1,99 €
Ein Blick über die Reling enthüllt eine atemberaubende rote Küste – die sie nie sehen wollte … London, 1840. Die Familie der jungen Rhia steht kurz vor dem Ruin. Als sie erfährt, dass ihr Onkel Selbstmord begangen haben soll, kann sie es nicht glauben und versucht, mit der Hilfe des charmanten Reporters Dillon die Wahrheit herauszufinden – zu einem hohen Preis: Sie wird unschuldig verurteilt und nach Australien geschickt ... Das rote, heiße Land weckt bei ihr ebenso viel Furcht wie Faszination, doch sie lässt sich nicht unterkriegen. In der ungezähmten Natur dieses Kontinents gelingt es ihr, nach und nach Verbündete zu finden. Gibt es noch Hoffnung, die Wahrheit über den Tod ihres Onkels ans Licht zu bringen – und Dillon, dem ihr Herz gehört, wiederzusehen? Fans von Di Morrissey und Patricia Shaw werden diesen Australienroman lieben!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Über dieses Buch:
London, 1840. Die Familie der jungen Rhia steht kurz vor dem Ruin. Als sie erfährt, dass ihr Onkel Selbstmord begangen haben soll, kann sie es nicht glauben und versucht, mit der Hilfe des charmanten Reporters Dillon die Wahrheit herauszufinden – zu einem hohen Preis: Sie wird unschuldig verurteilt und nach Australien geschickt ... Das rote, heiße Land weckt bei ihr ebenso viel Furcht wie Faszination, doch sie lässt sich nicht unterkriegen. In der ungezähmten Natur dieses Kontinents gelingt es ihr, nach und nach Verbündete zu finden. Gibt es noch Hoffnung, die Wahrheit über den Tod ihres Onkels ans Licht zu bringen – und Dillon, dem ihr Herz gehört, wiederzusehen?
Über die Autorin:
Kylie Fitzpatrick wurde in Kopenhagen geboren und wuchs in Australien auf. Sie arbeitete für Spiel- und Dokumentarfilmproduktionen in England und Los Angeles. Heute ist sie als Autorin, Pädagogin und beratende Redakteurin tätig. Ihre historischen Romane wurden in mehreren Sprachen veröffentlicht.
Die Website der Autorin: https://www.kyliefitzpatrick.net/
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin die Romane »Am Horizont das rote Land« und »Der geheime Faden«.
***
eBook-Neuausgabe November 2024
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2012 unter dem Originaltitel »The Silver Thread« bei Head of Zeus, London.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2008 Kylie Fitzpatrick
Copyright © der deutschen Erstausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © AY AGENCY/ Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)
ISBN 978-3-98952-491-0
***
dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Kylie Fitzpatrick
Am Horizont das rote Land
Historischer Roman
Aus dem Englischen von Julia Walther
dotbooks.
Für meine Eltern, Philippa und Byron,
in Liebe
Der Weg des Himmels ist es,
anderen zu nützen und nicht zu verletzen.
LAO-TSE, 6. JAHRHUNDERTV. CHR.
4. April 1841
Die grauen Mauern des Millbank-Gefängnisses wurden immer kleiner, bis sie nur noch einen dunklen Punkt am Rande der sich entfernenden Welt darstellten. Die Sonnenstrahlen ergossen sich über das Wasser und zerbrachen in einzelne Splitter, wo die Ruder ins Wasser eintauchten. Ein Licht, das so bewegend war, dass es Narben hinterlassen würde.
Die Themse wand sich aufs Meer zu und trug die Prozession langer Ruderboote, in dem je ein Dutzend schweigender Frauen und ein Gefängnisaufseher saß. Die letzten Boote waren mit Säcken aus Segeltuch, Weidenkörben und verbeulten Koffern beladen, Gepäck von äußerst bescheidenem Umfang. Die Besitztümer einiger Frauen waren so ärmlich, dass sie in eine alte Hutschachtel passten.
Die kleinsten Freiheiten waren ihre größten Sehnsüchte: zum Markt zu spazieren oder auf den Stufen in der Sonne zu sitzen. Monate und Jahre mit wenig Licht und noch weniger Freiheit hatten Hoffnungen in Schatten verwandelt.
Einige Mutige unter ihnen freuten sich auf das, was hinter dem schmalen grauen Horizont lag. Denn was konnte schon schlimmer sein als das, was sie zurückgelassen hatten? Manche, die Kinder hatten, fühlten nur den Verlust ihres Kindes. Dagegen waren Schuldgefühle wegen Verbrechen egal welcher Art nebensächlich.
An der Mündung des Flusses prallten die Strömungen aufeinander und türmten sich zu Wellenkämmen, die gesäumt waren von schmutzigen Kräuseln. Die Themse öffnete sich zum Meer hin. Das Wildwasser war in einem ähnlichen Aufruhr wie ihre Mägen.
Hinter ihnen legte die aufsteigende Sonne ein silbernes Band über die Dächer der Häuser – eine Illusion des Lichts. Es blieb noch Zeit für einen letzten Blick auf dieses funkelnde London, ein Augenblick, um jeden Schatten, jede Silhouette, jede Erinnerung in sich aufzunehmen. London, einst die gesamte Welt, sah jetzt nicht größer aus als eine Abbildung in einem Bilderbuch, so sanft beleuchtet, dass es sich dabei um die Anderswelt handeln könnte.
Das Licht veränderte sich von einem Augenblick zum anderen. Die Rauchwolken der Schlote erhoben sich wie Geister über entfernte Brücken und Türme. Die neuen Fabriken ließen heimlich ihren tiefschwarzen Auswurf in den Fluss sickern.
Vor ihnen lagen eine unergründliche Reise und ein weit entferntes Land jenseits der Meere. Dieser Abschied von England könnte für immer sein. Jetzt gab es nur noch das Meer und den schattenhaften Umriss eines Schiffes im kalten Dunst, das allmählich näherkam. Bald konnten sie den Namen lesen, der auf den hoch aufragenden Bug ihres nächsten Gefängnisses gemalt war.
Rajah
»Es heißt, in Eurem Land sei das Rauchen von Opium unter Androhung schwerer Strafen verboten. Euch muss also bewusst sein, wie schädlich es ist. Solange Ihr es jedoch nicht selbst zu Euch nehmt, es aber weiterhin herstellt und das chinesische Volk dazu verführt, es zu kaufen, ist Euer Verhalten menschenverachtend und nicht im Einklang mit dem himmlischen Pfad.
Euer Land mag zwar 20 000 Meilen entfernt liegen, doch der himmlische Pfad gilt für Euch ebenso wie für uns, und Eure Instinkte sind dieselben wie die unsrigen. Denn nirgendwo auf der Welt sind die Menschen so blind, dass sie nicht unterscheiden können, was Gewinn bringt und was Schaden zufügt.«
AUSEINEM BRIEFAN QUEEN VICTORIAVOM KAISERLICHEN HOCHKOMMISSAR LIN ZEXU, 1839
Ich erhebe mich heute
Durch die Kraft des Himmels,
Licht der Sonne,
Glanz des Mondes,
Pracht des Feuers,
Schnelligkeit des Blitzes,
Gewalt des Windes,
Tiefe des Meeres,
Beständigkeit der Erde,
Festigkeit des Felsens.
ST. PATRICK, 5. JAHRHUNDERTN.CHR.
Sie durfte nicht an William O’Donahue denken. Sie hatte den ganzen Nachmittag damit verbracht, nicht an ihn zu denken, und das merkte man auch. Rhia betrachtete prüfend das Ergebnis. Die Sonne stand jetzt so tief, dass sie durch die Leinwand hindurchschien und die Pigmente wie ein buntes Glas zum Leuchten brachte. Das Muster war schief. Sie gab William die Schuld.
In letzter Zeit war alles irgendwie schief. Verschlungen, würde Mamo sagen. Das Leben hat nicht immer einen gleichmäßigen Rhythmus, Rhiannon. Manchmal vibriert es, wie die Saiten einer Harfe ... Der Nachhall der Stimme der alten Frau schien noch in der Luft zu hängen. Fast hätte sie mit im Zimmer sein können. Das war kein gutes Zeichen.
Rhia ließ ihren Pinsel in die Ablage an der Staffelei fallen. Den ganzen Nachmittag hatte sie versucht, den Entwurf zu neuem Leben zu erwecken, aber er wirkte immer noch so verknittert wie changierende Seide, und jetzt reichte das Licht nur noch, um Staubmuster einzufangen. Auch dafür gab sie William die Schuld.
Es wäre ein guter Tag gewesen, wo sie doch das Vorderzimmer ganz für sich gehabt hatte, wenn er nicht vorbeigekommen wäre. Die Frage war, ob sie ihrem Vater davon berichten sollte. Musste sie? Vielleicht würde er ja verstehen, dass sie William hatte erzählen müssen, was vor all den Jahren passiert war? Es war unwahrscheinlich. Wahrhaftigkeit war, laut Connor Mahoney, die heiligste aller Tugenden, und Schweigen fast gleichbedeutend mit einer Lüge. Dies war die Sprache, mit der ihr Vater herumfuchtelte, seit Rhia klein war. Sie war schon immer gut darin gewesen, sein Missfallen zu erregen. So war sie zu dem Schluss gekommen, dass Diskretion christliche Ehrlichkeit noch übertraf, und sie besaß weder das eine noch das andere.
Draußen läutete ein Kutschenglöckchen, und Rhia wünschte sich nicht zum ersten Mal an diesem Nachmittag, bei ihrer Mutter im Cottage der Großmutter in Greystones zu sein. Dort würde sie barfuß am Strand entlangspazieren und dem Meer und den Möwen lauschen. Doch sie war hier, in Dublin, und erwartete den Groll ihres Vaters.
Wie als Antwort war das Klappern von Connor Mahoneys Stiefel auf der Treppe zu hören.
Rhia streifte ihren Malkittel ab. Sie ging zum großen Fenster hinüber und glättete im Spiegelbild ihr Haar, ehe sie an den Kamin zurückkehrte. Es bestand gar keine Notwendigkeit, ihm zu sagen, dass sie William verärgert hatte. Es würde sich alles in Wohlgefallen auflösen, und sie würden nächsten Sommer heiraten wie geplant. Der Zeitpunkt, an dem sie noch ein Mitspracherecht in solchen Angelegenheiten gehabt hätte, war vorbei. Die Wahrheit war, dass niemand sonst um sie geworben hatte, und auch sie hatte sich nicht verliebt. Oder war es eher so, dass sie bloß nicht der Illusion von Liebe erlegen war? Rhia sah sich fröstelnd nach ihrem Schultertuch um, als wäre die Luft bei diesem Gedanken plötzlich abgekühlt. Mamo verabscheute Zynismus.
Connor Mahoneys Stimme erklang im Hausflur, wo er leise mit Hannah sprach. Rhia hob ihr Schultertuch auf, das zu Boden geglitten war, und wandte sich dem Feuer zu, so dass sie mit dem Rücken zur Tür stand. Sie blickte in die tanzenden Flammen in der Hoffnung, deren lässige Gleichgültigkeit möge auf sie abfärben. Er war schlecht gelaunt, das konnte sie schon durch die Mauer hindurch spüren. Wie immer machte ihr das nicht wirklich etwas aus, obwohl sie den Verdacht hegte, dass es das eigentlich tun sollte. Jedenfalls war jetzt möglicherweise nicht der geeignete Zeitpunkt, ihm zu erzählen, dass sie ihren Verlobten beleidigt hatte.
Die Tür öffnete sich.
»Rhia.« Seine Stimme klang angespannt.
Sie drehte sich gefasst um. »Vater.«
Sein Gesicht war gerötet und sein Mund verkniffen. Er sah älter aus heute, obwohl seine Figur straff war und sein Haar immer noch wie Kupfer leuchtete. Er hielt ihr ein gefaltetes Stück dickes Papier hin. »Ich habe einen Brief von Mr O’Donahue bekommen.«
Damit hatte Rhia nicht gerechnet. »Von Mr O’Donahue?« Ihre Stimme war unnatürlich hoch. William hatte anscheinend sofort geschrieben, nachdem er sich von ihr verabschiedet hatte.
»Er hat sein Angebot zurückgezogen«, erklärte ihr Vater.
»Sein Angebot! Ich werde hier wie ... Ware gehandelt!« Die Flammen hatten ihr das Feuer, nicht die Anmut verliehen. Rhia ballte die Hände zu Fäusten und atmete dann tief durch. Plötzlich war ihr nach Lachen zumute. Das sollte sie sich jedoch besser verkneifen. Also studierte sie stattdessen angestrengt das Muster des Perserteppichs. Leider erinnerte sie das an ihren erfolglosen Nachmittag – Perser konnten Muster entwerfen, die den Füßen einer Göttin würdig waren.
»Bis du verheiratet bist, giltst du als mein Besitz, und ich werde nicht zulassen, dass du zu einer Bürde für diesen Haushalt wirst.« Er erstickte fast an den Worten, und sie trafen Rhia bis ins Mark. Nie zuvor hatte ihr Vater so etwas gesagt. Noch nie hatte er sie eine Bürde genannt. Er war wütend. Es würde ihm leidtun. Es kostete sie ihre ganze Willenskraft, nicht zurückzufauchen, aber sie würde nur das Falsche sagen. Er würde begreifen, dass sie keine Reue verspürte und eher erleichtert war denn beschämt.
Er schritt zwischen dem Zuschneidetisch und den wandhohen Regalen, in denen die Stoffe gelagert wurden, hin und her. Das Haar fiel ihm über die Brille, und seine Wangen glühten. Ganz offensichtlich war er noch nicht fertig mit ihr. »Du hättest schon vor Jahren heiraten sollen, und jetzt weiß ich wirklich nicht, ob dich noch jemand will.«
Diese Überlegung hatte auch Rhia bereits angestellt.
Er blieb mit dem Rücken zu ihr stehen und sprach zu den Tuchballen. »William O’Donahue ist ein angesehener und erfolgreicher Kaufmann. Er wäre ein großer Gewinn für diese Familie – dieses Geschäft – gewesen.«
Rhia zuckte zusammen. Zum Teufel mit ihrer Zurückhaltung. »Ach, darum geht es? Ums Geschäft? William ist ein Langweiler, der sich nicht traut, eine Frau zu heiraten, die ihren eigenen Kopf hat. Ich bin froh, dass ich ihm nicht jeden Tag ins Gesicht sehen muss.«
Ihr Vater fuhr herum und funkelte sie an, wobei seine Augen vor Wut zu schmalen Schlitzen wurden. »Du bist dreist und schamlos! Ich habe dich nicht dazu erzogen, irgendwelche Meinungen zu haben, Rhia. Und wenn nicht ... wenn nicht die Familie deiner ... Mutter gewesen wäre, dann wärst du so wie jedes andere anständige Mädchen hier in Dublin. Stattdessen liest du die Zeitung und läufst durch die Stadt wie eine Milchmagd. Jetzt wird mir klar, dass du Mr O’Donahue absichtlich beleidigt hast, damit er gezwungen ist, die Verlobung zu lösen. Was hast du verdammt noch mal zu ihm gesagt?«
»Das stimmt nicht! So etwas würde ich nicht tun. Ich habe ihm nur erzählt, was in dem Winter in Greystones passiert ist, als Michael Kelly verhaftet wurde.«
Connor Mahoney schwieg lange. Als er wieder zu sprechen begann, war er nahezu heiser. »Du hast ihm also mitgeteilt, dass du diesen Webern geholfen und damit dafür gesorgt hast, dass ein protestantischer Grundherr wie ein Lump dastand?«
Rhia sah ihm in die Augen. Sie hatte nichts Unrechtes getan. Sie hatte lediglich so gehandelt, wie es jeder mit einem Funken Mitleid getan hätte. Man hätte Weber hinausgeworfen, weil sie ihre Miete nicht zahlen konnten, obwohl es mitten im Winter war. Sie wären vielleicht verhungert und mit Sicherheit erfroren. Rhia hatte sie zu Mamos Cottage gebracht. Kurz darauf hatten Michael Kellys Jungs eine Ladung Tee abgefackelt, die demselben Grundherrn gehört hatte, einem Teehändler. Dieser schnappte sich Michael, der ihm daraufhin die Nase brach. Und Michael wurde deportiert.
Connor Mahoney schwieg. Sie hatte ihm noch nicht geantwortet. »Ja, das habe ich ihm erzählt«, sagte sie schließlich leise.
»Törichtes Kind! O’Donahue ist ein Geschäftspartner des Mannes, den Michael Kelly angegriffen hat.«
»Noch ein Grund, ihn nicht zu heiraten.«
»Du bist ein ... ein Teufel im Unterkleid.« Er hieb mit der flachen Hand krachend auf den Tisch.
»Und du bist ein verdammter Tyrann! Ich hätte Thomas Kelly heiraten sollen, der liebt mich wenigstens.« Jedenfalls hatte er das einmal getan.
»Du wirst dich nicht mit einem Weber einlassen!« Er ging mit großen Schritten zur Tür und blieb mit der Hand auf dem Knauf noch einmal stehen, jedoch ohne sie anzusehen. »Wir werden das weiterbesprechen, wenn deine Mutter zurückgekehrt ist. Richte Hannah aus, dass ich im Club essen werde.«
Damit verließ er das Zimmer.
»Ich bin kein Kind!«, rief ihm Rhia hinterher. Zitternd vor Wut und mit geballten Fäusten stand sie da. Als sie hörte, wie die Haustür geschlossen wurde, sank sie auf das Chesterfield-Sofa. Sie fühlte sich trotzdem wie ein Kind. Er hatte recht. Sie sollte längst verheiratet sein. William O’Donahue stammte aus Belfast, und er hatte keine Ahnung von ihrem Ruf gehabt, ehe sie sich begegnet waren. Und jetzt hatte sie ihn vergrault.
Hannah klopfte an, ehe sie eintrat. Vermutlich hatte sie alles mitgehört, selbst wenn sie nicht an der Tür gelauscht hatte. Ihre Miene verriet ihr Mitgefühl, und sie betrieb einen größeren Aufwand als nötig, als sie das Feuer schürte und die Lampen entzündete. »Wollen Sie hier zu Abend essen, Miss?«
»Ich bin ein Teufel im Unterkleid, Hannah.«
Hannah lachte in sich hinein. »Also, so was hab ich auch noch nicht gehört. Er hat wirklich schlechte Laune.«
»Er ist seit Monaten schlecht gelaunt. Die Geschäfte gehen nicht gut. Letztes Jahr um diese Zeit hätten wir niemals den Verkaufsraum einen ganzen Tag geschlossen. Und jetzt habe ich den einzigen Mann in ganz Dublin verschreckt, der mich vielleicht geheiratet hätte.«
»Ich werde Tilly sagen, sie soll Klöße machen.« Hannah eilte davon, als könne es nichts Dringenderes geben. Rhia musste trotz allem lächeln.
Nachdem Hannah gegangen war, sah Rhia zu ihrer Staffelei hinüber. Sie durchquerte den Raum und nahm seufzend ihren Pinsel in die Hand. Das Motiv, ein Arrangement aus Calendula in Orange und Gelb, war immer noch schief. Aber wenn sie das in Ordnung brachte, würde vielleicht auch alles andere wieder gut werden. Sie würde aufbleiben, bis ihr Vater heimkam, und dann würden sie sich wieder versöhnen. Sie würde nicht im Streit zu Bett gehen.
Beim Klang von Hannahs Stimme löste sich der sichere Kokon des Schlafes auf. Blinzelnd öffnete Rhia die Augen. Sie lag immer noch auf dem Chesterfield-Sofa, und Hannah, die nach Zahnpulver und Glyzerin roch, beugte sich über sie. »Es brennt«, keuchte das Dienstmädchen. Der Kerzenhalter in ihrer pummeligen Hand kippte gefährlich, so dass die Flamme flackerte und nervöse Schatten an die Wände warf. Soweit Rhia erkennen konnte, handelte es sich dabei um das einzige Feuer in Sichtweite.
Sie schwang die Füße vom Sofa und erwischte dabei Hannah in den Kniekehlen. Das Dienstmädchen klammerte sich an die Armlehne, um nicht umzufallen.
Wenn es brannte, sollte es dann nicht eigentlich auch Rauch geben? Rhia stolperte zur Tür, während Hannah ihr Gleichgewicht wiederfand. Sie sollte sich an irgendetwas erinnern, aber was war das nur? Auch im Korridor war kein Rauch. Es musste sich um einen Traum handeln. »Wo, Hannah? Wo ist das Feuer?«
»Nein, nein, nicht im Haus«, rief Hannah, die ihr gefolgt war. »Die Fäkaliensammler haben es am Merchant’s Quay am Hafen gesehen.« Das Lager! Rhia rannte im dunklen Hausflur zur Treppe, obwohl sie selbst nicht genau wusste, weshalb. Stiefel? In der Dunkelheit stieß sie gegen das Treppengeländer, schlug sich den Kopf an und fluchte laut. Sie würde auf Stiefel verzichten.
Hannah hetzte hinter ihr her, wobei sich ihr Nachthemd wie ein Segel bauschte.
»Ich habe Tom gesagt, dass er anspannen soll, und sein Bruder hat das Pferd genommen, um Ihre Ma zu holen. Vergessen Sie Ihren Mantel nicht, Miss! Und wo sind Ihre verflixten Stiefel? Gütiger Himmel, und Mr Mahoney ist noch nicht zu Hause!«
Rhia hielt abrupt inne. Das war es, an was sie sich erinnern sollte. Sie hatte auf ihren Vater warten wollen. »Wie spät ist es, Hannah?«
Hannah wusste es nicht, aber sie hatte die Stiefel gefunden und folgte Rhia in den Flur wieder hinunter, währenddessen sie aufgeregt plapperte. Rhia solle sich keine Sorgen machen, ihr Dad sei bestimmt noch in seinem Club, er würde doch nicht nach der nächtlichen Fäkaliensammlung noch am Kai sein, oder? Und sie solle doch bitte ihre Stiefel anziehen, immerhin war es der erste November.
Rhia stand neben der Haustür und fummelte an der Schnalle ihres alten roten Umhangs herum. Es blieb keine Zeit, um Stiefel zuzuschnüren. Natürlich war er noch im Club. Bestimmt spielte er gerade eine Partie Cribbage oder sprach über die neuen Webstühle. Wahrscheinlich hatte er sich noch einen Brandy genehmigt, weil seine Tochter nun doch keinen Teehändler heiraten würde.
Tom hatte den Zweisitzer angeschirrt, die Pferde tänzelten unruhig auf der Stelle und schnaubten nervös. Ihr Atem wehte wie Nebel hinter ihnen her. Der Stallbursche sah verschlafen aus, und seine blonden Haare unter der Kappe waren zerzaust. Er stank nach schwarzgebranntem Whiskey. Als Rhia zu ihm hinaufkletterte, nickte er ihr kurz zu und schnalzte sofort mit den Zügeln, noch ehe sie richtig saß. Die Pferde schossen los, und sie klammerte sich an die Kutscherdecke, um nicht rücklings herunterzufallen und um ihre Hände zu beruhigen. Schließlich versuchte sie, sich an ein Gebet zu erinnern.
Der Wagen wäre beinahe umgekippt, als sie durch das St. Auden’s Tor ratterten und an der St. Patricks Cathedral vorbeikamen. Rhia sah zur Kathedrale hinüber. Würde St. Patrick jemandem wie ihr Gehör schenken? Rette das Lagerhaus, und ich werde nie mehr fluchen. War das genug? Außerdem werde ich beten.
Inzwischen fuhren sie mit einer kaum mehr zu kontrollierenden Geschwindigkeit. Rhia warf Tom einen Seitenblick zu. Er saß nach vorn gebeugt und genoss die wilde Fahrt. Der Stallbursche lenkte die Pferde gern wie ein Wahnsinniger, selbst wenn er nicht getrunken hatte. Wahrscheinlich hätte sie ihm die Zügel aus der Hand nehmen sollen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie es besser gemacht hätte. Die Stute war nervös und hatte die Ohren angelegt.
»Langsamer, Tom! Epona geht uns noch durch, wenn sie sich noch mehr aufregt.«
Tom nickte. »Aye, da würden wir bis Kilkenny nicht anhalten, wenn uns deine Stute durchgeht. Aber ich nehme an, Mr Mahoney ist im Lagerhaus.«
»Ist er nicht. Er ist in seinem Club.«
»Ist er nicht. Es ist schon zwei vorbei.«
Rhias Herz schien ins Bodenlose zu fallen. Der Club schloss um Mitternacht. »Dann ist er zum Kai gegangen, um die Arbeit der Feuerwehrmänner zu beaufsichtigen.« Das war doch eine überzeugende Erklärung. Warum dann diese dunkle Furcht?
Der Himmel über dem Hafenviertel war so hell, als würden alle Heiligen Dublins ihre Laternen über dem Merchants Quay schwingen. Sie bogen um die Kurve der letzten Gasse, und Rhia bereitete sich innerlich auf den Anblick des gesamten Kais in Flammen vor.
Doch nur das Lagerhaus der Mahoneys brannte. Und das war irgendwie noch vernichtender.
Rhia sprang vom Wagen, noch ehe die Räder zum Stillstand gekommen waren. Wenn ihr Vater hier war, dann würde er in der vordersten Reihe stehen. Er würde bei der Polizei sein. Sie drängelte sich durch die Menge der Schaulustigen, deren Gesichter von den Flammen unheimlich beleuchtet wurden, bis sie ganz nahe beim Feuer war. Eine Wand aus Flammen loderte von den steinernen Grundfesten empor, wo gestern noch eine rote Ziegelmauer gestanden hatte. Die Luft war voller giftiger Rauchschwaden, die Hitze atemberaubend. Der Kai war beleuchtet wie ein Jahrmarkt. Auch am gegenüberliegenden Ufer hatten sich Leute versammelt, um zuzusehen.
Ihren Vater konnte sie nicht entdecken.
Rhia drängte sich zwischen den Grüppchen aus Schaulustigen hindurch und versuchte, durch die Polizeiabsperrung, die die Menge zurückhielt, hindurchzuspähen. Ihr Blick suchte die Gesichter der Männer entlang des Wassers ab. Er musste auf der anderen Seite sein, näher beim Lager, aber dazu würde sie an der Polizei vorbeimüssen. Sie schob sich am Rand der Menge entlang, so dicht sie nur konnte, ohne verbrannt zu werden. Vielleicht wäre sie noch näher herangekommen, wenn sie nicht jemand am Handgelenk gepackt und dabei die Haut verdreht hätte wie ein Seil. Plötzlich befand sich die derbe, ungewaschene Wolle einer Polizeiuniform direkt vor ihrem Gesicht.
»Tuilli!«, zischte sie, ehe ihr die Abmachung mit dem Heiligen wieder einfiel. Vielleicht zählte ein Fluch auf Irisch ja nicht?
»Wen nennst du hier einen Bastard, du kleine Zigeunerin?« Die Miene des Polizisten war ekelerregend. Rhia hielt seinem Blick stand und versuchte, ihren Arm zu befreien, aber seine Finger bohrten sich nur noch tiefer in ihr Handgelenk.
»Lassen Sie mich los, oder ich beiße!«, fauchte sie ihn an.
Die Andeutung eines Lächelns umspielte die Lippen des Polizisten. »Ich würde lieber nicht zu nahe an ein brennendes Gebäude rangehen. Das könnte schneller einstürzen, als dich deine Füße tragen.« Der Griff seiner Hand wurde eng wie ein Henkersknoten, als sie versuchte, sich ihm zu entwinden. Er war stark.
»Bitte! Das Gebäude gehört meinem Vater. Ich suche ihn.«
»Sie sind doch nicht etwa das Mahoney-Mädel, oder?« Die gerunzelte Stirn und der rasche, abschätzende Blick sagten alles. Ihre Haare sahen bestimmt aus wie ein Rattennest – wie immer, wenn sie geschlafen hatte –, und ihr Mantel war nicht gerade modisch. Außerdem waren ihre Füße nackt, wie sie jetzt erst bemerkte. Das dunkle Aussehen der »Schwarzen Iren« hatte sie von der Familie ihrer Mutter, die für irische Katholiken in etwa dasselbe wie Zigeuner waren. Man glaubte, deren Seelen seien ebenso dunkel wie ihr Äußeres. Ab und zu war das ganz praktisch.
»Ein mutiger Polizist ist rein, sucht nach Ihrem Vater. Schon seit ’ner Stunde.« Eine Stunde. Die Worte pressten die Luft aus Rhia wie ein Bleikorsett. Die Hand des Polizisten hielt sie aufrecht.
»Sie meinen, er ist ...« Sie konnte es nicht aussprechen.
Der Mann nickte grimmig. Offensichtlich erwartete er das Schlimmste.
Sie sollte beten. Aber St. Patrick hatte die alte Religion aus Irland vertrieben und den Frauen ihre Rechte genommen. Das sagte jedenfalls Mamo. Und Mamo würde ihr nicht raten, zu einem Heiligen zu beten. Sie würde sagen, dass das Feuer als Element Angelegenheit der geisterhaften Geschöpfe der Anderswelt war. Connor Mahoney sagte, Mamo sei ein gottloser Mensch gewesen, doch für ihre Enkelin waren die Geschichten ebenso glaubwürdig wie die unbefleckte Empfängnis und ein unsterblicher Zimmermann.
Als hätte Rhia sie aus der Hexenjagd der Feuersbrunst heraufbeschworen, formten die Flammen einen Herzschlag lang eine weißglühende Sylphe, verkrümmt wie ein altes Weib. Cailleach. Der Tod. Es war ein Trick des Feuers – Luft von Hitze verzerrt. Rhia war zu alt für solche Geschichten. Sie hatte den alten Hexen, Zauberinnen und nebelhaften Kreaturen den Rücken gekehrt. Und den Geistern. Sie schloss die Augen und öffnete sie dann wieder. Nichts als Flammen.
Dann sah sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, doch es gab nur eine. Also biss sie dem Polizisten in die Hand, die so sauer schmeckte, wie er aussah. Lautstark jaulte er auf und holte mit der anderen Hand aus, wagte es dann aber nicht, sie zu schlagen. Immerhin bestand ein gewisses Risiko, dass sie tatsächlich Connor Mahoneys Tochter war. Er verstärkte seinen Griff um ihr Handgelenk, so dass Rhia zusammenzuckte.
»Ist deine Mutter nicht da?« Der Polizist beobachtete sie scharf. Hielt er sie tatsächlich für eine Zigeunerin? Und wenn dem so war, warum ließ er sie nicht einfach laufen? Weil sie vielleicht doch Connor Mahoneys Tochter war.
»Sie ist nicht in Dublin.« In Greystones waren die Mieten fällig, und weitere Weber steckten in Schwierigkeiten. Brigit Mahoneys flinke, wohltätige Hand an der Spindel konnte die Weber vielleicht nicht retten, aber trotz der Missbilligung ihres Mannes würde sie nicht einfach danebenstehen und zusehen, wie eine weitere Familie gewaltsam vertrieben wurde. Der mechanische Webstuhl war der Stolz von Belfast, aber für die Lohnarbeiter in Greystones war er gleichbedeutend mit dem Einmarsch des Feindes.
Plötzlich fiel Rhia Tom wieder ein. Er würde ihr helfen und dem Polizisten erklären, wer sie war. Hoffnungsvoll suchte ihr Blick die Menge ab, doch ihr Mut sank, als sie ihn entdeckte. Tom hatte sich ganz in der Nähe zu einer Gruppe von Schaulustigen gesellt, die eine Schnapsflasche herumgehen ließen. Das Feuer hatte eine beträchtliche Menge aus den ärmlichen Mietshäusern wie auch vom gegenüberliegenden Ufer angezogen. Es war ein Spektakel.
»Billiger als der Zirkus«, kommentierte der Polizist, der ihrem Blick gefolgt war.
Der Gestank von verkohltem Tuch hing in der Luft. Rhia fiel wieder ein, wie Mamo ihr erzählt hatte, dass man früher Leinenlumpen als Zunder verwendet hatte, weil sie so gut brannten. Hitze und Rauch füllten ihre Lungen. Ihre Knochen fühlten sich hohl an, als wären sie wie die großen Balken des Lagerhauses dem Feuerdrachen zum Opfer gefallen. Plötzlich fiel ihr auf, dass die Vertreter der Versicherung noch nirgends zu sehen waren. Sie stieß den Polizisten mit dem Ellbogen an, der die Augen zusammenkniff. »Wo sind die Feuerwehrmänner?«, wollte sie wissen.
»Sind heimgegangen.«
Rhia war völlig verwirrt. »Warum?«
»Das Gebäude ist nicht versichert.«
»Das Gebäude ist versichert.«
Er zuckte mit den Schultern. Sein Blick verriet, dass sie ihn lieber nicht ein zweites Mal beißen sollte.
Das war unmöglich. Ihr Vater war überaus gewissenhaft, regelrecht penibel. Er würde niemals vergessen, seine Versicherungsraten zu bezahlen. Rhia schüttelte ungläubig den Kopf.
Die Zeit verging. Irgendwann lockerte der Polizist seinen schraubstockartigen Griff ein wenig, so dass seine schmutzigen Fingernägel sich nicht mehr in ihr Handgelenk bohrten. Erneut versuchte Rhia, ihren Arm zu befreien, doch er packte sofort wieder fester zu.
Sie starrte vor sich hin und wartete, als hinge das Leben ihres Vaters davon ab, dass sie ihren Blick nicht von den Flammen abwandte. Dieses Mal war sie sich sicher, die Hexe Cailleach gesehen zu haben. Die Haare der Alten waren aus loderndem Flachs, und sie zog ihr feuriges Kleid wie den Schwanz eines Drachens durch die Ruine hinter sich her. Sie war schrecklich und wunderschön zugleich: Ihr Gesicht so weiß wie Asche und ihre Lippen rot wie Glut. War sie gekommen, um Connor Mahoney mitzunehmen?
»Bring ihn raus oder ...« Oder was? Welche Verhandlungsposition hatte sie schon dem Tod gegenüber? Sollte sie drohen, sonst einen Katholiken zu heiraten? Das hätte sie beinahe getan.
Der Polizist sah sie an. Vielleicht hatte sie laut gesprochen? Die Gestalt verschwand in den Flammen und ließ Rhia zurück, die heiße Tränen wegblinzelte.
Die Hitze ließ langsam nach, und auch die Flammen beruhigten sich. Ebenso plötzlich verzog sich die Dunkelheit, jedenfalls schien es so, und die rauchende Ruine wurde sichtbar. Das Lagerhaus, das gestern noch unverrückbar und fest am Hafen gestanden hatte, war ein Gerippe. Ziegel, Balken und Leinen im Wert von Tausenden von Pfund waren zu feinem weißem Staub geworden, den schon bald die nächste Brise davontragen würde.
Brigit Mahoney traf ein, als die Dämmerung die schattigen Gässchen des Merchants Quay erreicht hatte. Die Schaulustigen hatten sich zerstreut. Nur die Landstreicher, ein paar Matrosen und die Polizei waren noch geblieben. Brigit umarmte Rhia, sagte aber nichts. Ihr Gesicht, das normalerweise außerordentlich gefasst wirkte, war voller Sorge. Sie hatte beinahe ihr fünfzigstes Jahr erreicht, aber ihre zarten Gesichtszüge waren immer noch straff, wie aus gut gelagertem Holz geschnitzt. Heute jedoch wirkte sie kleiner, ihre Schultern steif.
Brigit starrte auf ihre nackten Füße, und Rhia folgte ihrem Blick. Im Zwielicht sahen ihre Füße aus wie Marmor. Bis jetzt hatte sie die schmerzende Kälte gar nicht bemerkt.
»Mir war bisher nicht kalt ...«, murmelte sie.
»Dann sind sie vielleicht erfroren. Im Wagen sind meine Kalbsleder-Pantoffeln und eine Kanne Tee.«
Rhia kehrte in Schuhen und mit einem Krug aus Steinzeug zurück. Ihre Mutter sprach leise mit dem Polizisten, der sie festgehalten hatte. Er warf ihr einen Blick zu, und seine Miene verriet, dass er ihr jetzt glaubte. Sie teilten das dampfende Gebräu mit den verbliebenen Männern. Niemand erwähnte den Namen ihres Vaters.
Sie warteten. Niemand wollte der Erste sein, der die Hoffnung aufgab, aber in der Ruine war kein Lebenszeichen zu entdecken und kaum mehr als eine Flamme züngelte noch.
Brigit quetschte Rhias Finger in ihrer Hand. »Der Rasen vor dem Cottage sieht aus wie ein türkischer Teppich«, flüsterte sie. »Überall liegen die rosafarbenen und feuerroten Blütenblätter der Rosen verstreut.« Sie versuchte, die Erinnerung an etwas Schönes heraufzubeschwören, um sie beide zu beruhigen. »Und die Blätter des Ahorns und der Rotbuche sind eine wahre Pracht. Ich habe mir gedacht, du könnest mit deinem Malkasten kommen und ...« Sie brach mit einem erstickten Geräusch ab, und ihre Finger flatterten wie Motten an ihre Lippen. Rhia folgte ihrem Blick. Gerade wurde der Körper von Connor Mahoney von zwei Polizisten auf einer behelfsmäßigen Bahre aus dem Gerippe des Lagerhauses getragen. Er war schwarz wie ein Kaminkehrer und totenstill.
Ihre Mutter packte ihre Hand so fest, dass Rhia das Gefühl hatte, ihre Knochen würden gleich brechen. Sie gingen auf die Bahre zu, die jetzt vorsichtig auf den Boden gelegt wurde. Die wenigen Zuschauer wichen zurück, um sie durchzulassen. Das linke Bein von Connor Mahoney war so entsetzlich verdreht, dass es aussah, als wären seine Hosenbeine mit Lumpen ausgestopft. Sein Gesicht war eine kohlschwarze Maske. Der Moment schien eine Ewigkeit zu dauern. Brigit sank neben ihrem Mann auf die Knie und küsste seine geschwärzten Lippen, als wären sie allein. »Leannán«, flüsterte sie, mein Liebster. Ihre schmalen Schultern sackten schließlich zusammen. Rhia kniete sich neben ihre Mutter.
»Er lebt«, sagte der junge Polizist, selbst schwarz von Kopf bis Fuß, der der Prozession gefolgt war.
Rhia lachte, und Brigit weinte. Der Polizist strahlte und hieb dem jungen Helden auf den Rücken, bevor er ihm die Flasche reichte. Der Junge berichtete ihnen, was er in dieser Nacht erlebt hatte. Das Feuer war im Erdgeschoss des Gebäudes ausgebrochen, als Mr Mahoney die Treppe hinuntergestürzt war und dabei ein Talglicht in einen Korb mit geöltem Leinen hatte fallen lassen. Bei dem Sturz hatte er sich das Bein gebrochen, und zu dem Zeitpunkt, als sein Retter zu ihm gekommen war, war der Keller ihre einzige Hoffnung. Glücklicherweise war dieser nämlich mit einem Tunnel verbunden, der in ein altes Gewölbe, tief unten beim Fluss, führte. Eine winzige Öffnung, möglicherweise ein Rattenloch, hatte ihnen das Atmen ermöglicht, als sich der Raum mit Rauch füllte.
Der junge Mann winkte nur ab, als sie ihn mit Dank und Lob überschütteten. Verlegen stand er ihren Tränen gegenüber. Er schien nichts Besonderes daran zu finden, dass er einem Mann das Leben gerettet hatte. Er war lediglich etwas enttäuscht, dass die Flasche Tee enthielt und keinen Schnaps.
Jemand wurde nach dem Krankentransport geschickt.
Rhia beobachtete, wie ihre Mutter die angebotene raue Wolldecke entgegennahm und sanft über ihren Mann breitete. Sie strich ihm die Haare aus den Augen, so zart, so liebevoll, und wischte verkohltes Leinen von seinen Schultern.
Der Polizist, der Rhia zurückgehalten hatte, lächelte ihr zu, ehe er davonging. Sie lächelte zurück. Zum Teufel mit Cailleach. Heute Abend hatten sie noch mal einen Aufschub bekommen.
Rhia verließ zu Fuß den Kai, als könnte sie diese Nacht hinter sich lassen. Das Morgenlicht erhellte die maroden Docks, aber die Nacht hing noch im Geruch ihres Haars und der Wolle ihrer Kapuze. Der Krankentransport war von vier Grauschimmeln davongezogen worden, nachdem sich die Türen hinter Brigit geschlossen hatten, die bleich und abgekämpft die Hand ihres Mannes umklammerte. Rhia hatte Tom nach St. Stephens Green zurückgeschickt. Nach dieser Nacht voller Aufregung und Selbstgebranntem Kartoffelschnaps sah er gar nicht gut aus, aber sie hatte nicht mehr die Kraft, ihn zu tadeln.
Der Betrieb auf den Docks nahm langsam zu, und das rege Treiben beruhigte sie irgendwie. Rhia zog sich die Kapuze in die Stirn und hoffte, dadurch unsichtbar zu werden, doch ein junger Fischer tippte grüßend an seine Wollkappe und verfolgte sie grinsend mit seinem Blick, bis sie vorbeigegangen war. Es war schwierig, in einem roten Mantel unsichtbar zu sein.
Beim Gehen streifte sie in Gedanken durch die Ruinen der Nacht. Was, wenn der Polizist die Luke zum Keller nicht gefunden hätte? Was, wenn Connor Mahoney gestorben wäre? Der nächste Gedanke ließ sie abrupt stehen bleiben. Es war Samhain, der keltische Winteranfang. Wie hatte sie das nur vergessen können? Die Nacht, in der angeblich Lebende und Tote für einen Augenblick aufeinandertreffen konnten. Wenn Cailleach nicht wegen ihres Vaters gekommen war, wegen wem war sie dann da gewesen? Rhia zog den Mantel fester um sich und beschleunigte ihren Schritt.
Der Geruch von verbranntem Leinen war hartnäckig. Rhia versuchte, nicht an all den Stoff zu denken, der zu Asche geworden war. Der ruinierte Lagerbestand war eine Katastrophe, aber das mit der Versicherungsgesellschaft war ganz offensichtlich ein Missverständnis. Ihr Vater vergaß niemals, seine Raten zu bezahlen. Aber war das von Bedeutung? Er war am Leben. Ihr Streit jedoch würde sie belasten, bis sie sich wieder ausgesöhnt hatten. Sie waren sich zu ähnlich, beide schrecklich dickköpfig. Normalerweise würde ihr Vater ein Schultertuch aus Spitze oder ein Stück Satin mit nach Hause bringen und eingestehen, dass er zu barsch gewesen war und seine Worte bereute. Dann würde sich Rhia für das, was sie gesagt hatte, entschuldigen, und damit wäre die Sache erledigt.
Sie hatte William O’Donahue nie wirklich heiraten wollen. Sie hatte gespürt, was für eine Art Mann er hinter der Fassade seiner gepflegten Ehrbarkeit war, mit dem pomadisierten Backenbart und den maßgeschneiderten Anzügen. Aber sie hatte nicht absichtlich die Verlobung zerstört. Vielleicht hätte sie ihm die Ereignisse jener eisigen Januarnacht nicht anvertrauen sollen, aber das alles war in ihrer Erinnerung und ihrem Herzen immer noch so frisch, selbst nach mehr als sieben Jahren.
Sie hatte den Säugling der Weber zu Mamos Cottage gebracht, voller Ehrfurcht vor seinen winzigen Händchen. Der Besitzer des Weberhauses war wie Connor Mahoney Mitglied bei den United Irishmen. Hierbei handelte es sich um ein Bündnis von protestantischen und katholischen Händlern, die sich gegen den Würgegriff der Engländer ihren irischen Produkten gegenüber wehren wollten. Rhia hatte den Mann herzlos aussehen lassen (was er ja auch war) und selbst gleichzeitig auf unschöne Weise tatkräftig gewirkt. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass es ein Unterschied war, ob jemand aufsässig oder ein echter Rebell war. Mamo war natürlich stolz auf sie gewesen. Und William hatte bei ihrem gestrigen Gespräch die ganze Angelegenheit in höchstem Maße geschmacklos gefunden und deutlich gemacht, dass er eher auf Seiten des Grundstücksbesitzers stand als auf Seiten der Pächter. Immerhin hatten sie seit Monaten keine Pacht bezahlt. Rhia dagegen hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie ihn genauso unbarmherzig fand wie jeden anderen Mann, der sein Vermögen durch die Zerstörung ehrlicher Arbeit erwirtschaftete. Ihn hatte es sichtbar schockiert, dass sie ihm widersprach. Und bei der Erinnerung an seinen Gesichtsausdruck musste Rhia lächeln. Sie sollte wohl ein schlechtes Gewissen haben, doch das hatte sie nicht.
Der Gestank des Hafens, der einem die Tränen in die Augen trieb, machte sie wehmütig. Als Kind hatte sie oft gebettelt, ihren Vater begleiten zu dürfen, wenn er die Verschiffung einer Lieferung Leinen überwachte. Es war aufregend gewesen, den Geruch von nassem Segeltuch einzuatmen und sich so nahe an einen Matrosen heranzuwagen, dass sie den Teer an seinen Kniehosen und den Tabak in seinem Atem riechen konnte. Sie liebte das Knarren von Ledergurten auf Weidengeflecht, wenn ein mit Mahoney-Leinen gefüllter Korb nach dem anderen an Deck eines schlanken Segelschiffs gezogen wurde, das nach London fahren würde. Dieses Geräusch ließ sie erschaudern. Es war das Aufbruchssignal zu einer Reise an einen Ort, der so aufregend und geheimnisvoll war, dass er auch in der Anderswelt hätte liegen können: London. Aber um nach London zu kommen, musste man die Irische See überqueren. Das gefährliche, hinterhältige Meer.
Immer, wenn ihr Onkel zu Besuch nach Dublin kam, bat ihn Rhia, Geschichten aus der Hauptstadt zu erzählen. London hatte Ryan den letzten Schliff gegeben. Connors jüngerer Bruder war schon immer elegant gewesen, aber jetzt war er ausgesprochen mondän. In seinen Erzählungen klang London wie die berauschendste Stadt der gesamten westlichen Welt. Nun würde Ryan in dieser Saison keine Schiffsladung Leinen am China-Kai in Empfang nehmen, und er würde auch keine Käufer für feinsten Batist und schweren Damast Marke Mahoney finden. Natürlich handelte Ryan Mahoney nicht nur mit irischem Leinen. Er importierte außerdem Wolle vom Kontinent, Baumwolle aus Indien und Seide aus China.
Auf ihrem Weg durch den Markt am Hafen suchte Rhia Zuflucht im Vertrauten. Sie nickte den bekannten Händlern mit ihren Karren grüßend zu und wich geschickt den Fischverkäufern aus, die man schon von weitem roch, weil ihre Eimer mit Muscheln, Aal und Heringen gefüllt waren. Das alltägliche Durcheinander aus nichtsnutzigen Bettlern, schlauen Händlern und übernächtigten Passanten beruhigte sie.
Hinter den Fischern, die mit Prostituierten verhandelten, entdeckte Rhia etwas, das sie stehen bleiben ließ. Eine Gruppe von weiblichen Gefangenen, die auf ihre Deportation wartete. Die Frauen waren in einer Reihe zusammengekettet, in ausgebeultes graues Flanell gekleidet und von Polizisten umringt. Sie starrten ins Leere, als hätten sie ihr Land und ihre Familie bereits verlassen. Diese Hoffnungslosigkeit berührte Rhia so tief, dass sie für einen Moment eine von ihnen hätte sein können. Eine schmerzhafte Leere breitete sich in ihrem Magen aus, und das Gefühl war so stark, dass sie beinahe würgen musste. Sie war zu dünnhäutig, und das brachte sie regelmäßig in Schwierigkeiten. Sie konnte diesen Frauen nicht helfen. Daher drehte sie sich weg und dachte an Michael Kelly, den seine Frau und sein Sohn seit beinahe sieben Jahren nicht mehr gesehen hatten.
Rhia erreichte den letzten Marktstand. Nells Stand mit dem frittierten Fisch. Nell steckte bis zu den Ellbogen in Schuppen. Jedes Mal, wenn sie eine fette Forelle oder einen glitzernden Lachs auf ihren Block niedersausen ließ, schwabbelten ihre Fleischmassen vom Doppelkinn bis zu den Gesäßbacken. Auf ihrem Feuer stand eine Grillpfanne und darin brutzelte etwas, das vor wenigen Stunden noch seine letzte Nacht damit verbracht hatte, den Fluss Liffey hinaufzuschwimmen. Als Nell Rhia bemerkte, lächelte sie ihr mit ihrem lückenhaften Gebiss zu und wischte sich die vernarbten Hände an der Schürze ab.
»Rhia, mein Schätzchen! Du siehst ja halbtot aus. Beweg deinen knochigen Hintern her und iss einen Happen.«
Rhia tat, wie ihr geheißen. Eine Schüssel mit frittiertem Weißfisch wurde vor sie hingeknallt. Nell legte den Kopf schief und zwinkerte ihr zu. »Also, was zum Teufel treibt Rhia Mahoney hier in aller Herrgottsfrüh am Hafenmarkt?«
Rhia brach in Tränen aus. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie die aneinandergeketteten Frauen gesehen hatte, hatte sie alles gut weggesteckt. Sofort wurde sie an Nells üppigen Busen gedrückt, der Fischöl und Liebe ausstrahlte. »Na, na, mein Schäfchen, na, na. Hat dir jemand was getan? Oder ist es wegen deinem Dad?«
Rhia nahm einen tiefen Schluck warmes Starkbier, und dann erzählte sie Nell, unterbrochen von Schluchzern, von ihren Sorgen. Nell wusste immer, wie man die Dinge wieder zurechtrückte. Für eine Frau, die Dublin niemals verlassen hatte, war sie über die Welt erstaunlich gut informiert. Außerdem hatte sie die letzte Pockenepidemie überlebt, die die überfüllten Mietshäuser in der Hafengegend wie plündernde Norweger überfallen und ihre gesamte Familie ausgelöscht hatte. Die Welt kam zu Nell: Von Seefahrern und Händlern, den Prostituierten und den Dieben erfuhr sie von weit entfernten Orten. Nell mit ihrem Fischstand war eine Legende.
»Ich glaube, mein Vater hat dringend einen wohlhabenden Schwiegersohn gebraucht«, schloss Rhia. »Unsere Kundschaft nimmt von Jahr zu Jahr ab, aber natürlich müssen wir mehr verlangen als die Fabriken. Den Leuten scheint es egal zu sein, dass handgewebtes Leinen eine viel bessere Qualität hat. Hauptsache, es kostet weniger.« Aus irgendeinem Grund brachte sie das wieder zum Weinen. Normalerweise machte sie in Gegenwart von anderen kein solches Theater, denn sie wurde lieber für unverfroren als für hysterisch gehalten.
Nell legte den Kopf schief und seufzte. »Sch, sch. Diese Maschinen sind noch das Ende aller ehrlichen Arbeit. Kopf hoch, mein Schäfchen. Ziegel und Stoff sind leicht gemacht, aber Kühnheit nicht. Und ohne die ist eine Lady so langweilig wie ein toter Fisch. Und eine Lady wie du, die weiß, wie der Laden läuft, kann sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen – egal, ob sie einen Mann hat oder nicht. Obwohl’s deinem Dad wahrscheinlich nicht recht wäre. So, und jetzt lauf schnell heim, bevor dich deine Mutter vermisst. Die Frau hat so schon genug Sorgen. Aber zuerst isst du den Fisch auf!«
Das tat Rhia, dann umarmte sie Nell und verließ den Hafenmarkt.
Sie wählte den kürzesten Weg nach Hause, hinter den Mietshäusern vorbei, wo ihr eine Horde von zerlumpten Gassenkindern nachlief. Irgendwann blieb sie stehen und sagte zu ihnen, es sei ganz schön mutig, sich nach der Hexennacht so früh schon aus dem Haus zu trauen. »Ich komme gerade von einer Hexenversammlung«, fügte sie hinzu, »und wenn ihr mich nicht gleich in Ruhe lasst, dann verwandle ich euch alle in Käfer.« Daraufhin rannten sie lachend und kreischend davon.
Nach den Mietshäusern kam das Viertel der Färber, ihr liebster Stadtteil. Überall in den Gassen waren Tuchballen zum Trocknen aufgehängt: safrangelb und ringelblumenfarben, rubinrot, indigoblau und smaragdgrün. Als Kind waren Rhia diese Straßen wie ein Zauberwald vorgekommen. Hier schenkte niemand ihrem roten Mantel besondere Beachtung. Einst hatte sie sich vorgestellt, jeder Tag wäre wie das Stück einer Decke aus allen Farben und Materialien, manche leuchtend und fein, andere blass und abgetragen. Der heutige Tag? Taubenblau, und aus Seide. Ein melancholischer Stoff, der flüsterte und raschelte und sich gern geheimnisvoll gab. Wer konnte schon sagen, was er prophezeite.
Selbst am Ende eines Novembertages war die breite George Street noch sonnendurchflutet und belebt. Die meisten Läden waren inzwischen verriegelt, aber gestreifte Markisen blieben hier zu jeder Tageszeit ausgefahren, an jedem Tag des Jahres. In Sydney stellte kein Tuchhändler, Zuckerbäcker oder Buchhändler seine Waren im Schaufenster aus. Stoff verblasste, Lebensmittel verdarben und Buchseiten wurden brüchig und gelb.
Michael Kelly zog seine Hutkrempe tiefer ins Gesicht, um sich vor den intensiven Sonnenstrahlen zu schützen. Mittlerweile hatte er ein zwiespältiges Verhältnis zu diesem Ort entwickelt, dieser entlegenen Küste, die sowohl seine Heimat als auch sein Gefängnis war. Es wäre dumm, keine Achtung vor dem Unsichtbaren in Australien zu haben: vor den Helden der Ahnen und den geweihten Orten. Mangelnder Respekt vor der uralten Wildheit des Landes hatte so manchen Menschen sein wertloses Leben gekostet. Als ihm Jarrah von der Altjeringa erzählt hatte, der Religion (wenn man sie so nennen konnte) der Ureinwohner Australiens, war Michael nicht überrascht gewesen. Er hatte sie bereits gespürt. Dieser Ort war voller Geister, manche davon ganz frisch, andere dagegen schwirrten anscheinend schon seit Anbeginn der Welt hier herum. Darin, und auch nur darin, glichen sich Australien und Irland: Die Götter waren untrennbar mit der Landschaft verbunden. Michael hatte Jarrah – den einzigen Eingeborenen, den er kannte – jahrelang beobachtet, ehe er eine Ahnung davon bekam.
Einst hatte sich sein Inneres jedes Mal, wenn er den Horizont über dem Wasser gesehen hatte, vor Heimweh zusammengezogen. Doch der silberne Schiefer von Greystones und das wehmütige Violett der Wicklow Hills waren inzwischen so weit entfernt, in seiner Erinnerung und in Meilen gemessen, dass er kaum noch an ihre Existenz glaubte. Hier trafen die Strände auf flachsblonde Klippen und waren bedeckt von blassem Sand. Die Berge im Westen sahen gefährlich aus. Das Blau des Himmels war so intensiv, dass er manchmal nicht glauben konnte, dass solch eine Farbe tatsächlich in der Natur vorkam.
Michael konnte nicht behaupten, dass er Sydney vermissen würde, aber in der Kolonie herrschte ein unverhoffter Anarchismus, den er schätzte. Vermutlich war das für einen Ort, an dem die gesetzlosen Außenseiter anderer Gesellschaften zusammengewürfelt worden waren, ganz normal. Oder aneinandergekettet, dachte er ironisch. Außerdem war der Ort für ein Gefängnis verdammt schön.
Die Ladenmädchen der George Street, die jetzt an ihm vorbeidrängten und zu den Cafés am Circular Quay strömten, strahlten Sorglosigkeit aus. Sie hatten die sonnengebräunten Arme untergehakt, trugen ihr Haar offen, und ihr Gang war auf ganz typische Art keck. Liebespaare waren kühner hier, die Kinder lauter und die Männer gewalttätiger. Das Benehmen der Koloniebewohner in der Öffentlichkeit war einzigartig. Sydney war anders als jede Stadt, die Michael zuvor erlebt hatte, und er kannte einige.
In letzter Zeit hatte er viel über die Vergangenheit nachgedacht. Sie schien ihn immer mehr zu verfolgen, je näher seine Heimreise rückte. Als junger Mann und Seemann, der ständig unterwegs war, hatte er jeden Auftrag angenommen, um nur möglichst viel Abstand zwischen sich und das träge Geschäft des Webens zu bringen. Er hatte die Häfen von Europa und Afrika gesehen und war mit Sherry und Tabak aus Bristol bis nach Bombay gekommen. Die Ladung war nicht zum Verkauf bestimmt, sondern für die Keller und Pfeifen der wohlhabenden Gentlemen der East India Company. Dann hatte ihn sein Vater wegen eines Auftrags der Dubliner Firma Mahoney nach Hause gerufen, ehe er wirklich dazu bereit gewesen war. Eine zusätzliche Hand am Webstuhl wurde dringend gebraucht. Dann hatte er Annie getroffen. Ab da fuhr Michael Kelly nur noch in seinen Träumen zur See oder in den Geschichten, die er Thomas erzählte. Er und die kleine Rhia Mahoney bettelten darum, wollten sein Seemannsgarn wieder und wieder hören. Und im Laufe der Jahre wurde das Erlebte immer größer und schöner.
Als Michael einst ein paar Tage in Colaba, einem florierenden Kolonialhafen von Bombay, verbracht hatte, begann er, über die Schattenseiten des Profits nachzudenken. Die schmutzigen Slums hinter den palastartigen Gebäuden der East India Company brachten ihn dazu. Er konnte nicht verstehen, wieso die Kinder in Bombay so wenig zu essen und nur Lumpen anzuziehen hatten, wieso es für sie keine Bücher und Schulen gab und sie auf der Straße schlafen mussten, obwohl doch die Händler in Dublin und London so viel Geld in indische Produkte investierten.
In den Hafenkneipen, wo sich die britischen Händler auf einen Drink trafen, fand Michael heraus, dass die Gentlemen, deren Sherry und Tabak er über den Indischen Ozean begleitet hatte, indische Bauern zwangen, Mohn anzubauen. Es blieb kaum urbares Land zum Nahrungsmittelanbau übrig, wenn jährlich fünftausend Truhen mit jeweils 130 Pfund Opiumharz auf britischen Schiffen von Indien nach China transportiert wurden. Das berauschende Harz der Mohnblüten war der Rohstoff, der den Handel bestimmte, mit Hilfe dessen das Empire seine Vormachtstellung behauptete. Michael konnte sich kaum vorstellen, wie viele Mohnblüten das waren, und wie viele Bauern und ihre Kinder man brauchte, um all das im Namen der britischen Wirtschaftsexpansion zu erreichen.
Das wahre Ausmaß des Verbrechens begriff er, als er in St Giles auf eine Opiumhöhle stieß. Dort sah er zum ersten Mal einen ausgezehrten Mann, ein lebendes Gerippe, seiner Seele beraubt. Seitdem hatte Michael viele davon gesehen, seit er mit einer Schiffsladung Verdammter in See gestochen war. Außerdem war er Zeuge von echten Verbrechen geworden, die von reichen Industriellen begangen wurden und viel schlimmer waren als die Taten der sogenannten Kriminellen, die die Stadt bevölkerten. Das schlimmste Verbrechen, dessen sich so viele hier schuldig machten, war, arm geboren worden zu sein. Es lag nicht nur am Heimweh und der Entbehrung, dass Michael zu einem stillen Feind der Geldgier geworden war. Der Mann, der ihn ins Gefängnis geschickt hatte, angeblich ein ehrenwerter Händler, transportierte Opium von Kalkutta nach Kanton. Dort nahm er seine Ladung an chinesischem Tee auf und verschiffte ihn nach London und Dublin. Diese gewissenlosen Geschäftemacher wollte Michael zu Fall bringen.
Das Reisen mochte Michaels Horizont erweitert und die harte Arbeit als Seemann seinen Körper und seine Nerven gestählt haben, doch das war nichts im Vergleich dazu, wie die Deportation seine Sinne geschärft und seine Muskeln gekräftigt hatte. Er war jetzt über fünfzig, aber körperlich leistungsfähiger denn je. Seine Haut war braun wie Leder, und bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er einmal einen Blick auf sein Spiegelbild erhaschte, erschrak er immer ein wenig über die Falten, die sich in seine Stirn gegraben hatten. Inzwischen hatte er aufgehört, die grauen Haare zu zählen, die seinen dünner werdenden, mahagonibraunen Schopf durchzogen.
In den sandigen, dämmrigen Straßen spielten Kinder mit Kieseln und Muschelschalen und bauten Burgen aus Treibholz. Den düsteren Prophezeiungen zum Trotz, was die Nachkommen von Verbrechern, die in einer Strafkolonie geboren wurden, betraf, waren diese Kinder viel weniger gesetzlos als die in den Slums von Dublin und London. Michael nahm an, dass es daran lag, weil ihr Spielplatz vom indigofarbenen Meer bis zum silbergrünen Buschwald reichte, wo sie kleinen Beuteltieren und schillernden Papageien hinterherlaufen und eine beeindruckende Auswahl an Insekten jagen konnten, die zu groß für ein Marmeladenglas waren.
Der westliche Rand Sydneys war von einer Salzwasser-Lagune umgeben. Diese bildete die natürliche Grenze zwischen dem Land, das zum Stadtgebiet erklärt worden war, und dem Gebiet, das immer noch von den Eingeborenen als Jagdgrund genutzt wurde. Nur Kinder wagten sich auf die andere Seite der Lagune und fingen zusammen Schildkröten mit den Eingeborenen, die großartige Jäger waren.
Gelegentlich erklärte sich Jarrah bereit, die Polizei als Fährtensucher zu unterstützen, obwohl entkommene Gefangene wesentlich öfter tot als lebendig gefunden wurden. Sein Stamm der Eora hatte die Jagdgründe entlang der Küste bewohnt, bis Guv Philip es für angebracht hielt, den Grund für seine Kolonie zu beanspruchen. Michael war mit seinem Mitgefühl für die ursprüngliche Bevölkerung nicht allein. In Sydney gab es viele Iren, die wussten, was es bedeutete, von einem Engländer vom eigenen Grund und Boden vertrieben zu werden. Michael hatte großen Respekt vor den Eingeborenen. Jarrah konnte selbst nach einem Sandsturm, einer Sintflut oder einem Buschfeuer noch eine Spur finden. Aber wenn er selbst nicht von den Weißen belästigt werden wollte, wurde er einfach unsichtbar.
Die Gefangenen, die den großen Rinderfarmen zugeteilt worden waren und das nur schwer pflügbare Land bearbeiteten, erzählten Geschichten von alten Männern, die länger als eine Stunde reglos und nackt wie eine Statue auf einem Bein mit erhobenem Speer darauf warteten, bis ein Tier aus seinem Loch kam. Kopfschüttelnd berichteten sie von jungen Jägern, ja von Kindern, die lautlos wie ihr eigener Schatten auf der Jagd nach einem Opossum oder irgendeinem Reptil durch das trockene Unterholz krochen. Michael war nicht in dieses Land gekommen, um es für sich zu beanspruchen. Daher war für ihn offensichtlich, dass diese Ureinwohner die rote Erde ehrten und in einer Weise mit ihr verbunden waren, wie es Christen niemals sein würden.
Dan, der Wollhändler, der seine Strafe abgebüßt und beschlossen hatte zu bleiben, stand auf dem Gehweg vor seinem Laden. »Was für ein schöner Abend, Mister Kelly.«
»Stimmt, Dan. Und, wie läuft das Geschäft?«
»Kann nicht klagen. Aber wenn, würd ich sagen, es ist nicht das beste Wetter für Wolle.«
»Aye. Schon am Verschiffen?«
»Ende des Monats schicken wir unsere erste Ladung Selbstgesponnenes nach Bristol. Gibt jetzt ’nen Garnfärber bei den Baracken.«
»Mal an Dublin gedacht?«
»Kann ich nicht behaupten, Mister Kelly, warum?«
»Nun, es gibt bestimmt viele Händler in Dublin, die gerne Garn oder Tuch kaufen würden, ohne ihr Silber an die Krone zu zahlen.«
»Verstehe. Werd drüber nachdenken.«
»Tun Sie das, Dan. Und Grüße an Ihre Frau.«
Der Wollhändler tippte an seine Kappe und verriegelte den Rest seiner Fensterläden. Michael ging weiter in Richtung Harp and Shamrock, einer Kneipe.
Der heiße, trockene Atem des Tages hielt an, und Michael war durstig. Die Jahreszeiten hier waren genau umgekehrt, so dass man im November bereits die Gluthitze des Sommers erahnte. Die George Street war neu und sauber, der Sandstein, den sie aus den nahe gelegenen Klippen gebrochen hatten, noch blass und unverwittert. Hier gab es alle Gebrauchsgegenstände wie in jeder Stadt der westlichen Welt, und doch lag sie so weit im Osten, dass sie nicht als Teil dieser Welt betrachtet wurde. Wer würde schon glauben, dass er jeden Tag an mehr Kirchen und Banken vorbeikam, als sich auf einer ähnlichen Strecke in London fanden; dass er in seiner Dachkammer neben einem Mietstall über einem Professor für Klavier und Harfe wohnte; und dass man französische Körbe und ausgefallenes Gebäck kaufen konnte. Er hatte das von der Kolonie auch nicht erwartet. Er hatte nur von Gesetzlosigkeit und Skorbut gehört, zwei Dinge, denen er früher schon begegnet war und für die er wenig übrighatte. Natürlich gab es auch hier Verbrechen und Krankheiten und Schlimmeres, aber es hatte doch jeder florierende Ort mit seiner Fassade aus Höflichkeit und Ehrbarkeit auch seine Schattenseiten.
Gelegentlich sprangen die Kinder, die in der George Street spielten, zur Seite, um einem Ochsengespann auszuweichen, das mit Weizen und Merinowolle hochbeladen war, oder einer Kutsche, die einem der jüdischen Bäcker aus der Pitt Street gehörte. Oder, was selten vorkam, einer Dame. Ein solches Wesen unterbrach die Spiele der Kinder immer, egal, ob sie der Kutsche ausweichen mussten oder nicht. Der Anblick von weißem Musselin und einem hellen Strohhut war ein echter Blickfang, da ging es auch Michael nicht anders. Der Anblick einer Dame, selbst wenn es nur die Frau eines Händlers war, war ein kühlendes Labsal in diesem überhitzten Land der Verbannten und Sträflinge. Man begegnete ihr mit Neid und Neugier, mit Abneigung oder Begierde. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass sie frisch und rein war wie sauberes Leinen und deswegen eine Augenweide für ihn darstellte, der sonst den ganzen Tag nur Männer, Maurerarbeiten und Hobelspäne sah und nachts eine mit Tinte verschmierte Druckerpresse.
Michael ging jetzt neben dem Gehweg, um einem weiteren Murmelspiel auszuweichen. An manchen Tagen erinnerte ihn alles daran, dass der Preis für den Gewinn der Industriellen das Leiden der Kinder war. Die Opiumhändler würden sich nie mit dem Galgen oder einem stinkenden Gefangenentransport konfrontiert sehen. Es gab hier mehr Land, als ein Ire sich nur erträumen konnte. Und das bedeutete Merinowolle, Zedernholz und Weizen, und Handel mit Indien und China. Das bedeutete Silber, die einzige Währung, die der Kaiser von China für seinen Tee akzeptierte. Alle waren hinter Silber her. War es selbst den wenigen aufrichtigen Männern in Whitehall entgangen, dass der Westen durch ein anregendes Gebräu aufblühte, das es dem Osten ermöglichte, seinen Verstand mit Opium zu betäuben? Michael hatte allmählich den Eindruck, dass England vorhatte, China zu einer Kolonie zu machen, indem es die gesamte Bevölkerung in die Bewusstlosigkeit stürzte.
Michael seufzte wegen der unangenehmen Gedanken, die er sich machte. Annie hätte ihm gesagt, er solle lieber an irgendetwas Schönes denken und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Heute Abend war er auf dem Weg zum Harp and Shamrock, und das war auf jeden Fall etwas Schönes.
Vom oberen Salon aus hatte man die beste Sicht auf den St. Stephens Green Park, der an diesem Morgen unter einer dichten Nebeldecke lag. Ernst wirkende Herren mit schwarzen Frackschößen und Spazierstöcken tauchten auf und verschwanden wieder, wie Erscheinungen. Soweit Rhia das beurteilen konnte, handelte es sich jedoch nicht um Geister, sondern um Männer mit durchaus weltlichen Anliegen in ihren Büros und Kanzleien. Es war die Tageszeit, zu der das Licht immer wieder plötzlich ganz hell wurde. Wenn sie die Augen zusammenkniff und sich konzentrierte, würde in den sich ständig verändernden Mustern zwischen Bäumen und Nebel vielleicht ein Motiv auftauchen. Seit dem Brand hatte sie ihren Malkasten nicht mehr öffnen mögen. Ihre Gedanken waren rastlos, und sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Ryans Brief lag immer noch auf der Fenstersitzbank, wo sie ihn hatte fallen lassen. Jetzt hob sie ihn wieder auf und las ihn erneut, während sie vor dem Fenster auf und ab ging.
China Wharf, London
7. November 1840
Meine liebe Brigit,
Deine vernichtenden Nachrichten haben mich über die Maßen erschüttert, und ich bedauere zutiefst, dass ich London in diesem Monat nicht verlassen kann. Wie typisch für Dich, den Blick sofort auf all das zu richten, wofür Du dankbar sein kannst: das Leben meines Bruders, das Cottage Deiner Mutter und Deine und Rhias Fertigkeiten und Erfahrung.
Ich war so frei, Eure Situation mit einer kürzlich verwitweten Freundin zu erörtern. Antonia Blake ist eine Frau von bestem Charakter und hat außerdem viel Geschäftssinn. Sie gehört den enthaltsamen Quäkern an, aber man findet keine großzügigere Seele. Ihr Ehemann Josiah, mein Freund und Geschäftspartner, kam in diesem Sommer auf tragische Weise ums Leben, als er geschäftlich in Indien zu tun hatte.
Mrs Blake hat Rhia eingeladen, bei ihr in der City von London, einem dynamischen und aufregenden Viertel der Hauptstadt, zu wohnen. Sie sagt, etwas weibliche Gesellschaft würde ihr guttun. Ganz offensichtlich fehlt ihr Josiah schrecklich. Ich würde Rhia ja gerne selbst ein Quartier anbieten, doch ich habe kürzlich meine Wohnung in der City aufgegeben und bin in meine Büroräume am China Warf gezogen.
Antonia hat mir versichert, dass es für junge Damen mit gutem Leumund eine Vielzahl an Stellungen gibt, die täglich in den Londoner Zeitungen annonciert sind. Würdest Du es Rhia gestatten, in die Hauptstadt zu reisen? Eine junge, intelligente Frau wie sie würde ohne Schwierigkeiten eine Anstellung als Gouvernante oder Gesellschafterin finden. Außerdem weiß ich, dass Connor sie nur zu gerne verheiratet sehen würde. In einer modernen Stadt wie London ist es für eine temperamentvolle Achtundzwanzigjährige durchaus immer noch möglich, einen Ehemann zu finden. Es ist zumindest eine Möglichkeit, die Du in Erwägung ziehen könntest.
Ich muss mich ständig selbst daran erinnern, dass ich diesen Herbst keine Ladung Leinen aus Dublin erhalten werde, aber der Markt verändert sich gerade sowieso sehr rasch. Der Importpreis für amerikanische Baumwolle ist kürzlich stark gesunken, da Londoner Tuchmacher und Kleiderhändler die neuen Stoffe aus Mischmaterial ans Lager nehmen. Es sind aufregende Zeiten und ein ständig wachsendes Geschäft. Natürlich habe ich seit Jahren versucht, meinen Bruder davon zu überzeugen, dass handgewebter Stoff keine Zukunft haben wird.
Connor vertraute mir im Sommer an, wie es um Mahoney-Leinen bestellt ist, und ich hatte gehofft, ihm inzwischen helfen zu können, aber die Sache ist leider kompliziert. Das liegt nicht nur daran, dass ich nicht länger an eine Zukunft für die althergebrachten Produktionsmethoden glaube. Zudem habe ich im Moment keinen Zugriff auf meine finanziellen Mittel.
Lass mich wissen, wie Du Dich in Bezug auf Mrs Blakes Angebot entscheidest. Ich würde mich sehr freuen, Rhia in London zu haben. Aber die Entscheidung liegt bei Euch beiden.