Zwei Leben der Susan H. - Maxi Hill - E-Book

Zwei Leben der Susan H. E-Book

Maxi Hill

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Beschreibung

Die Journalistin und Buchautorin Rita Georgi macht in ihrer Wahlheimat – einem kleinen Dorf im Spreewald – kuriose, ernsthafte aber auch erschreckend beispiellose Erfahrungen. Stoff genug für eine Trilogie, deren autarke Teile so verschieden sind wie das Leben. In diesem 2. Teil geht es um Susan Hellmann, die aus unerklärlichen Gründen ins Wach-Koma fällt. In den menschlichen Wirrungen erweist sich Rita Georgi völlig unerwartet als Kämpferin für Susan, gegen ihren Freund und Kollegen, Susans Mann Mark. Wie viele andere Menschen stellt Rita sich die Frage: Wie muss ein Leben sein, um noch Leben genannt zu werden? Ihre Einmischung wird für Marks neue Lebensplanung zum Hindernis…

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Seitenzahl: 475

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Maxi Hill

Zwei Leben der Susan H.

Ein KOMA-Fall

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zwei Leben der Susan H.

KOMA

Susan Hellmann

Der gute Geist - Rita

Der Vorfall

Wahre Freundschaft

Wer war der Übeltäter?

In der Klinik

Misstrauen

Eine wichtige Mission

Eine hilfreiche Entscheidung

Der «fremde» Mark

Heldin oder Eigennutz?

Mark und Inny

Ein Kind und die Liebe einer Mutter

Mark und die Frauen

Schwindende Hoffnung

Fataler Einfluss?

Ein beruhigender Entschluss

Im Haus »Hoffnung«

Alexander Graustein

Im Zwiespalt

Zeit des Lichts

Advent –die Zeit der Ankunft?

Abschied vom Haus Hoffnung

Zu Hause ist, wo man geliebt wird

Hilfe in letzter Not

Das Glück kommt meistens auf leisen Sohlen

Impressum neobooks

Zwei Leben der Susan H.

Die junge Journalistin Rita Georgi macht in ihrer Wahlheimat – einem kleinen Dorf im Spreewald – kuriose, ernsthafte, aber auch erschreckend beispiellose Erfahrungen. Sie profitiert davon, denn immerhin schöpft sie daraus den Stoff für ihre Romane.

Dieses Mal geht es um Susan Hellmann, die aus unerklärlichen Gründen ins Wach-Koma fällt. Wie viele andere Menschen stellt sich auch Rita bald die Frage: Wie muss ein Leben sein, um noch Leben genannt zu werden?

Eigentlich war Mark Hellmann seit Langem Ritas guter Freund und Kollege. Seit Kurzem aber geht in Mark etwas vor, was Rita mit Vernunft nicht beschreiben kann. Sie beschließt, in Zukunft Distanz zu Mark zu halten, um ihre eigene kleine Familie nicht zu zerstören.

Doch dann fällt Marks Frau Susan unter mysteriösen Umständen ins Wach-Koma und alles ändert sich wieder.

Mark ist ein völlig anderer Mensch geworden. Irgendwann verlangt er sogar von den Ärzten, die Lebenserhaltung seiner Frau Susan zu beenden.

Ab jetzt ist es Rita, die sich in das Leben von Mark einmischt, vor allem aber in das von Susan.

KOMA

Ein Hauch von weißer Seide umspielt ihren Körper, fließt durch den Raum, wallt und schwebt und steigt und fällt ... Nimmt ihr die Sicht ... Entblößt ihre Schönheit ... Sie fliegt und träumt und träumt dass sie fliegt … und spürt erst jetzt: Es ist Nebel ...

Wo ist sie? Wer ist sie? Sie ist es. Namenlos, aber sie ist …

Im Dunst des Tages das seltsame Bett. Ein böser Geist sticht spitz auf sie ein. Er reißt und zerrt und will ihr ans Leben. Sie wehrt sich, will sich erheben. Keinen Zentimeter. Ihre Hände sind gebunden. Sie schreit, doch niemand kommt zur Hilfe.

Der Widerhall ihrer Rufe dringt durch einen dicken Wattebausch. Die Angst lässt sie wahnsinnig werden, aber für Wahnsinn ist sie zu müde … zu müde … zu müde.

Ihr Körper tut weh. Der Rücken ist heiß und brennt.

Sie ist auf der Reise durch Traum und Wachen in einer Welt zwischen Leben und Tod.

Ein Schreck durchfährt sie. Der Schwarze Mann aus ihrer Kinderzeit geistert durch den Nebel. Sie kann vor Angst kaum atmen, spürt etwas Festes in ihrem Hals, auf ihrem Leib. Es drückt sie auf das Laken.

Doch dann: Ein zarter Duft. Sie atmet auf. Es ist nicht der schwarze Mann. Es sind nicht die bösen Geister. Sie kann nichts erkennen, aber sie kennt diesen Duft. Gott sei Dank …Es wird Hilfe geben.

Ihr Herz klopft lauter, sie atmet schneller. Als ihre Kraft schwindet, lässt sie sich fallen und schwebt in wallendem Nebel dem hellen Licht entgegen …

Die Journalistin Rita Georgi empfindet ihr Defizit an Klarheit beschämend. Die Situation von Susan Hellmann nennt man Wachkoma. Sie muss mehr darüber erfahren. Ganz allgemein. Aber vielleicht auch für sich selbst.

Seit der Sache um Susan weiß Rita mehr denn je, der Sinn des Lebens steckt in den kleinen Dingen. Etwas zu schmecken, zu riechen, einen geliebten Menschen zu berühren. Schöne Musik zu hören, ein gutes Buch zu lesen. Mit Freunden einen guten Tropfen trinken. Das alles kann Susan nicht. Vielleicht nie mehr. Also ist der Sinn des Lebens für Susan Hellmann vorbei?

Der Klinik-Lift setzt härter auf als normal. In der Vorhalle riecht es nach Desinfektion und Medikamenten, nach Mullbinden und langsam verwesenden Blumen. Sie kennt die Berichte über komatöse Menschen aus Zeitungen und Fernsehen. Alle waren sie bitter. Aber das hier, das kriecht quälend durch alle Poren bis in jede Faser ihres Körpers.

Susan liegt an Schläuche gekettet in einem sonderbaren Bett. Ein Sondomat pumpt rhythmisch die Nährlösung durch einen der Schläuche in den Magen. Ihr Blick ist starr zur Decke gerichtet. Die krampfhaft nach innen verdrehten Hände, die eingewinkelten Arme, das alles sieht nach unsäglichen Schmerzen aus. Was da in den Kissen liegt ist alles andere als Susan Hellmann. Alles andere als lieblich. Ihr Haar verschwitzt. Ihre Haut gläsern, durchscheinend. Das Fleisch aufgedunsen. Die Züge im jungen Gesicht zur Fratze verzerrt.

Für einen Moment ist sie fassungslos. Es fühlt sich an, als sickern ihre Gedanken nur träge durch eine zähe Masse …

Je länger sie untätig dasteht, spürt sie tiefes Bedauern um all das, was sie über Susan nicht weiß. Hat sie einmal mit ihr über die Dinge des Lebens geredet? Was weiß sie von diesem Etwas, das da zwischen den Kissen liegt, mit Schläuchen verklebt, das nicht lebt und nicht tot ist, das nicht schläft und doch nicht wach ist.

»Infauste Prognose …«, bricht Rita das Schweigen im Raum und wendet sich der pflegenden Schwester zu, »was bedeutet das?«

Die Frau unterbricht ihr Handgriffe nicht, redet gedämpft mit Rita.

»Die Prognose von Wachkomapatienten ist denkbar schlecht. Wenn die Sauerstoffversorgung im Gehirn unterbrochen war …?« Sie dreht ihr Gesicht von Susan weg und flüstert. »Sie wird keine Freude mehr am Leben haben «

Vom Gang dringen Laute durch die Tür, dann ist die Stille auf der Station wieder hergestellt. Unheimliche Stille.

Praktisch sieht es so aus, als würde das Schweigen auch diesen Raum wieder beherrschen. Doch dann sagt die Frau, Rita dürfe mit der Patientin reden, sie vorsichtig berühren, ihr etwas vorsingen, lachen …

Mit einem Mal erfasst Rita dieselbe Starre, in der Susan sich befindet, weil sie weiß, es wird nichts von alldem gehen. Es wird Wochen dauern bis sie nur halbwegs den schwebenden Zustand zwischen Leben und Tod akzeptieren kann. Sie widersteht der Versuchung stehen zu bleiben wo sie steht und nur gebannt auf das fremde Wesen zu blicken. Schon die Berührung der Hand, die steif und willenlos auf der Decke liegt, erzeugt eine sonderbare Verwirrung in Rita. Ist es ein Gefühl von Abscheu? Ist es Mitleid? Ist es ein Schuldgefühl?

Ritas Augen durchmessen den sterilen Raum. Kaum einer weiß, ob Susan ihn je wieder verlassen kann. Die Kurven auf einem der Monitore zeigen den Herzschlag an. Rita weiß nicht, ob es normal schlägt. Sie weiß nur, hier liegt keine leere Hülle. Susan Hellmann ist lebendig. Ihr Herz schlägt. Ihre Lunge zieht Luft. Sie lebt. Sie kann nicht allein essen und trinken. Sie kann nicht laufen, ihre Muskeln nicht bewegen. Susan Hellmann hat eine zweite Dimension des Lebens angenommen. Das Tor zum Bewusstsein ist zugeschlagen, aber es ist noch immer Leben? Unser Bewusstsein ist ein Geschenk, das den Wert des Lebens vervielfacht. Verliert der Mensch das Privileg, Mensch zu sein, wenn das Bewusstsein andere Wege geht?

Der zarte Duft ist ganz nah. Jemand berührt ihre Hand. Sanfter und bedachter, als diese bösen Geister.

Susans Herz klopft heftig und sie ringt nach Luft. Noch ein Schatten kommt durch den Nebel. Ein weißer. Er spricht zu den anderen und dreht an dem zirpenden Gerät. Und wieder dieses grausige Piepen und das schlürfende Ziehen von Luft. Warum kann sie keinen Muskel rühren? Warum kann sie nicht schlucken? Es sind die harten Dinger in ihrem Hals. Sieht das denn keiner …?

Die Worte der drei Schatten dringen nicht mehr bis zu ihr. Sie schwebt in ihrem weißen Nebelkleid einer Wolke entgegen. Da unten sieht sie das Grün vom Luch, das Rot vom Dach des kleinen Hauses … Dieses Haus …! Was ist mit ihr geschehen? Sie muss sich erinnern …

Susan Hellmann

»Etwas Besseres als den Tod finden wir überall …«, liest Susan Hellmann mit einem Ton in ihrer Stimme, von dem sie lange nicht wusste, dass sie zu einem solchen überhaupt fähig ist. Sie klappt das Märchenbuch zu, streicht einem der Kinder über das Haar und sagt mit Bestimmtheit: »Und wenn ihr jetzt alle ganz schnell einschlaft, lesen wir am Nachmittag, was den Stadtmusikanten auf ihrem Weg nach Bremen noch alles passiert ist.«

Freilich weiß sie, dass sie am Nachmittag nicht mehr hier sein muss. Lubina ist am Nachmittag dran. Die Kinder haben die kleine Mogelei nicht bemerkt. Zwei von ihnen ziehen gehorsam die Decken bis über die Ohren, zwei tuscheln: Sie wüssten ja längst, dass die Räuber kämen.

Nur Mara reckt ihrer Mama den kleinen Mund für ein Schlaf-Gut-Küsschen entgegen.

Wie schön die Ruhe ist, denkt Susan. Bisweilen geht es in diesen Räumen laut zu. Manchmal dröhnt ihr der Kopf, wenn sie nach fünf Stunden endlich dieses Haus verlässt. Aber sie ist jetzt nicht mehr so unglücklich, seit sie diese Aufgabe hat, die auch noch bezahlt wird. Ohne diese Kinder würden die Tage noch immer viel zu lang sein, das Warten auf den ewig abwesenden Mark zu nervig und die Spiele mit Mara bald eintönig.

Sie ist noch so jung und schon viel zu oft allein. Wenn sie allein sagt, dann meint sie mit Mara und deren ganz normalen kindlichen Ansprüchen. Ohne Mara gliche das Alleinsein der Besinnung auf sich selbst, auf die eigenen Ansprüche; bedeutete es Freiheit. Sie ist nicht mehr frei, und seit einiger Zeit fühlt es sich auch so an, als sei sie gefangen im goldenen Käfig.

Sie hatte sich lange gegen Marks Pläne gesträubt, hierher in dieses verhasste Spreewald-Nest Alt Zechau zu ziehen. Schon der Namensteil Alt hat bei ihr die Alarmglocken schrillen lassen, beinahe die ganze lange Phase des Baugeschehens hindurch. Irgendwann brachte sie die Energie nicht mehr auf, Mark zur Einsicht zu bewegen; eine Hilfe war sie ihm in ihrem Groll nicht.

Freilich ist der Spreewald reizvoll. Für eine Woche. Nicht fürs ganze Leben. Jetzt fühlt sie sich dazu verurteilt, von Mark, der einst vorgab, sie unheimlich zu lieben. Unheimlich wird ihr zuweilen, wenn sie darüber grübelt, was sie sich von einem Leben mit Mark erhofft hat. Nach Liebe sieht sein selbstherrlicher Alleingang jedenfalls nicht aus. Sie brauchte Mark mehr als er sie, und irgendwann begann sie seinen Schwüren zu glauben: Bei der Auswahl des Baulandes in diesem Dorf sei niemals die Nähe zu Rita Georgi bedeutend gewesen. Mark schwört noch immer, dieses Stückchen Land nahe am Luch habe ihm einen Kitzel beschert. Diesem Brachland inmitten des Ortes hatten die alten Wenden den Namen In Lücke gegeben und sie hatten sich offenbar geschworen, es niemals zu bebauen, weil es dafür einen Grund gab, den man kollektiv verschwieg. Noch heute wäre das Schweigen geheimer Auftrag, aber Rita Georgi hatte das richtige Näschen für den Grund der dörflichen Verschworenheit. So hat Mark schließlich sein Ziel erreicht.

Susan weiß, wie es um Mark steht. Wenn er etwas will, kämpft er mit allen Mitteln darum. Auch damals konnte er nicht anders, musste In Lücke besitzen, gerade, weil es ihm in diesem Kaff niemand gönnte. Einen Fluch hatte man dem Stück Land angedichtet. Einen Fluch, den man eine gewisse Zeit lang sogar nachzuweisen versuchte, bis der Bagger das Skelett ausbuddelte.

Für Susan war alles, was bis dahin auf dem Baugrundstück passiert ist, die logische Folge von Marks Besessenheit, sich gegen den Willen der Dorfbewohner und gegen uralte Traditionen durchzusetzen. Sogar Jens hat ihm dabei geholfen. Auch Jens war einst Zugereister, aber mit hiesigen Wurzeln. Er hatte keine Ahnung von dem Fluch, den dieses Dorf zu bemänteln trachtete.

Wenn Susan Hellmann heute davon spricht, sie habe nichts von einem Fluch gespürt, dann unterschlägt sie den Fluch ihres eigenen Gefühls, in diesem Dorf verraten und verkauft zu sein. Verlassen fühlt sie sich gar, weil Mark zu viel unterwegs ist. Langeweile ist es nicht. Sie hat den Haushalt zu führen, eine notwendige, aber lästige Sache. Mark achtet darauf, dass die Gartenwege stets vorzeigegerecht gesäubert sind und der Partykeller zu jeder Zeit für unverhoffte Gäste in Schuss ist. Manchmal kümmert sie sich um Marks Termine, ordnet und sortiert seine Papiere, was ihr nicht gut ausgelegt wird. Aus reiner Gewohnheit vergriff sie sich einmal an seiner ungeübten Buchhaltung. Mark kam dazu, und es gab Zoff. Auch später hat sie ihn nicht fragen dürfen, wie hoch die Zuschüsse ihrer Eltern für die Raten sind, die monatlich der Bank zufließen. Aber sie weiß, dass ihre Eltern an der Tilgung des Kredites für das Haus mitwirken.

»Warum muss das sein. Du arbeitest doch für gutes Geld auch freischaffend«, hat sie ihn gefragt. Davon dürfen der Verlag und möglichst auch ihre Eltern niemals erfahren, hat er sie beschworen.

Ob er ihr nicht vertraut, oder ob es noch andere Gründe gibt, war bisher nicht herauszufinden.

Bis zu Maras Geburt war sie eine geachtete Redaktionssekretärin im Spree-Rundschau-Verlag. Sie ist und bleibt in ihrer Seele Sekretärin, aber auf diesem gottverdammten Kuhkaff wird keine Sekretärin gebraucht, und die vierzig Kilometer täglich bis zum Verlag zu fahren, lohnen sich für die wenigen Stunden nicht, die sie arbeiten könnte. Einen Vollzeit-Job neben Haus und Kind kann sie nicht annehmen.

Sie hatte sich abgefunden mit dem Haus - das ein schönes Haus ist, modern und hell. Sie hatte sich abgefunden mit der Einsamkeit und sogar mit den aufgezwungenen Freunden, obwohl sie noch immer nicht weiß, was sie von dieser Freundschaft halten soll. Dieser Rita Georgi kann sie noch immer nur mit Skepsis begegnen, wenngleich Mark ständig von unbegründeten Vorurteilen spricht. Jens Jedro hingegen ist nett, das weiß sie, wenn auch erst seit Kurzem. Bisweilen kommt darum ein wenig Neid in ihr auf. Neid auf Rita.

Ihrer Furcht vor dem Alleinsein hatte Susan Hellmann zeitlebens nichts entgegenzusetzen. Eines Tages war es so weit, ihr drohte die Decke auf den Kopf zu fallen. In diesem abgelegenen Dorf ist sie allein – mit Mara zwar – aber inwendig furchtbar einsam. Zum Glück hat Jens Jedro ihre Lage erkannt und dem Ganzen ein vorläufiges Ende bereitet. Sie wusste zuerst nicht, warum er ihr den Vorschlag gemacht hatte, ein paar Stunden am Tag in der Kindertagesstätte zu arbeiten. Bis dahin hat sie sich von den Problemen des Dorfes grundsätzlich ferngehalten. Sie wusste nicht einmal, dass der staatliche Kindergarten mangels Masse vor Jahren abgewickelt worden war. Ob Jens aus Eigennutz gehandelt hat oder aus Verantwortung für sein Dorf – wie er es nannte – oder ob er es nur mit ihr gut gemeint hat, das will sie gar nicht wissen.

Es war ihr nicht leicht gefallen, ja zu sagen. Ob sie es Jens zuliebe getan hat? Oder Mara? Oder ob sie sich geschämt hat, in ihrem schönen Haus wie die Made im Speck zu leben? Das alles beantwortete sie sich damals nicht. Wenn sie es jetzt mit Abstand bedenkt, hat sie sich nicht einmal Mara zuliebe für den neuen Job entschieden. Zwar sagt sie immer: Kinder brauchen Kinder. Aber eigentlich hatte erst Jens sie überzeugt: Wenn Du sowieso den lieben langen Tag Kinderfrau bist, kannst du es doch auch mit vier oder fünf probieren. Das hebt die Selbstachtung und bringt ganz nebenbei eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit.

Ob Mark dahinter steckt? Jens und Mark sind nicht das, was man dicke Freunde nennen könnte. Jens geht es wie ihr. Er ist durch die Freundschaft zwischen Rita und Mark in diese Verkettung geraten, unfreiwillig, wie er es nennt.

Eigentlich darf sie über Jens gar nicht nachdenken, ohne sich selbst und ihre einstige Meinung über Männer infrage zu stellen. Jens ist so wohltuend anders als Mark.

Seit sie hier ist hat auch sie sich verändert. Verdammt verändert. Nur eines kann sie noch immer nicht lassen. Auch wenn sie es tagsüber nur mit kleinen Kindern zu tun hat, sie muss sich herausputzen, als ginge sie noch immer ins große Verlagshaus. Jeden Morgen fönt sie ihr Haar, schminkt sich sorgfältig und lackiert die Nägel – sogar die Fußnägel. Zuerst hat genau das bei den Kindern zu großem Erstaunen geführt. Auch die vollbusige Lubina Kieschnick konnte sich ihrer nervigen Lästerei nicht enthalten. Inzwischen lackiert auch sie ihre Fußnägel, ungeschickt in der Farbwahl, aber auffällig genug.

Bisweilen, in der kurzen Zeit der Ablösung, geht ihr Lubina gehörig auf die Nerven, und Lubina geht es mit Susan offenbar nicht besser. Beide mussten sich akzeptieren. Lubina ist auserwählt worden, um den Kindern das Wendische beizubringen. Nur deshalb bekommt die Gemeinde eine kleine Förderung, ohne die diese Einrichtung nicht rentabel wäre. Ein höherer Kostenbeitrag, so meint Jens, sei für die Eltern der Kinder nicht akzeptabel.

Manchmal ist sie froh, hier zu sein, aber manchmal fühlt sie sich ungewöhnlich schwach. Freilich war es schlimmer, als sie noch allein zu Hause hockte und stundenlang auf Mark wartete. Damals ging sie nicht einmal zur Tür, wenn jemand aus dem Dorf an der Gartenpforte läutete. Eine Zeit lang beklagte sie sich, krank zu sein, aber ihre Mutter sagte, die Einbildung würde wieder einmal mit ihr durchgehen. Auch Mütter irren bisweilen. In einem aber hatte Mutter recht. Als sie noch ein Kind war, hat sie gerne einmal krank gespielt und ihre Eltern zu Tode erschreckt. Kein Wunder, dass Mutter sagt, sie soll um Gottes Willen vor Mark nicht schlappmachen. Das würden Männer nicht mögen, und einen wie Mark bekäme sie nie wieder.

Ihre Mutter hält verdammt große Stücke auf Mark. Noch im vergangenen Jahr hätte sie ihr gerne Recht gegeben. Jetzt muss sie bisweilen an anderer Stelle Halt suchen, weil ihr Mark keinen gibt, keinen geben kann. Er hat zu viel um die Ohren. Wohl deshalb spricht er davon, er brauche jetzt eine starke Frau. Also muss sie zu jeder Zeit stark sein und mehr noch, sie muss auch schön aussehen, damit wenigstens noch etwas in ihrem Leben schön ist. Leider hat Mark nicht einmal dafür noch Augen.

Wenn Jens kommt und in der Kita nach dem Rechten sieht, fühlt sie sich gut. Er bemerkt ihre Sorgfalt; er hat ein großes Herz und versteht die Probleme einer Frau. Wenn sie vor ihm nicht schwach sein will, macht das wenigstens Sinn.

Früher galt sie bei fast allen Menschen als verwöhnter Schössling. Aber aus irgendeinem Grund ist sie stärker geworden. Vielleicht, um es gerade ihrer Mutter zu beweisen. Jeden Ehe-Crash würde ihre Mutter der eigenen Tochter zur Last legen. Ob sie in Mark vernarrt ist, oder in seine Position als Zeitungsjournalist, das hat Susan noch nicht herausgefunden. Manchmal wankt ihre Welt gefährlich, in der sie nicht mehr der Mittelpunkt ist. Nicht für ihre Mutter und auch für Mark nicht. Am schlimmsten ging es ihr, als Mark das erste Mal ohne Vorankündigung über Nacht nicht nach Hause gekommen war. Ihre Gemütsverfassung stand kurz vor der Explosion, und sie fragte sich die ganze durchwachte Nacht hindurch, ob zwischen ihnen noch alles in Ordnung ist. Freilich musste sie am Morgen bei Jens Jedro in Erfahrung bringen, ob seine Rita in dieser Nacht zu Hause war. Sie sei es gewesen, sagte Jens, aber das Wundern in seinem Blick war ihr nicht entgangen. Beruhigt war sie nach seiner Antwort nicht. Zu lügen gilt bei Männern beinahe als zweite Natur.

Es ist ein trüber Tag, so recht zum Schlummern gemacht. Wäre sie jetzt nicht hier, würde sie gewiss mit Mara zu Hause ein Mittagsschläfchen halten. Hier aber muss sie durchhalten, so schwer es auch fällt.

Der Kindergarten ist in einem Backsteinhaus an der Dorfstraße untergebacht. Die Fenster des Gruppenraumes zeigen zum Luch. Nur die Garderoben und das winzige Büro, das sie Erzieherzimmer nennen, zeigt zur Straße hin. Susan steht versonnen am Fenster. Nach dem Mittagschlaf der Kinder beginnt Lubinas Dienst. Normalerweise nach der Mittagsmahlzeit. Nur heute nicht. Während die Kinder ihr Essen einnehmen, beeilt sich Susan täglich, Mara rasch anzuziehen und zu gehen. Sie mag Lubina nicht, und sie macht kein Hehl draus. Lubina scheint es genauso zu gehen. Vor ihrer Mutterschaft hatte sie deutlich stärkere Animositäten gegen jeden, der sie nicht leiden mochte. Das Kind hat so vieles verändert.

Sie hat sich einen Tee aufgebrüht, wärmt sich die klammen Finger an der Tasse und schaut dabei versonnen aus dem Fenster. Die große Kastanie - von der Miniermotte zerfressen - sieht krank und düster aus. Die Erlen verlieren zunehmend ihre Blätter. Heute leuchten ihre Farben nicht in der Herbstsonne. Nur schemenhaft heben sich die Umrisse hinter einem grauen Schleier ab. Es ist, als will der Herbstnebel das ganze Dorf einhüllen.

Ein kleiner Schauder überzieht ihre Haut. Ein Luftzug? Es ist ein altes Haus, wie alle Häuser in der Mitte des Dorfes. Aber die Fenster sind erst vor Kurzem erneuert worden. Von dort strömt kein Luftzug durch die alten Mauern, in deren Fugen der Schmutz einiger Generationen haftet.

Sie sollte zurück in den warmen Gruppenraum gehen, aber das tut sie nur ungern. Es ist zwar schön, die Kinder schlafen zu sehen, aber sitzt sie dabei, findet sich immer ein dreistes Plappermaul, das mit allerlei Fragen den Rest der Kinder am Schlafen hindert. Außerdem kann sie allein für sich besser abschalten. Niemals hat sie so oft über ihr Leben nachgedacht, wie in den letzten Monaten. Wenn sie ehrlich mit sich ist, kann sie nicht behaupten, zu den edelmütigen Menschen gehört zu haben. Aber sie hat sich geändert, auch wenn das kaum einer vermutet. Womöglich sollte sie über ihre auffällige Erscheinung nachdenken. Zu sehr gestylt für dieses Nest? Zu hohe Schuhe, für diese Straßen? Zu edle Materialien ihrer Klamotten? Zu viel Schminke ...? Zu lange Fingernägel ...? Zu viel Parfüm ...?

Nein. Verbiegen wird sie sich wegen der Leute nicht, solange sie all das nicht selbst behindert. Aber wann merkt man das schon? Ist es nicht längst schon so? Glaubt sie nicht längst, all ihre Vorlieben liegen in diesem Kaff im Scheintod? Nein. Sie liegen im künstlichen Koma, aus dem sie durchaus zu jeder Zeit geholt werden könnten.

In den vergangenen Wochen hatte sie mehr mit Jens Jedro geredet, als mit Mark. Erst gestern am Vormittag hat er vorbeigeschaut …

Ihre Lippen kräuseln sich zu einem zufriedenen Lächeln. Jens braucht wie sie einen Menschen, der ungedrechselte Worte liebt. Und sie braucht einen Mann, der sich zu Schwächen bekennt und der auch mal Nerven spüren lässt? Auch wenn er sagt, er komme, weil diese Einrichtung seine Idee war, sie weiß über Männer besser Bescheid, sie ist ja Frau genug. Freilich muss er Bescheid wissen, wie sein Projekt sich entwickelt. Aber ist da nicht mehr im Spiel?

Früher hatte sie ein anderes Ideal Mann, aber jetzt ist auch sie klüger geworden.

Wäre Jens nicht auf die Idee gekommen, eine private Kindereinrichtung zu schaffen, dann könnten im Moment sechs Mütter des Dorfes nicht mehr arbeiten. Und es könnten demnächst ein paar mehr werden. Der Spreewald zieht immer mehr junge Leute an. Auch das Söhnchen von Jens und Rita wird bald soweit sein, eine Tagestätte besuchen zu können.

Dass Jens mit diesem Projekt – das er Witaj nennt - auch noch eine kleine Förderung für die Pflege der wendischen Sprache erwirken konnte, ist einzig seiner Cleverness geschuldet.

»Die Menschen hier müssen ihre Sprache genau so pflegen wie ihre Trachten«, hat er gesagt, und er hat gemeint, weil es keine Dorfschule mehr gibt, das Wendische aber eine Umgangssprache ist, die nur mündlich weiter gegeben werden kann, muss sie überall und von allen gesprochen werden – nicht nur von den Alten. Hat es ihm je einer vom Dorf gedankt? Haben die Alten, die so vehement den Erhalt der wendischen Sprache einfordern, jemals dem einst Zugezogenen dafür Achtung gezollt? Sie weiß es nicht. Zwar gebe es an den Schnittstellen Probleme, räumte Jens selbst ein. Die meisten Kinder lernten auf höheren Schulen die Sprache nicht weiter. Dennoch seien es in Kitas rund zweihundert Kinder, die am Witaj-Projekt teilnähmen.

Jens war bei aller Freude sehr nachdenklich. Er wolle auch nichts Falsches tun. »Wenn ein Kind wegen seiner Sprache diskriminiert wird, wird es seine Herkunft zu hassen beginnen«, hat er gesagt. Die Schriftsprache am niedersorbischen Gymnasium sei es nicht, die den Leute hier heimisch sei, die sie zur Gemeinschaft mache. Ihre Sprache sei einzig, und diese Einzigartigkeit gelte es zu erhalten.

Das alles kümmert Susan nicht. Sie ist hier, weil sie formell dazu gezwungen wurde und sie ist darauf bedacht, dass man sie mit dieser Nostalgie in Ruhe lässt. Sie geht den Leuten schließlich auch aus dem Wege.

Andererseits hätte sie selbst nicht geglaubt, dass dieses Witaj-Prinzip funktioniert: Eine Person, eine Sprache. Sie spricht deutsch mit den Kindern, aber Lubina spricht das hiesige Wendisch. Dennoch verstehen die Kinder alles, auch wenn sie bisweilen deutsch antworten, weil auch zu Hause vorrangig deutsch gesprochen wird. Wie soll eine Lautsprache überleben, ohne von Generation zu Generation weitergegeben zu werden?

Mara erlebt die Nachmittage mit Lubina nur ausnahmsweise. Sie kann deshalb wendisch nur mit Mühe verstehen, sie kann nur nachahmen, was die anderen Kinder tun, und sie versteht die Reaktionen der Kinder, wenn sie deutsch antworten.

Das Wendische gehört nicht zu den unangenehmsten Seiten ihres neuen Lebens auf diesem Dorf. Es sind derer noch andere. Seit Jens erzählt hat, dass man auch Rita hier im Dorf lange Zeit gemieden habe, ihr so manches schnöde versagt, was das Dorf miteinander teilte, nur weil sie als Fremde galt, seitdem geht es Susan besser. Keiner konnte ahnen – Jens eingeschlossen - dass Ritas Wurzeln in diesem Dorf liegen und sie nur darum hierher zurück in das Haus ihre Großmutter gezogen ist. Vorurteile haben keine hohe Sterberate, hat Jens gesagt. Sie fallen allenfalls vorübergehend ins Koma.

Susan Hellmann will von Vorurteilen nichts hören. In ihrem Falle glaubt sie an nichts Anderes als an Neid. Davon schließt sie nur wenige Menschen aus. Die Jüngeren neiden ihr das Haus, den Mann und alles was sie umgibt. Es gibt nur zwei Varianten, wie die Menschen mit ihr umgehen. Ignorant oder offen feindselig. Manchmal weiß sie nicht, was ihr verhasster ist. Wenn wenigstens Mark etwas dagegen unternehmen würde …

Ein Knarren, wie vom morschen Holz einer Erle im Wind. Auf der Straße ist kein Mensch zu sehen zu dieser Zeit. Kuhdorf eben. Das Zimmer hat ein Fenster zur Straße und ein schmales Oberlicht nach innen zu den Garderoben der Kinder, wo auch die Schränke der Erzieher stehen, ihrer und der von Lubina. Lubinas Fahrrad steht noch nicht im Ständer.

Susan stellt den Teepott lautlos auf den Tisch. Warum sie behutsam auf den Stuhl steigt, der unter dem Oberlicht steht, kann sie sich später nicht mehr erklären. Aber sie steigt hinauf und späht durch das Glas, das längst einmal gesäubert gehörte. Im Garderobenraum kann sie Lubina sehen, und wie sie auf ihrer neuen, hellen Kunstpelz-Jacke herumtrampelt und sie dann rasch in den Spind zurückhängt. Susan bleibt wie angewurzelt stehen, kann nicht einmal erklären, warum sie nicht schreit, wie es ihr im Moment zumute ist.

Lubina schleicht zurück zur Tür, öffnet sie vorsichtig und zieht sie mit lautem Knall zurück ins Schloss. Erst dann summt sie wie immer, wenn sie kommt, ein wendisches Lied vor sich hin.

Susan hasst Lubina und zugleich braucht sie sie. Aber nicht für das, was sie soeben bemerkt hat, hasst sie Lubina. Das ist eine ganz neue Entdeckung. Sie hasst sie, weil sie ständig stichelt, vor allem vor Mark. Es sind zwar kleine Episode des Tages, aber so übertrieben erzählt, als wäre Susan Hellmann das Dümmste, was dieses Dorf zu bieten hat. Susan kann nur hoffen, das alles richte sich gegen Mark, gegen seinen Thron der Unfehlbarkeit. So gesehen könnte Lubinas Marotte irgendwie auch ihr nutzen. Aber ausgerechnet Lubina gönnt sie keinen Triumph. Alles, was Susan von Lubina spürt, riecht nach Hass. Sie lächelt zwar und tut freundlich, und ganz offensichtlich kann sie auch freundlich sein, sonst würde einer wie Jens nicht mit ihr auskommen. Menschen, die Jens mag, sind meistens okay. Meistens. Aber bisweilen sieht sie etwas in Lubinas Augen, das sie an den nahenden Winter erinnert, an Frost und Kälte. Susan glaubt dennoch nicht daran, dass diese Kälte ihr gilt. Sie gilt offenbar der ganzen Welt, diesem Leben auf dem Dorf, dem sie nicht entfliehen kann.

Als Lubina den Raum betritt, liegt Susan zwar noch eine patzige Bemerkung auf den Lippen, aber aus unerklärlichen Gründen schluckt sie sie herunter. Sie mag sich mit Lubina nicht überwerfen. Das Leben wäre dann vollends unerträglich. In ihr brennt eine große Wut auf Lubina, eine kleine auf sich selbst und ihre Feigheit, dieses Miststück nicht in flagranti gestellt zu haben. Sie spürt, wie die Wut in Traurigkeit umschlägt und wie ihr das Bedürfnis zu heulen die Kehle abschnürt. Ihr Herz schlägt eigenartig stockend gegen den Brustkorb und ein kleines Brennen stellt sich ein. Sie muss raus hier, so schnell es geht.

Lubina Kieschnick bereut wenige Minuten später ihr Manöver. Wie üblich hat sie sich für den Moment besser gefühlt, aber sie fragt sich jedes Mal, weshalb sie einen Fehler, den sie inzwischen als Fehler begreift, mit solcher Ignoranz jeder Gefahr wiederholt. Nicht, dass ihr irgendeine Gefahr den Angstschweiß auf die Stirn treiben würde. Nicht dass sie fürchtet, Susan könnte sich rächen. All das spielt keine Rolle. Bis jetzt hat sie nicht einmal ernsthaft darüber nachgedacht, was danach kommt – kommen muss – wenn sie Susan gehörig eingeheizt hat. Es ist nicht ihr Tag. Wie kann man auch besonnen bleiben, bei dem, was ihr dauernd passiert. Sie fühlt sich nicht schuldig an ihrer heutigen Lage.

Ein dünnes, böses Lächeln huscht über Lubinas Lippen. Ein kleiner Stich aus den Augen, die das Treiben der Kinder lustlos verfolgen und dennoch kaum wahrnehmen, was um sie passiert.

Was wäre, Susan hätte sie in ihrer wilden Wut beobachtet. Sie selbst wäre der puren Niedertracht bezichtigt worden. Sie wäre fortan abgestempelt, vor allen bei Menschen, denen sich Susan anvertraut – und das wäre mit Sicherheit ihr Angetrauter Mark, und das wäre auch Jens Jedro. Nein, sie muss sich beherrschen lernen. Und überhaupt, was soll das bringen? Eine dreckige Jacke ist schnell gereinigt. Und Jacken hat diese Susan wie Sand am Meer. Wenn sie einen Sieg über Susan erringen will, dann muss sie über etwas Anderes nachdenken.

Inzwischen hat sie ein kleines Geheimnis, das den beiden nicht lieb sein kann. Von der Straße aus hat sie einen Streit mit angehört, ja mit angesehen, weil Susan keine herkömmlichen Gardinen vor den Fenstern hat.

Susan hatte sich beschwert, dass Mark über Nacht nicht zu Hause war.

Er habe einen anstrengenden Job, hat er ziemlich laut gesagt. Er könne nicht einfach Ringelreihe spielen, wie Madam, und zu Hause vor Erschöpfung alle viere grade sein lassen. Und sie solle nicht vergessen, er arbeite für sie und für dieses Haus, um das sie jeder beneide.

Es war von der Straße aus zu sehen, wie Mark sein Gesicht verzog, nicht wütend. Eher grinsend. Susan hat Mark angestarrt, als könne sie nicht fassen, was er da gerade gesagt hatte. Sie standen sich gegenüber wie Salzsäulen.

»Sag so etwas nie wieder«, war Susan dann zuerst aus ihrer Erstarrung erwacht. »Anderenfalls behalte dein Haus und dein Geld und dein überhebliches Grinsen. Ich nehme Mara und geh zurück. Etwas Besseres als …«

Die kleine Mara stand plötzlich in der Tür, und Susan verstummte. Das Kind war im Nachthemd auf nackten Füßen gekommen und klammerte sich abwechselnd an die Beine ihres Papas und schlang die Ärmchen um die Schenkel ihrer Mama. Sie rieb sich die Augen und fragte mit dünner Stimme:

»Warum zankt ihr so laut?«

Mark nahm die Kleine auf den Arm und drückte ihren Kopf an seine Wange.

»Das verstehst du noch nicht, Mäuschen. Dafür bist du noch zu klein.«

Lubina war dann gegangen mit dem Bild eines Mannes in ihrem Kopf, der mit ihrer bisherigen Vorstellung von einem über alles erhabenen Mann nichts mehr gemein hatte. Mark Hellmann ist nicht der ehrenwerte, fehllose Herr Journalist, der treusorgend Tag und Nacht schuftet, um seinem Zuckerpüppchen alle Annehmlichkeiten zu ermöglichen. Mark Hellmann schien nicht einmal glücklich zu sein. Und das war die beste Erkenntnis jenes Abends.

Lubina hat manchmal den Eindruck, die beiden lieben und hassen sich in eben jenem Tempo, wie der Hahn auf die Henne steigt. Aber immer wieder schafft es Susan, dass Mark sie in Schutz nimmt, wenn er im Gasthaus wegen Susans Aufzug von den Einheimischen angemacht wird.

Er brauche eben eine Frau, die ihm einheize, nicht eine, die nur den Herd in der Küche anmachen könne, wie diese Wenden-Tunten. Dieses Wort war ein Schlag in das gesunde Gesicht der Lubina Kieschnick gewesen. Damals.

Der Redakteur der führenden Zeitung hier, Mark Hellmann, ist überall akzeptiert. Keiner wird ihn je des Raumes verweisen. Jeder hofft, niemals etwas Schlechtes über sich in der Zeitung lesen zu müssen. Irgendwann aber hatte einer der Männer gelästert, Mark möge auch Susan soweit bringen, eine der Wenden-Trachten zu tragen und beim Schoberfest mit den Frauen herumzuhopsen.

Damals hat Mark ungewöhnlich viel getrunken und so eigenartiges Zeug geredete: Es gebe bodenständige Frauen, die ihre Männer zur Höchstleistung beflügeln. Und es gebe abgehobene Wesen, die mit Engelszungen ihren Männern langsam aber beständig das Mark aus der Mannesbrust saugten.

Mark, hatte er gesagt. Mark. Eindeutiger ging es nicht.

Lubina lächelt bitter. Wenn jemand in ihrer Nähe wäre, der etwas von Gefühlen versteht, er würde ihre Verzweiflung erkennen, in der sie lebt. Vor Jahren war es Jens gewesen, bei dem sie sich Hoffnung machte. Der ist inzwischen zu seiner Rita auf den Körberhof gezogen.

Und dieser Mark Hellmann? Sie hat ihn einmal vergöttert, bis er das hässliche Wort von den Wenden-Tunten gebrauchte. Was macht sie nur immer falsch?

Der gute Geist - Rita

Früher gab es für Rita Georgi diese kleinen Rituale am frühen Morgen: Duschen, fönen, schminken, den Tag mit einem heißem Kaffe und einem frischem Brötchen aus Jens Jedros Lieferung beginnen. Das Make-up-Döschen steht griffbereit, der Eyeliner steckt im Perlmutglas. Sie schaut in den Spiegel und denkt bei sich: Was soll der ganze Kram. Sie dreht den Wasserhahn auf, lässt warmes Wasser in die Hände laufen, wäscht sich den Schlaf auf den Augen und spült eiskalt nach.

Freilich ist sie über den Punkt noch nicht hinaus, schön sein zu wollen. Schön. Nicht nur für Jens, der ohnehin immer betont, ihre Natur sei das Schönste an ihr. Sie will schön sein auch für sich, für ihr Ego. Und sie weiß, was sie am Morgen versäumt, wird tagsüber nicht mehr erledigt.

Als sie damals vor einem allzu aufdringlichen Liebhaber in dieses abgelegene Spreewalddorf geflüchtet war, konnte sie nicht ahnen, welch andere Art Aufmerksamkeit ihr hier zuteil werden sollte, und dass sie gerade hier ihre skurrilsten Erfahrungen machen würde, die sie je im Leben hatte.

Inzwischen ist Söhnchen Timi geboren, was neuen Schwung in ihr Leben bringt. Es ist schön, Mutter zu sein, aber es ist ein Vollzeit-Job, trotz aller ergötzlicher Momente, die man mit einem Wesen aus eigenem Fleisch und Blut erleben kann.

Erst gestern Abend als sie allein war mit Timi - Jens musste zu einer Vereins-Versammlung - da hat sie an seinem Bettchen gesessen, ihm irgendeine Geschichte erzählt, die er ohnehin noch gar nicht verstand, und sie hat sein schönes Gesicht bestaunt. Er hat das Gesicht von Jens geerbt, den weichen Mund, die klaren Augen mit den langen seidenen Wimpern. Fast mädchenhaft. Sie küsste seine Stirn und er griff beinahe zufällig nach ihrem Finger, zog ihn zu sich heran, ließ nicht mehr los und schon spürte sie, wie seine Lippen zu saugen begannen, wie seine kleine Zunge ihre Haut berührte. Dann klappten seine Augen zu und weg war er. Sie konnte sich lange nicht von seinem Bett entfernen.

Ob er noch immer schläft, weiß sie an diesem Morgen nicht. Es kann sein, dass Jens ihn in sein Bett geholt hat und die beiden proben ihre gleichgeschlechtliche Liebe in Ewigkeit.

Sie versucht sich zu erinnern, wie es war, als Jens von ihrem Grundstück schwärmte.

»Das Beste am Körberhof ist, irgendwann einmal ein Kind hier aufwachsen zu sehen.«

Diese Erinnerung berührt in Rita ein Gefühl, an das sie gar nicht denken möchte. Gilt seine Liebe wirklich noch ihr?

Im Großen und Ganzen findet ihr Leben nach ihren Vorstellungen statt. Jens war hier eingezogen, nachdem er das viel beachtete Schilfdach-Haus seiner Vorfahren der Gemeinde zur Verfügung gestellt hatte, um ein Museum einzurichten. Das war sein mutigster Schritt von der Freiheit in die Abhängigkeit. Aber wenn sie ihn fragt, ob hier alles nach seinen Bedürfnissen läuft, weicht er aus: »Über diesen Punkt musst du nicht nachdenken. Machen wir nicht immer das Beste aus allem?«

Manchmal sagt er auch: »Es ist dein Haus und wir sind nicht verheiratet.«

Tatsache ist, dass er irgendwann, als ihr Babybauch offensichtlich wurde, selbst dafür plädiert hatte, erst nach der Geburt des Kindes zu heiraten. Inzwischen hat er es aufgegeben, sie zu bedrängen. Längst durchschaut sie seinen Selbstbetrug, wenn er vor Anderen sagt, es spiele in der heutigen Zeit keine Rolle, ob man laut Papier zusammengehöre oder nicht. Entscheidend sei die Liebe und die Verantwortung, die man füreinander übernehme.

Nur manchmal beklagt er die sozialen Ungereimtheiten dieses Staates. Und in der Tat gibt es die. Müsste der Staat ihnen die Vorteile der Ehegemeinschaft einräumen, gelten Jens Jedro und Rita Georgi als unverheiratet. Kann der Staat abkassieren, sind sie nur eine eheähnliche Sozialgemeinschaft.

An ihrem inneren Zustand ändert sich nichts. Jetzt hätte es sogar etwas von Peinlichkeit, würde sie den Vorstoß unternehmen. Sie hat ihn viel zu lange mit allerlei fadenscheinigen Argumenten hingehalten, um so aus heiterem Himmel plötzlich von Heirat zu reden. Als Jens das letzte Mal davon gesprochen hatte, musste die arme Lenka Kalauke als Grund herhalten. Die Betreuung der verunglückten Alten nach ihrem langen Krankenhausaufenthalt war in der Tat aufwändig.

Sie weiß nicht genau, was sie erwartet hat. Sie spürt nur, wie ihre Stimmung mit einem Mal eine andere wird. Jens steht hinter ihr mit dem Kind auf dem Arm, und das erste, was er zu sagen hat, ist:

»Schatz, bevor ich’s vergesse. Du müsstest heute Susan ablösen – nur für ein bis zwei Stunden. Lubina kann nicht pünktlich sein.«

Erst dann haucht er ihr einen Kuss auf die Wange und hält ihr scherzend das Kind vor die Nase, dessen Windel dreimal so schwer ist, wie normalerweise am Morgen. An irgendeine zustimmende Bemerkung denkt sie jetzt nicht. Gewöhnlich ist sie gerne bereit, die beiden Frauen der Kita zu unterstützen, wenn Not am Mann ist. Aber heute ist kein normaler Tag. Sie hatte den Monteur gebeten vorbeizukommen, um die Heizungsanlage noch vor dem Winter zu überprüfen. Das Schlimmste wäre, wenn im ersten Winter, den sie mit dem Kleinkind im Haus erleben, die Heizung nicht durchhält. Und außerdem gefällt ihr die Zeit nach dem Mittag nicht. Da fällt sie regelmäßig ins Suppenkoma, wie sie es nennt. In Wahrheit ist sie zu dieser Zeit von den Arbeiten des Tages körperlich erschöpft und sie nimmt sich die Zeit, in der Timi schläft, um über inhaltliche Dinge nachzudenken.

Für einen Moment schärft sich der Blick von Jens, aber er stellt keine Frage. Stattdessen greift er zum Windelkorb, legt die Wickelmatte auf die Kommode und schaltet die Wandheizung ein, die er eigens für die Zeit des Wickelns angebracht hat. Auf diese Art Fürsorge würde kein anderer Mann von sich aus kommen, denkt sie. Jens denkt an viel mehr, und das ist das Schöne an ihrem Leben.

Er schweigt. Rita nickt endlich, schweigt aber auch, nur der Kleine beginnt zu brabbeln und dazwischen vergnüglich zu quieken, als seine rosige Haut auf der blanken Decke liegt und die rote Wärme seinen Bauch bestrahlt.

»Was hat Lubina denn vor?«, fragt sie, während ihre Hände mit einem öligen Tusch den Po des Kindes massieren und die tiefen Falten in den drallen Schenkel von Puder-Rückstände säubern.

Es ist nichts zu hören, außer dem Blubbern des Kaffeeautomaten in der Küche, um den sich Jens bereits kümmert. Er wird auch das Morgenfläschchen schon im Wärmer haben. Und er wird es auch sein, der dem Kind das Fläschchen hält, damit sie in Ruhe frühstücken kann. Ritas Gesicht, das ihrem kleinen Wonneproppen noch niemals mit ernster Miene begegnet ist, verschließt sich für einen Moment. Ihr ist, als müsste sie ihre Gedanken zurücknehmen, als müsste sie die lästige Frage zurücknehmen. Es war nie entscheidend, warum jemand in Schwierigkeiten ist. Entscheidend ist, dass jemand in Schwierigkeiten ist. Und in dieser Haltung unterscheiden sie sich beide in nichts.

»Ich hab sie nicht gefragt«, hört sie Jens endlich in der Küche sagen. »Ich weiß nur, dass Susan nicht länger bleiben kann, weil ihre Eltern am Nachmittag kommen.«

Die Eltern also. Jetzt braucht Rita doch ein Ventil für das kleine Unbehagen, das sie überkommt. Susans Eltern kommen regelmäßig. Ihre Eltern kommen nicht einmal mäßig. Sie nehmen es ihrer Tochter offenbar übel, dass sie in wilder Ehe lebt. Dass sie alle drei glücklich sind, spielt für Mutter Helga keine Rolle. In dieser Angelegenheit ist ihr sogar die fünfundachtzigjährige Lenka voraus. Sie hat nur mühsam aber sehr bestimmt in ihrem unverwechselbaren Jargon gesagt: »Hauptsache von Euch ist keiner nicht unglücklich.«

Etwas ballt sich zusammen in ihrer Brust, schwerer als das Kind, das sie fest an sich drückt. Sie streicht das Hemdchen glatt und zieht die Teile über Timis Rücken übereinander. Enttäuschung ist es nicht. Sie kommt ganz gut alleine zurecht mit ihrem Leben. Es ist so etwas wie Sehnsucht, die sie vor Jahren nie gekannt hat – nicht nach ihren Eltern jedenfalls. Erst seit sie selbst Mutter ist, ahnt sie, was es bedeutet, einem Kind ein wahres Zuhause zu geben, es mit Hingabe zu umsorgen, es mit Liebe zu erziehen und es behutsam auf das bisweilen grausame Leben vorzubereiten. Sie wünscht sich nichts so sehr, als dass es dem Kind immer gut gehen möge und dass sie alle drei von den großen Sorgen verschont bleiben, von denen Tausende in allen Winkeln der Gesellschaft lauern.

Rita und Susan begegnen sich schon draußen vor der Tür. Susan hat den Sportwagen für Mara mitgenommen, weil die Kleine in letzter Zeit immerzu irgendetwas Aufregendes am Wegesrand findet, wenn sie den Weg bis In Lücke zu Fuß gehen. Es dauere immerzu nervig lang, sagt sie.

Susan trägt hautenge Jeans und einen quergestreiften blau-weißen Pullover mit übergroßem Wasserfall-Kragen. Auf ihre High Heels kann sie noch immer nicht verzichten, und zurechtgemacht ist sie, als würde sie zu einem Schönheitswettbewerb gehen. In Susans Nähe kommt sich Rita bisweilen unattraktiv vor, sofern sie überhaupt von sich glauben könnte, attraktiv zu sein. Jens behauptet es und sogar Mark redet es ihr dauernd ein. Aber gerade Mark glaubt sie diesbezüglich kein Wort. Wer sich einen solchen Typ Frau wie Susan angelt, hat ganz gewiss andere Ideale. Soll er, denkt sie. Sie kann nicht sagen, dass sie ein gestörtes Verhältnis zu dekorativer Kosmetik hat. Im Gegenteil. Aber alles zu seiner Zeit, und jetzt hat sie fünf fremde Kinder zu hüten, dafür braucht sie weder Schminke noch Hackenschuhe, sondern ein frohes Gemüt und frische Ideen für einen kunterbunten Nachmittag.

Rita nimmt sich seit Langem so wie sie ist, und sie fühlt sich gut dabei. Aus heutiger Sicht kann sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es gekommen wäre, hätte sie damals Mark Hellmanns dreisten Bemühungen nachgegeben. Hätte er von ihr womöglich erwartet, ständig so auszusehen wie Susan? Die ist durchaus nicht hässlich. Sie ist angemessen groß, schlank, beinahe grazil. Ihr Haar halblang geschnitten und variabel tragbar. Die dunklen Augen scheinen aus Samt, das Haar aus schwerer Seide zu sein. Kein Wunder, dass Mark sie erobern wollte. Dass er es mit Susan gar nicht ernst gemeint hat, musste er ihr damals trotzdem nicht weismachen. Auch die Not, in der er sich befunden habe, schien übertrieben:

Als du mich verschmäht hast, aber Susan es mir leicht machte …

Warum gibt er nicht zu, besessen von Susans Körper gewesen zu sein?

»Hallo Susan«, sagt Rita als Erste. »Schön, dass deine Eltern kommen. Ich wünschte, meinen kämen auch öfter. Der Weg ist immerhin derselbe.«

»Es ist nett von dir, dass du mal wieder aushilfst. Wir haben heute zwei kränkelnde Kinder dabei. Also sei vorsichtig! Wegen Timi.«

»Auch das noch«, entfährt es Rita.

Mit einem Ausdruck von Erstaunen betrachtet Susan Rita einen Moment lang, vermeidet aber jedes weitere Wort, das zu ihrem Nachteil ausfallen könnte.

»Die Kinder schlafen noch. Ich habe nur den Wagen schon nach draußen gebracht.«

»Nimmst du Mara mit?«

»Ist doch klar. Oma und Opa kommen doch nicht meinetwegen.«

In Susans Stimme liegt keine Freude.

»Schon klar.«

Sie schaut Susan an und kann aus ihren Augen lesen, dass sie noch etwas zu sagen hätte. Aber sie sagt nichts mehr. Vielleicht hat sie ihr bisher unrecht getan. Vielleicht ist sie gar nicht so abgehoben, wie alle glauben. Schließlich sagt auch Jens, er würde Susan ganz anders kennen. Vielleicht leidet sie unter dem Dorf, so, wie sie selbst vor Jahren gelitten hat – nicht unerträglich hart und nicht ungewöhnlich lange, aber gelitten hat sie schon, wenn sie ehrlich ist. Obwohl bei ihr die Lage eine völlig andere war. Bei ihr war es eine Flucht vor einem großen Fehler. Sie wollte hier sein, aber sie wollte hier keine Kontakte knüpfen. Also war das Verhalten der Leute im Dorf eine logische Folge ihres eigenen Verhaltens. Für Susan Hellmann sieht das anders aus. Sie will beides nicht. Keine Kontakte, und am liebsten gar nicht hier sein.

»Du siehst müde aus«, sagt Susan nun doch noch.

Rita spürt, dass selbst diese vielleicht gutgemeinte Bemerkung auf sie eine völlig andere Wirkung hat. Von anderen Menschen gesprochen hätte sie sofort Besorgnis vermutet. Von Susan gesprochen vermutet sie nichts Gutes. Womöglich will sie ihr klar machen, dass sie ihr in Punkto frischen Aussehens keine Konkurrenz machen könnte. Das macht sie wohl, weil Mark manchmal sein kleines Theater nicht lassen kann. Bisweilen geht es Rita auf die Nerven, wenn er gerade in Susans Gegenwart unglaubliche Komplimente aus seinem Verführerzirkus zaubert. Wenn Mark sie in Susans Beisein lobt, dann klingt das anders als unter vier Augen: Ritas Umsicht. Ritas Mutterrolle. Ritas Kochkunst. Ritas Bücher - womit er ihre Roman-Werke meint. Und erst, wenn er alles abgearbeitet hat, dann fallen auch ganz nebenbei ein paar Worte zu Ritas Frisur. Zu ihrer Kleidung. Kein Wunder, dass sie für Susan ein rotes Tuch ist. Mit anderen Eigenschaften als mit ihrer Schönheit kann Susan Hellmann nun mal nicht das große Verdienstkreuz gewinnen.

»Das muss dich nicht beunruhigen«, antwortet Rita endlich auf Susans Bemerkung, »das ist nur mein Suppenkoma.«

Susan zögert erst, geht dann doch die erste der drei Stufen zum Eingang hinauf, dreht sich aber sofort um und fragt, was ein Suppenkoma sei. Rita winkt ab: »Meine Trägheit nach der Mittagsmahlzeit.«

Im Hausflur ist es duster, bis Susan die Tür zu den Garderoben öffnet, wo das Licht des Nachmittags durch das Fenster hereinfällt.

»Ich dachte schon, du redest von einem dieser Geschöpfe, die halb tot halb lebendig dahinvegetieren und künstlich am Leben gehalten werden, weil die Kirche dauernd dazwischenfunkt.«

»Gottlob nicht«, sagt Rita. »Ich meine, gottlob funkt die Kirche dazwischen. Aber den Streit um dieses Thema brauchen wir zwei nicht auch noch.«

Susan bemerkt ihre Verwirrung, versucht sie zu bezwingen, derweil sie an einer Haarsträhne zupft, die sich aus der Frisur gelöst hat.

»Human ist das jedenfalls nicht, einen Menschen über Jahre hinweg im Wachkoma zu lassen. Hirntot, ohne Selbstbestimmung.«

»Hirntot sind die aber nicht«, kann Rita gerade noch erwidern, als Susan aufschreit.

Sie steht vor ihrem Spind und hält eine weiße Kunstpelzjacke in der Hand. Über Rücken und einen Ärmel zieht sich ein dunkelblauer Streifen irgendwelcher Farbe. Susan setzt sich fassungslos auf die niedrige Bank, die unter den Garderoben verläuft und in deren Fächern die Schuhe der Kinder aufbewahrt sind.

»Sag es niemandem, hörst du?«

»Was denn? Was soll ich nicht sagen?«

Susans Gesicht sieht wütend aus und zugleich verschlossen. Doch Rita bleibt fordernd vor ihr stehen, und das ist wohl der Grund, warum Susan einsieht, dass es zum Schweigen längst zu spät ist. Sie lässt ihre Arme mitsamt der hellen Jacke sinken, die nun den Schmutz des Tages berührt. Dabei sieht sie aus wie jemand, der endgültig aufgibt.

»Es ist Tinte«, flüstert sie kraftlos und hebt die Jacke wieder auf. »Jemand hat über meinem Spind ein Tintenfass ausgekippt. Schau her.«

Es ist, wie Susan sagt. Eine Gemeinheit, denkt Rita, sagt aber:

»Jemand?« Rita überlegt eine Weile. »Glaubst du wirklich, einer von den Eltern macht so etwas? Auch wenn du nicht sehr beliebt bist im Dorf, Susan. Auch wenn dich manch einer meidet, man darf keine Pauschalverurteilung vornehmen.« Sie setzt sich zu «

Susan sitzt verstockt, als kämpfe sie einen inneren Zwiespalt aus, bis sie leise sagt:

»Das war Lubina?« Sofort vergräbt sie ihr Gesicht in beiden Händen.

»Weißt du, was du da sagst?«

Susan nickt langsam und schiebt eine Strähne aus der Stirn, ehe sich die Augen der beiden Frauen begegnen.

»Es tut mir leid. Es hätte niemand erfahren sollen. Du auch nicht. Ich habe mir geschworen, es niemandem zu sagen. Aber das jetzt, das ist doch pure …«

Susan springt auf und läuft ein paar Schritte hin und her.

»Was hätte niemand erfahren sollen. Das ist nicht das erste Mal. Richtig?«

Susan starrt Rita an, sagt kein Wort mehr. Hinter der Tür auf der anderen Seite des kleinen Flures ruft Mara nach ihrer Mama, dann lärmen auch die anderen Kinder und es ist keine gute Zeit für ein weiteres Gespräch.

Für die Feindschaft von Lubina Kieschnick gegen Susan Hellmann gibt es keinen logischen Grund, sofern er nicht mit diesem Job zu tun hat, denkt Rita. Sie mag weder Lubina noch kann sie Susan als ihre Freundin betrachten. Zusammengewürfelt sind sie worden durch die Kollegialität zu Mark. Warum also ist sie trotzdem hier? Weil die dorfeigene Kita die Idee von Jens war?

Vielleicht, wenn sie nicht selbst ein Kind hätte, wäre sie nicht hier. Irgendwann wird sie tagsüber auch Timi hierher bringen, und sie wird froh sein, das Kind für ein paar Stunden versorgt zu sehen und unter Kindern. Andererseits weiß sie auch, dass die Uhren in den Stuben hinter den Wänden der niedrigen Häuser anders ticken. Wer weiß, wie lange man diese private Einrichtung im ehemaligen Kingergarten noch mietfrei duldet, und dann rechnet sich die Sache nicht mehr. Jede Gemeinde braucht ihre Einnahmen.

Mag sein, dass sich die Menschen ändern, so, wie sie sich geändert hat. Angepasst, das war eines ihrer verhasstesten Wörter. Ist sie jetzt angepasst? Es spricht einiges dafür und einiges dagegen. Etabliert, wie man neudeutsch sagt. Bodenhaftend. Sie ist großmütiger als die Alteingesessenen im Dorf, aber kleinlich mit sich und ihren Schwächen.

Es war schon immer eine Schwäche von ihr, gewisse Situationen zu analysieren, als wolle sie ein Essay darüber schreiben. Besonders die Eigenarten von Menschen waren davon nicht ausgenommen. Aber was soll sie jetzt damit wollen? So manchem Menschen hat sie mit ihrer Meinung schon Unrecht getan. Lenka Kalauke. Sie will nicht noch einmal derart Fehler begehen. Es ist schließlich logisch, dass es zwischen Susan und Lubina zu Problemen kommen muss, so verschieden wie sie sind. Eine dörfliche Emanze und eine städtische Mimose. Natürlich prallen da zwei Welten aufeinander. Warum hat Jens das nicht vorhergesehen?

Vielleicht dache er, wie er meistens denkt: Gegensätze befruchten einander.

Ritas Lippen kräuseln sich. Bei ihnen war es so. Der «Ladenhüter» Jens Jedro und sein Gegensatz, der Eindringling Rita Georgi, haben sich gegenseitig befruchtet, im besten Sinne ...

Die vier verbliebenen Kinder hantieren bereits mit Buntstiften und Papier und von Zeit zu Zeit hilft sie einem, die abgebrochene Spitze zu erneuern, weil zu großer Schwung im Spiel war. Zuweilen korrigiert sie die ausgewählten Farben. Es sollen ja freundliche Bilder werden mit einer Sonne und mit blauen Wolken am Himmel. Mit den neugespitzten Stiften kommen die Kinderhände nicht gut zurecht. Die dünnen Striche zerstören die Harmonie, die Sanftheit der Farben.

Jemand tritt in den Vorraum. Die Eltern kommen zu sehr verschiedenen Zeiten. Manche Kinder haben das Glück, gleich nach dem Mittagsschlaf von den Großeltern oder einem der Eltern abgeholt zu werden. Manchmal zum Ärgernis der Kleinen, weil sie grade das begonnene Spiel so spannend finden.

Sie sieht Mark Hellmann in der Tür und wie seine Augen grinsend den Raum durchmessen.

»Susan ist schon lange weg«, sagt Rita, und eines der Kinder plappert sofort, dass die Oma von Mara kommt und Süßigkeiten mitbringt. Mark nutzt sofort das Durcheinander der Stimmen. Nur Rita hört genau, was er sagt. Es sei an der Tagesordnung, dass Susan macht, was sie will.

Rita betrachtet das schräge Grinsen in seinem – zugegeben – schönen Gesicht, und sie denkt bei sich, dass ein solches Gesicht gar nicht zu solch garstigen Worten passt. Es ist ihr sogar, als berühre ihn die Abwesenheit von Susan gar nicht. Mark scheint ein gutes Stück abgerückt von dem, was sie bei Jens vermuten würde. Wenn der sie abholen wollte und sie nicht mehr da wäre, dann hofft sie, er habe nicht solch ein Grinsen im Gesicht. Hoffen kann sie es, wissen kann sie es nicht.

Trotz seiner Lässigkeit, die man getrost als Unbekümmertheit ansehen kann, spürt Rita nicht zum ersten Mal, dass Mark ein Kokon um sich trägt, eine Scheinhaut, die ihm alles Ungewollte vom Leibe hält. Gerade ist dieser Panzer von ihm gefallen.

Vielleicht hat er in Susan wirklich nicht das Glück gefunden, wie er es manchmal nennt. Vielleicht aber braucht er nur eine barmherzige Seele, dieseinem weichen Kern Balsam ist.

Es ist ihr unheimlich, dass Mark nicht rasch wieder geht. Es ist ihr unheimlich, dass er mit der Großmutter redet, die gerade ihren Enkel abholt. Er artikuliert sich vor der alten Dame, als führe nicht seine Frau, sondern er diese Einrichtung. Und es ist Rita unheimlich, dass er noch immer bei ihr sitz, als das letzte Kind bereits abgeholt wird.

Erst in der Garderobe – Rita zögert, ob sie Mark von Susans Verdacht erzählen sollt - nimmt Mark sie bei den Oberarmen und holt ein weiches Säuseln aus seiner Kehle:

»Könntest du dir vorstellen, mit mir … ?« Marks Gesicht wird ernst, und Rita ist es schon wieder unheimlich.

»Ja?« Das ist keine Antwort. Das ist eher eine Frage, eine gutgemeinte Aufforderung zum Weiterreden über das, was Mark offenbar bedrückt.

»Ja?«, sagt auch er, und es klingt ungläubig. Erst als seine wunderbar weißen Zähne besonders viel Platz in seinem Gesicht einnehmen, schwant ihr etwas: »Nein. Ich weiß nicht was du meinst, verdammt.«

»Du weißt nicht, was ich meine? Ich meine immer dasselbe, Rita. Schon mehr als zwei Jahre lang. Und das weißt du ganz genau.«

Anstatt auf Ritas Mahnung zu hören, weil doch zu Hause die Familie auf ihn warte und auch Jens warte mit Timi auf sie, redet Mark Hellmann über die Unterschiede zwischen seiner Frau Susan und Rita, die ihm immer bewusster würden. Immer mehr schmerze es ihn, dass er früher nicht klarer seine Wünsche formuliert habe. In seinem Inneren knistere es noch immer, sobald er Rita auch nur für einen Moment vor die Augen bekomme. Rita sei Rita und eben nicht Susan. Susan sei eine heiße Braut gewesen, sexy, wie kaum jemand. Das habe ihn geblendet. Jetzt sei er soweit zu bemerken, dass Blendwerk keine Bedeutung im Leben habe. Sie weiß nicht, ob es eine Freude ist, oder ob sie sich zur Vorsicht mahnt. Mark lobt mit blumigen Worten die reife, auf Achtung und Toleranz begründeten Beziehung von Rita zu jedermann. Aber Rita spürt, dass Mark niemand anders als Jens meint, es aber nicht über die Lippen bringt. Und dann weiß sie, wie recht sie hat, als er bekennt, seine Beziehung mit Susan könne nicht annähernd mithalten. Susan habe sich zwar verändert, könne aber das Format von Rita niemals erreichen. Und eines begreife er immer mehr: Susan passe ganz einfach nicht in dieses konservative Dorf. Sie ruiniere sogar seine Position. Und dann flüstert er beinahe. Überdies sei sie in ihrer Abgeschiedenheit furchtbar eifersüchtig geworden, beinahe krankhaft. In ihrer Eifersucht hetze sie sogar schon Jens gegen sie beide auf, wie er gehört habe.

Während Rita in sich zusammenzuckt, scheint Mark seine letzten Worte geradewegs zu genießen. Es ist schlimm, wenn man sich anderer Menschen bedient, die keine Chance haben, sich zu rechtfertigen. Das Schlimmste aber, was sie sich jetzt vorstellen kann, ist, dass Mark ihr körperlich noch näher kommt. Sie mochte Mark einmal sehr, zu sehr vielleicht, um ihn konsequent in die Schranken zu weisen; und es gab eine Zeit, da hätte es keinen noch so winzigen Grund dafür gegeben, außer ihrer begründeten Furcht vor jeglicher Bindung. Aber jetzt ist die Lage eine völlig andere.

Sie hat keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen ist, ehe sie das erste vernünftige Wort zustande bringt. Sie merkt nur, wie eine unerklärliche Kälte an ihr empor kriecht, über die Beine, den Rücken und die Arme, und wie sie Mark auf sicherer Distanz hält, ihn immer weiter zum Ausgang drängt und es tatsächlich schafft, die Räume abzuschließen. Aber noch ist sie nicht durch den dusteren Hausflur hindurch.

In der Dunkelheit greift Mark nach ihr, und es ist Rita, als brauche er diese Dunkelheit, um ihr nicht mehr ins Gesicht schauen zu müssen. Ohne Respekt vor ihr zu haben, hätte er schon drinnen bei Licht schamlos getestet, wie weit er gehen kann. Seine Art intimer Annäherung kennt sie aus dem Verlagshaus. Nur hat er sie dort im Einklang mit Susan praktiziert.

Im Augenblick ist sie nicht sicher, ob sie ihm wie einem Kind ein wenig auf die Finger klopfen oder ihre Hand schwungvoll in seinem schönen Gesicht platzieren sollte. Er verdiente letzteres, keine Frage. Sie wehrt Mark lächelnd ab und versucht, ihre Uhr am Handgelenk zu erkennen.



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