte er ein Leben, das nicht einmal einen Hund zu ernähren versprach. Früher hätte er sich für das Leben, das er jetzt führte, geschämt. Früher. Das war vorbei. Warum etwas bemühen, was vorbei war. Seit er notgedrungen in Nachbarin Gusel Bertolsens schlotteriger Wohnung gewesen war, tröstet er sich mit sich selbst und mit seiner speziellen Ordnung. Die wenigstens hatte er beibehalten. Und die war allemal besser als die von Hausfrau Gusel…? Was hatte er mit ihr durch in den wenigen Monaten, die er sie kannte. Ohne diese Klette, die er sich leichtfertig aufgehalst hatte, hätte seine Welt so einfach sein können. Seit seine Nachbarin Witwe war, war auch sein eigenes, lichtscheues Leben durcheinandergekommen.

Gusel Bertolsen und ihr Mann Bert waren ein seltsames Paar. Er, ein alter Militär, sie eine gebürtige Russin. Wahrscheinlich hatte Bert sie einst mitgebracht, als er bei den Sowjets eine Ausbildung erhalten hatte. Man merkte es Gusel nicht mehr an, sie sprach nicht wie eine Russin, aber sie sprach ja sowieso nicht vernünftig…

Jonny kannte die beiden nicht wirklich, aber als Bert noch lebte, hatte ihn das Paar ab und zu mit dem Auto mitgenommen. Bert wollte in Polen tanken und Gusel schlenderte mit Vorliebe über den Polenmarkt aus unübersichtlichen Buden und Ständen, wo billige Kleider im Wind wehten, wo Schuhe und Mützen dem Nieselregen trotzten, wo die Händler ihre Ware mit Folie bedeckten, sobald der Himmel inkontinent wurde. Gusel durfte alleine nie etwas kaufen. Immer musste Bert ihre Vorhaben absegnen. Alles, was ihr Leben außerhalb der Wohnung betraf, hatte Bert entschieden und in den letzten Jahren auch selbst gemacht.

Für Berts Angebot war Jonny Flint zumeist dankbar. Eine gute Chance. Zigaretten mussten nicht so teuer sein wie in Deutschland. Zigaretten und auch mal eine Flasche Cognac. Aber jetzt, wo Bert sich klammheimlich davongemacht hatte, blieb er von Gusel noch lange nicht verschont. Sie fand sich nicht mehr zurecht in einem Leben ohne Bert. Und Jonny hatte ja Zeit, er konnte ja … Das erwartete sie. Und er nahm sich Zeit … Immerhin fiel der eine oder andere Euro für ihn dabei ab.

Dann war der Tag gekommen, als Gusel zitternd vor seiner Tür stand; die dicklichen Arme abgespreizt, flatternd wie die Flügel eines Vögelchens, das nach Nahrung bettelt. Der Oktober hatte gerade begonnen, aber es war schon empfindlich kalt. Auch in den Fluren des Wohnblockes hatte es empfindlich gezogen. Gusel indes trug nur eine weiße, rundum befleckte Nylon-Kittelschürze, die ihre dicken Oberschenkel kaum verdeckte. Und sie trug keine Strümpfe. Aus offenen Pantoffeln ragten krüppelige Zehen mit deformierten Nägeln, die dringend einer Fußpflege bedurft hätten.

Gusel war kraftlos auf einen seiner Stühle geplumpst und hatte unverständlich von Bert gestammelte. Noch niemals war sie in seine Wohnung gekommen, immer nur Bert selbst. Und immer hatte er nur seine militärische Ansage und eine Frage: Wir fahren zum Polenmarkt. Willst du mit?

Manchmal hatte Jonny keinen Cent mehr in der Tasche, aber Bert hatte gesagt, er legt es ihm aus. Also war er dann mitgefahren.

Gusel hatte an diesem bewussten Tag auf dem harten Stuhl gesessen in hörbarer Atemnot. In Wahrheit war es die Not, ein klares Wort über die Lippen zu bringen. Das kannte Jonny Flint. Gusel war keine Leuchte an Intelligenz, aber diesmal schien es, als sei sie hochgradig dement.

»Ich weiß nicht, wie ich sagen soll«, wiederholte sie so an die fünfmal und schnappte dabei so an die siebenmal nach Luft. Jonny hatte ihr Zeit gelassen. Er hatte es nie mehr eilig. Ob sein Leben heute oder morgen passierte, sofern es überhaupt noch passierte, war ihm egal. Er kaute an seinem Brot und trank einen Schluck Bier dazu, alles andere war an ihm vorbeigerauscht. Irgendwann aber war es ihm zu viel geworden und er hatte Gusels hilfloses Stammeln rüde unterbrochen: »Was ist los. Was willst du denn nun? Wenn du nicht mal weißt, was du willst, dann geh endlich und schicke Bert rüber…!«

Ihre Augen rollten wild von ihm zur Zimmerdecke und zurück. Immer wieder, bis sie zur Tür zeigte und sagte: »Der kann doch nicht… der liegt doch … ich weiß nicht, wie ich sagen soll … ich hab ihn liegen lassen.«

»Der liegt? Wo liegt er denn …«

Gusel konnte nicht antworten, zeigte hilflos zur Tür.

»Verdammt… Auch das noch… Scheiße!« Er hatte den letzten Schluck Bier genommen und sich den Rest der Stulle zwischen die Zähne gestopft. »Ich komm ja schon«, hatte er mit vollem Mund gemault, sich stöhnend erhoben und war Gusel nach nebenan gefolgt. Dort lag der Mann in seinem Bett, halb lebend, halb tot. Zum Glück war auf Jonnys Handy noch ein Guthaben und er konnte ohne Zeitverlust die 112 wählen. Es hatte ihn wütend gemacht, so ausgeliefert zu sein.

»Ja nun! Du wirst doch noch ein paar Sachen zusammenpacken können. Mach schon, der Sanka ist gleich hier. «

»Ja doch … sei doch nicht so… du bist immer so fuchtig … alle im Haus sagen das…«

»Na und?« Fuchtig. Was ist fuchtig? Es war ihm egal. Und Gusel war ihm egal. Und was die Leute im Haus dachten, durfte ihn erst recht nicht interessieren. Er war in der fremden Wohnung hin und her gestapft, ohne Gusel noch zu beachten, nur auf Bert hatte er sorgenvoll geschielt und gedacht, wie ungerecht das Leben doch ist.

Wen interessiert mein Leben? Ein Hundeleben. Mancher Hund lebt besser als ein Jonny Flint, der zwanzig Jahre lang kräftezehrend gearbeitet hat … Aufreibend. Mühevoll. Und nun? Wen kümmert es! Ein Scheißland ist das geworden. Macht Gesetze, die den kleinen Mann umbringen…

Noch ehe Gusel kopflos suchend begonnen hatte, für Bert Handtücher, Wäsche und alles Nötige zusammenzusuchen, standen die Männer in ihren rot-gelben Westen vor der Tür. Dann musste alles sehr schnell gehen.

Die letzten Worte, die einer sagte: »Kommen Sie mit ein paar Sachen für ihren Mann nach. An der Rezeption erfahren sie, wo er liegen wird. «

Die ganze Zeit war Gusel hin- und hergelaufen und hatte laut vor sich hin gejammerte. »Ich kann doch nicht … ich weiß doch nicht… ich find mich nicht dahin. Wohin muss ich denn… Jonny, kannst du nicht…?«

Es war ihm nichts übrig geblieben, als mit dieser kopflosen Frau und einer schäbigen Tasche, in die er selbst das Nötigste zusammengesammelt hatte, in die Straßenbahn zu steigen und zur Klinik zu fahren. Aber dort war die Odyssee weitergegangen. Vierundzwanzig Blöcke, die mit zweistöckigen Gängen verbunden waren. Hatte man nur das falsche Stockwerk erwischt, gelangte man schon nicht mehr auf den richtigen Weg durch das Labyrinth an Stationen. Diese Odyssee hätte Gusel allein in der Tat nicht gemeistert.

Auf der besagten Station lag Bert Bertolsen und war nicht ansprechbar. Und das blieb so. Für immer. Zwei Stunden hatte Gusel wortlos seine Hand gestreichelt, ohne eine Ahnung von den Dingen zu haben, die um sie herum passierten. Die Schwester hatte Jonny einen Wink gegeben, dass es vorbei sei mit Bert, aber Gusel begriff es nicht.

»Wie lange willst du hier noch rumsitzen! Du kannst doch nichts mehr tun für Bert.« Sie begriff es noch Wochen lang nicht. Tags darauf wollte sie, dass Jonny sie wieder begleitete, um Bert zu besuchen, doch da lag Bert Bertolsen schon in den kalten Katakomben…

Dieser war der Tag, den sich Jonny seit Monaten als Lösung für sein eigenes Problem vorstellen konnte. Was sollte er noch auf dieser Welt. Keine Freude. Keine Liebe. Kein Geld. Wäre da der ewige Schlaf nicht eine Erlösung?

Warum hatte er so wenig Ahnung von den profanen Dingen des Lebens? Warum wusste er nichts von der Brisanz seines eigenen Arbeitsvertrages? Am meisten aber ärgerte er sich, dass er sich nie die Zeit für all diese Nebensächlichkeiten genommen hatte. Er hatte alles Kristin tun lassen. Sie wollte es so, ging beinahe auf dabei.

Diese Gedanken waren kein Trost. Sie waren ebenso Schwäche wie die Dinge an sich. Nun hat er nicht einmal mehr ein Auto.

Bert Bertolsen war zu beneiden. Er war erlöst von der Welt und von Gusel, aber für Jonny Flint kam keine Erlösung. Sein Leben blieb, und der Ärger mit Gusel blieb ebenso. Sie begriff nichts mehr. In der Anonymität eines Wohnblocks mit Tausenden Menschen fällt niemandem auf, wie hilflos einer ist, wie einsam.

Bisweilen, wenn sein Geld reichte, trank Jonny. Dennoch kümmerte er sich so gut es ging um Gusel und um die Beerdigung von Bert. Dieses Kümmern hatte einen guten Nebeneffekt — Jonny konnte Gusel anpumpen, wenn sein Geld für den Friseur nicht reichte oder er einen Tropfen brauchte, um sich aus dem wachen Leben zu trinken. Das Rauchen aufzugeben, hatte er gottlob selbst geschafft, notgedrungen.