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Herausragendes Debüt: die Geschichte Pakistans mit einer zärtlichen Liebe im Mittelpunkt Brooklyn, 2022: Ayukta schuldet ihrer Frau eine Antwort auf die Frage, die sie immer vermieden hat: Sollen sie ein Kind bekommen? Die Entscheidung wird durch die Geschichte ihrer Familie erschwert – denn Ayukta trägt nicht nur ihre eigenen Erinnerungen in sich. Ein Ahnengedächtnis, das sich über tausend Jahre erstreckt und alle Frauen in ihrer Familie miteinander verbindet, ist gleichzeitig eine unmögliche Bürde und ein unglaubliches Geschenk. Ayukta durchlebt das Trauma ihrer Großmutter Amla, die vor dem Tod ihrer Mutter ein glückliches Kind in Karatschi war und während der Teilung des Landes auswandern muss. Amlas Tochter Arni führt uns nach Gujarat im Jahr 1974, wo die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Unterschiede zwischen den städtischen Klassen herausgefordert werden, während eine von Studenten angeführte politische Bewegung für instabile Verhältnisse sorgt. Ayukta erzählt nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern auch die blutigen Jahre der Teilung ihres Heimatlandes, ganze Jahrzehnte voller Liebe, Verlust, Herzschmerz und Wiedergeburt.
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Seitenzahl: 562
Veröffentlichungsjahr: 2025
Asha Thanki
Amlas Töchter
Roman
Aus dem Englischen von Nadine Mutz
HarperCollins
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel A Thousand Times Beforebei Viking, an imprint of Penguin Random House, New York City.
© Asha Thanki
Deutsche Erstausgabe
© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe
HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH
Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg
Covergestaltung von buxdesign, München
Coverabbildung von The Stapleton Collection / Bridgeman Images, papierrot von Ruth Botzenhardt
E-Book Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783749907847
www.harpercollins.de
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Für meine Nanima und meinen Nanabapu – in Anerkennung und Ehre
Nadya, als du mir das erste Mal gesagt hast, dass du Kinder willst, war ich wie erstarrt.
Das war nach unserem dritten Date, weißt du noch? Ich hatte dich in die Kunstgalerie eingeladen. Als du ankamst, spielte ich die Schüchterne, trank ein Glas Sekt nach dem anderen, begrüßte die Gäste. Wahrscheinlich wich ich sogar deinen Blicken aus. Das mit dir fühlte sich wichtig an; du hast mich an etwas erinnert, was ich schon mal gesehen, aber noch nicht selbst erlebt hatte. Schon möglich, dass es ein oberflächliches Gefühl war – ein Verlangen nach deinen Haaren, deinem Lächeln, danach, wie du dich bewegt hast in deinem burgunderroten Kleid. Vielleicht hatte es damit zu tun, wie das Licht auf deine Arme fiel und Schatten über deine Haut tanzen ließ. Aber das Gefühl der Wichtigkeit wurde mit jedem deiner Sätze, mit jedem Gedanken, den du mir anvertraut hast, stärker. Ich wollte am liebsten jedes Wort jeder Sprache in deiner Stimme hören. Ich glaube, ich wusste damals schon, dass ich dir für immer und ewig würde zuhören können.
Als ich endlich den Mut aufbrachte, etwas zu sagen, verlor ich mich in detaillierten Erklärungen zu jeder meiner Skulpturen. Du hast mich immer weiter dazu ermuntert: »Und was verbirgt sich hinter dieser hier?«, und ich habe immer weitergeredet, nervös, wie ich war.
Danach haben wir uns in deiner Wohnung über einer Flasche Wein Geheimnisse verraten. Erzähl mir was, was du noch nie jemandem erzählt hast. Du hast angefangen. Du hast mir so beiläufig und mit einer solchen Gewissheit von deinem Kinderwunsch erzählt, als hätte er sich vor deinem inneren Auge bereits verwirklicht. Wer die Person an deiner Seite sein würde, hast du nicht gesagt, und ich habe nicht nachgefragt, ob ich das sein könne. Und obwohl du mit dieser Vision deiner Zukunft keinen Zwang oder Druck ausüben wolltest – scheute ich davor zurück.
Als du mein Gesicht sahst, hast du gelacht und deine Offenbarung mit einem Schulterzucken abgetan: »Ich denke zu weit voraus.« Du hast das Weinglas an deine Lippen gepresst, und ich habe dir zugeprostet, mein Glas aber ohne zu trinken wieder abgestellt. In diesem Moment wollte ich dir so viel sagen, über meine Zukunft – unsere potenzielle Zukunft. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, aber ich wusste auch nicht, woran ich den richtigen Zeitpunkt erkennen würde.
Und dann vergingen sieben Jahre, einfach so, und ich wartete darauf, dass es mir keine Angst mehr machen würde, wie viel du mir bedeutest. Stattdessen fürchtete ich mich jeden Tag mehr davor, dass du mir nicht glauben würdest – dass ich dich verlieren könnte. Ich dachte immer wieder, dass ich dir einfach alles sagen sollte, ohne Umschweife, ohne viel Drumherum, aber es fühlte sich zu unmittelbar an, zu riskant.
Vielleicht sollte ich ihn einfach ausspucken, den merkwürdigen Satz, auf dem die Erwartungen von Generationen lasteten. Du würdest mich verlassen; und ich würde mir deinen Rücken einprägen, wenn es so weit wäre – samt den wippenden Locken. Oder ich könnte mich für immer davor drücken, bis wir an einen Punkt kämen, an dem wir, unglücklich miteinander, nicht mehr weiterwüssten, und du würdest dich immer noch fragen, warum ich Geheimnisse vor dir hegte, was es mit ihnen auf sich hatte, das so bedeutend sein konnte.
Oder vielleicht – vielleicht sollte ich dir erst von den Geschichten erzählen, die meine Mutter mir erzählt hat, als ich ein Kind war. Geschichten über ihre Mutter, über die Mutter ihrer Mutter und davor deren Mutter. Sie hatte immer noch mehr auf Lager, immer noch etwas Neues zu erzählen, wenn ich sie nach dem Namen einer Frau fragte, den ich nie zuvor gehört hatte. Als ich alt genug war, sie zu fragen, ob die Geschichten ein Geschenk oder ein Fluch seien, schüttelte meine Mutter den Kopf.
Sie sind ein Erbe, sagte sie.
Ich habe immer noch keinen Weg gefunden, mein Schatz, dir zu sagen, dass die Worte meiner Mutter buchstäblich so gemeint waren – so gemeint sind. Dass ich mich bei unserem dritten Date dafür entschieden habe, auf Zeit zu spielen, so lange, bis ich einen Weg finden würde, wie ich dir diese Geschichte erzählen, wie ich sie dir nahebringen könnte.
Ich überlege schon so lange, wie.
Schau, Nadya, das ist alles schon einmal passiert. All diese Entscheidungen – sich auf die Zunge zu beißen oder nicht – wurden von anderen Frauen vor mir erwogen. Jede einzelne von ihnen hat sich entschieden, eine Familie zu gründen und durch sie ihre Geschichte weiterzugeben. Ich weiß, dass die eine oder andere Zweifel hatte – ich kann mich an die Zweifel erinnern, ich träume sogar davon –, aber die Umstände haben am Ende alle dazu gebracht, die Frage mit Ja zu beantworten. Ja. Es muss getan werden. Ich werde ein Kind bekommen, und ich werde ihr meine Geheimnisse vermachen.
Ich will mit dir im Bett liegen und deine Nasenspitze küssen und dir erklären, dass es Momente gibt, in denen nicht mehr ich in meinem Körper bin, sondern die Erinnerung von jemand anderem. Dir erklären, dass es schon sehr lange so ist. Es geschieht, wenn ich meditiere oder in diesem Grenzbereich zwischen Wachen und Schlafen, aber meistens passiert es bei der Arbeit, wenn der trocknende Ton von meinen Händen bröckelt, wenn ich mit einer Skulptur einen ganz bestimmten Rhythmus gefunden habe. Dann spüre ich die Erinnerung einer Frau oder von ihnen oder uns allen zusammen – es ist manchmal schwer zu sagen, wo ich anfange oder aufhöre, Nadya –, und mein Körper und meine Kunst sind nicht mehr mein. Die Erinnerungen aller Frauen vor mir beherrschen meine Hände, meine Ohren, meinen angespannten Nacken. Und ich verkrieche mich in den Hintergrund meiner eigenen Gedanken. In diesen Momenten fühle ich mich klein, winzig gegenüber der langen Abstammungsfolge, die mich in Beschlag nimmt.
Ich habe mich schon gefragt, ob du merkst, wann du mich allein und wann in Gesellschaft antriffst. Vielleicht weißt du, wo ich anfange und aufhöre. Ich kann mich kaum an mich erinnern – bin mir unsicher, ob ich ich bin oder eine Summe von Leben. Was bin ich, abgesehen vom Kalzium in meinen Knochen, von den Strängen genetischen Materials meiner Mutter und ihrer Mutter und deren Mutter davor? All diese Fragen sind bereits gestellt worden.
Als wir neulich beim Abendessen mit deinen Eltern über zukünftige Enkelkinder scherzten und vom Baby deiner Cousine schwärmten, hast du eine Hand auf die deiner Mutter gelegt. »Kinder stehen für Ayukta und mich wahrscheinlich nicht auf dem Plan«, hast du zu ihr gesagt. »Aber das ist okay. Wir freuen uns wahnsinnig für Amar und Zainab, stimmt’s?«
Du hast mich beschwichtigend angesehen.
Mir wurde schwer ums Herz.
Du hast mich aufgegeben. Wann war das passiert? Hattest du diese Worte schon vorher zu deiner Mutter gesagt, um mir den Rücken freizuhalten, am Telefon oder wenn du sie ohne mich besucht hast? Ich habe nie gewollt, dass meine Nichtantwort dich von der einen Sache abbringen würde, die du so deutlich vor Augen gehabt hast. Du warst dir immer so sicher gewesen. Hast mir beim dritten Date, bei unserem vierten Glas Wein, den Entwurf deiner Zukunft anvertraut. Ich kann sehen, wie sich deine Augen mit Tränen füllen, wenn wir für deinen Bruder auf deine Nichten aufpassen, wenn unsere Freundinnen ihre Schwangerschaften bekannt geben.
In diesem Moment kehrte sich meine Angst um. Ich fürchtete nicht mehr, dass ich dich wegen meiner Zurückhaltung verlieren würde, sondern dass du bei mir bleiben und daran zerbrechen würdest. Es hatte bereits begonnen. Ich sah, wie du Raum für etwas schaffen wolltest, was du für meinen Wunsch hieltest, dieses stille Opfer – ich konnte nicht länger so ein Feigling sein.
In der Subway nach Hause kreisten meine Gedanken nur noch um dieses Thema, und dann buchte ich den Flug zu meinem Vater. Ich bin überstürzt abgereist, ich weiß; es tut mir leid, wie so vieles andere. Diese wenig überzeugenden Erklärungen, all mein Schweigen, enden mit dem heutigen Tag.
Das Wie ist nicht wichtig, das weiß ich jetzt. Darüber sprechen ist das Einzige, was zählt.
Und da sind wir nun: Du bist gerade mit einer braunen Take-away-Tüte auf dem Arm nach Hause gekommen. Du begrüßt mich mit einem Kuss und öffnest mit unterbrochenen Bewegungen die Klammern der Tüte. Die Luft füllt sich mit dem Duft nach Kokos- und Erdnusssoße, während du die Plastikschachteln auf dem Wohnzimmertisch verteilst. Erst als alles ausgepackt ist, hebst du den Blick und schaust mich prüfend an; deine Brauen ziehen sich besorgt zusammen. Ich sage, dass ich dir etwas erzählen muss – eine lange Geschichte, eine längst überfällige. Ich muss so ängstlich aussehen, wie ich mich fühle. Ich spiele mit den Ringen an meiner Hand, meine Knie zittern. Du nickst mir zu, also nicke ich zurück.
»Ich habe Angst, dass du mir nicht glaubst«, sage ich und ziehe einen gefalteten Wandteppich von seinem Platz neben der Couch in meinen Schoß. Der kratzige schwarzgraue Stoff liegt schwer auf meinem Oberschenkel.
Wie versteinert sitzen wir da – du mit verwirrtem Blick und ich viel zu schnell, viel zu laut atmend. Du bist es, die das Schweigen bricht.
»Eine Geschichte?«, fragst du mit betont fester Stimme.
Ich nicke.
»Dann erzähl sie mir wie eine«, sagst du, »und vielleicht verstehe ich sie ja.«
Ich erzähle dir zuerst von Amlas Kindheit – Karatschi, 1946.
Die Sonne brennt an diesem Morgen vom Himmel, die Luft ist so schwer, dass man sich an ihr verschlucken kann. Es herrscht allgemeine Lethargie: Die Marktverkäufer treiben die Preise ihrer Waren in die Höhe, Frauen schlagen in einem schleppenden Rhythmus frische Wäsche aus. Selbst die Autos ächzen schwerfällig vorwärts.
Amla sieht von ihrem Beobachtungsposten an der Balkonkante zu, ein Bein baumelt in der Luft, das andere steht fest auf dem Boden. Sie schleckt an einem großen Pistazien-Kulfi. Die schmelzende Eiscreme tropft auf ihre kleinen Hände und sammelt sich in der Mulde zwischen Zeigefinger und Daumen. Alle paar Augenblicke schlürft sie gedankenverloren die kleine Pfütze auf und saugt den kleinen Hautlappen zwischen die Zähne.
Sie liebt es, das Treiben auf der Straße zu beobachten, sich auszumalen, wie es wäre, sich unter die Leute zu mischen. Mit einem Fuß auf dem rauen Beton des Balkons fühlt sie sich sicher genug, um von der Welt da draußen zu träumen.
So sieht der Alltag der zehnjährigen Amla aus: Sie frühstückt mit ihrer Mutter, nur sie beide, denn der Vater ist zu der Zeit schon unten im Laden. Als sie klein war, wachte sie frühmorgens mit dem Duft von Ghee in der Nase auf, der von den frisch gebackenen Rotli aus der Küche herüberdrang, schwelgte in den Momenten, die einen frühmorgendlichen Abschied ausmachen, doch der Morgen scheint immer früher anzubrechen, wie es eben so ist, wenn man älter wird. Also isst sie jetzt später am Morgen ein einfaches Frühstück, bestehend aus Chaash und in Butter gebackenen Snacks aus Kichererbsenmehl, während der Vater längst in einem der drei familiengeführten Mithai-Shops mit einem Holzlöffel warme Milch, Zucker und Safran verrührt. Dann geht sie mit ihrer Mutter zum Markt, die Leinenbeutel fest unter den Arm geklemmt, um in der heißen Mittagssonne mit randvollen Taschen nach Hause zurückzukehren.
Amla gefällt dieses Muster; es gefällt ihr, dass alles immer gleich abläuft und sich jeder Tag mit Ba und Bapu genauso anfühlt wie der Tag zuvor. Zu wissen, dass ihre Welt nicht so stürmisch ist wie die da draußen, dass sie den ganzen Nachmittag an einem Kulfi schlecken kann und alle, die ihr wichtig sind, unbeirrt weiter ihr Leben leben, gibt ihr Sicherheit. All das – das Alltägliche, die unbeirrte Gelassenheit, die Tage, die wie ein Wimpernschlag vergehen – wird sie immer im Herzen tragen, besonders, wenn es damit einmal vorbei sein sollte. Dann – und auch das bleibt im Blut, brennt sich ins Gedächtnis ein, unser Gedächtnis, ein Gefühl, das über Generationen nachklingt – wird daraus eine Sehnsucht, eine Droge, nach der wir verlangen: der schläfrige Dunst eines Lebens voller Nichtigkeiten. Frühstück mit Ba. Einmal blinzeln. Töpfe mit Wasser auf dem Herd, Taschen mit frischem Gemüse über den Schultern. Einmal blinzeln. Unterrichtsnachmittage, die sie damit verbringt, auf ihrer Schiefertafel zu kritzeln, Nächte mit dünnen Baumwolldecken, bis zum Kinn hochgezogen. Dreimal blinzeln.
»Amla, komm und hilf«, ruft ihre Mutter von drinnen.
Amla schwingt das Bein wieder zurück auf den Balkon und beeilt sich, den geschmolzenen Zucker von den Händen abzuwaschen. Im Wohnzimmer ist Ba gerade dabei, ein schweres Stück Stoff von der Wand zu nehmen, befestigt an zwei rostigen Nägeln. Im Näherkommen bemerkt Amla, dass es sich bei dem Stoff nicht um einen Sari oder eine Decke handelt, sondern um einen Wandteppich, der mit Stickereien und kleinen aufgenähten Spiegeln so beladen ist, dass er schwer zwischen den Händen ihrer Mutter hängt. Der Oberfläche des schwarzen Stoffes entwachsen mit kleinsten Stichen gefertigte Szenen in vertrautem Rot und Grün, Frauen über Frauen, alle im Profil, manche mit den Händen kleiner Kinder in ihren eigenen, andere in Umarmung verbunden mit den Frauen vor oder hinter ihnen. Sie kneift die Augen zusammen; die Bilder tanzen, lauter hüpfende schwarze Punkte.
Der Wandteppich hing schon immer dort, Amlas ganzes kurzes Leben lang, und doch hat sie kaum eine Erinnerung daran. Sie hebt die Hand, um die Stickereien zu berühren, aber Ba ermahnt sie mit einem leisen Zischen. »Nimm die Enden«, sagt sie. »Hilf mir beim Falten.«
Amla greift nach den Enden, die ihr am nächsten sind, und hält sie hoch, um den Teppich vor dem staubigen Boden zu schützen. Sie betrachtet die Bilder jetzt aufmerksamer, aus der Nähe – oh, diese Frauen, die hintereinanderher marschieren wie in einer Parade, wobei die Farben des einen Rocks mit den Rändern des nächsten verschmelzen. Lorbeergrün mischt sich mit Senfgelb mischt sich mit Lila, Rot. Sie merkt, wie sie den Fokus verliert, in ihrem Kopf rauscht es, als strömte ihr das Blut plötzlich wärmer durch die Adern. Ba, denkt sie. Dadima. Mama. Ma. Eine Mutter. Deren Mutter, deren Mutter davor und davor und davor –
»Schau auf die Enden«, weist die Mutter sie an, und der Moment ist vorbei. Amla schüttelt den Kopf.
»Was ist –«
»Konzentriere dich nur auf die Ecken, dann lenkt es dich nicht so ab.«
Sie stehen sich gegenüber, falten den Wandteppich wie einen Sari. Der Stoff wird mittig zusammengelegt, die Ecken sorgfältig aufeinander, und diesen Vorgang wiederholen sie so lange, bis der Teppich nur noch ein kleines Viereck ist. Amla spürt, dass sie das Muster der Stickerei bereits vergisst.
Sie wendet sich ihrer Mutter zu, bereit, Fragen zu stellen, doch dann bleibt sie an ihren Gesichtszügen hängen. Den Umrissen ihrer Nase, ihres Kinns. An den langen Fingern und den jetzt nutzlosen Eisennägeln, die sie zwischen Zeigefinger und Daumen hin und her rollt. An den kantigen Schultern. Ba beugt sich vor, und Amla merkt, dass ihre Mutter ganz entrückt ist; als wäre Amla gar nicht mehr im Raum. Ergriffen von der Ehrfurcht ihrer Mutter, will sie wissen, was es mit diesem Stück Stoff auf sich hat, will dem Gefühl einen Namen geben, das ihre Mutter bereits zu begreifen scheint.
»Was guckst du da an?«, fragt Amla.
»Das sind die Frauen, die vor uns da waren, Amu«, sagt ihre Mutter. »Sie sind alle hier.«
»Bist du auch da?«
»Ja«, sagt sie.
»Werde ich auch mal da sein?«
»Ja, eines Tages.«
Amla weiß nicht, was das bedeutet. Aber Ba nimmt Amlas Hände und verflicht ihre Finger mit denen ihrer Tochter, und so bleiben sie schweigend sitzen, zwischen ihnen der gefaltete Teppich.
Ba verstaut den Wandteppich in ihrem Koffer, zusammen mit neuen Saris, goldenen Ohrringen und flachen Lederschuhen, alles in Vorbereitung auf eine Hochzeit in Delhi. Nach und nach – und das liegt am Wesen des Teppichs, nicht an der Vergesslichkeit eines kleinen Kindes – verblasst Amlas Erinnerung an den Stoff, und die nackte Wand wird Teil ihrer Wirklichkeit.
Draußen auf der Straße verändern die Stimmen ihren Ton. Amla ist sich nicht sicher, warum, und obwohl ich dir gerne erzählen würde, welche Worte dort wie gebraucht werden und wer an der Straßenecke auf der Seifenkiste steht, kann Amla sie nicht begreifen, und es interessiert sie auch gar nicht.
Ohnehin geht es nicht so sehr um das Wer als vielmehr um das Wie. Die Anspannung, die Dringlichkeit. Das Flehende.
Ich wünschte, sie wäre aufmerksamer gewesen, aber es ist auch nicht so wichtig. Du und ich, wir kennen die Geschichte, Nadya. Bis zur Teilung ist es weniger als ein Jahr. Hätte Amla zugehört, hätte sie die Schwere draußen in der Luft vielleicht verstanden. Sie hätte die wiederkehrenden Worte erkannt, wenn auch nicht deren Tragweite. Draußen stehen die Verkäufer dicht gedrängt vor der neuesten Ausgabe des Sind Observer und klopfen mit den Fingerknöcheln auf frisches Zeitungspapier; drinnen ziehen sich die gedämpften Unterhaltungen im vertrauten Gujarati ihrer Eltern bis spät in die Nacht. Amla linst durch die geschlossenen Augen: Eine einzelne Tischlampe beleuchtet von unten die Gesichter von Ba und Bapu in der Küche. Sie ist nicht gut genug darin, sich schlafend zu stellen; Bapu verstummt, sobald sie wach ist, sosehr sie auch versucht, tief und gleichmäßig zu atmen.
»Lass sie noch klein sein«, sagt er dann. »Zehn ist auch so schon ein schwieriges Alter.«
Sie fühlt sich zu Hause sicher, trotz der Worte, die draußen um sich greifen, trotz der Gedanken, die manche als gefährlich bezeichnen. Amla weiß nicht, dass sie sich eigentlich fürchten sollte; sie weiß nur, wie ihr Vater ihre Mutter fragt, ob sie wirklich zu der Hochzeit in Delhi fahren wolle, ob dies der richtige Zeitpunkt sei, ob sie nicht lieber auf die Hochzeit der jüngeren Nichte warten und sich mit einem besonders aufwendigen Geschenk für dieses Mal entschuldigen sollten.
»Aber hier ist doch alles in Ordnung«, hört sie Ba widersprechen, »und dort ist auch alles in Ordnung. Wenn wir uns hier keine Sorgen machen, warum sollten wir uns dann über dort Sorgen machen? Wie kommst du auf die Idee, dass ich nicht fahren soll? Welcher Logik entspricht das? Sollen wir nie mehr irgendwohin reisen?«
Bapu antwortet nicht.
Ihr Zuhause wird neue Silben bekommen; das ist die einzige echte Information, die Amla hat. In der Nacht wiegt sie das Wort wie eine Puppe. Pakistan. Sie erprobt den Klang in ihrem Mund. Pakistan. Pakistan.
Bapus Schwester kommt eines Abends vorbei, unter den Armen und in den Händen sorgfältig verpackte Geschenke. Beim Eintreten stolpert sie über ihre Zwillinge. Amla nimmt die Geschenktüten über die Köpfe der Kleinkinder hinweg entgegen, und Meenafai entschuldigt sich. »Ich wollte sie eigentlich nicht mitbringen, aber Monty ist krank, und ich dachte, wenn ich sie bei ihm lasse, werden sie auch noch –«
»Das macht doch nichts, ich bitte dich.« Ba, stets die Gnade in Person. Sie verschwindet in der Küche. »Hast du schon gegessen? Dein Bruder sollte jeden Moment heraufkommen –«
»Oh, ich habe auf dem Weg im Laden vorbeigeschaut. Er hat gesagt, dass er gerade zumacht, aber mit diesen Hooligans da draußen wollte ich nicht auf ihn warten.« Meenafai lässt sich auf die Liege fallen und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. Sie schließt die Augen; ihre Kinder balgen sich, die Fortsetzung einer Zankerei, die sie unterwegs begonnen haben. »Bitte, mach dir keine Mühe.«
Ba taucht mit einem Mithai-Teller auf. »Amu, bringst du uns Chaash?«
Amla nickt und zieht sich in die stille Küche zurück. Sie schenkt die Joghurt-Wasser-Mischung aus dem kühlen Tontopf in Tassen und rührt etwas Cumin, Salz und Asant hinein. Gerade als sie zwei Blätter von Bas Minzpflanze abzwickt, hört sie die Wohnungstür scheppernd ins Schloss fallen.
»Meena!«, ruft Bapu zur Begrüßung.
Es hat etwas Berauschendes, wenn die beiden Geschwister beisammen sind: Meenafai, die Frau eines Priesters, ihre sieben Kinder immer am Rockzipfel; Bapu mit den faltigen Augen und dem sanften Lächeln, eine Zahnlücke auf jeder Seite. Ba lächelt, in Gegenwart der beiden wird sie zu einer Fliege an der Wand und nimmt das Wesen einer Familie in sich auf, die auf der Sicherheit ihrer Gemeinschaft errichtet ist.
Meenafai hat alles richtig gemacht und die Früchte geerntet; sie hat ihrem Ehemann Jungen geschenkt; sie hat ihr Heim sowie den Tempel am Laufen gehalten, sich um die Angestellten gekümmert, ihren Mann durch geschäftliche Investitionen geleitet. Im Gegenzug genießt sie ein gewisses Maß an Freiheit: Er ist zwanzig Jahre älter als sie und an ihrem gesellschaftlichen Leben nicht interessiert, er bedarf nur ihrer Energie, ihres Anstands, um sein Ansehen zu wahren. Und so kommt es, dass sich Meenafai jetzt seufzend und entgegen aller Konventionen vor ihrem Bruder und dessen Frau auf der Liege fläzt.
Als Amla mit dem Tablett hereinkommt, fängt sie den Blick ihrer Mutter auf. Ba schüttelt kaum merklich den Kopf – Verhalt dich unauffällig –, und Amla weiß, dass sie still sitzen und nur zuhören soll, nachdem sich jeder eine Tasse genommen hat.
»Es wird viel geredet, Bhai, und ich weiß nicht, wie viel davon wahr ist.« Einer der beiden Kleinen sitzt auf Meenafais Knie, und sie fährt ihm beim Sprechen mit den Fingern durchs Haar. »Mein Mann hat sich mit dem Maulana getroffen, um sicherzugehen, dass es hier keine Spannungen gibt.«
Als der Vater ihrer Freundin Fiza erwähnt wird, horcht Amla auf, und Bapu lehnt sich in seinem Stuhl zurück und nickt ernst. »Das ist gut.«
Meenafai wendet sich an Ba. »Ich habe gehört, am Roten Fort wird immer noch protestiert. Du fährst morgen?«
Ba blickt von ihrem Mann zu ihrer Schwägerin. »Ich … denke schon?«
»Ich meine, das Ganze ist eine unwägbare Entscheidung.« Meenafai hebt das Kind von ihrem Schoß, und der Kleine flitzt zu seinem Bruder auf die andere Seite des Raumes. »Wie soll man wissen, was das Beste ist?«
Ba blickt auf ihre Hände hinunter. »Es ist alle paar Monate das Gleiche. Bleibt man hier, bricht in Karatschi vielleicht das Chaos aus wie damals bei der Navy-Meuterei. Fährt man hin, geht es womöglich in Delhi mit den Protesten los.« Sie schließt die Augen. »Wenn ich ohnehin nicht wissen kann, welche Entscheidung die richtige ist – soll ich es wirklich verpassen, wenn das erste Kind meiner Schwester heiratet? Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«
Amla weiß nicht, was ihre Mutter damit meint – alle paar Monate das Gleiche –, aber du kennst die Geschichte so gut wie ich, Nadya. Im Juli 1946, auf dem Höhepunkt des Monsuns in jenem Jahr, hatte Jawaharlal Nehru in einer Rede die Teilung Hindustans beschlossen. Wenn Amla den Männern auf der Straße lauscht, die mit ihren Zeitungen winken, hört sie die Folgen dieser Ankündigung, die immer weitere Kreise ziehen.
Bapu nimmt das goldene Zigarettenetui aus seiner Brusttasche, und seine Schwester fordert winkend eine. Er nickt bedächtig und rollt die selbst gedrehten Zigaretten zwischen den Fingern. Dann setzt er zum Sprechen an.
Sagt er ihr, dass sie fahren oder dass sie bleiben soll? Amla ist davon abgelenkt, wie das Licht vom Edelstahl der Zuckerdose gebrochen und auf die Hände ihrer Mutter geworfen wird. Sagt er ihr, dass die Hochzeit es wert ist, dass sie ihr Leben nicht anhalten können, wenn sie nicht einmal wissen, welcher Funke verfängt, wann das Feuer wieder erlischt? Amla wird es nie erfahren. Spielt die Antwort eine Rolle? Was Amla von diesem Moment behält, ist der Blick, den ihr Vater ihrer Mutter schenkt. Es liegt eine Reinheit darin, als wäre sie von einem Heiligenschein umgeben. Amla erkennt dies als Liebe.
Abends, als Meenafai gegangen und die Küche aufgeräumt ist, klopft Fiza an der Tür und erkundigt sich, ob Amla Zeit hat. Amla ist erleichtert, dass Bapu nicht wissen will, ob sie ihre Hausaufgaben erledigt hat; er lässt sie einfach gehen. Die beiden Mädchen schlendern zum Muslim-Gymkhana-Club; die Abendluft weht vom Wasser herauf und verursacht eine Gänsehaut auf ihren Armen. Amla zupft an den Ärmeln ihrer Kurti, nachdem sie die Mahnung ihrer Mutter ignoriert hat, ein warmes Tuch mitzunehmen; es ist November, und sie vergisst immer, wie sich das kühlere Wetter heranschleicht.
Das Gebäude ist beleuchtet, große Laternen in den Kuppeln erhellen das Grundstück. Autos fahren heran, und Frauen in schicken Saris steigen aus, deren partiell abgesteppte Faltenstoffe elegant in die Armbeugen fallen, die Abendtäschchen tragen sie unter den Arm geklemmt. Fizas Vater hat an diesem Tag die Nikah vollzogen – eine kleine familiäre Angelegenheit, größtenteils Schreibarbeit –, nun aber sind die Hochzeitsgäste zahlreich und herausgeputzt.
Die beiden Mädchen lehnen sich an eine Bank und beobachten verstohlen die Gäste. »Das Tantchen da«, flüstert Fiza schließlich. Amla blickt hinüber, die Augen auf den Leberfleck auf der rechten Wange ihrer Freundin geheftet, als das Spiel beginnt. »Sie hat gerade herausgefunden, dass ihr Sohn eine Liebesheirat will, jetzt, da er aus dem Krieg zurückgekehrt ist.«
Amla verbirgt ihr Kichern hinter den Fingerknöcheln. »Was ist mit dem da?«
»Oh, der ist unglücklich, aber das kann er vor seinen Eltern nicht zeigen. Sein Cousin hat es gerade ins Medizinstudium geschafft, aber er hat die Prüfung nicht bestanden.«
»Und die da drüben?«
Fiza hält inne. Die Gruppe, die Amla meint, ist wenige Meter von ihnen entfernt stehen geblieben, und einer der Männer bückt sich gerade, um einer Frau wieder in ihren Schuh zu helfen. Es fühlt sich intim an, diese Art von Berührung zu beobachten.
»Er ist Muslim und sie Hindu, und wenn Karatschi in ein paar Monaten zu Pakistan gehört, werden sie sich wieder trennen. Sie wird umziehen müssen. So wie deine Familie wahrscheinlich auch.«
»Und deine nicht?«
Fiza tritt gegen den Boden, bis ihre Schuhspitze von Schmutz bedeckt ist. »Baba sagt, dass wir hierbleiben müssen.«
Amla beobachtet, wie die Beine ihrer Freundin durch die Luft schwingen. Die Leichtigkeit zwischen den beiden scheint verflogen.
Ich glaube, ich sollte dir diesen Teil in Ruhe erzählen. Fiza – sie ist wichtiger, als ich zuerst dachte. Ich kann dir unmöglich erzählen, was ich dir erzählen muss, ohne über sie zu sprechen.
Für Amla ist diese Freundschaft einzigartig. Sie weiß nicht genau, was es ist, aber ihre Verbindung zu Fiza fühlt sich tiefer an – bedeutender. Vielleicht weil sie so viel gemeinsam haben: ihren Lieblingsnachtisch (Kulfi), ihre Abneigungen (Okraschoten und den Jungen, der zwei Etagen unter Amla wohnt). Sie teilen eine Vorliebe für Fantasiespiele: Abends treffen sich Fiza und Amla auf dem Dach von Amlas Wohnhaus und spielen zwischen den Wäscheleinen Verstecken. Oder Fiza liest Amla etwas vor (Fiza ist ihr voraus, sie kann all die Schriftzeichen besser im Kopf behalten). Manchmal wickeln sie sich in die trocknenden Saris und tun so, als wären sie irgendwer anders, irgendwo anders: Königinnen mit Palästen, die aufs Wasser hinausschauen, mit Bediensteten, die ihnen Luft zufächeln und Früchte servieren, und in Weiß gekleideten jungen Männern, die ihnen Ghaselen vortragen. Amla füttert Fiza mit Pistazien, und dabei tun sie so, als wäre es etwas viel Exotischeres, etwas, was sie noch nie gesehen haben, was von weit her mit dem Schiff gekommen und pfundweise Gold wert ist.
Und beiden sind Minarette und Turmspitzen wie ein Rahmen für ihr tägliches Leben: Fizas Vater ist ein Maulana in einer der großen Moscheen der Stadt, Amlas Onkel ein Priester, ein Pandit im Mandir in ihrem Viertel. Amla weiß nicht, wie die Moschee von innen aussieht, aber wenn sie die Vormittage bei Meenafai damit verbringt, Ringelblumen und Jasminblüten zusammenzubinden – in Vorbereitung auf verschiedene Pujas – und für die Lichter Ghee-getränkte Wattebällchen in bronzene Halterungen zu stecken, dann stellt sie sich vor, dass Fiza und ihre Mutter gerade das Gleiche tun.
Es gibt aber auch Tage, an denen es sich anfühlt, als wäre Fiza das genaue Gegenteil von Amla. Fiza redet viel und laut; sie ist dickköpfig. Sie hat immer einen Plan für ihre gemeinsamen Stunden. Amla spürt, wie Fiza sie aus ihrer Haut locken will, sie herausfordert, mehr an der Welt, die sie umgibt, teilzunehmen. Wenn Amla nach einem gemeinsamen Abend in die Wohnung zurückkehrt, wickelt sie sich in die Laken und wünscht sich, mehr wie die zu sein, die Fiza in ihr sieht. Manchmal, im Dunkeln, denkt sie, dass sie nur echt ist, weil Fiza sie wahrnimmt. Sie hofft, dass es auf Gegenseitigkeit beruht; sie hofft, dass Fiza in Amlas Gegenwart auch mehr sie selbst ist, einfach weil Amla sie wahrnimmt.
Als Amla nach Einbruch der Dunkelheit vom Gymkhana nach Hause zurückkehrt, ist sie erschüttert. Der Gedanke, von Fiza getrennt zu sein, macht ihr Angst. »Pakistan«, flüstert sie, mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür. »Pakistan.«
Ba wartet im Wohnzimmer auf sie, die Gaslampe taucht den Raum in ein warmes Licht. Sie wird den Nachtzug nehmen, zu ihren Füßen liegt der gepackte Koffer. Der Raum fühlt sich bereits leer an. Obwohl sie sich kindisch vorkommt, schlingt Amla die Arme um die Taille ihrer Mutter und drückt sie fest. »Warte«, sagt sie. »Fahr nicht.«
»Ich bin doch bald wieder da«, sagt Ba und zerzaust Amlas Haar. »Und ich bring dir was Schönes mit.« Doch die Sorge steht Amla ins Gesicht geschrieben, also fügt Ba hinzu: »Es wird alles gut gehen.«
»Müssen wir hier weg?« Sie versucht sich zu erinnern, was Fiza gesagt hat. »Sind wir auf der Seite der Hindus? Müssen wir dahin, wo die Hindus hingehen?«
»Die Situation scheint klar zu sein, aber eigentlich ist sie es nicht«, sagt Ba, während sie Amla in ihr Zimmer begleitet, um sie ins Bett zu bringen.
Amla drückt die Hand ihrer Mutter. »Dann erzähl’s mir. Bapu erzählt mir nie was.«
»Dein Bapu würde es nicht zugeben, aber er hat Angst.« Bas Stimme wird leiser. »Und ich auch. Es sind große Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Du möchtest wissen, auf welcher Seite wir stehen?«
Amla nickt.
»Das Volk von deinem Bapu hat schon immer hier gelebt, in den Dörfern außerhalb von Karatschi. Hier ist seine Heimat, die Heimat der Sindhi, manche von ihnen sind Hindus und manche Muslime, aber sie sprechen alle dieselbe Sprache – Sindhi – und tragen die gleiche Kopfbedeckung. Seine Familie hat ihre Wurzeln hier. Unsere Familie – deine Familie.«
»Deine Familie nicht?«
»Meine Familie sind Gujarati, nicht Sindhi, Amu.« Sie streicht Amla eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Aber wir sind nicht so verschieden, dein Bapu und ich, auch wenn seine Familie hier und meine woanders ist.«
Sie sitzen eine Minute schweigend da und dann noch ein paar Minuten. Amla stellt sich vor, wo die Familie ihrer Mutter jetzt ist, an einem Ort, den sie nicht kennt. Dieses Volk, das offenbar ebenfalls auf ihrer Seite ist, was auch immer das bedeutet.
Ich verlagere meinen Fokus auf Ba. Sie erinnert sich an etwas ganz Konkretes: ihre hastige Hochzeitszeremonie, die Schwester, die da war, den Vater, der nicht da war.
»Es gibt so viele Dinge im Leben, die uns auseinanderreißen können«, sagt Ba und küsst ihre Tochter auf die Stirn. »Manchmal sind die Leute, die zu uns gehören, schlimmer als jene, auf die wir mit dem Finger zeigen.«
Amla wünscht sich immer noch, sie könnte mitfahren, begreift nicht, welche Kompromisse ihre Eltern im Hinblick auf die Sicherheit eingegangen sind. Sie denkt an den Monat, der vor ihr liegt: wie sie täglich Rotli zubereitet, ihrem Vater die Mittagsmahlzeit in den Laden hinunterbringt, wie sie beide so tun, als wären ihre Versuche so gut wie das Essen von Ba. Nach dem Unterricht wird sie sich mit Fiza treffen, beide mit den gleichen langen Zöpfen, und dann wird sie auf der Schiefertafel ihre Mutter zeichnen, immer und immer wieder. Bas Gesichtszüge, ihre kleinen Falten. Sie haben sich in einem Augenblick in Amlas Gedächtnis eingegraben, an den sie sich nicht mehr erinnern kann.
»Kann ich mitkommen?« Amlas Stimme ist weich.
»Ach, Amu«, antwortet ihre Mutter. »Darüber haben wir doch schon gesprochen. Du weißt, das geht nicht.«
Amla schnieft. Sie will stark sein, Ba zuliebe, aber dann senkt sie den Blick, um die neuen Tränen zu verbergen.
Ba kniet sich vor sie auf den Boden und nimmt Amlas kleine Hände. Sie drückt Amlas Handflächen, ihre Daumen. »Amu«, sagt sie. »Möchtest du etwas haben, was es leichter macht?«
Sie verlässt kurz den Raum und kehrt mit einer Holzkiste zurück, die sie auf das Bett stellt. »Das wollte ich dir eigentlich geben, wenn ich von der Hochzeit zurückkomme, aber vielleicht ist jetzt schon ein guter Zeitpunkt.«
Die Kiste ist aus unbehandeltem Teakholz, ein wenig abgesplittert an den unteren Ecken, mit einem Messingschloss. Amla zögert, blickt ihre Mutter fragend an, dann fährt sie mit dem Finger über die Rillen am Rand des Deckels.
»Onkel Hari hat mir erzählt, dass du zeichnest, anstatt deine Mathematikhausaufgaben zu machen.« Ba lacht. »Wenn das so ist, dann kannst du es auch gleich richtig angehen.« Sie drückt mit dem Finger auf das Schloss, und die Kiste springt auf. Amla reckt neugierig den Hals, die Hände hat sie unter den Oberschenkeln gefaltet, ihre Knie wippen nervös auf und ab.
Zuerst: ein offenes Fach voller Bleistifte und Farbtiegel. Dann: zwei Pinsel, ein dünner und ein dickerer. Und zuletzt: Papierbögen, mindestens zwanzig, ein ganzer Stapel von Blättern, auf denen sich bereits Zeichnungen befinden. Amla kneift die Augen zusammen. Ist es immer wieder das gleiche Motiv, auf allen Seiten?
»Letztes Jahr habe ich auf der Straße die Gemälde von diesem Mann gesehen«, sagt Ba, und ihre Stimme bebt beinahe vor Aufregung. »Wie die Goras stehen geblieben sind und seine Bilder angestarrt haben. Dass einer von uns seine selbst gemalten Bilder so offen ausstellt und so viel Aufmerksamkeit bekommt. Da musste ich sofort an dich denken.«
Amla nimmt den Stapel entgegen und starrt im Dunkeln auf die verblassenden Bleistiftstriche. Sie hatte recht: Auf jedem Blatt ist viermal das gleiche Motiv abgebildet. Aber jedes Mal ein wenig anders. Die Szenen wirken unfassbar alltäglich – eine Frau richtet ihr Haar, füllt einen Eimer mit Wasser, beugt sich über ein Kind. Diese Bilder entsprechen nicht der Vorstellung, die Amla von Gemälden hat: kunstvolle Porträts von Edelmännern, Abbildungen einer Welt, die mit der ihrer Familie nichts zu tun hat. Nein, die Leute in diesen Zeichnungen sind ihr vertraut. Sie könnten eine Nachbarin von ihr darstellen oder die Frau, die am Straßenrand getrocknete Datteln verkauft.
»Das sind die Entwürfe von echten Gemälden«, erklärt Ba eifrig. »Der Künstler hat Skizzen gemacht, bevor er mit dem Malen angefangen hat. Siehst du, wie er die Perspektive entwickelt hat? Siehst du, wie er mit dem Licht spielt?«
Amla nickt. Sie hat das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.
Ba seufzt. »Ich wünschte, ich könnte dir mehr geben, Amu – ich wünschte, ich hätte ihn einfach mitbringen können, damit er dir Unterricht gibt. Wird das fürs Erste genügen?« Ihre Stimme klingt zaghaft. »Meinst du, du kannst versuchen zu verstehen, wie er es gelernt hat?«
Amla bringt kein Wort heraus. Aber nicht, weil sie nicht versteht; tatsächlich hat sie das Gefühl, ganz genau zu verstehen, wie der Künstler die Welt um sich herum zu Papier gebracht hat. Nein, was sie nicht ausdrücken kann, ist, wie viel ihr dieses Geschenk bedeutet. Mit zehn Jahren steht Amla sozusagen auf der Kippe – alt genug, um zu begreifen, dass ihre Mutter gerne mehr für sie tun würde, zu jung, um diesen Kummer selbst nachzuvollziehen. Zu jung, um die Last der Erkenntnis zu tragen, dass man seinem Kind nicht geben kann, wonach es sich sehnt, man aber trotzdem versucht, es irgendwie zu ermöglichen. Indem man einen Mann, der seine Gemälde verkauft, um seine Skizzen, seine Entwürfe bittet, weil man weiß, dass man niemals in der Lage sein wird, mit dem Kind eine Ausstellung zu besuchen, ihm einen Druck oder eines der Gemälde zu kaufen.
»Das ist perfekt, Ba«, sagt sie und hofft, dass ihre Mutter es begreift.
Ba lässt erleichtert die Schultern sinken; Amla hatte ihre Anspannung gar nicht bemerkt. Ba zeigt auf die Kiste. »Sobald du die Skizzen gut hinbekommst, sind hier die Aquarellfarben. Geh sorgsam mit ihnen um. Leg sie erst zurück in die Kiste, wenn sie trocken sind, okay?«
»Mach ich, Ba.«
»Wasch die Pinsel aus, nachdem du sie benutzt hast, mach nichts schmutzig und räum immer alles weg, damit die Sachen deinem Vater nicht im Weg herumstehen.«
»In Ordnung, Ba.«
»Und wenn du denkst, dass dir etwas wirklich gut gelungen ist, versieh das Werk mit deiner Unterschrift und einem Datum. Später wirst du erkennen können, wie du dich verbessert hast.« Sie lächelt. »Okay?«
»Okay.«
Ba nimmt ihr die Skizzen ab und klopft sie auf dem Knie zu einem ordentlichen Stapel zurecht, bevor sie sie in die Kiste zurücklegt. »Pass auf dich und deinen Bapu auf, Amu. Ich hab dich lieb, Jaan.«
Amla wird plötzlich ganz warm. Sie schlingt die Arme fest um die schmalen Schultern ihrer Mutter, spürt, dass Bas Herz ebenso schnell schlägt wie ihr eigenes. »Ich hab dich auch lieb«, flüstert sie und prägt sich diesen Moment in ihr Gedächtnis ein. Selbst als Bapu und Amla am Bahnhof zum Abschied winken, selbst als er ihr fünf zuckrige Jalebi kauft, damit sie aufhört zu weinen – selbst dann kann sie nur an die Aquarellfarben denken und daran, dass sie als Erstes die Gaslampe auf dem Fensterbrett malen will und die Splitter, die von der Teakholzkiste abstehen.
Am nächsten Morgen fühlt sich die Wohnung leer an. Bapu weckt Amla nicht, bevor er nach unten in den Mithai-Shop geht, und sie rührt sich erst, als die Sonne so heiß auf ihren Rücken scheint, dass sie anfängt zu schwitzen. Sie rekelt sich, dann zieht sie sich eine ihrer Lieblings-Kurtis an und flicht sich das Haar, so gut es geht, zu einem Zopf.
Nicht so gut wie Ba, denkt sie.
Sie trifft sich mit Fiza und den anderen Mädchen aus der Nachbarschaft auf dem Dach. Sie beobachtet die Klatschspiele der Freundinnen und denkt, dass nichts davon vergleichbar ist mit dem, was sie mit Fiza hat, wenn sie nur zu zweit sind. Niemals würde sie ihren Fantasiepalast hier, in dieser Öffentlichkeit, preisgeben.
Fiza, die mit einigen der älteren Mädchen in einer Ecke des Daches im Kreis sitzt, ruft Amla herbei. Amla nimmt den Umweg durch die Wäscheleinen, schlüpft unter Betttüchern hindurch und atmet den Duft feuchter Baumwolle ein. Als sie sich den Mädchen nähert, bekommt der Geruch eine erdige Note. In der Mitte des Kreises steht eine Schale mit Tinte, einer Mischung aus Asche und Rinde, und eines der Mädchen hält eine Handnadel fest zwischen den Fingern.
Amla zieht die Brauen hoch, und Fiza steht auf, hakt sich bei ihr ein und dreht mit ihr, entfernt von der Gruppe, eine Runde übers Dach.
»Wie wäre es, wenn du deinem Vater sagst, dass du bei mir leben kannst? Bei meiner Familie?«, fragt Fiza leise.
Eine leichte Brise fährt raschelnd durch die trocknende Wäsche, ein salziger Geschmack liegt in der Luft. Amla öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber dann schweigt sie. Sie wünschte, sie hätte Bleistift und Zeichenblock bei sich, irgendetwas, um der Frage auszuweichen, die drohend über ihnen schwebt.
»Deine Eltern könnten auch bei uns wohnen«, fährt Fiza nach einer Weile fort. Sie biegen um die erste Dachecke. »Wir würden das schon hinkriegen. Meine Mutter hätte sicher nichts dagegen.«
»Das ist nicht wahr«, murmelt Amla und zupft an den Ärmeln ihrer Kurti.
»Ich will nicht, dass du weggehst, Amla.«
Sie blickt hoch in Fizas Augen, erkennt das stille Flehen. »Ich weiß nicht, was Bapu vorhat.«
»Er spricht nicht mit dir darüber?«
Amla zuckt mit den Achseln. Sie biegen um die zweite Ecke und gehen dann zwischen den Wäscheleinen hindurch zurück zur Gruppe. »Die meiste Zeit reden wir über Bas Schwester und die Hochzeit oder was gerade im Roten Fort los ist. Bapu sagt, dass es da, wo Ba hinfährt, Proteste gibt.«
»Denkst du überhaupt nicht darüber nach?« Fiza hat die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, um mit den Fingerspitzen die Wäsche zu berühren. Jetzt schneiden sie durch die Luft, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Denkst du nicht darüber nach, was es bedeutet, wegzugehen?«
»Nicht mehr in Karatschi zu sein?«
»Wir werden uns nicht mehr sehen.«
»Vielleicht entscheidest du das ja auch, indem du bleibst. Dass wir uns nicht mehr sehen.«
Fiza schnaubt. »Das ist nicht fair.«
»Ich weiß nicht mal, ob wir weggehen«, sagt Amla, aber dann denkt sie an all die Tanten, die eine nach der anderen in ihrem Wohnzimmer aufgetaucht waren, als Ba noch da war, und wie sie darüber getuschelt haben, wer von ihnen die Karten für die Überfahrt bereits gekauft hat.
Amlas Handflächen sind feuchtklebrig. Sie spürt, wie sich in ihrem Nacken der kalte Schweiß sammelt. Was könnte sie sagen, um Fiza am meisten zu verletzen – etwas in ihrem Innersten zieht sich schmerzhaft zusammen, als Reaktion auf Fizas Fehleinschätzung, dass sie sich irgendetwas von alldem ausgesucht hat –, und schon lässt sie sich einige mögliche Retourkutschen durch den Kopf gehen: Du bist keine echte Hindustani, wenn du bleibst, wie sie es im Laden ihres Vaters aufgeschnappt hat; Dein Vater bringt dich in Gefahr, wie es der Bhutta-Verkäufer zu dem Jungen vor ihr in der Schlange gesagt hat; Vielleicht bist du diejenige, die ihr Leben nicht im Griff hat. Der Satz stammt von ihr.
Ohne ein weiteres Wort gesellen sie sich wieder zu der Gruppe, und Amla versucht, in Fizas Schweigen keine Verurteilung zu sehen.
»Ich will auch eins«, sagt Fiza unvermittelt zu den älteren Mädchen. Sie sieht Amla an. »Kannst du es mir stechen?«
»Ich … ich weiß nicht, wie.« Amla schielt zu einem Mädchen hinüber, das sich vor Schmerzen windet, während ihr Arm tätowiert wird.
»Leila kann dich anleiten, es ist nicht so schwer«, sagt Fiza. »Sie hat es auch erst letzte Woche gelernt. Etwas Einfaches. Etwas wie … die Trajva deiner Mutter.«
Amla denkt an das geometrische Muster am Hals ihrer Mutter – vier solide Punkte, Diamanten, die Ecken einer Raute. Sie stellt sich das Zeichen an Fizas Hals vor oder auf der Innenseite ihres Handgelenks. Sie stellt sich vor, wie sie Fizas Hand festhält, um die Nadelstiche selbst zu setzen, und errötet.
»Wo würdest du es haben wollen?«, fragt sie.
Fiza stellt einen Fuß vor. »Was meinst du?«
Leila, die herübergekommen ist, nachdem sie ihren Namen gehört hat, reicht Amla einen Stift und ein Stück Papier. »Zeichne einen Entwurf«, sagt sie, und Amla zeichnet, und Leila zeigt Amla, wie sie ein Streichholz anzündet, um die Nadel zu sterilisieren, eine lange, silberne Nadel, um die mittig ein Gummiband gewickelt ist. »So kann man sie besser halten«, erklärt sie. »Du musst so stechen, schräg zur Haut, und ungefähr so tief –«
Amla hält die Nadel zwischen den Fingern, wobei das ältere Mädchen ihr hilft, den Griff zu lockern, dann blickt sie zu Fiza hoch. »Ich weiß nicht«, beginnt sie, aber Fiza schüttelt den Kopf.
»Ich will, dass du es machst«, wiederholt Fiza. »Damit, wenn du wegziehst –« Und Amla versteht.
Leila drückt Amlas Schulter. »Ich helfe dir«, sagt sie, und Amla nickt. Fiza umfasst ihr Bein auf Kniehöhe und rutscht näher heran. Amla versucht, das Zittern ihrer Hand zu unterdrücken. Mit einem tiefen Atemzug taucht sie die Nadel in die Tinte und beginnt, das Muster der Trajva auf Fizas Haut zu übertragen.
Amlas Erinnerungen an Karatschi werden immer sentimental eingefärbt sein, von einem Gefühl der Unersetzbarkeit, also sind meine es auch. Ich beschreibe dir Karatschi mit geschlossenen Augen, als wäre ich nicht ich, sondern sie. Ich überlasse es Amla, dir zu erzählen, wie sehr sie diesen Ort liebt, wie sehr er sich nach Heimat anfühlt. Wie wenig sie der Wandel hier berührt; sie ist zu jung, um sich auszumalen, dass die Stimmen da draußen zu einer tiefgreifenden Veränderung in ihrem eigenen Leben führen könnten. Nie zuvor hat sie sich über derartige Dinge Gedanken machen müssen. Wie soll Amla verstehen können, was mit Aufteilung gemeint ist, mit Nationalstaaten und religiösen Unterschieden, mit Hindustan, wenn sie doch umgeben ist von Hindus, die halal essen, und Muslimen, die mit ihr an Diwali Feuerwerke anzünden? Wenn sie an einem Ort lebt, den die Lehrbücher während des nahenden Sommers der Teilung als beinahe friedlich beschreiben, auch wenn dieser Frieden nur relativ und nicht von Dauer ist und schließlich der blutigen Geschichte unterliegt, die dich und mich schon unser ganzes Leben lang begleitet.
Ihre Behaglichkeit liegt in ihren familiären Mitteln begründet: den Süßwarenläden ihres Vaters – einen hat er von seinem Vater geerbt, die anderen beiden kamen im Laufe der Jahre hinzu. Ihrer geräumigen Wohnung, den benachbarten Tanten und Meenafai, die bei Bedarf die Betreuung übernehmen. Jahre vor ihrer Geburt war Bapu einen Sommer lang im Fürstenstaat Porbandar in die Lehre gegangen und hatte mit dem Gedanken gespielt, sich an dem Küstenstrich niederzulassen. Doch Meenafai hatte ihm viele Briefe geschickt, um ihn umzustimmen: Sie finde den Hafen in Sindh mit jedem Tag schöner; sie sehe hier mehr Möglichkeiten für ihn; die Sindhi seien ihr Volk, und warum sollte ein Sindhi jemals aus Sindh wegwollen?
Am Ende war Bapu, als er noch kein Bapu war, sondern ein Teenager namens Anurag, geneigt, in Gujarat zu bleiben, wegen eines Mädchens, das so weit draußen am Stadtrand wohnte, dass es ebenso gut zum nächsten Dorf hätte gehören können. Er hatte angefangen, für einen Onkel, der in finanziellen Schwierigkeiten steckte, als Buchhalter zu arbeiten, um einen Grund zum Verweilen zu haben. Er wollte mehr Zeit, um die Beziehung möglich zu machen.
Chandini, das junge Mädchen mit den Trajvas am Hals und auf den Handrücken, das an jenen Nachmittagen in den Laden des Onkels kam, träumte ebenfalls von einem Leben mit Anurag. Doch als Anurag sie zu Hause besuchte, um ihre Eltern für sich zu gewinnen, schien dieser Traum zu platzen. Obwohl Anurag versicherte, dass er aus einer wohlhabenden und ehrbaren Sindhi-Familie stammte, obwohl er versuchte, die Kasten der Sindhi in die strengeren der Gujarati zu übersetzen und er sich Mühe gab, den lokalen Dialekt in sein Gujarati einfließen zu lassen, und obwohl er bei seinen Besuchen teure Schokolade mitbrachte, sah Chandinis Vater sie an und wies auf all das, was ihn umgab, das Haus eines offensichtlich vermögenden Kutchis, in dem jedes Bett und jeder Stuhl mit Stickereien verziert war. Mit ruhiger Stimme fragte er sie knapp: »Hast du keinen Stolz?«
In jener Nacht traf Chandini eine Entscheidung. In dem Zimmer, das sie sich mit ihrer Schwester teilte, den vertrauten Wandteppich wie eine gewöhnliche Decke über der Liege ausgebreitet, zeichnete sie sich selbst mit Anurag in Karatschi, bis ihre Fingerspitzen von der Kohle ganz schwarz waren. Während sie zeichnete, machten sich ihre Hände mit einem Mal selbstständig. Sie war nicht mehr allein in ihrem Körper. In diesem Traumzustand zeichnete sie einen Pfad zu dem Mann, von dem sie wusste, dass er die Liebe ihres Lebens war. Als sie am nächsten Morgen die Zeichnung sah, konnte sie sich nicht erinnern, sie angefertigt zu haben.
Da wusste sie, dass ihre Liebe Wirklichkeit werden würde.
Am nächsten Tag, bei ihrem Mittagsspaziergang am Chowpatty, als Bapu-bevor-er-Bapu-war Ba-bevor-sie-Ba-war fragte, ob sie wirklich wolle, dass er ohne sie nach Karatschi zurückkehre, sagte sie Nein. Sie beschrieb ihm den Weg, der vor ihnen lag: eine schnelle Zeremonie, eine Fahrt mit dem Dampfschiff nach Karatschi, Meena, die sie begrüßen und ihnen helfen würde, in ihre eigene Wohnung zu ziehen. Sie hatte die Zeichnung gesehen. Sie vertraute darauf.
»Warte«, sagst du, die Take-away-Schachtel noch unberührt in der Hand. »Was meinst du damit, sie hat es gemalt und wusste, dass es wahr wird?«
Ich suche nach den richtigen Worten. »Dazu komme ich noch, versprochen.«
Du seufzt. »Also«, sagst du und stellst die Schachtel zurück auf den Wohnzimmertisch. Es klappert, und die Stäbchen aus Edelstahl rollen davon. »Ich weiß, ich habe gesagt, dass du mir das Ganze wie eine Geschichte erzählen sollst, und alles, was du bisher erzählt hast, weiß ich wirklich zu schätzen, aber … Kannst du es mir nicht einfach direkt sagen? Musst du so weit vorne anfangen?«
»Es ist wichtig«, sage ich.
Du verziehst das Gesicht. »Sei nicht albern.«
»Ich meine es ernst.« Ich kneife mich in den Hals. »Ich schwöre.«
Hör mir weiter zu, Nadya.
»Was könnte so wichtig sein, dass du ganze Generationen zurückgehen musst?«
Ich verlagere mein Gewicht von einer Seite auf die andere. Zum ersten Mal seit Jahren bin ich absolut ehrlich. Es ist eine Erleichterung; es ist die schwerste Aufgabe, die ich je angegangen bin. »Alles hat mit diesen Generationen zu tun«, sage ich. »Das Ganze geht so weit zurück. Sogar noch weiter – in eine Zeit vor Amla, vor Chandini.«
»Was alles?«, fragst du. »Welches Ganze?«
Ich gehe Hunderte mögliche Formulierungen durch – für die Last, die ich mit mir herumtrage, die Generationen auf meinen Schultern. »Bitte, Nadya, hab noch ein bisschen Geduld«, sage ich stattdessen. »Ich werde dich nicht enttäuschen, versprochen.«
Meenafai hat Amla in den zwei Wochen seit Bas Abreise beigebracht, wie man Athanu macht. Gemeinsam haben sie Mangos in Würfel geschnitten und Kurkuma, Salz und Palmzucker daruntergemischt. Der süße Sirup klebt an ihren Händen, und Meenafai weist Amla an, Senföl darüberzuträufeln, ein Mulltuch über die Schüssel zu legen und es am Rand mit einem festen Garn zu fixieren. Dann rücken sie die Töpfe mit dem Bockshornklee auf dem Balkonvorsprung so zur Seite, dass die große Schüssel einen Platz in der Sonne bekommt.
»Sieben Tage«, erklärt Meenafai, »und jeden Abend musst du mit einem großen Löffel umrühren.«
Als das Telegramm eintrifft, steht die Schüssel schon zwei Tage zu lang auf dem Balkon.
chandini bei aufständen am sechsten Dezember getötetstopantima sanskar vollzogenstopKOFFER per Kurier
Ich bin froh, dass du nicht fragst, wie Ba gestorben ist. Ich kann die Szene in meinem Blut finden, wenn ich muss, und das Misstrauen, das mit ihrem Tod einhergeht, wird den Töchtern, die nach ihr kommen, für immer erhalten bleiben: ein Unwohlsein in großen Menschenmengen, eine Skepsis gegenüber weißen uniformierten Männern. Ein Bedürfnis, die Dupatta ganz eng am Körper zu tragen. Der Schmerz bleibt. Mein Talent, mir alternative Szenarien auszudenken, bringt in letzter Zeit nur Düsteres hervor: dass Ba in die Wurflinie eines verirrten Molotowcocktails geriet, den Jugendliche geworfen hatten, um auch mitzumischen; dass Ba im Gedränge von einem fliegenden Stein getroffen wurde; dass an einem ganz normalen ruhigen Freitagnachmittag bei einem Spaziergang in der Nähe des Spielfelds ein Cricketball gegen ihren Hinterkopf prallte.
Das hilft mir beim Einschlafen.
Das Telegramm erreicht Bapu neun Tage nach Bas Tod. Er zeigt es Amla nicht, er erspart es ihr, die Worte lesen zu müssen. Er setzt sich mit ihr hin, um ihr die Nachricht zu überbringen. Er lässt sie den Schmerz hinausbrüllen, Schreie, die ihre eigenen Ohren vibrieren lassen. Sie versteckt sich für den Rest des Tages zwischen den zerwühlten Kleidern im Wandschrank der Eltern, auf dem Boden liegen überall verstreut Dupattas.
Sie weiß, dass er das Telegramm nah bei sich trägt. Manchmal sieht sie ihn über seine Brusttasche streichen und die zusammengefaltete Brille beiseiteschieben, um das feste Papier unter dem sanften Druck seiner Finger zu spüren. Sie wird das Telegramm erst Jahre später lesen, wenn sie genug von der Welt gesehen hat, um zu wissen, dass diese Nachricht eine Rupie gekostet hat – eine einzige Rupie, die kleinste Centmünze – für dreizehn Wörter, und dass der Onkel, der die Nachricht im Telegrafenamt absetzte, auf diese Weise festgelegt hatte, dass der Tod ihrer Mutter gerade so viel wert gewesen war.
Bapus Augen sind jetzt rot unterlaufen; den Kopf lässt er sich rasieren. Amla vergisst, wie er zuvor ausgesehen hat. Er wirkt kleiner, das Taschentuch fast immer in der Hand. Er verliert an Gewicht; sie kann die Wangenknochen sehen, wenn er seine Zigaretten raucht. Sie dreht die Rotli wieder und wieder herum, bis sie ganz rund und perfekt sind. Bapu macht Unmengen von Chaash und stellt ihr schon frühmorgens, bevor sie aufwacht, ein Glas neben das Bett. Gemeinsam tun sie alles, was sie können.
Und dann ist er da – der Moment, als der dumpfe Schmerz beginnt. Der Schmerz wird Amla immer begleiten – so wie ihre Tochter und deren Tochter danach. Ich spüre ihn sogar jetzt.
Als der Koffer ihrer Mutter eintrifft, sagt Bapu, es sei an ihr, die Sachen durchzusehen. »Deine Ba würde wollen, dass du entscheidest, was du behalten möchtest«, sagt er mit erstickter Stimme und wischt sich grob mit dem Taschentuch über die Tränensäcke unter den Augen.
Amla hält den Atem an, als sie vor dem Bett ihrer Eltern den Reißverschluss öffnet. Mit einer fließenden Bewegung schwingt ihr kleiner Arm um den Koffer herum. Zuerst kommen die Schuhe ihrer Mutter zum Vorschein: flache Mojaris mit einer kleinen leckenden Zunge an der Spitze. Als Nächstes die Kurta-Pyjamas aus dünner einfarbiger Baumwolle, die als Haus- und Nachtkleidung dienen. Außerdem Schmuckschachteln, Halsketten, gebettet auf billigen roten Samt; die neuen, ungetragenen Saris, alle noch sorgsam verpackt. Amla nimmt einen schweren Sari nach dem anderen aus dem Koffer und legt sie aufs Bett. Sie entfaltet Meter um Meter des kunstvoll bestickten Stoffes – einmal, zweimal, bis die Stoffbahnen den gesamten Platz einnehmen, an dem ihre Mutter bis zu ihrer Abreise geschlafen hat.
Zwei Saris bedecken bereits das Bett – einer in Pfauenblau und ein anderer in königlichem Violett –, als Amla erneut in den Koffer greift. Doch der Stoff ist schwerer als erwartet und nicht so leuchtend wie die anderen. Sie breitet den dunklen Wandteppich über den Saris aus.
Die kleinen Spiegel auf dem schwarzen Stoff fangen das Sonnenlicht ein, das durch das Fenster hereinscheint, und lassen es an der Zimmerdecke tanzen. Amla zögert, erinnert sich an das Unbehagen beim Betrachten des Teppichs. Doch diesmal schlägt ihr Herz gleichmäßig. Ihr Atem geht langsam. Sie blickt hinunter auf den Stoff: Die Stickereien sind bis ins kleinste Detail zu erkennen.
Das Motiv ist erschreckend scharf.
Amla folgt mit den Augen den Frauen, die über den Stoff marschieren, sieht, wie sie ineinanderfließen, beinahe miteinander verschmelzen. Sie versucht sie zu zählen, aber es scheint unmöglich; es sind so viele, mehr als vierzig, als wäre der Teppich nie zu Ende. Als sie bei der letzten Figur angekommen ist, zuckt Amla zurück. Sie ist neuer als die anderen, die Stickerei hebt sich deutlicher gegen den schwarzen Stoff ab. Die Hand der letzten Frau erscheint in einer leuchtenderen Farbe, sie ist kürzlich angepasst worden und hält jetzt die Hand eines Kindes, eines Mädchens, älter als ein Kleinkind, aber jünger als eine Braut.
Darum weiß sie – ohne zu verstehen, woher sie dieses Wissen hat –, dass ihre Mutter langsam gestorben ist, dass sie ausreichend Zeit gehabt hat, dieses letzte Segment des Teppichs fertigzustellen. Erinnerung, Trauer, Wahrheiten – sie alle klopfen an eine Tür, von der Amla noch nicht weiß, wie sie sie öffnen kann. Sie weiß nur intuitiv, dass diese Kindergestalt auf dem Teppich sie selbst ist.
Bapus Hausschlappen schlurfen über den Boden, als er ins Schlafzimmer kommt. »Bapu«, sagt sie leise, und ihre kleinen Hände krallen sich in den Stoff. Sie weiß, wenn sie zu viel sagt, wird sie anfangen zu weinen. Also fragt sie ihn, sobald er vor ihr steht, nur das: ob er sich an den Teppich erinnert, ob er weiß, wann Ba ihn im Wohnzimmer aufgehängt hat. Ob er weiß, was es mit ihm auf sich hat.
»Er kommt mir bekannt vor«, sagt er unsicher. »Aber vielleicht hat sie ihn auch auf dem Weg nach Delhi gekauft. Deine Mutter liebt – liebte – die Farben ihres Volkes.«
»Das stimmt nicht«, sagt sie.
Bapus Brauen ziehen sich zusammen. »Was?«
»Der Teppich hing an unserer Wand, bevor Ba abgereist ist.«
Bapu schüttelt den Kopf. »Deine Fantasie geht mal wieder mit dir durch.«
Amla starrt ihn an. Sie fragt sich, warum er sie anlügt, falls er sie anlügt. Sie erinnert sich jetzt klar und deutlich an diesen Teppich und dass er bei ihnen an der Wand hing. Sie erinnert sich daran, wie sie Ba vor ihrer Abreise geholfen hat, ihn abzuhängen. Sie weiß noch genau, dass sie Bas Gestalt zeichnen wollte, all die geraden Linien und exakten Winkel, während dieses einen langen Augenblicks, in dem sich Bas Ehrfurcht so real, so greifbar angefühlt hatte. Sie fährt mit den Fingern über die Stickerei, und wieder geschieht es, die Erinnerung klopft an die Tür. Die Hände ihrer Mutter streichen über dasselbe Stückchen Garn. So viele Hände – verwitterte und faltige, schlanke und straffe.
Sie begreift, dass Bapu ihr die ersehnten Antworten nicht geben kann.
Amla wickelt sich in jener und der folgenden Nacht in den Teppich ein, stellt sich vor, dass Ba sie festhält. Sie kann ihren Vater in der Küche auf und ab schlurfen hören, ziellos, nicht gewillt, in dem bläulichen Dunkel allein zu sein. Erinnert er sich noch an die Zeit, als er nicht riskieren wollte, sie aufzuwecken, als er penibel darauf achtete, dass sie sich nicht die neuesten Nachrichten erlauschte? Als Bapu in sein Zimmer zurückkehrt, schließt er die Tür, aber sie hört trotzdem seinen Husten, sein Schluchzen. In manchen Nächten hört sie ihn würgen. Dann stellt sie sich schlafend, denn sie weiß, er würde vor ihr zurückweichen, wenn sie die nächtliche Routine jemals erwähnte. Noch tiefer verkriecht sie sich in den Teppich, diesen Ersatz für den mütterlichen Körper, ein Stück Stoff, das sich weigert, sie zu halten, so fest sie sich auch darin einwickelt.
Im Sommer zuvor hatte Amla ihre Mutter einmal gefragt, ob all die Geschichten, die man ihr in der Hindu-Mädchenschule erzählte, wahr seien. Von Fiza wusste sie bereits: Im Lehrplan der Muslim-Mädchenschule tauchten die Geschichten nicht auf. Ihr war natürlich klar, dass jene, in denen Tiere sprechen konnten und sich gegenseitig zu höherer Moral ermahnten, Fabeln waren – aber was war mit denen über Götter, die ihre Inkarnationen zur Erde hinunterschickten? Manche Lehrer verwiesen auf diese Erzählungen wie auf die jüngste Geschichte; andere behandelten sie wie die Fabeln. Sie fragte ihre Mutter, wer recht hatte.
Ba war gerade dabei, Wäsche zu falten, die den ganzen Tag in der Sonne gehangen hatte. »Tja, keiner von ihnen«, sagte sie, »und auch wieder alle.«
»Wie meinst du das?«
Ba legte den Kopf schief. »Wenn ich dir erzählen würde, dass da draußen vor unserem Fenster ein Jalebi-Stand wäre, und Bapu würde das Gegenteil behaupten, du hättest aber keine Möglichkeit, nachschauen zu gehen – wer von uns hätte dann recht?«
Amlas Knie zitterten, so gespannt war sie. »Kann ich es riechen?«
»Nein.«
»Kann ich jemanden bitten, für mich nachzuschauen?«
»Nein.«
Amla stützte sich wieder zurück auf die Hände. »Dann weiß ich es nicht.«
Ba winkte sie zu sich und reichte ihr das eine Ende eines langen Lungis. Amla hielt den Stoff so hoch sie konnte, damit er nicht über den Boden schleifte. »Angenommen, ich würde dir erzählen, dass du morgen ein Jalebi bekommen könntest, wenn du heute richtig brav wärst, was würdest du tun?«
Amla musterte ihre Mutter prüfend, als diese auf sie zukam, um das Wickeltuch in der Hälfte zu falten. »Könnte? Das heißt, vielleicht würde ich auch keins bekommen?«
Ba nahm Amla die Stoffzipfel ab und hielt ihr die frisch gefaltete Kante hin. »Ich will damit sagen: Sicher weiß es niemand. Vielleicht bist du heute nicht brav genug. Vielleicht ist der Jalebi-Stand gar nicht da. Doch du musst so oder so brav sein, wenn du eins haben willst.«
»Wie brav?«
Ba fuhr damit fort, die von Amla hochgehaltenen Ecken gegen die neu entstandene Kante einzutauschen, bis nur noch ein armlängengroßes Stück Stoff übrig war. Sie nahm das ganze Stück und faltete es zu einem ordentlichen dünnen Quadrat zusammen, dann zog sie das nächste Tuch von der Wäscheleine. »Auch das kann ich dir nicht sagen. Aber wenn du richtig, richtig böse bist, bekommst du niemals ein Jalebi. Wirst du also den ganzen Tag damit verbringen, an das Jalebi zu denken?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht?«
»Und morgen, wenn du heute nicht brav genug bist? Und am Tag darauf?«
Amla zog nachdenklich die Stirn kraus. »Nein, wahrscheinlich nicht. Vielleicht hoffe ich einfach nur, dass ich es bekomme?«