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Der Aufstieg Chinas hat eine fundamentale Verschiebung der Geopolitik zur Folge. Mit ihm haben sich auch die Interessen Amerikas und Europas zunehmend auseinanderentwickelt. Um ihre Vormachtstellung in der Welt gegen China zu verteidigen, verfolgen die USA eine Politik der verbrannten Erde und setzen sich bedenkenlos auch über die Belange langjähriger Verbündeter, vereinbarte Regeln und gemeinsame Ideale hinweg. Dieser Konfliktkurs stellt eine ernste Bedrohung für den Wohlstand, inneren Frieden und Zusammenhalt der Europäischen Union sowie den Frieden in der Welt insgesamt dar. Wenn Europa seine Zukunft sichern, die "westlichen Werte" vor der vollständigen Diskreditierung und die Welt vor einem neuen Kalten Krieg und womöglich sogar vor einer militärischen Auseinandersetzung bewahren will, muss es sich von den USA emanzipieren und seinen eigenen Weg gehen.
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Ami go home!
STEFAN BARON, geboren 1948, hat in Köln und Paris Volkswirtschaft, politische Wissenschaften und Sozialpsychologie studiert und anschließend als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kieler Institut für Weltwirtschaft geforscht, ehe er eine preisgekrönte Karriere als Journalist begann. Er arbeitete u.a. als Wirtschaftsredakteur und Finanzkorrespondent beim Spiegel sowie später 16 Jahre als Chefredakteur der WirtschaftsWoche. Der China-Experte gehörte viele Jahre dem Board of Trustees des American Institute for Contemporary German Studies an. Zuletzt war er globaler Kommunikationschef der Deutschen Bank. Heute ist er als Publizist und Berater tätig. Sein Buch »Die Chinesen. Psychogramm einer Weltmacht« (Econ 2018) war »Wirtschaftsbuch des Jahres« und wurde ein Bestseller.
Amerika und China ringen um die Weltordnung von morgen. Wie soll sich Europa in diesem Konflikt verhalten? Soll es dem Aufruf des langjährigen Verbündeten folgen und aus alter Verbundenheit durch gemeinsame Werte in einen neuen Kalten Krieg ziehen?Der Autor dieses Buches gibt darauf eine klare Antwort: Europa sollte sich von Amerika emanzipieren und konsequent seine eigenen Interessen verfolgen. Denn Amerikas konfrontativer Kurs gegen China gefährdet den Wohlstand und Frieden in der Welt, die Stabilität der EU und die westlichen Werte. Mit einer selbstbewussten Politik strategischer Autonomie sowohl gegenüber Washington wie gegenüber Peking kann Europa wirtschaftlich von einer Öffnung nach Asien profitieren, den Weltfrieden erhalten, seine Einheit vorantreiben und den Weg zu einer fairen multipolaren Weltordnung ebnen. Statt transatlantischer Treueschwüre braucht es jetzt eine kluge Fernostpolitik.
Stefan Baron
Eine Neuvermessung der Welt
Ullstein
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© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Umschlaggestaltung: Brian Barth, Berlin© für Karten: Peter Palm, BerlinE-Book powered by pepyrus.com
ISBN: 978-3-8437-2535-4
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Titelei
Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
EINLEITUNG
TEIL I – Der geopolitische Epochenwechsel
Der Abstieg Amerikas
Imperiale Arroganz
Wirtschaftliche Überdehnung
Erosion der Demokratie und Verfall der Gesellschaft
Die Verschiebung des Kraftzentrums der Welt nach Asien
Der (Wieder-)Aufstieg Chinas
Eurasien und die Initiative »Neue Seidenstraße«
Die Eindämmungspolitik der USA gegen China und die Folgen für die Welt
Wachsender Protektionismus und Entglobalisierung
Corona und der Kalte Krieg 2.0
Das Risiko eines Dritten Weltkriegs
TEIL II – Die notwendige Emanzipation Europas
Die Ziele einer Emanzipation
Bewahrung des äußeren Friedens
Erhalt des inneren Friedens und der Union
Sicherung des Wohlstands
Rettung der »westlichen« Werte
Wege zur strategischen Autonomie
Multipolare Weltordnung und friedliche Koexistenz der Systeme als Grundlage europäischer Außenpolitik
Kritisch-konstruktive Mitarbeit bei der Initiative »Neue Seidenstraße« als Kern einer europäischen (Fern-)Ostpolitik
Eine europäische Verteidigungsgemeinschaft anstelle der NATO
Strukturelle ökonomische Autonomie und Ablösung des US-Dollar als dominierende Leitwährung
Die Hindernisse auf dem Weg zu echter Souveränität
»Westliche« Wertegemeinschaft und transatlantische Netzwerke
Desinformation und Druck durch die USA
Mangelndes Wissen, Vorurteile und Angst
SCHLUSS
Europa zwischen Amerika und China
Was ändert sich mit Präsident Biden?
Deutschland zwischen Amerika und Frankreich
Anhang
Dank
In dieses Buch eingeflossene und weiterführende Literatur
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
EINLEITUNG
In Erinnerung an meine BrüderHerbert und Manfred
»Wir haben weder ewige Verbündete noch immerwährende Feinde. Ewig und immerwährend aber sind unsere Interessen. Diese Interessen zu verfolgen ist unsere Pflicht.«
Henry John Temple, 3rd Viscount Palmerston
Britischer Staatsmann (1784–1865)
Schicksalsstunde für Europa
Auch wenn sein Titel es auf den ersten Blick nahelegen mag – dies ist kein antiamerikanisches Buch. Ganz im Gegenteil: Es ist ein Buch für Amerika, ein besseres Amerika.
Ein Amerika, das Freiheit, Chancengerechtigkeit und Demokratie nicht nur im Munde führt, sondern auch praktiziert – national wie international. Ein Amerika, das das Völkerrecht respektiert, aufhört, seine Macht zu missbrauchen und sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, ihnen mit wirtschaftlichen Sanktionen oder militärischer Gewalt(-androhung) seinen Willen aufzwingen und sein eigenes System überstülpen zu wollen; ein Amerika, das statt ständig über seine Verhältnisse zu leben und Billionen Dollar für Rüstung und endlose Kriege auszugeben sich um das Wohlergehen seiner Bürger, aller seiner Bürger, kümmert, kurz: ein Amerika, das sich auf die Werte seiner Verfassung (zurück-)besinnt.
Vor allem ist dieses Buch aber ein Buch für Europa. Für ein einiges, friedfertiges und friedliches, prosperierendes und vor allem selbstbestimmtes Europa. Ein Europa, das seine existenziellen Interessen eigenständig verfolgen kann und dessen Stimme in einer multipolaren Welt Gehör findet. Um dies sicherzustellen, muss Europa sich jedoch aus seiner Abhängigkeit von Amerika lösen und emanzipieren. Das ist die zentrale These dieses Buches.
An ihr hat der Wechsel im Weißen Haus von Donald Trump zu Joseph Biden nichts geändert. Der Begrüßungsjubel, der diesem nach seiner Wahl aus Europa und vor allem Berlin entgegenschallte, war nicht nur verfrüht, sondern verfehlt. Die Abhängigkeit von Amerika mag unter Biden wieder erträglicher werden, als sie unter Trump war, aber in der Substanz bleibt sie unverändert bestehen. Ein Diener bleibt ein Diener, auch wenn die neue Herrschaft weniger rüde mit ihm umgeht.
Bidens Wahl war keine Entscheidung gegen den globalen Hegemonieanspruch Amerikas. Im Gegenteil: Der neue Präsident hat diesen Anspruch ausdrücklich erneuert. Die Überzeugung, dass Amerika in der Welt an erster Stelle stehen muss, genießt in den führenden Kreisen des Landes eine Art fundamentalistisch-religiösen Status und wird von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Sie ist nahezu das Einzige, worin sich die ansonsten tief miteinander verfeindeten Demokraten und Republikaner noch einig sind. Doch dieser Anspruch gefährdet Europas Wohlstand und Frieden, die europäische Idee und die Strahlkraft der »westlichen Werte«.
(West-)Europa hat Amerika viel zu verdanken: die Befreiung von der Nazi-Herrschaft und den Schutz gegen die kommunistische Bedrohung aus dem Osten während des Kalten Krieges. Für uns Deutsche kommt noch die Hilfe beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und bei der Wiedervereinigung des geteilten Vaterlandes hinzu.
Auch wenn die USA all dies nicht aus purer Nächstenliebe, sondern vor allem im Eigeninteresse getan haben, macht das ihr Handeln für uns nicht weniger wertvoll. Die eigenen Interessen zu verfolgen ist das Wesen jeder Außenpolitik. Über vier Jahrzehnte lang nach dem Krieg fielen Amerikas und Europas, speziell Deutschlands Interessen weitestgehend zusammen. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Imperiums haben sie sich allerdings zunehmend auseinanderentwickelt. Als alleinige und konkurrenzlose Supermacht hatten die USA nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, der die Welt fast ein halbes Jahrhundert in zwei feindliche Blöcke trennte, die Chance, Schwerter zu Pflugscharen umzuschmieden, die Friedensdividende zu nutzen, um ein sozialeres und gerechteres Amerika sowie eine friedlichere und gerechtere, multipolare Welt zu schaffen. Die Regierenden in Washington entschieden sich jedoch anders.
Im Laufe des jahrzehntelangen Kalten Krieges mit der Sowjetunion war der militärisch-industrielle Komplex, vor dem schon der Ex-General Dwight D. Eisenhower bei seinem Abschied aus dem Präsidentenamt gewarnt hatte, so groß und mächtig geworden, dass er die Außenpolitik des Landes bestimmen konnte. Der Rüstungs- und Sicherheitssektor hatte sich an die Hunderte von Milliarden Dollar Steuergelder gewöhnt, die er jährlich erhielt, und wollte nicht auf sie verzichten. Abrüstung und Frieden mussten deshalb verhindert werden. Hinzu kam, dass die USA nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs als alleinige Weltmacht verblieben waren. Monopolen wohnt jedoch eine natürliche Tendenz zu wachsender Arroganz und Rücksichtslosigkeit inne. »Macht korrumpiert«, so der britische Politiker und Historiker Lord Acton, »absolute Macht korrumpiert absolut.« Die amerikanische Außenpolitik nahm so immer deutlicher neoimperialistische Züge an.
Dies bekamen auch Amerikas engste Verbündete in Europa zu spüren. Statt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks dabei zu helfen, Russland in eine europäische Sicherheitsstruktur einzubinden, ökonomisch enger an Europa zu koppeln und so den gesamten Kontinent nachhaltig zu befrieden, hat Washington dies absichtsvoll hintertrieben. Das bei der Wiedervereinigung Deutschlands gegebenes Versprechen, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, wurde gebrochen. Mit der Zeit rückte das Bündnis bis an die russische Grenze vor; von den inzwischen 30 NATO-Mitgliedern gehörte ein rundes Dutzend einst dem gegnerischen Lager des Warschauer Pakts an.
Washingtons Versprechen war von Anfang an nicht wirklich ernst gemeint. Bereits im Zweiten Weltkrieg hatte der einflussreiche Council on Foreign Relations, in dem sich Amerikas außenpolitische Elite versammelt, eine von den USA dominierte Nachkriegswelt geplant. Allem voran galt dies für die eurasische Landmasse, die der britische Geograf und Vater der Geopolitik, Halford Mackinder, als »Welt-Insel« bezeichnet hat. »Die Vorherrschaft über den eurasischen Kontinent« stelle »die entscheidende Grundlage für die Vorherrschaft in der Welt insgesamt« dar, schrieb später Zbigniew Brzeziński, Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter in dem geostrategischen Klassiker »The Grand Chessboard«. Schon die Gründung der NATO 1949 hatte deren ersten Generalsekretär Lord Ismay zufolge den Zweck, »die Amerikaner drin, die Russen draußen« und die Deutschen als stärkste (Wirtschafts-)Macht Europas politisch und militärisch »klein zu halten«.
Die Vorherrschaft einer anderen Macht über Eurasien zu verhindern ist bis heute die zentrale außenpolitische Maxime der ersten Weltmacht, die nicht aus Eurasien kommt. Sie impliziert, China, Russland und die EU sowohl möglichst auf Distanz zueinander zu halten als auch ihren Aufstieg bzw. Machtzuwachs zu verhindern. Letztlich erklärt dies auch, warum Washington die deutsche Wiedervereinigung unterstützte: Sie bot Amerika die Chance, seinen Brückenkopf in Europa nach Osten hin auszubauen.
An Mackinder und Brzeziński orientierten sich auch die US-amerikanischen Interventionen der vergangenen Jahre im Nahen und Mittleren Osten. Nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York sah Washington die Gelegenheit gekommen, seinen lang gehegten Plan umzusetzen, in der Region die uneingeschränkte Vorherrschaft zu erlangen. Auf den Anschlag, der rund 3.000 unschuldige Menschen das Leben kostete, antworteten die Vereinigten Staaten mit einem beispiellosen Rachefeldzug, der Hunderttausenden ebenfalls Unschuldigen den Tod brachte und Millionen zur Flucht trieb. Nach dem Angriff auf die Twin Towers habe sein Land »das Wohlwollen und die Sympathie« der ganzen Welt gehabt, so der amerikanische Regierungskritiker Edward Snowden. Amerika hätte diesen »seltenen Moment der Solidarität« nutzen können, um demokratische Werte zu festigen. »Stattdessen zog es in den Krieg.« Der Einmarsch zuerst in Afghanistan und dann in den Irak galt von Anfang an nicht nur der Terrorbekämpfung. Es ging vor allem auch um Geopolitik. Ziel war, »auf dem gesamten Gebiet der früheren Sowjetunion und in Eurasien US-freundliche Regime zu erzwingen oder zu installieren«, so der damalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, »full spectrum dominance«, wie es in der Sprache des Pentagon heißt. In derselben Absicht wurden später auch der Umsturz in der Ukraine und der Bürgerkrieg in Syrien befeuert.
Amerika ist mit Gewalt noch nie sparsam umgegangen. In den 240 Jahren seiner bisherigen Geschichte waren ganze 16 frei von militärischen Auseinandersetzungen. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs und besonders nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 ließ Washington jedoch die letzten Hüllen fallen. In Amerikas Außenpolitik herrschte immer mehr das offene Faustrecht. Aus den Werten des Westens wurden die Werte des Westerns. Die Kluft zwischen den USA und Europa riss immer weiter auf: Amerikas Kriege im Nahen und Mittleren Osten lösten eine Fluchtwelle in Richtung Europa aus; die Sabotage der Welthandelsorganisation WTO bedroht die Globalisierung; der Ausstieg aus der Weltgesundheitsorganisation WHO behindert die Überwindung der Corona-Pandemie, das Verlassen des Pariser Klimaschutzabkommens den Kampf gegen den Klimawandel; die Kündigung des Atomabkommens mit dem Iran und diverser Abrüstungsabkommen mit Moskau gefährdet den Frieden; die exterritorialen Sanktionen wegen der Gaspipeline Nordstream II von Russland nach Deutschland belasten speziell die Beziehungen zwischen Berlin und Washington. »Das Wesentliche und das Grundsätzliche, die Erhaltung der Freiheit und des Friedens als die höchsten Güter der Menschheit« seien in den Vereinigten Staaten und in Europa »in gleicher Weise Ziel der Politik«, meinte einst Deutschlands erster Bundeskanzler Konrad Adenauer. Selbst wenn dies seinerzeit gestimmt haben mag – heute lässt es sich so nicht mehr sagen. Die USA gelten inzwischen weithin als die größte Bedrohung für den Frieden in der Welt.
Zur Entfremdung gegenüber Europa trägt auch der innere Zerfall Amerikas bei. Das Land der Freiheit, Chancengleichheit und Demokratie ist zu einer Oligarchie verkommen, der Rechtsstaat weist tiefe Risse auf, wirtschaftliche Produktivität und Zukunftschancen schwinden, die Mittelschicht schmilzt dahin, soziale Ungleichheit und Rassismus wuchern, die Gesellschaft war seit dem Bürgerkrieg nicht mehr so gespalten. Das Motto der Vereinigten Staaten, E pluribus unum, scheint auf den Kopf gestellt. »Aus Vielen Eines« hat sich zu »Aus Einem Viele« gewandelt. Amerika ist nur noch ein Schatten von einst. Der Mythos verblasst. Corona hat dies für alle offensichtlich werden lassen. Die Seuche, so der amerikanische Buchautor George Parker in der Zeitschrift »The Atlantic«, sei über sein Land gekommen wie über einen Patienten »mit Vorerkrankungen«, sie habe offengelegt, was in Amerika »alles schon zerbrochen war«, es gehöre zur »Hochrisikokategorie«. Parkers Fazit: »Wir leben in einem gescheiterten Staat.« Die nachfolgenden durch rassistische Polizeigewalt ausgelösten, teilweise bürgerkriegsähnlichen Unruhen und die turbulenten Geschehnisse rund um die jüngste Präsidentschaftswahl und den Machtwechsel im Weißen Haus haben dieses Urteil eindrucksvoll bestätigt.
Parallel zum Niedergang der USA verlagerte sich die ökonomische Dynamik in der Welt zunehmend nach Asien, besonders nach China. Nicht zuletzt, weil Amerika in immer neuen Kriegen Billionen Dollar verschwendete und sich selbst schwächte, droht ihm China schon bald den Rang der größten Volkswirtschaft der Welt abzulaufen. Washington sieht seine Hegemonialstellung bedroht. Der Kampf gegen den geopolitischen Konkurrenten ist an die Spitze der außenpolitischen Prioritätenliste vorgerückt. Und auch bei diesem Kampf nimmt Amerika keine Rücksicht auf die Interessen Europas. Das »größte globale Machtspiel der Menschheitsgeschichte«, wie der chinesische Strategieexperte Liu Mingfu die Eindämmungspolitik der USA gegenüber China nennt, bedroht nicht nur die Globalisierung und damit den Wohlstand, den diese gerade auch Europa gebracht hat. Die damit verbundene drohende Spaltung der Welt in zwei Lager erhöht auch die Gefahr eines neuen Kalten, ja vielleicht sogar heißen Krieges.
Den außenpolitischen »Schwenk nach Asien« mit der Absicht, China einzudämmen, hat nicht erst Donald Trump vollzogen, sondern bereits sein Vorgänger Barack Obama. Und die geopolitische Rivalität mit Peking wird sich auch unter dessen ehemaligem Vize- und heutigen Präsidenten Joseph Biden fortsetzen. Sie könnte sich sogar noch verstärken. Denn Biden muss vor allem die tiefe politische Spaltung des Landes beenden. Die Geschichte ist reich an Beispielen dafür, wie Politiker dies durch Mobilisierung der Bevölkerung gegen einen äußeren Feind bewerkstelligen wollten. Für Orville Schell, Direktor des Center on US-China Relations bei der Asia Society, steht jedenfalls fest: »Mit den Demokraten bekommt man vielleicht mehr Höflichkeit an der Spitze der Regierung. Aber in der amerikanischen Politik gibt es derzeit nirgends eine Wählerschaft, die für Zusammenarbeit mit China steht.«
Ob die Rivalität zwischen den USA und China die Welt in einen neuen Kalten Krieg führt und am Ende vielleicht sogar in einen militärischen Konflikt mündet oder halbwegs friedlich verläuft, hängt nicht zuletzt auch davon ab, wie Europa sich verhält. Der amerikanische Außenpolitikexperte Chas Freeman jr. hat den Aufstieg Chinas und Asiens in Verbindung mit dem Niedergang Amerikas einmal als einen Zustand der »Entropie in der Geopolitik« bezeichnet. Damit die damit verbundene politische Hitze nicht irreversibel zunimmt und irgendwann zur Explosion führt, muss ein anderes System sie aufnehmen und abkühlen. Nach Lage der Dinge kommt dafür nur Europa infrage. Allein Europa kann Amerika davon überzeugen, dass es kein natürliches Recht auf eine ewige Hegemonialstellung gibt und es nicht nur für die Menschheit insgesamt, sondern am Ende auch für es selbst besser ist, den geordneten Rückzug anzutreten und einen friedlichen Übergang zu einer multipolaren Weltordnung aktiv mitzugestalten. »Ohne eine gewisse Basis für eine gemeinsame Zusammenarbeit«, so Henry Kissinger, der Altmeister der amerikanischen Diplomatie, über das Verhältnis seines Landes zu China, »wird die Welt in eine Katastrophe schliddern, die mit dem Ersten Weltkrieg vergleichbar ist.«
Wenn überhaupt jemand, dann kann nur Europa das Ende der Globalisierung, einen Kalten Krieg 2.0 oder gar einen Dritten Weltkrieg verhindern. Mit dem Aufbau der Europäischen Union hat es das bisher größte Friedenswerk der Weltgeschichte geschaffen sowie nach Amerika und China global am meisten Gewicht und zugleich Glaubwürdigkeit, weil es selbst ohne hegemonialen Ehrgeiz ist. Um diese welthistorische Vermittlerrolle übernehmen zu können, muss Europa sich aber zuerst vom Gängelband Amerikas lösen. Werden die führenden Politiker in Berlin und Paris, Rom und Madrid und in den anderen Hauptstädten der EU die Fantasie und den Mut dazu aufbringen? Oder werden sie dem Druck Washingtons nachgeben und aufgrund der traditionellen »Werte-Gemeinschaft« mit Amerika oder aus Unkenntnis und Angst vor China davor zurückschrecken?
Im letzten Kalten Krieg musste das freie und demokratische Europa sich gegen Expansionsgelüste des benachbarten kommunistischen Sowjetblocks verteidigen und war dazu auf den Beistand Amerikas angewiesen. Von dem fernen China hat es heute außer einer verschärften wirtschaftlichen Konkurrenz kaum etwas zu befürchten. Das verschafft ihm strategischen Freiraum und Einflusspotenzial, nicht nur gegenüber den Vereinigten Staaten, sondern auch gegenüber China: Für einen Kalten Krieg mit Peking ist Washington auf Europa angewiesen. China wiederum kann ohne die Kooperation der Europäer sein geopolitisches Hauptziel nicht erreichen, Eurasien wieder zum Zentrum der Weltwirtschaft und Weltpolitik zu machen.
Geschichte heißt Veränderung. Wenn die Verhältnisse sich ändern und mit ihnen die Interessenlage, muss sich auch die Politik ändern. Wie die USA mit ihrem »Pivot to Asia« den Schwerpunkt ihrer Außenpolitik von Europa nach Asien verlagert haben, so muss auch Europa seine Aufmerksamkeit von der traditionellen transatlantischen Verbindung weg stärker auf diesen Kontinent richten. Anders als Amerika allerdings nicht in der Absicht, Chinas weiteren Aufstieg zu bremsen oder zu verhindern, sondern um diesen möglichst optimal für sich selbst zu nutzen und zugleich dafür zu sorgen, dass die Weltgemeinschaft insgesamt möglichst stark davon profitiert. Historisch betrachtet wäre eine stärkere Hinwendung Europas nach Asien ohnehin nur eine Rückkehr zur Normalität. Bis vor etwa 200 Jahren lag der Schwerpunkt von Weltwirtschaft und Weltpolitik immer in Eurasien.
Die Chancen einer solchen Re-Fokussierung überwiegen die Risiken bei Weitem. Eine strategische Kooperation insbesondere bei der Initiative »Neue Seidenstraße« würde Europa (und vor allem Deutschland), gerade nach den Verwüstungen der Coronakrise, sowohl beträchtliches neues Wachstumspotenzial verschaffen, als auch die drohende Zunahme von Massenmigration aus Asien und Afrika entschärfen und so die Gemeinschaft stabilisieren. Mit einer ebenso klugen wie prinzipientreuen Fernostpolitik analog zur seinerzeitigen deutschen Ostpolitik Willy Brandts könnte Europa einen Kalten Krieg oder gar einen Schießkrieg zwischen den USA und China (plus Russland) verhindern, der die ganze Welt ins Unglück stürzen würde. Die Emanzipation von Amerika und die Übernahme einer führenden Rolle bei der Herausbildung einer friedlichen multipolaren Weltordnung böten zudem eine neue, kraftvolle Erzählung, die vor allem die Jugend auf diesem Kontinent wieder für das europäische Projekt begeistern könnte. Ein solches Narrativ ist dringend vonnöten. Ein Dreivierteljahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist mit der abnehmenden Kriegsangst auch der Schwung des europäischen Einigungsprozesses erlahmt, die Idee von Europa verblasst. Wenn es eine Zeit »ehrt, dass sie genug Mut aufbringt, Angst vor dem Krieg zu haben«, wie der Schriftsteller Albert Camus mit Blick auf das Nachkriegs-Europa schrieb, so ist unsere Zeit dabei, diese Ehre immer mehr zu verlieren.
Europas Interessen decken sich weder mit denen der USA noch mit denen Chinas. Wir müssen uns deshalb auch nicht zwischen diesen beiden Mächten entscheiden, wie manche meinen, sondern vielmehr einen dritten, unseren eigenen Weg wählen. Die Frage lautet nicht: Amerika oder China? Sondern: Findet Europa sich damit ab, nicht Herr seines eigenen Schicksals zu sein und nur zuzuschauen, wie andere darüber entscheiden? Begnügt es sich weiter mit der Rolle des kleinen Bruders in einer ungleichen atlantischen Allianz? Oder emanzipiert es sich aller Dankbarkeit für Hilfe und Beistand in der Vergangenheit zum Trotz vom großen Bruder Amerika, verschafft sich geostrategische Autonomie und verfolgt konsequent seine eigenen Interessen, um seinen Wohlstand und Zusammenhalt, seine Werte, Identität und eine führende Rolle in der Welt zu sichern?
Sich von den USA zu emanzipieren bedeutet nicht, die sogenannte Pax Americana, die zuletzt nicht mehr viel Friedliches an sich hatte, durch eine Pax Sinica zu ersetzen. Das Ende des Machtmonopols der USA darf nicht in ein neues Monopol münden. Monopole jeder Art sind schädlich, in der Politik noch mehr als in der Wirtschaft. International noch mehr als national. Sich aus den Armen des großen Bruders USA zu befreien heißt nicht, sich China in die Arme zu werfen. Dies wäre geradezu widersinnig. Denn China teilt unsere Vorstellungen von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten anders als die USA nicht einmal auf dem Papier. Und das wird auf absehbare Zeit auch so bleiben. Sich dem Aufstieg des volkreichsten Landes der Erde nicht entgegenzustellen und mit ihm wo immer möglich zum eigenen Vorteil zusammenzuarbeiten kann nicht heißen, die bestehenden tiefgreifenden ideologischen Gegensätze zu ignorieren. Es bedeutet nur, die Kultur und Ideale des Westens nicht auf die gesamte Welt zu projizieren, andere Zivilisationen mit anderer Geschichte, anderen Wertvorstellungen und einem anderen Entwicklungsstand zu respektieren und sie nicht mit Gewalt, sondern durch konsequentes Vorleben der eigenen Werte von deren Überlegenheit überzeugen zu wollen.
Dieses Buch ist somit kein Plädoyer für einen Pakt mit einem autoritären Regime. Es ist ein Plädoyer für die Freiheit eines jeden Landes, selbst zu entscheiden, welchen Weg es einschlagen will. Und es geht davon aus, dass Demokratie, Rechtsstaat und Schutz der Menschenrechte in China (und auf der ganzen Welt) durch kritisch-konstruktive Zusammenarbeit eher gedeihen können als durch eine Politik der Konfrontation, des Regimewechsels und Kalten Krieges.
Eine stärkere Hinwendung Europas zu Eurasien bedeutet auch nicht eine endgültige Abkehr von Amerika und schon gar kein Aufkündigen der westlichen Grundwerte. Ganz im Gegenteil. So wie Amerika sich entwickelt hat, vermag es diese sogenannten »westlichen Werte« inzwischen nicht mehr glaubhaft zu vertreten. Als Alibi für Hegemonialstreben benutzt und anderen Staaten gewaltsam übergestülpt, haben sie rund um die Welt schon jetzt stark an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Ein von den USA unabhängiges Europa, das diese Werte auch im internationalen Umgang miteinander exemplarisch vorlebt und auf ihre Strahlkraft im friedlichen Wettstreit der Systeme vertraut, vermag ihnen wieder neue Geltung zu verschaffen. Im engen politischen und militärischen Schlepptau der USA dagegen kann sich auch Europa nicht mehr mit der nötigen Überzeugungskraft als Hort des Friedens und der Freiheit präsentieren.
Allein schon weil die Europäische Gemeinschaft bei der Rettung der Welt vor dem ökologischen Armageddon die Vorreiterrolle anstrebt, muss sie sich von den Vereinigten Staaten unabhängig machen. Denn diese sind durch ihren hohen Ölverbrauch, ihre starke eigene Ölförderindustrie und auch die Bedeutung des Petrodollars für ihren Lebensstandard mit dem fossilen Brennstoff Erdöl in ganz besonderer Weise verbunden. Das gilt auch nach dem Wiederbeitritt zum Pariser Klimaabkommen. Ein Kalter Krieg gegen China würde den Kampf gegen den Klimawandel von vorneherein zum Scheitern verurteilen. Zwar produziert das Land pro Kopf nicht einmal halb so viel, aber in absoluten Mengen das Doppelte an Kohlendioxid wie die USA und dreimal so viel wie Europa. Mit der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung des Landes werden diese Emissionen zunächst sogar noch zunehmen. Peking selbst sieht den Scheitelpunkt für den CO2-Ausstoß in China nicht vor 2030 und sogenannte »Klimaneutralität« erst 2060. Und auch das nur unter der Annahme, dass es nicht zu einer Teilung der Welt in zwei sich feindlich gegenüberstehende Blöcke kommt.
Wer fürchtet, ein unabhängiger Weg, der sich auf die Prinzipien der friedlichen Koexistenz und des Völkerrechts stützt, drohe Europa letztlich zu einer Kolonie Chinas zu machen, verkennt nicht nur die Entwicklung dieses Landes und seine Absichten, er hat unseren Kontinent bereits abgeschrieben und kann ihn sich offenbar nur noch als Wurmfortsatz Amerikas vorstellen. Wer erwartet hat, ein so großes und altes Land wie China mit einer von der westlichen so verschiedenen Kultur werde mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung zu einem Abziehbild des Westens, und jetzt, da dem immer noch nicht so ist, das »Ende der Naivität« gegenüber dem Land ausruft, war selbst mehr als nur naiv. Es war arrogant und kulturimperialistisch. Wenngleich nicht in dem Tempo und Maße, in dem viele in der westlichen Welt sich das wünschten, hat China sich in den zurückliegenden Jahrzehnten im Übrigen in vielfacher Hinsicht dem Westen angenähert und tut dies weiter. Nur so ist dem Land überhaupt sein fulminanter Aufstieg gelungen. Als Gegner oder Feind wird es erst wahrgenommen, seit es von einem Produzenten von Billigprodukten zu einem ernsthaften Konkurrenten herangewachsen ist. In der Ära Mao Zedongs war der ideologische Graben zwischen China und dem Westen viel breiter und tiefer; Demokratie, Rechtsstaat und Schutz der Menschenrechte fehlten in China damals noch viel mehr als heute. Und das Wirtschaftssystem des Landes war seinerzeit ungleich sozialistischer. Im geopolitischen Ringen mit der Sowjetunion hat all das die USA damals nicht davon abgehalten, das maoistische China auf seine Seite zu ziehen, die gegenüber dem Land verhängte Wirtschaftsblockade abzubrechen, wieder diplomatische Beziehungen mit ihm aufzunehmen und es als ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat zu holen.
Nicht nur deswegen ist die ideologische Verteufelung Chinas vor allem durch Amerika so unglaubwürdig: Dort sind Demokratie, Rechtsstaat und Schutz der Menschenrechte selbst nicht mehr, was sie einmal waren. Das Land ist zu einer Plutokratie geworden und sogar der friedliche Machtwechsel durch Wahlen nicht mehr selbstverständlich; der militärisch-industrielle Komplex und die Geheimdienste haben in dem Land unziemlich viel Macht an sich gerissen; seine Bürger den Glauben an die Gründungsidee, den amerikanischen Traum, die Aufstiegschance für jeden, verloren.
Vor einem halben Jahrhundert schrieb der französische Politiker und Publizist Jean-Jacques Servan-Schreiber ein Buch mit dem Titel »Le Défi Americain« auf Deutsch: »Die amerikanische Herausforderung«. Es trug wesentlich zu dem Bewusstsein bei, dass sich Europa nur vereint erfolgreich gegen die damals drohende Übermacht der USA zur Wehr setzen kann, und gab der europäischen Einigung wichtige Impulse. Heute hat Europa gleich eine doppelte Herausforderung zu bewältigen: den Niedergang der USA und den gleichzeitigen Aufstieg Chinas. »Wir erleben gerade das Ende der westlichen Hegemonie«, rief Servan-Schreibers Landsmann, der französische Präsident Emmanuel Macron, in einer bemerkenswerten, aber in Deutschland leider viel zu wenig beachteten außenpolitischen Grundsatzrede seinen Botschaftern auf deren Jahrestagung Ende August 2019 in Paris zu.
Nach der Finanzkrise von 2008 haben Corona und die Ereignisse rund um den jüngsten Machtwechsel in den USA den Westen ein weiteres Mal schwer geschwächt, Asien und besonders China dagegen gestärkt. Grundlegende geopolitische Entwicklungen, die sich schon seit einiger Zeit zunehmend Bahn brechen, sind an einer kritischen Weggabelung angelangt. Dieses Jahrzehnt wird über den Verlauf des gesamten Jahrhunderts entscheiden. Die Welt muss neu vermessen werden. Drei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat Europa erneut ein Rendezvous mit der Geschichte. Der weltpolitische Gezeitenwechsel stellt unseren Kontinent vor eine große Herausforderung, bringt zugleich aber auch große Chancen mit sich. Erstere kann Europa nur bestehen und Letztere nur wahrnehmen, wenn es sich von Amerika emanzipiert.
Die Parole »Ami go gome!«, die diesem Buch als Titel dient, wird meist von Antikapitalisten, Pazifisten, Nationalisten oder Parteigängern Moskaus und Pekings erhoben. Ich war nie und bin auch heute nicht einer dieser Kategorien zuzurechnen. Obwohl ich noch nie daran glaubte, dass Amerika das von Gott auserwählte Land ist, als das es sich selbst gerne betrachtet, gehörten ihm seit frühester Jugend meine Neugier und Sympathie. In meiner südwestpfälzischen Heimat bin ich neben vielen Tausend dort stationierten GIs aufgewachsen, habe von ihnen amerikanisches Englisch und manches andere gelernt. Später, als Student, demonstrierte ich zwar gegen den Krieg in Vietnam und den Sturz des gewählten Präsidenten Salvador Allende in Chile mithilfe der CIA. Aber das ließ mich genauso wenig zum Amerika-Feind werden wie dies die vielen Amerikaner waren, die damals genau dasselbe taten.
Direkt im Anschluss an mein Studium reiste ich monatelang kreuz und quer durch die Staaten. Dabei schloss ich zahlreiche Freundschaften, die zum Teil bis heute anhalten. Meine Frau hat in Amerika enge Verwandte. Über die Jahre habe ich immer wieder ausgedehnte Urlaubsreisen in dem Land gemacht: Diese und die beruflichen Reisen, die mich öfter über den Nordatlantik führten, gehörten stets zu meinen liebsten. Viele Jahre engagierte ich mich auch im Board of Trustees des American Institute for Contemporary German Studies in Washington für die Freundschaft zwischen Deutschland und den USA.
Es gibt für dieses Amerika-kritische Buch keinen Heureka-Moment wie die plötzliche Einsicht in das Prinzip des spezifischen Schwergewichts, die der griechische Mathematiker Archimedes eines Tages beim Baden hatte. Meine Einsicht, dass Europa sich von den USA emanzipieren muss, stellte sich allmählich ein. Liebe erkaltet langsam. Und, so Arthur Schnitzler, »das Ende einer Liebe erhöht die Sehschärfe«. Meine Liebe zu Amerika ist in den Jahren nach der Wiedervereinigung und nach 9/11 erkaltet, in denen Washington sein Machtmonopol in der Welt immer ungenierter und rücksichtloser auslebte. Der Gegensatz zwischen hehrem moralischem Anspruch und einer von reinem Machtkalkül bestimmten Wirklichkeit wurde im Laufe der Zeit einfach zu groß und drängte zur Auflösung.
Wenn Liebe schwindet, erwächst daraus entweder vornehmlich Wut wegen der Enttäuschung oder Trauer über den Verlust. Bei mir ist es eher Letzteres. Zusammen mit zig Millionen Amerikanern und Hunderten Millionen Menschen in aller Welt wünsche ich mir ein anderes Amerika. »Ami go home!«, der Titel dieses Buches, bedeutet deshalb nicht »Amerika hau ab!«, sondern: »Amerika, geh und mach deine Hausaufgaben!« Ami go home to do your homework! Erinnere dich des großartigen Versprechens deiner Unabhängigkeitserklärung und konzentriere dich darauf, es für alle Amerikaner einzulösen: Life, Liberty and the Pursuit of Happiness. Hör auf, in seinem Namen Krieg zu führen und die Welt zwangsbeglücken zu wollen! Lass ab von deinem Monopolanspruch und teile die Macht mit anderen!
Leser, die bei der Lektüre dieses Buches an der einen oder anderen Stelle das Gefühl beschleicht, Amerika komme gerade im Vergleich mit China zu schlecht weg, mögen sich vergegenwärtigen, dass dieses Buch geschrieben wurde, um die Notwendigkeit einer Emanzipation Europas von den USA zu begründen, nicht eine Allianz mit China. Eine solche steht nicht zur Debatte. Anverwandte, Freunde, Werte- und Bündnispartner müssen höheren Anforderungen gerecht werden als Geschäftspartner oder Partner in einer reinen Interessenkoalition. Der Westen kann seine Krise auch nicht überwinden, indem er mit dem Finger auf andere zeigt; er muss vor der eigenen Tür kehren.
Harte Kritik und der Versuch zu helfen schließen sich nicht aus. Die USA brauchen jetzt das, was dort »tough love« heißt: eine ebenso harte wie wohlmeinende Haltung, die einem anderen dadurch helfen will, dass sie ihn dazu bringt, sich selbst zu helfen und sich zu ändern. Europa kann Amerika aber nur durchgreifend und nachhaltig helfen, wenn es sich von ihm emanzipiert. Denn nur als unabhängige und eigenständige Größe kann es genug Druck ausüben, um Washington zu einem geordneten Rückzug von der alleinigen Hegemonialstellung zu bewegen und davon zu überzeugen, dass eine gerechte Teilung der Macht in der Welt am Ende für alle besser ist. Ein wirklich souveränes Europa ist nicht nur Voraussetzung für ein besseres Europa, sondern auch für ein besseres Amerika. Genauso wie für ein besseres China. Und damit für eine bessere Welt.
Köln, im Januar 2021
Stefan Baron
»Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung«, soll der britische Ökonom John Maynard Keynes einst einem Kritiker erwidert haben, der ihm vorwarf, anderen Sinnes geworden zu sein. In der Geschichte ändern sich die Dinge laufend, es ist geradezu das Wesen der Geschichte. Bliebe alles immer gleich, wäre dies ihr Ende.
Die wichtigsten Fakten im Verhältnis von Staaten untereinander sind ihre Interessen. Wandeln sie sich, muss auch ihr Verhältnis zueinander angepasst werden. »Wir haben weder ewige Verbündete noch immerwährende Feinde«, so das berühmte außenpolitische Diktum von Keynes’ Landsmann Viscount Palmerston. »Ewig und immerwährend aber sind unsere Interessen.« Diese zu verfolgen sei die »Pflicht« der Staatenlenker.
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich Europas Interessen gegenüber Amerika grundlegend geändert: Die USA, lange Zeit einzige Supermacht in der Welt, büßen seit Jahren progressiv an Kraft und Strahlkraft ein, das Schwergewicht der Weltwirtschaft und Weltpolitik verlagert sich zunehmend von ihnen weg hin nach China. Gleichwohl lehnt Washington es ab, die Bühne mit Peking zu teilen, und versucht, den drohenden Verlust seiner Hegemonialstellung mit aggressiver Eindämmungspolitik zu verhindern. Dabei setzt es nicht nur seinen größten zivilisatorischen Beitrag zur Weltgeschichte, die Globalisierung, sondern auch den Frieden aufs Spiel und schadet damit nicht zuletzt auch den Interessen seiner langjährigen Verbündeten in Europa.