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Der Weg ist das Ziel auf der Suche nach der Wahrheit des eigenen Herzens Während der Kampf um die englische Krone tobt, sucht Thomas Malory fieberhaft nach den Erzählungen der berühmten Artussage. Er will die über das Land verstreuten Manuskripte zum ersten Mal ins Englische übersetzen und als Buch herausgeben. Heimlich unterstützt ihn dabei ausgerechnet Königin Elizabeth, die Frau von Malorys erbittertem Feind König Edward IV. Und noch eine Frau hilft ihm: Die Adelige Elayne, einst die engste Freundin der Königin, gewährt ihm Unterschlupf. Malory liebt beide Frauen und hat so ihre Freundschaft zerstört. In der bezauberndsten Geschichte über Artus und die Ritter der Tafelrunde schafft Malory ein Kunststück. Seine Übersetzung der Gralsgeschichte feiert die Suche nach der wahren Liebe und verewigt seine eigene tragische Dreiecksbeziehung in der Romanze von Ritter Lanzelot, Königin Guinevere und Lady Elaine von Astolat.
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Seitenzahl: 504
Über das Buch und die Autorin
Titelseite
Impressum
Widmung
September 1486
31. Juli 1485
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
31. Juli 1485
September 1486
Dank
Die Autorin
Kylie Fitzpatrick wurde in Kopenhagen geboren und wuchs in Australien auf. Sie arbeitete für Spiel- und Dokumentarfilmproduktionen in England und Los Angeles. Heute unterrichtet sie an der Bath Spa University und lebt mit ihrer Tochter in Somerset.
Das Buch
Der Weg ist das Ziel auf der Suche nach der Wahrheit des eigenen Herzens.
Während der Kampf um die englische Krone tobt, sucht Thomas Malory fieberhaft nach den Erzählungen der berühmten Artussage. Er will die über das Land verstreuten Manuskripte zum ersten Mal ins Englische übersetzen und als Buch herausgeben. Heimlich unterstützt ihn dabei ausgerechnet Königin Elizabeth, die Frau von Malorys erbittertem Feind König Edward IV. Und noch eine Frau hilft ihm: Die Adelige Elayne, einst die engste Freundin der Königin, gewährt ihm Unterschlupf. Malory liebt beide Frauen und hat so ihre Freundschaft zerstört.
In der bezauberndsten Geschichte über Artus und die Ritter der Tafelrunde schafft Malory ein Kunststück. Seine Übersetzung der Gralsgeschichte feiert die Suche nach der wahren Liebe und verewigt seine eigene tragische Dreiecksbeziehung in der Romanze von Ritter Lanzelot, Königin Guinevere und Lady Elaine von Astolat.
Kylie Fitzpatrick
Roman
Aus dem Englischen von Marion Balkenhol
List
Neuausgabe bei Refinery
Refinery ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Mai 2019 (1)
1485 erschien in der Buchdruckerei von William Caxton in London Thomas Malorys Le Morte d'Arthur, der erste große Artus-Roman in englischer Sprache.
In ihren Zitaten aus Le Morte d'Arthur hat Kylie Fitzpatrick sie die Freiheit genommen, die Vorlage weiter zu bearbeiten.
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
© 2008 by Kylie Fitzpatrick
Titel der englischen Originalausgabe: The Book of Astolat
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Autorenfoto: © Ben Taylor
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-96048-238-3
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Für Saoirse, meinen Gral
Von allen Gotteshäusern zwischen Westminster und Saint Paul’s läuten die Glocken, seit vor drei Tagen Henry Tudors Sohn getauft wurde. Er soll Arthur heißen.
Bis zuletzt hatte ich eigentlich nicht vor, der Niederschrift dieser kurzen Historie meine Zeit zu opfern, wenngleich man mich vor Jahren darum bat. Inzwischen jedoch habe ich meinen Irrtum erkannt.
Nach unserer Kenntnis und sofern es alten Bänden in der Klosterbibliothek zu entnehmen ist, galt der Gral in früheren Zeiten nicht als Kelch des letzten Abendmahls. Die Legende soll von dem klugen französischen Hofdichter Chrétien de Troyes stammen, auch wenn manch einer behauptet, er habe Ende des zwölften Jahrhunderts nur niedergeschrieben, was walisische Barden seit Urzeiten mündlich überlieferten.
Ich bin Franziskaner, demzufolge liegt es mir fern, die römisch-katholische Kirche zu kritisieren. Als Gelehrter und Restaurator alter Bücher aber habe ich das Bedürfnis zu begreifen, warum bestimmte Erzählungen so lebhaft in unseren Herzen nachklingen. Zu Lebzeiten von Chrétien stand die römisch-katholische Kirche auf Kriegsfuß mit allem, was ihre Autorität bedrohte; das waren nicht nur die Ungläubigen aus der Heiligen Stadt Jerusalem, sondern auch die Tradition, Geschichten aus alter Zeit mündlich zu überliefern – so etwa die Erzählung von einer Göttin des Landes, Souveränität, die bei den Walisern Herrin der Quelle heißt, und ihrem königlichen Gemahl.
Um diese Geschichte rankt sich Chrétiens größter Ritterroman, die Erzählung vom Gral.
Zuweilen überliefert die Menschheit eine Tradition gerade durch ihre Unterdrückung – was freilich eine gewisse Ironie mit sich bringt. In der überlieferten Erzählung von der Herrin der Quelle und dem König verödet das Land der Göttin, wenn es nicht gepflegt und behütet wird, und mit der Fruchtbarkeit des Landes schwinden auch die Zeugungskraft des Königs und das Wohlwollen des Volkes.
In seinen Ritterromanen erzählte Chrétien de Troyes die gängigen Geschichten von König Arthur nach und ergänzte sie; alte Erzählungen waren das, die das walisische Volk über Jahrhunderte hinweg bewahrt hatte. So war Chrétien der Erste, der die Erzählung vom Gral und Lancelots Geschichte niedergeschrieben hat, und zwar in einer Form, die nach französischer Mundart romance heißt. Merlin und Guinevere, König Arthurs Gemahlin, entstammen walisischen Legenden und haben angeblich tatsächlich gelebt. Bei Chrétien aber wird Guinevere zur Geliebten Lancelots und zur Ehebrecherin. Aus Überlieferung und Mythos entsteht so eine Geschichte.
Dass die Legende vom Gral zu einer Zeit auftauchte, in der die Reiche Europas sich gegeneinander wandten, Könige einander töteten, Frauen entrechteten und Länder verwüsteten, kann nur als Zeichen ihrer Bedeutsamkeit gelten. Aber ich will mich nicht in Politik und Geschichtsschreibung verlieren …
In Chrétiens Erzählung vom Gral geht es um einen Ritter namens Perceval, der die Bedeutung einer seltsamen Prozession herausfinden muss, der er im Schloss des Fischerkönigs beiwohnt. In dieser Prozession trägt eine Jungfrau einen reich mit Edelsteinen besetzten Gral, und ein Page trägt eine Lanze, aus der Blutstropfen dringen.
Der Fischerkönig, so genannt, weil er infolge einer Wunde zwischen den Schenkeln nicht mehr jagen, sondern nur noch fischen kann, hat seine Zeugungskraft verloren, und folglich ist sein Königreich verödet. Er wartet auf seine Heilung. Wenn nur jemand das Mitgefühl aufbrächte, nach der heilenden Kraft des Grals zu fragen, danach, wem er dient, dann würden Land und König wieder gesund. Perceval jedoch will nichts von dieser mysteriösen Prozession wissen, zu groß ist seine Angst, für einen Narren gehalten zu werden.
Der törichte Perceval verlässt die Burg und wird schon bald über seinen Fehler in Kenntnis gesetzt. Er versucht, zur Burg des Fischerkönigs zurückzugelangen, muss jedoch viele Mühen überstehen.
Im Grunde ist die Geschichte des Grals die Geschichte eines jeden Mannes und handelt davon, wie wir uns auf der Suche nach Antworten in Gefahren begeben, die überall auf uns lauern. Chrétien de Troyes hat seinen Ritterroman, der heute den Titel Perceval trägt, nicht beendet, die Gelehrten gehen davon aus, dass er starb, bevor er des Gralsrätsels Lösung niederschreiben konnte.
Ich muss den letzten Teil dieses kurzen historischen Abrisses hastig erzählen, denn gleich erscheint der Novize zu seinem Unterricht. Er ist ein kluger Junge, und ich bringe ihm bei, wie man schreibt, wie man eine Feder benutzt und die Pigmente mischt, die wir verwenden, um Buchmalereien zu restaurieren.
Nach Chrétiens Tod bearbeiteten gelehrte Brüder des Zisterzienserordens seinen Perceval. In ihrer Fassung verlassen eine Reihe christlicher Ritter Arthurs Hof, um einen leuchtenden Gral zu erlangen, den man über der Tafelrunde hat schweben sehen. Dieser neue Gral besitzt magische Kräfte und vermag eines jeden Wünsche zu erfüllen.
Nach mannigfachen Kämpfen und langer Suche überleben drei Ritter: Perceval, Bors und Galahad. Sie gehen an Bord eines Schiffes, das der biblische König Salomo durch die Zeiten geschickt hat, um die heilige Insel Sarras zu erreichen. Hier sieht Galahad Gott im Gral, und hier steigt der Gral zum Himmel auf. Galahad, der Andächtigste unter den Rittern, geht mit.
Die römisch-katholische Kirche heißt die Erzählung der Zisterzienser gut – nicht die von Chrétien de Troyes –, denn in der Tat sind die Ritter in der Suche nach dem Heiligen Gral fromm wie Priester und streben nach Heiligkeit.
Welche Fassung der Erzählung tatsächlich angemessener ist, vermag ich nicht zu sagen.
Ich gestehe, dass die Person, die mich aufgefordert hat, dies zu schreiben, Arthurs Taufe als Zeichen dafür deutet, dass der König aufs Neue nach dem Gral suchen wird; jedoch kann ich mich dazu jetzt nicht weiter äußern, denn der Novize ist schon auf der Treppe und kommt zu seinem Unterricht.
Nachdem ich bereits mannigfache geschichtliche Werke sowohl zur Philosophie als auch zu den historischen und weltlichen Taten großer Eroberer und Prinzen erstellt und vollendet hatte, ebenso wie bestimmte Exempelbücher und Doktrinen, bat mich ein edler Herr aus diesem Königreich England, die Geschichte des Heiligen Grals und des berühmtesten christlichen Königs, König Arthur, zusammenzustellen und zu drucken, an den wir Engländer uns vor allen anderen christlichen Königen erinnern sollten.
Um besagtes Buch zu vollenden, das ich an alle Prinzen, Lords und Ladys richte, an alle Herren und Damen, die von der edlen und erquicklichen Geschichte König Arthurs lesen oder hören wollen, präsentiere ich, William Caxton, von schlichter Herkunft, nachfolgenden Text, dessen Druck ich gewagt habe: eine Abhandlung edler Taten, ritterlicher Waffentaten, von Tapferkeit, Unerschrockenheit, Menschlichkeit, Liebe, Höflichkeit und großer Zärtlichkeit, voller wunderschöner Geschichten und Abenteuer.
Und dieses Buch zu lesen soll ein erfreulicher Zeitvertreib sein, doch zu glauben und darauf zu vertrauen, dass alles hierin Enthaltene der Wahrheit entspricht, obliegt dem geneigten Leser.
William Caxton
Le Morte d’Arthur, Vorwort
Und als die Mette und die erste Messe vorbei waren, sah man auf dem Kirchhof, dem Hochaltar gegenüber, einen großen viereckigen Stein, ähnlich einem Marmorblock, und in der Mitte war etwas wie ein stählerner Amboss, etwa einen Fuß hoch, und darin stak ein blankes Schwert, als wäre es ganz hineingestoßen, und um das Schwert herum standen goldene Buchstaben, die besagten:
Wer immer dieses Schwert aus diesem Stein und Amboss zieht, der ist rechtmäßig geborener König von England.
So kamen zu Lichtmess viele große Herren dorthin, um das Schwert zu gewinnen, aber keiner konnte siegen.
Und zu Pfingsten versuchten allerhand Männer, das Schwert herauszuziehen, aber keiner vollbrachte es außer Arthur, der es vor den Herren und Gemeinen herauszog, die dort versammelt waren. Daraufhin riefen alle mit einer Stimme: »Wir wollen Arthur zu unserem König haben, denn wir alle sehen, es ist Gottes Wille, dass er unser König sei, und wer gegen ihn steht, den erschlagen wir.«
Le Morte d’Arthur
Über den Dächern von Cheapside wurde es gerade hell, doch William wünschte, der Tag wäre schon vorüber. Schaudernd zog er seinen Morgenrock fester um sich und sah zu, wie die Morgendämmerung den Fensterrauten allmählich einen hellen Glanz verlieh. Im Laufe der Nacht hatte er sich überlegt, seine Verabredung mit dem Italiener platzen zu lassen, doch das wäre flegelhaft und nicht mit seinem Ruf zu vereinbaren. Schließlich war er doch »der Buchdrucker, der Chaucer veröffentlicht hat«.
Außerdem war Malory ja längst tot.
William kratzte sich unter seiner Nachtmütze am Kopf. Seine Augen fühlten sich an wie Blasebälge, und der nagende Schmerz war wieder da, irgendwo zwischen Herz und Bauchnabel. Er hatte Korrekturen und Kürzungen an Malorys Manuskript vorgenommen – das tat er eigentlich bei all seinen Büchern, aber jetzt empfand er es als eine drückende Last. War es ihm schon einmal so ergangen? Er müsste sich daran erinnern, er hatte viele Bücher übersetzt und noch mehr gedruckt. Warum fühlte er sich einem unbekannten und unbedeutenden Autor so verbunden? Vielleicht war es ja nur die Sorge, dass er seine Zeit vergeudet hatte und sich von der anfänglichen Begeisterung darüber, die beliebteste Erzählung schlechthin zu drucken, hatte täuschen lassen. Er musste verrückt sein, nach Aesop eine Sammlung höfischer Ritterromane herauszubringen, die ein Krimineller übersetzt hatte …
Es klopfte leise an der Tür, und William wandte sich vom Fenster ab.
»Herein«, sagte er.
Maude trat ein, in ihrem weiten Hausmantel aus Brokat, das schwarze, mit Silbersträhnen durchsetzte Haar zu Zöpfen geflochten, das Gesicht noch vom Schlaf gerötet. Sie schliefen jetzt nur noch selten in derselben Kammer, denn seine Rastlosigkeit hielt Maude wach. Sie durchquerte den Raum mit entschlossenen Schritten, die er nur allzu gut kannte. Als sie bei ihm war, band sie sein Nachthemd auf und begann, seine Schlaffheit zu beleben. Er öffnete schon den Mund, um zu protestieren. Er war müde und wohl unpässlich, aber Maude brachte ihn mit hungrigen Küssen und geübten Fingern zum Schweigen. Sie sank zu Boden, und William verging das Bedürfnis zu protestieren. Seine Frau war kühn wie eine Hure, wenn es sie überkam.
Er vergaß, dass er sich für müde und unpässlich gehalten hatte.
Als sie danach still auf dem Teppich lagen, sah er ihr an, dass er sie nicht befriedigt hatte. Ihre Finger waren in ihren Schamhaaren verheddert, ihr Atem ging schnell und unregelmäßig, bis sie die Geräusche von sich gab, die er liebte. Sie keuchte und zuckte und blieb schließlich still liegen.
»Verzeih«, sagte er. »Ich war in Gedanken woanders.«
»Das ist beleidigend«, erwiderte sie lakonisch. »So etwas solltest du der Frau in deinem Bett nie sagen.«
»Aber wir liegen auf dem Boden.«
»In der Tat. Nun, du kannst es ein andermal wiedergutmachen.« Sie stützte sich auf den Ellbogen und schaute ihn an. »Heute Morgen willst du also Arthur et les Chevaliers beim Buchbinder abholen?« Maude nannte den Malory gern Arthur et les Chevaliers. Sie war Französin und hatte die Geschichten von Lancelot und Perceval mit der Muttermilch eingeflößt bekommen. Sie besaß in solchen Fragen ihre eigene Meinung.
»Ja«, erwiderte er zögernd.
»Und warum bindet ihr das Buch nicht selbst, sondern lasst den Italiener das machen?«
Maude interessierte sich zwar für die Druckpresse, zeigte ihr Interesse aber für gewöhnlich nicht so deutlich.
»Wir hatten zu tun«, sagte William nur.
Maude zog die Augenbrauen hoch. Ihr Mann hatte immer zu tun.
»Ich wollte … etwas Besonderes«, gab er zu. »Er bindet nur die beiden Fassungen, die ich auf Pergament gedruckt habe. Die eine ist natürlich für den König.«
Sie nickte zustimmend. »Wie viele hast du auf Papier gedruckt?«
»Zweihundert Stück.«
Maude riss überrascht die Augen auf.
»Die Leute zeigen Interesse. Man verlangt danach.«
»Wonach?«
»Nach Zauberei, nach Verzauberung. Trotz der schwierigen Zeiten.«
»Oder gerade deswegen«, überlegte Maude. »Das ist doch wunderbar, Will! Vielleicht musst du noch mehr drucken.«
»Warten wir es ab.«
Er selbst befürchtete, es könnte heißen, die Erzählungen von Arthur hätten niemals ins Englische übersetzt werden sollen; Malory hätte sie zu sehr modernisiert oder zu stark abgewandelt.
Das waren in der Tat gewichtige Einwände. Die Erzählungen, aus denen Le Morte d’Arthur bestand, waren von nah und fern zusammengetragen worden, aus anderen Ländern und anderen Jahrhunderten. In den dreihundert Jahren, seitdem Chrétien de Troyes sie zuerst niedergeschrieben hatte, war allein der Perceval Wynken zufolge häufiger als jede andere bekannte Geschichte bearbeitet und kopiert worden. Wynken war Williams Partner in der Druckpresse, und er kannte sich in solchen Dingen aus – er kam aus dem Elsass.
William hatte das weitschweifige Manuskript in Kapitel unterteilt und sich noch weitere Freiheiten herausgenommen, doch nur er und Wynken wussten über die vielen ausgelassenen Seiten Bescheid. Die Menschen hätten die endlosen Schilderungen der Schlachten zwischen Römern und Angelsachsen wohl kaum ertragen, aber man musste ihnen ja nicht auf die Nase binden, dass ein Drucker in seiner Umsicht auch sparsam zu denken hatte. Maude würde ihm nie verzeihen, wenn sie herausbekäme, dass er in Arthur et les Chevaliers eingegriffen hatte, aber er konnte nicht anders. Er hatte mit diesem Vorhaben als Übersetzer begonnen, der er noch immer war.
»Welches Wams ziehst du an?«, fragte Maude, als er die Decke vom Bett herabzog und über sie beide breitete.
Er hatte noch nicht darüber nachgedacht. Sie war die Expertin. »Das grüne?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Rot. Rot bedeutet, du bist der Meisterdrucker, der stolz auf seine neue Arbeit ist.«
»Na schön«, brummte er, »dann das rote.« Er spürte, wie ihn der Schlaf übermannte. Es war noch früh.
»Komm, mein Schatz«, sagte er verschlafen, »wir wollen die Eiderenten würdigen, die gestorben sind, um meine Matratze zu füttern.«
Im Halbschlaf dachte William, dass dieses Buch trotz allem von der Mühe und reichen Phantasie seines Autors zeugte. Nur ein wahrer Poet konnte von Liebe, Rittertum und Zauberei schreiben, während er im Gefängnis saß.
Später arbeitete Maude im vorderen Zimmer an ihrer Spindel, ihre Rise war glatt und weiß. William fragte sich flüchtig, ob er sich die Nähe ihrer weichen Schenkel am frühen Morgen nur eingebildet hatte. Aber als sie ihn mit ihrem schiefen Lächeln anschaute, wusste er, dass es nicht so war.
Auf dem Tisch lag dunkles Brot mit gelber Butter, daneben stand ein Krug Ale. Nach einem kurzen Nickerchen war er weniger besorgt, wenngleich noch immer Zweifel an ihm nagten. Auch der Chaucer hatte ihm sehr am Herzen gelegen, auch damals war er vor dem Druck gereizt gewesen, aber das hier war anders. Ganze Völker erhoben schließlich Anspruch auf König Arthur.
Er nahm sein Frühstück ein und lenkte seine Gedanken in Richtung Westminster, wo der Tag in seiner Werkstatt im Red Pale auf ihn wartete. Die Leute besuchten die Werkstatt gern, um die Druckpresse zu besichtigen, aber sie erregte bei weitem nicht mehr so viel Aufsehen wie zu Anfang, als König und Königin persönlich vorbeigekommen waren, um sich die neue Erfindung anzusehen. Voller Ehrfurcht hatten Edward und Elizabeth den gestrengen Eichenrahmen und die frisch gedruckten, zum Trocknen aufgehängten Seiten betrachtet. Das erging den meisten Menschen nicht anders. Edward hatten natürlich vor allem die kommerziellen Möglichkeiten dieses Apparats interessiert, Elizabeths Begeisterung aber war anderer Natur. Sie erkannte, dass die Druckpresse die Menschen verändern würde. Von allen Büchern, die er druckte, bekam sie ein Exemplar.
Diese Zeit war vorbei.
Das Red Pale war von den Abteimauern aus zu sehen, hinter denen Elizabeth Woodville, legendäre Schönheit und vormals Königin, Zuflucht gesucht hatte, als Richard König geworden war. Die Mauern waren hoch, und die Klosteranlage war so sicher und still wie ein Gefängnis. William sagte sich wie schon so oft, dass die Gerüchte von der Ermordung der Prinzen des Hauses York nach wie vor nicht erwiesen waren. Ein Kesselflicker aus Gloucester, dem Herzogtum des Königs, hatte ihm zuerst davon erzählt. König Richard käme es natürlich gut zupass, wenn die beiden Söhne von Elizabeth Woodville tot wären – oder das Volk die Jungen zumindest für tot hielt.
Er spürte Maudes Blick auf sich ruhen, es war, als merkte sie, dass er an eine andere Frau dachte. Allem Anschein nach hatten sie an diesem Morgen weniger Differenzen als sonst. Sie hatte, was sie von ihm wollte. Beinahe jedenfalls.
»Die Sonne steht höher, als es sich zur Frühstückszeit geziemt«, sagte sie.
»Ich bin spät dran«, gestand er ein. »Der Italiener wird glauben, ich hätte ihn vergessen.«
»Bringst du eins mit nach Hause?«, fragte sie.
»Selbstverständlich.«
Sie bewahrte die Bücher in der Truhe im Schlafzimmer auf, zusammen mit ihrem Hochzeitsgewand und den Silberperlen, die er ihr geschenkt hatte. Maude hortete die Bücher nicht, um ihren Wohlstand zur Schau zu stellen wie manche andere, sie hielt sie für wahre Schätze. Sie kannte auch den Preis eines jeden Buches, nicht nur in Guineen: Jedes neue Buch kostete die Zeit, die er einst ihr gewidmet hatte. Sie musste keine andere Frau fürchten, sie wussten beide, dass die Druckpresse seine Geliebte war. Was für ein Geschäft. Mal war er so unbeschwert, dass er hätte fliegen können, dann wieder brachten ihn die Unvollkommenheit eines Wortes, ein Tintenklecks oder ein Loch im kostbaren Pergament schier zur Verzweiflung. Er küsste Maude auf den Mund, was nicht alltäglich war. Sie schaute ihn überrascht an.
»Bekomme ich meinen Mann zurück, da dieses Buch nun fertig ist?« Ihr Blick aus Augen, die so dunkel waren wie Mordreds Herz, bohrte sich in sein Gewissen. Doch wie konnte er sich einen solchen Gedanken anmaßen? Er war kein Poet, wie Maude ihm ja immer wieder gern bestätigte.
Lügen wäre zwecklos.
»Ich muss weitermachen, meine Geliebte.«
»Fürchtest du dich vor dem Tod, Will? Hörst du deshalb nicht auf? Du wirst bald sterben, wenn du wie der Teufel schuftest.«
Auch diese Wendung ihrer Unterhaltung war nicht neu.
»Ich verspreche, einen ganzen Tag mit dir zu verbringen, bevor ich sterbe, meine Geliebte.«
Verärgert neigte Maude sich über ihre Handarbeit.
Dass er sie permanent enttäuschte, tat ihm selbst weh, Müßiggang jedoch schmerzte ihn noch mehr. »Vergiss nicht, heute ist das Lammas-Fest«, sagte sie, ohne aufzuschauen.
William hatte es vergessen. Er trat in den hellen Morgen hinaus und beschloss, sich in der Kirche blicken zu lassen. Maude würde ihn später fragen, und zumindest damit könnte er ihr eine Freude bereiten. Das Erntefest war ein alter Feiertag. Heute würde sie einen besonderen Brotlaib backen, wie einst ihre Großmutter, und ihn um Mitternacht in vier Teile schneiden, die sie auf die vier Zimmerecken verteilte.
Ein Spaziergang am Flussufer verschaffte William genau die Zeit zum Nachdenken, die er brauchte. Allerdings führte der Weg nach Southwark über die London Bridge, und zu dieser Morgenstunde wurde man dort unweigerlich aufgehalten. Bestimmt würde ein Buchhändler am Paul’s Churchyard über flämisches Papier mit ihm sprechen wollen. An jedem anderen Tag wäre William nichts lieber gewesen, als sich über die Qualität von Papier oder Tuch vom Kontinent auszulassen und dessen höheren Preis im Vergleich zu den billigeren, aber schlechteren Waren aus England zu rechtfertigen.
Heute aber wich William Begegnungen dieser Art aus und eilte mit gesenktem Kopf zum Fluss hinunter. Als sein Blick die blutigen Piken der London Bridge streifte, schlug er die Augen nieder. Der Anblick setzte Maude noch immer zu – an jenem Sommerabend des Jahres 1476, als sie die Themse hinaufsegelten, hatte sie die Häupter zuerst erblickt.
Die Lage in Burgund und Flandern hatte sich verschlechtert. Übermäßige Steuern und Handelsbeschränkungen führten einen Großteil der Städte, die William liebte, in den Ruin. Er mochte den Zerfall nicht mit ansehen, es war zu erbärmlich. Mit unseligen Verhältnissen konnte er nicht gut umgehen. Maude sagte, er jage ständig dem Sonnenschein hinterher und ertrage schlechtes Wetter nicht. Das mochte ja so sein, aber was verstand sie schon davon? Maude stammte aus Frankreich, dem Land, in dem Leidenschaften aufflammten und erkalteten, je nach dem Geschmack des Weins oder der Webart des Tuchs.
Auf der London Bridge wurde lebhaft Handel getrieben. Die Tavernen füllten sich, und die Straßenverkäufer wetteiferten um Kunden. Die Betriebsamkeit auf der Brücke ließ selten nach, ob die Leute nun Brot oder ihr Hinterteil verkauften. William hatte das Gefühl, in seinem roten Wams zwischen den dunklen Tuniken und Kniehosen aufzufallen.
»Gott sei mit Euch, wollt Ihr Ohrringe kaufen?«
»Darf es eine hübsche fette Gans sein, Squire?«
»Ein Schweinefuß gefällig? Eine heiße Pastete zum Mittagessen?«
William eilte weiter.
Er kam am Head on a Pole vorbei, der Taverne, in der er auf seinem Weg von oder nach Southwark bisweilen gern einkehrte. Aber er sollte längst in Westminster sein.
Am staubigen Schlagbaum entlang setzte sich das Gedränge fort, Kinder spielten im Pferdedreck, Gänse pickten am Wegesrand. Ein Straßenbengel zupfte William am Ärmel. Er bemerkte es kaum. Seit geraumer Zeit schenkte er der Welt weniger Aufmerksamkeit. Mit seinen sechzig Jahren fand er das ganz normal – vielleicht war aber auch das Malorys Schuld. William und Wynken waren sich bis zu dem Tag, an dem sie die ersten Seiten druckten, nicht sicher gewesen, welchen Titel sie dessen umfangreichem Werk geben sollten.
Maude missbilligte den Titel Le Morte d’Arthur, Arthurs Tod.
»Arthur ist nicht gestorben«, behauptete sie mit einer Bestimmtheit, die ihm jeden Nerv raubte. »Er wurde von Viviane, der Herrin vom See, und den drei Königinnen auf die Insel Avalon gebracht.«
Er wandte ein, es habe keinen Sinn, ein glückliches Ende vorzutäuschen, schließlich wisse jeder, dass Arthur durch Mordreds Hand sterben werde. Der Tod komme zu jedem, argumentierte William dann, warum sollte man ihm nicht ins Auge blicken? Sie neckten sich gern, wer von ihnen mehr Angst vor dem Sterben hatte.
Neun Jahre war es nun schon her, dass sie in einer lauen Nacht von Brügge nach London gereist waren. Während der Überfahrt hatte er sich an Deck auf seine kostbare Truhe voller Tinten, metallener Lettern und Pergamentrollen gesetzt und sich Sorgen gemacht. Noch immer waren so viele Hindernisse zu überwinden. Zwar war er bereits Vorsitzender der Kaufmannsgilde, doch wer wusste, ob er für sein neues Handwerk nicht eine neue Gilde benötigen würde. Zweifellos kamen ihm seine gesellschaftliche Stellung und sein Wohlstand zugute, und ohne den Tuchhandel wäre er gar nicht in der Lage, die Druckpresse zu halten. Wenige Drucker überlebten mit dieser einzigen Einnahmequelle.
Zum Glück hatte er sich in Brügge mit Margaret von York angefreundet, der Schwester von König Edward. Er hatte sogar den König selbst kennengelernt, als Edward im Exil in Brügge weilte.
Edwards Regentschaft als König währte die ersten sechs Jahre des Red Pale, und all die Zeit über war Elizabeth, die Königin, Williams begeisterte Gönnerin. Als William sich Sorgen machte, dass die alteingesessenen Bruderschaften der Schriftsteller und Schreiber eine Druckpresse mitten in London als Bedrohung empfinden könnten, zog Elizabeth den neuen Abt von Westminster, John Esteney, zu Rate. Kurz darauf wurde William das Red Pale auf dem Klosteranwesen zur Verfügung gestellt. Westminster war ideal, weil hier die Adligen und die Tugendhaften lebten. Den Vorteil wohlhabender Nachbarn sollte man nicht unterschätzen.
In jener Nacht ihrer Ankunft in London hatten Kohlenpfannen gebrannt, und aus den Tavernen im Hafen war der Gesang von Betrunkenen zu hören gewesen. Er und Maude waren nach der anstrengenden Überfahrt zu Tode erschöpft und gereizt, und William fragte sich, ob es richtig gewesen war, nach London zurückzukehren. Außerdem sorgte er sich, was Maude wohl von dieser Stadt und seinen Landsleuten halten würde. Er hatte ihr Entsetzen gesehen, als sie die mit ausgehöhlten grauhaarigen Schädeln gekrönten Pfähle auf der London Bridge erblickte. In Williams Augen war London in den drei Jahrzehnten seiner Abwesenheit kultivierter geworden (von den Köpfen einmal abgesehen). Es gab mehr flämisches Tuch, und es gab mehr Bücher, Ziegelsteine und Fenster.
Southwark steht auf einem ganz anderen Blatt, dachte William, als er die London Bridge jetzt hinter sich ließ und an einer Bande Straßenjungen vorbeikam, die mit Stöcken im Flussschlamm stocherten. Zweifellos hofften sie auf einen vergrabenen Schatz, silberne Schuhschnallen etwa oder einen verlorenen Ring. So manch ein Londoner Adliger stieg von einem Fährboot in den Schlamm von Southwark, von Alkohol benebelt, ohne auf seine Habe zu achten. Hier am Südufer befanden sich all die Hurenhäuser, Bärenzwinger und Wettstellen, die nicht der Kontrolle durch die prüden Ratsherren Londons unterlagen. Hier hatten sich Chaucers unzüchtige Pilger versammelt, um ihre Reise nach Canterbury anzutreten.
William ging in östlicher Richtung am Fluss entlang, nur ein kurzes Stück, bis Cox’s Wharf, wo sich die Werkstatt des Buchbinders befand und direkt daneben die Hersteller von Pergament und Tinte ihre Werkstätten hatten. Es roch nach Galleiche und Hadernpapier. Der Gestank von verrottendem Lein ließ seine Augen tränen. Hier kaufte er sein Hadernpapier in vorgebundenen Lagen, wohingegen er Pergament und Leder lieber importierte. Die Engländer begriffen anscheinend nicht, wie wichtig die Beschaffenheit war, dass Vellum und Leder sich wie Samt und Seide anfühlen mussten, dass die Qualität des Materials der Qualität des Wortes gleichzukommen hatte. Wenn er es sich leisten könnte, würde er seine Bücher ausnahmslos auf Vellum drucken, dem einzigen Material, das den Zeiten standhielt. Wozu stellte man denn Bücher her, wenn sie die Menschheit nicht überdauerten?
Die sorgenvollen Gedanken ließen William nicht los. Was sollte er bloß tun, wenn der Italiener beim Absteppen des Buchrückens eine Lage ausgelassen oder den Band aus Versehen in Schweinsleder gebunden hatte? William schalt sich selbst. Er war ein Narr, sich schon wieder mit seinen Bedenken zu beschäftigen, nachdem Maude ihn so großzügig abgelenkt hatte. Er kam an einer neuen Druckerwerkstatt vorbei. Er hatte auch schon darüber nachgedacht, ob es nicht bequemer wäre, die Druckpresse nach Southwark zu verlegen, wo er umgeben wäre von Händlern seines eigenen Gewerbes, aber im Herzen Westminsters fühlte er sich sicherer. Dort gab es Geld, mit dem Abt stand er nach wie vor auf gutem Fuße, und seine Freunde musste man sich in Zeiten wie diesen sorgfältig aussuchen.
Das Lehmfachwerkhaus des Italieners stand so schief, dass William immer befürchtete, es könnte über ihm zusammenbrechen. In der Werkstatt drinnen häuften sich Buchbände in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung. Ungebundene Lagen türmten sich, und über die aufgebockten Tischplatten und auf dem Boden lagen Bündel aus losen Seiten verstreut. Von den Deckenbalken hingen getrocknete und ungetrocknete Häute herab, es roch nach gegerbtem Leder, Knochenleim und Papier. William drehte sich vor Aufregung der Magen um.
Zunächst wähnte er sich allein im Raum, dann nahm er eine Bewegung hinter einem Berg von Pergament wahr, und der Italiener tauchte auf. Seine Lederschürze, seine Kleidung und seine Haut waren ebenso umbrabraun wie sein Inventar. Er war ein kleiner, drahtiger Römer, dessen Englisch einen wohlklingenden Akzent hatte.
»Ah, Meister Caxton«, sagte er und verschwand schon wieder in den hinteren Raum. William schlenderte umher, nahm ein Buch zur Hand und blätterte es nervös durch.
Er klappte es zu, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, was er da gerade betrachtet hatte.
Der Italiener kam zurück, gefolgt von seinem Lehrburschen. Jeder trug ein Buch. Williams Herz machte einen Satz, und sein Mund wurde knochentrocken.
Der Italiener reichte ihm das Buch.
Es war schwer wie eine Bibel, was William ungeheuer freute. Er fuhr mit den Händen über den Einband und erregte sich an der glatten Oberfläche, als wäre es Maudes Schenkel. Er lächelte im Stillen. Das würde er ihr erzählen.
Oder lieber nicht.
Sie würde ihm nur vorwerfen, dass er ihre Haut mit der einer Kuh verglich. Er wusste oft nicht recht, ob sie scherzte oder ob er sie wirklich kränkte. An diesem Morgen hatte er sie gekränkt, das war ihm klar. Wie töricht er doch war. Warum hatte er ihr nicht gesagt, dass sie ihm selbstverständlich wichtiger war als seine Arbeit? Maude war immer seine größte Stärke gewesen, die Druckpresse jedoch war seine größte Errungenschaft, und jedes neue Werk beschäftigte ihn zutiefst. Das war von Anfang an so gewesen, schon bei seinem ersten Buch, Anthony Woodvilles Dictes and Sayings of the Philosophers. William hatte lange nicht an Anthony Woodville gedacht. Er schämte sich.
»Und, seid Ihr zufrieden?«, fragte der Italiener.
»Das bin ich«, versicherte ihm William.
Der Mann schaute ihn neugierig an. »Ist dieser Thomas Malory ein Engländer?«
»Ist er. War er. Er ist ein toter Engländer.«
»Aber es sind keine englischen Erzählungen, sondern französische und walisische. Und eine ist italienisch. Warum erscheinen sie auf Englisch?«
»Die Leute wollen jetzt Englisch lesen – Latein ist für Gelehrte, Französisch für den Adel.«
»Ist das so?«
William zuckte mit den Schultern. »Meines Erachtens ja.«
»Habt Ihr ihn nicht gefragt?« Der Buchbinder schien entsetzt zu sein.
»Ich habe ihn nicht gekannt.«
Ungläubig schüttelte der Italiener den Kopf. »Ich dachte, Ihr müsstet ihn kennen, um etwas zu drucken, was so … so …« Er hielt inne. »Was ich sagen möchte, Meister Caxton: Eure anderen Werke sind ernster. Die Worte von Gelehrten und Philosophen!«
William wollte seine eigenen Zweifel nicht aus dem Munde eines anderen hören. »Ich bekam es von einem Freund«, erwiderte er abwehrend und bereute die Offenlegung sofort. Er hatte niemandem erzählt, wie er an das Manuskript gekommen war, nicht einmal Wynken.
»Und Euer Freund hat diesen Malory nicht gefragt, warum er alte französische Rittersagen auf Englisch niederschreibt?«
William ließ sich nicht dazu verleiten, weitere Einzelheiten preiszugeben. »Ich gehe davon aus, dass Malory die Erzählungen übersetzt hat, weil er der Meinung war, viele Menschen sollten sie lesen«, brachte William vor. Ihm fielen die friedlichen Stunden ein, die er in Brügge allein beim Übersetzen verbracht hatte. Nicht zum ersten Mal war er neidisch auf Thomas Malory. Gefangener hin oder her, immerhin hatte er lange Jahre in Gesellschaft von Rittern und Edelfrauen verbracht.
Der Italiener wartete ab, ob William noch etwas ausplauderte. Nur Maude wusste, dass Anthony Woodville ihm das Manuskript anvertraut hatte. Sie war dabei gewesen, an einem späten Aprilabend. War das tatsächlich schon zwei Jahre her? Zwei ganze Jahre, seitdem Edward gestorben war und Elizabeth sich gezwungen gesehen hatte, im Kloster der Westminster Abbey Zuflucht zu suchen?
Anthony war allein gekommen, gekleidet in einen schlichten Umhang mit Kapuze. Seine Tunika war schäbig und farblos, kein Wams aus feinem Tuch mit Schlitzärmeln, wie er es sonst zu tragen pflegte. Die Satteltasche, die er über der Schulter trug, stellte er zu seinen Füßen ab, dann tranken sie Maudes Wein. Das war Maudes einzige Überspanntheit. Für sie war guter Wein einfach unabdingbar. Französischer Wein.
William spürte, dass der Italiener ihn beobachtete. Er sollte etwas sagen. »Ihr kennt diese Geschichten gut, wenn Ihr Euch so für ihren Ursprung interessiert.«
Der Italiener hob die Schultern und deutete mit einer weit ausholenden Geste um sich. »Wie Ihr seht, Meister Caxton, gehört es zu meinem Geschäft, Geschichten zu kennen. Aber die Rittersagen von König Arthur kennt doch jeder. Sie sind beliebt, auch wenn sie immer wieder dasselbe erzählen, vom kühnen Ritter auf der Suche nach einem Abenteuer und der schönen Edelfrau, die es zu retten gilt. Diese Franzosen glauben wohl, sie könnten jede Frau haben, auch wenn sie einem anderen gehört, also hüllen sie ihre Wollust in hübsche Verse, und auf einmal denkt jeder, es sei von Gott so bestimmt.«
Anscheinend war der Mann gebildet. William zog unwillkürlich die Augenbrauen hoch.
»Ihr wundert Euch, dass ich mich auskenne«, sagte der Buchbinder. »Ich habe einmal studiert, in Venedig. Ich habe erlebt, wie junge Liebende in Versen ertranken. Ich selbst bin darin ertrunken.«
»Dafür sind die Minnesänger verantwortlich zu machen«, sagte William unbeschwert und lehnte sich an eine Tischkante. Er hatte nicht damit gerechnet, eine solche Unterhaltung mit dem Buchbinder zu führen, und er hatte seine Freude daran. »Die haben den Brauch der Minne verbreitet.«
»Minne – pah!« Der Italiener gestikulierte eifrig. »Das ist doch alles Lüge. Eine Lüge, die den Namen der Liebe zerstört. Was bilden sich die Franzosen ein zu behaupten, romantische Liebe zwischen Gemahl und Gemahlin sei nicht möglich? In meinem Land ist die Ehe nicht so – nein, nein, nein, Mann und Frau sollten sich auf jede Weise lieben.«
William überlegte, ob er dem Mann sagen sollte, dass seine französische Frau auf jede Weise zu lieben vermochte, hielt sich aber zurück. »Welche dieser Erzählungen ist italienischen Ursprungs?«, fragte er stattdessen.
»Donna di Scalotta, welche Euer Malory allerdings Lilienmaid von Astolat nennt«, sagte der Buchbinder missbilligend. »Und er hat sich noch andere Freiheiten herausgenommen!«
»Ach ja?« William war die Geschichte der Donna di Scalotta nicht bekannt. Er musste Wynken danach fragen. Bisher hatte er geglaubt, Thomas Malory habe die Erzählung der Lilienmaid von Astolat erfunden und Astolat mit Guildford gleichgesetzt.
»Die ursprüngliche Geschichte ist ganz einfach. Donna di Scalotta begegnet Lancelot, verliebt sich in ihn und wird abgewiesen. Sie stirbt an gebrochenem Herzen. Aber Malorys Lilienmaid von Astolat ist eine englische Erzählung, in der Lancelot zur Burg ihres Vaters kommt und ihre Brüder kennenlernt. Er gewinnt ihre Gunst bei einem Tjostwettkampf, und sie nimmt sich seiner an, als er verwundet ist. Er lässt sie in dem Glauben, er liebe sie, weil er eitel ist, aber in Wirklichkeit liebt er nur die Königin. Euer Malory stellt die Lilienmaid so dar, als könne sie nicht ohne Lancelot leben, aber Donna di Scalotta war kein schwaches Geschöpf, das die Liebe irgendeines Mannes brauchte. Sie war die Liebe selbst, und die Liebe hält es eben nicht aus, allein zu sein.«
William und Wynken waren bisher davon ausgegangen, dass Malory ein Ritter mit einer gewissen Begabung gewesen war, der sich bei seiner Beschreibung von Schlachten und Tjosten auf eigene Erfahrungen stützte. Aber vielleicht hatte er ja auch auf sein Leben zurückgegriffen, als er die Geschichte der Lilienmaid von Astolat schrieb. Wenn er nun einen Grund gehabt hätte, über eine Dame in Guildford zu schreiben, die ihn liebte? William schüttelte den Kopf. Derartige Hirngespinste sollte er besser begraben. Er musste sich damit abfinden, dass er nicht mehr über Malory erfahren würde.
Er betrachtete das gewichtige Buch in seinen Händen. Er hatte Angst, es aufzuschlagen und die ersten Zeilen zu lesen, die er so gut kannte:
Es geschah in den Tagen des Uther Pendragon, als er König von ganz England war …
Auf keinen Fall würde er es über sich bringen, es in Gegenwart des Italieners zu lesen. Er würde diesen Moment später genießen, allein in seinem Dachzimmer im Red Pale.
»Dieser Malory muss wohlhabend gewesen sein«, stellte der Italiener fest.
»Wie kommt Ihr darauf?«
»Er muss all die alten Bücher zur Verfügung gehabt haben.«
»Vielleicht hatte er einen Gönner«, erwiderte William. Der Gedanke war ihm schon mal gekommen.
»Aber es gibt keine Widmung«, sagte der Italiener.
William überlegte. »Zumindest wurde mir keine geliefert«, musste er eingestehen.
Der Italiener nickte nachdenklich. »Ihr meint also, die Widmung wurde Euch vorenthalten?«
»Das habe ich so nicht gesagt … Zumindest könnte ich es nicht mit Bestimmtheit behaupten«, erwiderte William lahm. Ihn beschlich das Gefühl, bereits zu viel gesagt zu haben, nun hatte er es plötzlich eilig. Er wollte allein sein und sich an seiner neuen Errungenschaft ergötzen. »Bitte lasst das andere Buch ins Red Pale auf dem Klostergelände Westminster liefern«, bat er den Mann.
»Mein Bursche kann es gegen Mittag bringen.« Jetzt war der Italiener wieder ganz der geschäftstüchtige Händler.
»Ausgezeichnet. Eins nehme ich jetzt mit, das passt in meinen Ranzen.« Es ging tatsächlich, wenn auch nur knapp.
»In Ordnung, Meister Caxton.«
Der Mann schaute ihn erwartungsvoll an, und William brauchte eine Weile, bis ihm der Grund dafür bewusst wurde.
»Ich bezahle natürlich sogleich«, sagte er.
Der Italiener wirkte erleichtert und war nun wieder ganz zuvorkommend. »Schade, dass Ihr diesen Malory nicht kennengelernt habt«, sagte er kopfschüttelnd. »Wirklich schade …«
William wollte nun wirklich los, aber er mochte auch nicht unhöflich erscheinen. »Ja«, sagte er fahrig, »das stimmt.« Umständlich schnallte er den Ranzen zu. »Warum findet Ihr das schade?«
»Dann hättet Ihr ihn fragen können, warum er die Geschichte der Donna di Scalotta zerstört hat.«
»Aber ja doch! Sollte ich es noch herausfinden«, sagte William, nun schon fast an der Tür, »lasse ich es Euch wissen.«
William konnte nicht zum zweiten Mal an diesem Tag am Head on a Pole vorbeilaufen. Er war dem Verdursten nahe. Die Taverne war nicht besonders sauber, das Gebräu wässrig, aber hier lief er zumindest keine Gefahr, erkannt oder gestört zu werden.
»Jetzt schaut Euch das mal an«, sagte die Wirtin, als er an den Tresen trat. William wollte sich nicht auf eine Unterhaltung mit ihr einlassen. Er wollte sein Ale trinken und seine Ruhe haben. Doch schon war die obere Hälfte ihres weichen Körpers in einer niedrigen Durchreiche in der Wand verschwunden, und ihr Rumpf schwankte hin und her, als sie zu einem im Hinterhof stattfindenden Hahnenkampf mit den Füßen aufstampfte. Er konnte nichts sehen, hörte es aber an dem mörderischen Krächzen und dem Jubel.
»Was?«, fragte er halbherzig. Hahnenkämpfe interessierten ihn nicht. Sie endeten immer in einem blutigen Durcheinander aus Tieren und Zuschauern. Er wollte sich hinsetzen, bevor Verdurstende und Ungewaschene die Taverne überschwemmten.
»Der Vogel da rennt ohne Kopf herum«, sagte die Wirtin.
William gab einen für seine Begriffe passenden Grunzlaut von sich und entfernte sich. Er fand eine Ecke, einen Hocker und ein Fass, zündete sich seine Pfeife an und richtete den Blick fest auf die Deckenbalken. Er schaute auf den Klumpen, der seinen Ranzen ausbeulte, dann wieder zur Decke. Ein Feigling war er. Warum fürchtete er sich davor, ein Buch aufzuschlagen, das er wie die lateinische Messe herunterbeten konnte?
»Meister Caxton?«
William fuhr zusammen.
»Ja, der bin ich.« Er kannte den Jungen nicht, auch war er in keinem der William bekannten Betriebe Lehrbursche. Der Junge trug die Kluft eines Gemeinen, seine niedrigen Stiefel jedoch waren aus hochwertigem Leder, und seine Augen blitzten messerscharf.
»Ich heiße Michael. Können wir reden?«
»Das können wir. Sagt, kenne ich Euch?«
Michael hockte sich ins Stroh, und seine Blicke schossen unruhig hin und her, als er den zusammengewürfelten Haufen von Männern in nächster Nähe musterte. Die meisten hatten wild abstehendes, verfilztes Haar, obwohl die Badezeit angebrochen war.
»Offen gestanden«, drängte William, »gefällt mir diese Taverne, weil mich hier niemand kennt.«
»Viele Leute kennen Euch, Meister Caxton«, erwiderte der junge Mann. Bei näherem Hinsehen sah er schon nicht mehr so jung aus, befand William. »Mein Lehrer hat mir von Euch und Eurer Druckpresse erzählt, als ich noch ein Kind war.«
Sein Alter war schwer einzuschätzen – bestimmt noch keine dreißig, dachte William. »Und wer war Euer Lehrer?«, fragte er.
»Abt Millyng.«
»Also wurdet Ihr im Kloster zu Westminster unterrichtet?«
»Ich war Novize, aber dann …«
»Dann habt Ihr einen anderen Weg gewählt«, nahm William vorweg.
»Ja, jetzt bin ich Bogenschütze.«
William hütete sich, nach den Gründen für diese Entscheidung zu fragen. Er kannte die Antwort. Wer hatte schon blutigere Zeiten als diese erlebt? Als Maude und er nach London kamen, hatten sie noch geglaubt, vor dem Wind eines neuen Zeitalters zu segeln. In Deutschland und Italien hatten sie den Hauch der Veränderung gespürt und gemeint, er werde gen England wehen. Besonders Venedig war trunken vor Kunst und florierendem Handel, und die hebräischen Schreiber strömten dorthin, um ihre Bücher zu produzieren. Doch England steckte so tief in seinen blutigen Auseinandersetzungen, dass es sich von Malerei oder Dichtung nicht befrieden ließ. Drei Könige tot in zehn Jahren, die Ufer in Blut getränkt. Dem Himmel sei Dank für Malerei und Dichtung – ohne sie hätte William all das kaum ausgehalten.
Er betrachtete den Bogenschützen. »Und seid Ihr ein Freund des neuen Abtes?«
»Ja.«
»Und seines Haushalts?«
»Wenn Ihr die Königinwitwe meint, Meister Caxton, dann lautet die Antwort erneut ja.«
»Möchtet Ihr ein Ale mit mir trinken und mir von ein paar Schlachten erzählen?«
Der Junge zögerte. William zog seinen Geldbeutel aus der Tasche. »Ich lade Euch ein«, sagte er und drückte ihm eine Münze in die Hand.
Einen Krug Ale in der Hand, erzählte der Bogenschütze von seiner Jugend in der Abtei von Westminster, zu Zeiten, als Elizabeth Woodville zum ersten Mal dort Zuflucht gesucht hatte. Später setzte er William mit Fragen über das Red Pale und das neue Buch zu. William zeigte ihm den Band in seinem Ranzen, und Michael war angemessen beeindruckt. Doch erst als der junge Mann nicht lockerließ, verstand William, dass er ihn tatsächlich im Auftrag Elizabeth Woodvilles aufgesucht hatte. Mehr noch: Er hatte eine Bitte von der Königinwitwe zu überbringen.
Leicht dösig durch das Ale und gleichermaßen aufgewühlt durch das Gespräch, nahm William die Fähre von Queentithe und dachte darüber nach, was der Bogenschütze gesagt hatte. Eigenartig, dass ihn ausgerechnet heute, da die Vergangenheit sich anscheinend erhob, um ihm entgegenzutreten, ein Freund von Elizabeth Woodville aufsuchte.
In Westminster betrachtete William die hohen Steinmauern des Klosterheiligtums. Im Lauf der Jahre hatte er sich an den Anblick gewöhnt. Hinter den Mauern lag ein anderes Land. Keine Menschenseele kam dort ohne Genehmigung des Abtes hinein. Das Kloster gehörte zu Westminster, und doch wieder nicht. Es war heiliger Grund. Kein Mann von Ehre würde es wagen, sich ohne den Segen des Abtes auf Gottes Eigentum zu begeben. Und weder König noch Parlament vermochten anzutasten, wer dort Zuflucht gesucht hatte.
William holte tief Luft und genoss die Sonne. Er roch die schweren Düfte aus dem klösterlichen Kräutergarten. Die Dominikaner, die den Garten pflegten, fanden immer wieder neue Blumen, die sie zwischen ihre Heilkräuter pflanzten. Dort wuchsen orangefarbene und weiße Lilien, arabische Rosen, Schwertlilien und köstlicher orientalischer Jasmin, der süß wie Nektar duftete.
Westminster wurde von Jahr zu Jahr geschäftiger, das Allerheiligste und das Kloster jedoch grenzten noch an das Weideland am Rande der Stadt.
Oft arbeitete William bis spät in die Nacht in seinem Dachzimmer im Red Pale. Auch das war Maude ein Dorn im Auge. Ein Mann sollte zu Hause bei seiner Frau sein, damit sie ihn heißmachen konnte. Damit er sie entzücken konnte.
Maude gab vor, Williams derben englischen Humor nicht zu mögen, doch er wusste, dass sie ihren Spaß daran hatte. Ihre Großmutter war Dirne am Hof Karls des Wahnsinnigen gewesen, von ihr hatte Maude den Hang zur Obszönität geerbt. Er fragte sich, ob sie sich noch immer so gut verstehen würden, wäre ihre Wollust nicht gewesen. Gewiss wäre er gern der Ehemann, den sie sich wünschte, aber ihm war nicht klar, wie er das schaffen sollte. Wenn er nicht arbeitete, wurde er reizbar und unruhig – schließlich könnte er den Anschluss an den Handel verlieren, wenn er zu lange zu Hause bliebe. Und was wäre er ohne seine Arbeit? Maude hatte ihm in den ersten Monaten ihres Liebeswerbens gesagt, sie begehre ihn aufgrund seines Lebenshungers. Und jetzt machte sie genau dieser unglücklich.
Bei der Betrachtung der Klostermauern überlegte William, dass Michael, der Bogenschütze, da er freien Zugang zum Kloster hatte, sicherlich nicht nur Elizabeths Vertrauen genoss, sondern auch das von John Esteney. Den Abt auf seiner Seite zu haben war eine gute Referenz. Eine sehr gute. William fragte sich, wessen Haushalt der Bogenschütze wohl in erster Linie diente. Vermutlich war es unwichtig. In diesen schwierigen Zeiten diente jeder Mann zunächst sich selbst.
Krieg lag in der Luft – man spürte ihn förmlich auf der Haut. Richard war ein ungeliebter König, und in Henry Tudor schien er einen echten Rivalen zu haben. William hatte sich schon öfter bemüht, Wynken zu erklären, warum Henry, der Sohn von Margaret Beaufort, einen Anspruch auf die Krone habe. Margaret Beaufort stammte von John von Gaunt ab, dem Herzog von Lancaster und Sohn Edwards III. Die Wunde in den Herzen von York und Lancaster saß tief. Wer konnte schon sagen, welche Seite rechtmäßig herrschen sollte? Wen kümmerte es? Allerdings vermutete William, dass viele – wie er selbst – für einen rechtmäßigen König bereitwillig auf den Frieden verzichten würden.
Er hob den Kopf, als das vertraute Geräusch von im Wind knarrenden Ketten an sein Ohr drang. An den Ketten hing eine schwere Holztafel, auf der ein weißer Schild mit einem breiten roten Pfahl zu sehen war. William wusste nicht, was dieses Wappen bedeutete, doch er hatte das Haus mit dem Namen Red Pale, Roter Pfahl, von Anfang an gemocht. Das Erdgeschoss bestand aus einem einzigen Raum, oben war ein Dachzimmer mit hoher Decke und kreuz und quer verlaufenden Balken. Es gefiel ihm, weil es auf dem Klosteranwesen stand, auf dem – womöglich dank der Almosen – Frieden herrschte. Er hatte wirklich Glück, dass John Esteney, ein Gelehrter mit Phantasie, ihm erlaubt hatte, hier seine Druckpresse einzurichten.
William warf einen letzten Blick auf die Mauer, bevor er das Haus betrat. Dass er Elizabeth Woodville dort drinnen am Leben wusste, war eigentlich ohne Bedeutung. Kaum jemand erwähnte noch ihren Namen. Ihre Söhne waren, falls nicht ermordet, aller Wahrscheinlichkeit nach verhungert, eingesperrt im Verlies der Burg, in der sie sich einst frei bewegt hatten, in der sie in den Armen ihrer Mutter eingeschlafen waren. Richard hatte nichts davon, wenn er die Prinzen von York am Leben ließ. Sie waren mit ihm verwandt, also stellten sie eine Gefahr für seinen Thron dar.
Elizabeth Woodville hatte ihre Töchter bei sich, die inzwischen junge Damen waren. Sie waren keineswegs so schön wie ihre Mutter, aber sie besaßen reine Haut und einen angenehmen Charakter. Die junge Elizabeth hatte denselben unermüdlichen Geist wie ihre Mutter und ihre Großmutter – das sah man an ihrem Gang und an der Art, wie sie die Welt betrachtete, so als würde nichts und niemand sie von dem Schicksal abbringen, das ihre Herkunft ihr vorbestimmte.
Was der Bogenschütze ihm berichtet hatte, tröstete William: dass Michael eine gute Beziehung zu Elizabeth Woodville pflegte und sie über Meister Caxtons neue Bücher auf dem Laufenden hielt. William ärgerte sich, dass er nicht gewagt hatte, selbst herauszufinden, wie es Elizabeth ergangen war. Er war ein Feigling, das ließ sich nicht anders sagen. Aber er war der Drucker des Königs und konnte es sich nicht leisten, einen Vertrag mit der Krone aufs Spiel zu setzen, indem er sich offen mit der in Ungnade gefallenen Königinwitwe verbündete. König Richard war an Bildung interessiert und hatte Bücher für Schulen bei William in Auftrag gegeben. Das Geschäft lief gut.
Als Elizabeth Königin war, hatte sie William eingestellt, um eine Sonderausgabe der Canterbury Tales zu drucken, weil sie ihren hochgeschätzten Band einer Freundin geliehen und nicht zurückbekommen hatte. William fragte sich, ob sie ihn wohl dafür verurteilte, dass er jetzt dem neuen Königshaus diente. Aber man musste sich anpassen, um im Geschäft zu bleiben.
William betrat die Werkstatt, tief in Gedanken versunken, wurde jedoch schnell abgelenkt. Der Raum vibrierte vor Aktivität, obwohl der Drache, wie sie die Druckpresse nannten, gerade ruhte. Das Red Pale war in verschiedene Tätigkeitsbereiche aufgeteilt. Im hinteren Teil der Werkstatt brannten Feuer, und die Tintenhersteller kochten Galleiche und Gummi arabicum in Schmelztiegeln. Der Raum hatte denselben erdigen, beißenden Geruch, der auch die Luft um Cox’s Wharf verpestete.
Pergamenthersteller aus Southwark spannten und schnitten das importierte Vellum. Der Gestank, der ihnen anhaftete, fiel William gar nicht mehr auf, doch manch anderer machte einen weiten Bogen um sie. Das Leder wurde in einer Gerberei am Fluss getränkt und sauber gekratzt, und der Uringeruch blieb am Vellum haften und genauso an den Pergamentherstellern. Manche glaubten tatsächlich, der Urin des Abtes sorge für feinere Qualität. William sah das eher nüchtern: Seiner Meinung nach war jedermanns Urin gleichermaßen dazu geeignet, die Haare des Tieres von seiner Haut zu lösen.
Gegenüber den Feuerstellen standen zwei Zeichentische, L-förmig zusammengeschoben. Dort stapelten sich Papierlagen und Bücher, und hinter einem der Stapel war der gebeugte, zerzauste Kopf Wynken de Wordes zu sehen. Der Rest der schlanken Gestalt von Williams Partner war verdeckt. Der Himmel mochte wissen, wie sie in diesem Durcheinander jemals etwas fanden. Da hatte mit Sicherheit Gott seine Hand im Spiel.
An der westlichen Wand des Raumes stand die Druckpresse. Sie nannten sie Drache, weil sie die Hüterin des Wissens war und Feuer im Bauch hatte. Metaphorisch gesehen, wie die Franzosen sagen würden. Wynken hatte ihm die Bedeutung dieses ergötzlichen Wortes erklärt, und jetzt verwendete William es so oft wie möglich. Der große Eichenholzhebel des Drachen ruhte, seine Brust war schwarz von Tinte. William würde Jon, dem Knappen, auftragen, ihn zu polieren, bevor er beim nächsten Auftrag wieder in Betrieb genommen wurde. Man musste den Drachen gut behandeln. William seufzte zufrieden. Dieser Raum enthielt alles, was er sich je gewünscht hatte.
Wynken schaute erst auf, als William unmittelbar vor ihm stand. Er war kurzsichtig. Und er besaß eine Fähigkeit, sich zu konzentrieren, die William Ehrfurcht einflößte. William wusste um seine eigenen Stärken, seine Energie, seinen Charme, seine gesellschaftliche Stellung, seinen Wohlstand und sein Können als Übersetzer, aber Wynken, mit seinen dreißig Jahren gerade mal halb so alt wie William, sprach leise und bewegte sich vorsichtig und wohlüberlegt. Er tat keinen Atemzug, vollzog keine Geste, die nicht notwendig gewesen wäre, wog jedes Wort und jede Handlung ab.
»Guten Morgen, Wynken.«
»Meister Caxton.«
William schnallte seinen Ranzen auf und legte das Buch auf den Tisch.
Wynken stieß einen leisen Pfiff aus. Er fuhr mit der Hand über das geprägte Leder, genauso wie William es gemacht hatte. Er schlug das Buch auf, was William unterlassen hatte, und inspizierte die Innenauskleidung. Dann schaute er auf.
Sie lächelten beide.
»Der Italiener ist so gut, wie du sagst.«
»Natürlich.«
»Jemand hat nach dir gefragt«, sagte Wynken. Er schaute William argwöhnisch an, als könnte der ihm etwas vorenthalten haben.
»Du weißt ja, wo ich war.« William lächelte.
Wynken nickte bedächtig. Für einen so jungen Mann war er viel zu ernst. Er mochte zwar aus dem Elsass stammen, hatte aber nichts Französisches an sich. Wein oder Ale rührte er kaum an, hatte anscheinend keine Frau und kleidete sich wie ein Beamter. Die wechselnden Moden in London interessierten ihn nicht. Ihn interessierten nur Bücher.
»Wer war das?«, fragte Wynken.
Auch die Gepflogenheiten eines Engländers kannte er nicht. Wenn er etwas wissen wollte, fragte er. Wenn ihm etwas gefiel oder nicht gefiel, sagte er es.
»Er ist Bogenschütze. Wir haben einen gemeinsamen Freund.«
»Wer ist euer gemeinsamer Freund?«
William zögerte. Vor Wynkens bohrender Neugier ließ sich nur schwer etwas verbergen. »Das ist eine heikle Angelegenheit …«
»Eine Frau?«
»Ja, aber keine … keine Frau in dem Sinne. Was ich sagen will, ist …«
»Sie ist nicht deine Geliebte?«
»Nein! Nein. Ich habe keine Geliebte. Maude ist schwierig genug. Die Freundin, die Frau … es ist kompliziert.« William senkte die Stimme, obwohl in dem Raum so viel Lärm herrschte, dass man sie unmöglich hätte belauschen können. »Es ist nicht ganz ungefährlich«, flüsterte er.
»Aha.« Wynken nickte. »Verstehe. Sie ist keine Freundin des Königs.« Die Einzelheiten des dreißig Jahre währenden Krieges durchschaute Wynken immer noch nicht recht. Wenn William ihm zu erklären versuchte, wie es dazu kam, dass die Krone so umkämpft war, wer mit wem verwandt, wer Yorkist und wer Lancastrianer war, schüttelte Wynken am Ende immer den Kopf und gab sich geschlagen.
»Nein, sie ist keine Freundin des Königs.«
»Und du befürchtest, wenn der König herausfindet, dass du mit ihr befreundet bist, lässt er dich wegen Verrats hinrichten.«
Wynken sagte es, als träfe er eine Feststellung über die Beschaffenheit von Tinte. William schämte sich, als er seine Furcht so in Worten ausgedrückt vernahm, und fürchtete sich prompt noch mehr.
Er nickte.
»Dann darf es niemand wissen.«
William schüttelte den Kopf.
»Was will sie denn, diese Freundin?«, fragte Wynken.
»Sie möchte etwas über das Buch wissen, sie möchte es haben. Michael – der Bogenschütze – hat mir gesagt, er habe der Frau immer erzählt, was wir in unserer Druckpresse machen.«
Wynken runzelte die Stirn. »Und warum ist er ausgerechnet jetzt zu dir gekommen? Warum bittet er dich um dieses bestimmte Buch?«
»Das weiß ich nicht«, gab William zu. Aber nachdem die Frage einmal formuliert war, überkamen ihn erneut Zweifel und Befürchtungen. Wer hatte das Manuskript besessen, bevor Anthony Woodville es ihm übergeben hatte, und wie war es in Anthonys Obhut geraten?
»Wer ist diese Frau?«, fragte Wynken.
William seufzte und sagte endlich, wer Michaels Herrin war: »Elizabeth Woodville.«
»Die Königinwitwe …«, murmelte Wynken, offensichtlich stolz darauf, dass es ihm eingefallen war. Er wusste über Elizabeth Woodville Bescheid – so viel immerhin hatte er von englischer Politik verstanden.
William nickte nur.
»Dann geben wir ihr doch ein Exemplar des Morte d’Arthur«, sagte er.
»Wie denn?« Allein der Gedanke ließ William erschaudern.
»Über den Bogenschützen, ist doch ganz einfach.«
»Ja, gewiss«, erwiderte William. Er kam sich wie ein Narr vor. »Ich habe ihm tatsächlich ein Exemplar versprochen. Er holt es hier ab. Heute.« William hatte das Angebot bereut, gleich nachdem er es bei dem Gespräch in der Taverne vorgebracht hatte. Welchen Nutzen hatte ein Bogenschütze schon für ein Buch? Er würde es wahrscheinlich als Fußbank oder Kerzenständer benutzen.
»Und dann gibt er es ihr«, sagte Wynken zuversichtlich.
»Gewiss«, wiederholte William und staunte auf einmal selbst darüber, dass er Elizabeth durch einen Boten ein Buch zukommen lassen würde. So eine poetische Konstellation gab es doch sonst nur in der Literatur! Hätte er bloß mehr von den Griechen gelesen, dann könnte er solche Mysterien besser verstehen.
In seiner Jugend hatte er gelesen, um voranzukommen – um in bestimmten Kreisen anerkannt zu werden und sich einen Ruf zu erarbeiten. Er hatte sich für einen Gelehrten gehalten, weil er ein Übersetzer war, nun aber musste er erkennen, dass er weder Dichter noch Gelehrter war. Er lieferte lediglich die Worte der Alten und Minnesänger an das Volk.
Anthony Woodville war der Gelehrte, nicht er. Anthony hatte ihm vor vielen Jahren in Brügge erklärt, mit solchen romantischen Konstellationen spönnen die Schicksalsgöttinnen den Faden der Zeit zwischen Spinnrocken und Spindel. Für einen Ritter des Hosenbandordens, hatte William damals nur festgestellt, sei das kaum zu verstehen. Anthony gestand ein, dass er die Metapher vom Faden der Zeit gern verwendete, weil die Angebetete seiner Kindheit sie gemocht habe. Anthony hatte seine Angebetete häufiger erwähnt, und stets hatte er William damit neugierig gemacht. Jetzt aber würde er nie erfahren, wer diese Frau gewesen war.
Drei Schicksalsgöttinnen gab es, die Beschaffenheit der Zeit war somit verdreifacht. Die Vergangenheit war der Faden, der bereits um die Spindel gewunden war, die Gegenwart das, was zwischen den Fingern der Spinnerin hindurchlief, und die Zukunft befand sich auf dem Spinnrocken und musste noch verarbeitet werden.
Diese wunderliche Vorstellung tröstete William irgendwie; immerhin hatte er sein Vermögen mit Tuch gemacht. Er musste sein Leben nur so weiterführen, seine Steuern bezahlen, seine Frau lieben und vor der Klugheit von Philosophen und Poeten in Ehrfurcht erschauern, dann wären die Schicksalsfrauen schon zufrieden. Sie spannen ihren Faden ohnehin weiter, also war es am besten, man mischte sich nicht in ihre Tätigkeit ein. Das gehörte zu den Vorteilen, wenn man älter wurde: Man hatte sich an die Launen des Schicksals gewöhnt.
Allerdings wurde man auch weniger feinfühlig.
William spürte seine Pfeife in der Manteltasche. Er war versucht, eine Pause zu machen – der Ermüdung nachzugeben, die ihm beständig zusetzte, nach oben zu gehen, wo er die Manuskripte verwahrte und seine Übersetzungen anfertigte, an die fernen Tage in Brügge zu denken, im Haushalt von Margaret von York, so wie er es in nachdenklichen Momenten gern machte. Dort war es viel interessanter geworden, nachdem Anthony Woodville und König Edward eingetroffen waren, die nach der Niederlage der Yorkisten bei Edgecote Moor geflohen waren. Die beiden waren wie Galahad und Arthur, der Gute und der Tapfere, beide kräftige, gutaussehende Männer. Jede Dame im Haus hatte wohl für sie geschwärmt. William war damals nervös gewesen, einem König zu begegnen, erst mit der Zeit hatte er sich daran gewöhnt. Doch kam es für ihn noch immer einem Wunder gleich, dass Maude in dem Haushalt ausgerechnet in sein Bett gekrochen war.
»Ich gehe mal nach oben«, sagte William, griff nach dem Morte d’Arthur und drückte sich das Buch an die Brust.
»Eine ausgezeichnete Idee, Caxton. Schließlich musst du an das nächste Buch denken.«
»Das mache ich«, versicherte ihm William und erfreute sich für einen Moment an dem Gedanken, etwas Neues zu beginnen.
»Wird es die heilige Winifred sein?«
William lächelte. »Ich habe die Übersetzung fast fertig«, gab er zu. Er plante schon seit Jahren, Das Leben der heiligen Winifred zu veröffentlichen.
Wynken nickte zustimmend. »Essen wir im Bear zu Mittag?«
Warum nicht? Heute war der Tag zwischen den Büchern, Zeit für Gedanken, und Zeit für eine ordentliche Mittagsmahlzeit.
Die Sonne knallte schon den ganzen Vormittag aufs Dachgeschoss, und in dem Raum war es heiß wie in einem Backofen. William machte das Fenster auf, das zum Kräutergarten hinausging. Der Duft nach Lilien, Rosen und aromatischen Kräutern schien nicht in diese Zeit zu passen, doch sollte man die gute Luft einatmen und dankbar sein. Leichengeruch war viel zu vertraut.
Die Sonne stand beinahe im Zenit. Erst jetzt ging William auf, wie spät es schon war – Wynken würde bald essen wollen. Er ließ sich gern Zeit dabei, so wie es in Frankreich üblich war, und wollte sich unterhalten. So verbesserte er sein Englisch und erfuhr Dinge. Bei den Besuchen im Black Bear brachten sie sich auch über den Vormarsch von Henry Tudor auf den neuesten Stand. William ließ die Mahlzeit häufig aus, um zu arbeiten, doch an einem solchen Tag hatte er das Gefühl, sich den Luxus leisten zu können. Er war auch neugierig auf die Nachrichten aus Frankreich und Wales, wollte erfahren, welcher Seite Grafschaften und Herzogtümer treu waren. Im Black Bear wurden Wetten über diese Loyalitäten abgeschlossen, und auch über Lord Stanley, dem es gelungen war, eine Armee auszuheben, die es mit der von König Richard aufnehmen konnte.
William hielt den Morte d’Arthur noch immer fest umklammert und musste lächeln, als er es merkte. Er machte ein wenig Platz auf seinem Schreibtisch, schob Hauptbücher, Schreibfedern und Tintenfässer beiseite, damit er den neuen Band bewundern konnte. Der Einband war aus dunkelbraunem Leder statt des roten Kalbsleders, das er selbst meist verwendete. Es war beste italienische Lederqualität, weich unter den Fingern, aber dick und widerstandsfähig. Zweifellos war es das modernste Buch, das er bisher herausgegeben hatte. Und es war weder ein geschichtliches Werk noch ein frommes Buch, noch waren es die ausschweifenden Grübeleien eines Philosophen. Le Morte d’Arthur war ein Ritterroman.
William spürte einen Anflug jener Angst, die ihn in der Nacht wach gehalten hatte. Eigenartig, dass er dieses Wagnis nicht in Frage gestellt hatte, bevor die Seiten bedruckt und gebunden waren. Er hatte sich vom schieren Ehrgeiz des Unterfangens hinreißen lassen – seinem eigenen und dem Malorys.