Amnesia - Elise Title - E-Book

Amnesia E-Book

Elise Title

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Beschreibung

Superintendent Natalie Price hat einen gefährlichen Job: Sie betreut Schwerverbrecher am Ende ihrer Haft. Sie ist es, die über Urlaub und Freigang entscheidet. Diesmal muss sie jedoch nicht ein weiteres Verbrechen verhindern, sondern im Wettlauf mit der Zeit eine Insassin vor einem brutalen, gesichtslosen Angreifer schützen. Und dann wird auch noch der kleine Sohn ihres Kollegen entführt ... ›Amnesia‹ ist nach ›Judas‹ der zweite Natalie-Price-Thriller von Elise Title. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 444

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Elise Title

Amnesia

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

FISCHER Digital

Inhalt

I 199712II 2001123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536Epilog

I 1997

1

Montag, 10.35 Uhr

4. August

Detective Mitchell Oates, ein stämmiger Afroamerikaner, stand wenige Schritte vor der offenen Tür zu einem dieser Schöner-Wohnen-Schlafzimmer in einem schicken Stadthaus am Harvard Square von Cambridge. Er trat zur Seite, um seinem Partner Leo Coscarelli, einem Detective mit dem schlanken, drahtigen Körper eines jungen Burschen, einen besseren Blick auf den Leichnam zu ermöglichen. Die beiden Polizisten waren seit fast drei Jahren ein Team. Oates, einunddreißig, war zwei Jahre jünger als sein Kollege, aber das sah man den beiden nicht an. Coscarellis jugendliches Aussehen brachte ihm als Detective der Mordkommission jedoch einen großen Vorteil. In den vergangenen sieben Jahren hatten schon viele Verdächtige den Fehler begangen, ihn für einen grünen Jungen und daher für einen leichten Gegner zu halten. Sie fühlten sich sicher und wurden unvorsichtig, um dann die unangenehme Erfahrung zu machen, dass der Schein trügen kann. So hatte er es noch vor seinem dreißigsten Geburtstag zum Lieutenant gebracht.

Oates war seit gut fünfzehn Minuten am Tatort. Coscarelli war gerade erst eingetroffen. Wie sein Partner hatte Coscarelli eigentlich frei, doch da es sich um ein prominentes Opfer handelte, hatte der Chief ihn und Oates mit dem Fall betraut.

Coscarelli hatte noch im Bett gelegen, als er um fünf nach zehn den Anruf erhielt, er solle sich schleunigst auf den Weg zum Haus von Matthew Slater machen. Aber er hatte nicht geschlafen. Und er war auch nicht allein gewesen. Im Nachhinein wünschte er, der Anruf wäre früher gekommen. Dann hätte er ihn im letzten Moment vor einer Situation bewahrt, in die er gar nicht erst hätte hineingeraten dürfen.

Coscarelli versuchte, die positiven und negativen Nachwirkungen seiner unbesonnenen Affäre abzuschütteln, während er auf den halb nackten – verehrten oder verabscheuten, je nachdem, ob man der Angeklagte oder der Kläger war – Strafverteidiger blickte.

«Du hast ihn gekannt, nicht?»

«Jeder bei der Mordkommission hat Slater gekannt», brummte Coscarelli und bemerkte mit einem Funken Neid, dass Slater für einen Mann Ende vierzig erstaunlich muskulös war. Die vielen Stunden im Fitnessstudio nützten dem Mistkerl allerdings jetzt auch nichts mehr. Es sei denn, man legte Wert darauf, auch im Sarg noch fit auszusehen.

Coscarelli blickte über die Schulter und sah Oates an. «Also, was wissen wir?»

«Der Anruf kam um neun Uhr fünf. Eine Streife vom nächsten Revier war um zwanzig nach neun hier, zusammen mit einem Rettungswagen. Einer von den Sanitätern hat Slater für tot erklärt. Der Coroner und die Spurensicherung sind auf dem Weg hierher.»

«Die Medien waren genauso schnell.»

Coscarelli ging in die Hocke und betrachtete die Gesichtsverletzungen des toten Anwalts: Prellungen und, wie es aussah, eine gebrochene Nase. Doch er bezweifelte, dass der Schlag, oder wahrscheinlicher, die Schläge Matthew Slater getötet hatten. «Wir müssen abwarten, was die Gerichtsmedizin sagt, aber ich tippe auf manuelle Strangulation.» Ohne den Leichnam zu berühren, deutete er auf die dunklen Blutergüsse am Hals des Anwalts. «Wer hat ihn gefunden?»

«Joyce Halber … Slaters Sekretärin. Sie hat sich Sorgen gemacht, als ihr Boss heute Morgen nicht in der Kanzlei erschien, obwohl er um acht einen wichtigen Termin hatte, und sie ihn auch nicht übers Handy erreichen konnte. Also ist sie hergefahren. Sie war gegen Viertel vor neun hier. Als er auf ihr Klingeln oder Klopfen nicht geöffnet hat, ist sie reingegangen. Ja, sie hatte einen Schlüssel. Sie sagt, Slater hat ihn ihr gegeben, als sie vor drei Jahren bei ihm angefangen hat. Jedenfalls, wie gesagt … Sie ist hergefahren, ist mit dem Schlüssel rein –»

«War die Tür abgeschlossen?», fiel Coscarelli ihm ins Wort.

Oates klappte einen Notizblock auf und nahm einen handgeschriebenen Bericht von dem Kollegen heraus, der als Erster am Tatort gewesen war. «Ja.»

Oates las weiter aus dem Bericht vor. «Sie hat zuerst unten nachgesehen, dachte sich dann, dass er vermutlich verschlafen hatte – sie sagt, er habe ab und zu Schlaftabletten genommen. Sie ist nach oben gegangen und hat ihn genau da gefunden, wo er jetzt liegt. Sie sagt, sie hat weder ihn noch sonst was im Zimmer angefasst.»

Coscarelli nickte. «Dem Aussehen und Geruch der Leiche nach würde ich sagen, unser Mörder hat vor zwei, drei Tagen zugeschlagen. Hat denn keiner Slater vor heute Morgen vermisst?»

Oates zuckte die Achseln. «Es war Wochenende. Nach dem, was die Sekretärin dem Kollegen von der Streife erzählt hat, haben die Slaters ein Haus auf Martha’s Vineyard. Die Ehefrau ist den Sommer über dort, und Slater fliegt fast jedes Wochenende hin. Halber hat angenommen, dass er dort war. Kurz bevor ich mit der Sekretärin telefoniert habe, hat sich der Sheriff von Vineyard gemeldet. Er hatte gerade die Ehefrau verständigt.»

«Wie hat er es so schnell erfahren?»

«Halber.»

«Tüchtige Sekretärin.» Coscarelli hielt kurz inne. «Und wie hat die Ehefrau es aufgenommen?»

«Der Sheriff sagt, sie ist nicht zusammengebrochen oder so. Meint, sie hat wahrscheinlich einen Schock erlitten.» Oates hob eine seiner dichten Augenbrauen. «Könnte wohl sein. Jedenfalls, sie hat dem Sheriff am Telefon gesagt, ihr Mann hätte sie am Freitagnachmittag angerufen und gesagt, dass er in der Stadt bliebe, weil er noch an einem Schriftsatz arbeiten müsse. Sie hat nicht versucht, ihn anzurufen, und fand es auch nicht merkwürdig, dass er sie das ganze Wochenende über nicht angerufen hat. Ist angeblich seine Art, wenn er mitten in einem Fall steckt.»

Coscarelli erhob sich. «Hat die Sekretärin gesagt, an was für einem Fall er gearbeitet hat?»

Oates bedachte seinen Partner mit einem viel sagenden Lächeln. «Laut Halber hatte unser Mann im Moment keine wichtigen Fälle.» Oates machte eine dramatische Pause. «Ich hab so das Gefühl, hier haben wir es mit einem Fall von cherchez la femme zu tun.»

«Ich bin nicht so sicher, ob wir nach einer femme suchen sollten», sagte Coscarelli und musterte den Hals des Opfers.

Oates folgte dem Blick seines Partners auf die großen Würgemale an Slaters Hals. «Glaubst du, unser Typ war bi?»

Coscarelli knurrte. «Wenn ja, haben wir bald die Sensationspresse am Hals.»

2

Montag, 20.33 Uhr

24. November

«Haben Sie jetzt Zeit für sie, Lieutenant?»

Coscarelli blickte von der getippten Aussage zu dem dunkelhäutigen, massigen Cop an der Tür. Er hörte die leichte Betonung des Wortes sie, sagte aber nichts dazu. Am besten, er gewöhnte sich daran. Gut möglich, dass der Fall so viel Aufsehen erregen würde wie damals der von O.J. Simpson, einschließlich einer Fernsehübertragung der Gerichtsverhandlung. Sensationsgier unter dem Deckmäntelchen der Erbauung. Ein todsicherer Zuschauersport. Und noch dazu ein gewinnträchtiger. Für alle außer dem Angeklagten.

«Wir haben ihre Fingerabdrücke genommen und so weiter. Den Anruf, der ihr zusteht, hat sie gemacht; bei ihrem Anwalt.» Der Cop grinste viel sagend. «Sie würden ihr das nie ansehen. Dachte, ich warne Sie vor.»

Coscarelli starrte den Uniformierten an. Der winkte jemandem hinter sich und trat zur Seite.

Lynn Ingram erschien in der Tür, als Coscarelli gerade ihre Aussage in die Akte schob. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als er sie sah. Hector Rodriguez hatte Recht. Er traute tatsächlich seinen Augen nicht. Und dabei hatte sie sich nicht etwa mit einem ultrafemininen Kleid aufgedonnert und trug auch keine hochhackigen Schuhe, sie hatte weder wallendes Haar noch war sie übertrieben geschminkt. Im Gegenteil. Mit bloßem Auge konnte Coscarelli kein Make-up entdecken, bis auf einen Hauch Lipgloss, das die vollen, sinnlichen Lippen hervorhob, und einen Schimmer Rouge, der die hohen Wangenknochen eines Models betonte. Falls sie eine Rhinoplastik hatte vornehmen lassen, so musste ihr Schönheitschirurg zu den besten seiner Zunft gehören, denn die gerade, leicht längliche Nase passte ausgezeichnet zu ihrem Gesicht. Ein Gesicht, das sowohl bemerkenswert schön als auch unglaublich zart war, umrahmt von aschblondem Haar, das ihr weich auf die Schultern fiel, gerade, seiden, geschmackvoll gestylt. Auch ihre teure, maßgeschneiderte Garderobe war überaus dezent. Enge schwarze Wildlederjeans und ein cremefarbener Kaschmirblazer, offen getragen über einem blaugrünen, anliegenden T-Shirt, das wunderbar zu ihren Augen passte.

Es war nicht zu bestreiten: Diese große, schlanke, bildschöne achtundzwanzigjährige Person sah aus wie die personifizierte Weiblichkeit. Doch dann fiel Coscarellis Blick auf ihre Hände. Trotz der fachmännisch manikürten Nägel und der schmalen, wohlgeformten Finger waren Lynn Ingrams Hände ohne Zweifel groß. Aber schließlich hatten viele große Frauen große Hände. Und Coscarelli schätzte Ingrams Größe auf gut einen Meter achtzig. Etwa sieben Zentimeter größer als er selbst.

Unwillkürlich fragte sich Coscarelli, wie es wohl gewesen wäre, wenn er Lynn Ingram unter normalen Umständen kennen gelernt hätte. Hätte er die Wahrheit vermutet? Nein, ganz bestimmt nicht. Und garantiert hätte er sie attraktiv gefunden. Aber andererseits hatte er schon andere unpassende Frauen attraktiv gefunden. Ingrams Gegenwart erinnerte ihn an den Morgen, an dem er im Slater-Fall zum Tatort gerufen worden war. Ein Morgen, an dem er sich wieder einmal zu sehr auf eine unpassende Frau – genauer gesagt, eine junge und wunderschöne Exdrogensüchtige/Exprostituierte namens Nicki Holden – eingelassen hatte. Seitdem bemühte er sich nach Kräften, seine sprunghafte Libido im Zaum zu halten. Lynn Ingram war dabei nicht gerade hilfreich.

Er sah ein schwaches Lächeln in Ingrams Gesicht. Als hätte sie eine genaue Vorstellung davon, welche Reaktion sie bei ihm auslöste. Das verunsicherte ihn ein wenig. Sie verunsicherte ihn. Mehr als ein wenig.

Er unterdrückte den Impuls, sich zu räuspern, und sagte: «Sie sind nicht verpflichtet, etwas zu sagen oder hier in diesem Raum zu sein, bis Ihr Anwalt eintrifft.»

«Das heißt, ich kann in einer Zelle warten. Nein, danke.» Ihre Stimme hatte einen Anflug von Heiserkeit, aber das klang eher sexy als maskulin. Er war beeindruckt, dass sie offenbar keine Anstalten machte, ihre Stimme künstlich höher klingen zu lassen.

«Ich werde ein Tonband mitlaufen lassen.»

Sie nickte.

Er drückte die Aufnahme-Taste an dem kleinen Kassettenrekorder auf seinem Schreibtisch, die Augen unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet, und sagte fürs Protokoll: «Gespräch von Lieutenant Leo Coscarelli mit Lynn Ingram. Datum: Montag, 24. November. Uhrzeit –» Er warf einen Blick auf seine Uhr. «Zwanzig Uhr fünfundvierzig.»

«Kann ich mich setzen?», fragte sie.

Er deutete auf einen Holzstuhl mit gerader Rückenlehne ihm gegenüber.

Sie sah sich kurz in dem nichts sagenden kleinen Büro um, nahm ihn dann in Augenschein, ehe sie zu dem Stuhl ging. Taxierte sie ihn als Cop, dachte sie, dass er vom Aussehen her zu jung für den Job war? Oder taxierte sie ihn lediglich als Mann? Oder sowohl als auch? Unmöglich zu sagen. Aber er konnte seinen Blick nicht von ihr losreißen.

Mit der Anmut einer Tänzerin kam sie näher, ließ schließlich ihren langen, schlanken Körper auf den angebotenen Stuhl sinken.

«Sie haben bestimmt gedacht, ich sähe aus wie ein Transvestit.»

Darauf fiel Coscarelli nicht herein. «Hören Sie, Ms . Ingram, Ihr Anwalt hat Ihnen sicherlich geraten, nichts zu sagen, bis –»

«Dr. Ingram.»

Coscarellis Augenbrauen schnellten hoch. Diese Information hatte er in ihrer Aussage nicht gelesen. «Doktor der Medizin?»

«Wir verdienen nicht alle unser Geld mit Travestie, Detective. Ich bin klinische Psychologin und auf Schmerztherapie spezialisiert. Ich arbeite bei Dr. Harrison Bell, einem Anästhesiologen, in der Schmerzklinik von Cambridge. Und zwar seit meiner Promotion an der Boston University vor zwei Jahren.»

Sie schlug ein Bein über das andere und machte einen überraschend gelassenen Eindruck für jemanden, der kurz zuvor einfach so hereingeschneit war und freiwillig gestanden hatte, vor über drei Monaten einen Mord begangen zu haben. Vielleicht war es nur aufgesetzt. Um sich nicht nur als Frau zu geben, sondern noch dazu als eine Frau, die unter den gegebenen Umständen erstaunlich selbstbeherrscht war. Coscarelli musste zugeben, dass Ingram diesbezüglich höchst talentiert war, falls er sich da ein Urteil erlauben konnte. Und wenn das, was in ihrer Aussage stand, stimmte, war Lynn Ingram schon einen großen Schritt weiter als sich lediglich als Frau zu geben.

«So habe ich Matt kennen gelernt», fuhr sie mit ruhiger Stimme fort und Coscarelli war sicher, dass sie damit den ausdrücklichen Rat ihres Anwalts missachtete. Doch das tat sie aus freien Stücken. Der Beweis, dass er sie in keiner Weise genötigt hatte, war auf Band. «Er hatte chronische Schmerzen im rechten Kniegelenk, die Folge einer Verletzung beim College-Fußball. Er kam im Mai zum ersten Mal in die Klinik, ein Partner aus seiner Kanzlei hatte uns empfohlen –»

«Und der Name des Partners?»

«Aaron Hirsh.»

«Das ist der Anwalt, der Sie, wie Sie in Ihrer Aussage angegeben haben, vertreten wird.»

«Das ist richtig, Detective. Ich habe ihn angerufen. Wie Sie sich bestimmt denken können, war er sehr unglücklich darüber, dass ich bereits eine Aussage gemacht hatte.» Sie zuckte die Achseln. Selbst diese Geste hatte etwas ausgesprochen natürlich Feminines. «Aaron kommt mit dem Flugzeug aus New York. Er hat ein Apartment in Manhattan, weil seine Kanzlei dort auch Büros unterhält. Er und Matt haben sich das Apartment geteilt. Sie waren nicht nur Kollegen, sondern auch Freunde.»

«Und trotzdem wollen Sie, dass Hirsh Sie vertritt?»

«Er ist der Beste. Und er ist auch mein Freund.»

Coscarelli bedachte sie mit einem eindringlichen Blick.

Sie lächelte, zeigte gleichmäßige, perlweiße Zähne. «Bloß Freunde, Detective.»

«Wieso haben Sie eine Aussage gemacht, bevor Hirsh hier ist?», fragte Coscarelli.

«Ehrlich gesagt, wusste ich nicht im Voraus, dass ich das tun würde. Ich war mit einem Freund in einem Restaurant hier in der Straße essen. Seit drei Monaten habe ich, gelinde gesagt, keinen richtigen Appetit mehr, und mein Freund äußerte sich deshalb besorgt. Ich sagte ihm, es sei nichts Ernstes. Doch das war ganz offensichtlich gelogen. Ich mache die Hölle durch seit dieser schrecklichen Nacht. Übrigens habe ich das Restaurant ausgesucht. Freud hätte es bestimmt aufschlussreich gefunden, dass das Polizeipräsidium nur einen Katzensprung davon entfernt ist. Und der kluge Doktor hätte Recht gehabt. Ich habe sogar meinen Wagen direkt gegenüber geparkt. Ich bin aus dem Restaurant gekommen, wollte zu meinem Wagen und … bin stattdessen hier reinmarschiert. Es war vielleicht ein bisschen überstürzt. Ich meine, ich hätte auf Aaron warten sollen. Aber der Schaden ist bereits angerichtet. Ich habe eine Aussage gemacht. Ich stehe zu meiner Aussage. Meine Aussage bleibt meine Aussage, auch wenn Aaron hier ist.»

«Wieso stellen Sie sich jetzt?»

Sie sah ihn fest an. «Aus Gewissensgründen.» Er sah, wie Traurigkeit ihre tiefblauen Augen verschleierte, aber er traute ihr nicht.

Ingram wandte den Blick ab und richtete ihn auf den mickrigen Weihnachtskaktus auf seinem Aktenschrank. Er hatte weder letztes Jahr noch vorletztes Jahr zu Weihnachten geblüht. Coscarelli wusste nicht genau, warum er ihn überhaupt noch behielt. Vielleicht wartete er auf ein Wunder.

«An dem Montag nachdem … es passiert war, hatte ich den Operationstermin. Ich flog Sonntagabend nach Montreal und war zehn Tage im Krankenhaus. Dann habe ich einige Wochen in einem Hotel in der Nähe gewohnt, um mich ambulant weiter behandeln zu lassen und um … körperlich und psychisch wieder einigermaßen stabil zu werden.»

«Das war doch durch Slaters Tod gewiss schwieriger geworden.» Diesmal hatte Coscarellis Stimme einen bewusst sarkastischen Unterton.

Sie verzog das Gesicht. «Ich wusste nicht, dass Matt tot ist. Meine Handlungen an dem Abend geschahen aus reiner Notwehr, ganz einfach.»

Coscarelli fand es interessant, dass Ingram ihren tödlichen Angriff auf Slater als Handlungen bezeichnete. Und was die Formulierung ganz einfach betraf – er war ziemlich sicher, dass die Psychologin genau wusste, dass bei dem Mord an einem renommierten Anwalt aus einer vornehmen, alteingesessenen New-England-Familie nicht der geringste Aspekt ganz einfach war.

«Matt hat noch gelebt, als ich aus dem Haus gerannt bin. Wenigstens dachte ich das.»

«Sie sind Doktor. Sie haben es nicht überprüft?»

«Ich bin keine Medizinerin. Und war in Panik. Ich bin weggelaufen. Ich bin nicht stolz darauf. Aber wie gesagt, ich wusste nicht, dass Matt … gestorben war. In den Nachrichten haben sie das ganze Wochenende nichts gemeldet, bevor ich nach Montreal geflogen bin, und falls die kanadischen Medien es irgendwann später berichtet haben, so habe ich weder etwas gesehen noch gehört, während ich im Krankenhaus war oder danach – als ich mich in dem Hotel erholt habe. Ich dachte, mit Matt wäre alles in Ordnung. Ich wusste, dass er mich nicht anzeigen würde. Im Gegenteil, ich war sicher, er befürchtete, dass ich ihn anzeigen würde. Er hat mich ganz schön zusammengeschlagen. Das kann Ihnen Dr. Claude Brunaud bestätigen.»

«Und wer ist dieser Brunaud?»

«Der kanadische Chirurg, der bei mir die Scheidenplastik gemacht hat.» Ihre Augen hielten seinem Blick stand.

Coscarelli hatte größte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich innerlich wand.

Ingram lächelte, und er war sicher, auf seine Kosten. Doch dann richtete sie den Blick wieder auf den kümmerlichen Kaktus, und er sah, dass ihr Lächeln sich verlor. «Diese Genesungsphase – das hätte die glücklichste Zeit meines Lebens sein sollen. Endlich war ich ganz. Endlich richtig. Wirklich ich selbst. Sie können sich nicht vorstellen, wie lange ich geträumt hatte, gebetet –»

Das Lächeln erstarb ganz. «Aber nie war ich deprimierter. Oh, mein Psychologe im Krankenhaus meinte, Depressionen seien nichts Ungewöhnliches. Er verglich es mit der postnatalen Depression einer Wöchnerin. Aber das war es nicht. Wissen Sie, ich hatte mir ein Leben mit Matt vorgestellt. Eine normale, glückliche, liebevolle, dauerhafte Beziehung. Ich hatte gedacht, dass er für mich da wäre.»

«Klar, nicht leicht, sich ein glückliches, langes Leben mit einem toten Mann vorzustellen.»

Wenn er gehofft hatte, sie würde aus der Haut fahren, so irrte er sich. Ingrams Gesicht wirkte eher noch trauriger, falls das überhaupt möglich war. «Ich habe Matt nicht ermordet. Er hat mich angegriffen. Wir haben gekämpft. Ich hatte keine andere Wahl, als mich zu verteidigen. Um mein Leben zu kämpfen. Es war Notwehr.»

Coscarelli gab bewusst keine Antwort. Er würde Ingrams Anwalt nicht den Hauch einer Chance geben, ihm Beeinflussung seiner Mandantin anzulasten. «Die Wahrheit war zu viel für Matt. Er hat mir ganz schonungslos gesagt, er würde mich lieber tot sehen, als das Risiko einzugehen, dass alles herauskäme. Er hat gesagt, er würde sich nicht zum Gespött des ganzen Landes machen. Finden Sie es nicht interessant, Lieutenant Coscarelli, dass er keine sonderliche Angst davor hatte, als ein Mann gesehen zu werden, der seine Frau betrogen hat? Er hatte nur Horror davor, man könnte ihn für einen Perversen halten. Ich war absolut überzeugt, dass Matt mich getötet hätte, wenn ich ihn nicht … daran gehindert hätte. Er hat … mich angegriffen. Brutal. Als ob … ich es je irgendjemandem erzählt hätte.» Sie schüttelte den Kopf. «Matt konnte nicht verstehen, dass ich genauso verzweifelt war.»

«Inwiefern?»

«Ich habe ihn geliebt.» Ihre Lippen zitterten leicht, und ein oder zwei Wimpernschläge lang dachte Coscarelli, dass ihre so sorgfältig konstruierte Fassade bröckeln würde. Doch dann riss sie sich mit einem resoluten Seufzer zusammen. «Das steht alles in meiner Aussage, Detective. Ich weiß nicht, warum ich jetzt alles noch mal durchkaue. Das muss ich eigentlich doch erst, wenn Aaron da ist.»

Coscarelli kippte mit seinem Stuhl nach hinten. «Worüber sollen wir reden, während wir warten?»

Sie ließ einige Sekunden verstreichen. «Erzählen Sie mir nicht, dass Sie nicht neugierig sind. Oder kennen Sie noch andere M-z-F?»

«M-z-F?» Doch dann verstand er. Vom Mann-zu-Frau-Operierte.

«Nicht alle sehen so aus wie ich. Ich gehöre zu den Glückspilzen. Als Teenager wurde ich oft für ein Mädchen gehalten. Zumindest bevor ich mit sechzehn in die Höhe schoss, bis fast eins achtzig. Ich war mit einem hübschen Gesicht gesegnet – oder verflucht, wie mein Vater sagen würde. Ich brauchte nur geringfügige operative Gerichtskorrekturen und natürlich eine Elektrolysebehandlung zur Entfernung der Bartbehaarung. Selbst das war keine langwierige oder komplizierte Angelegenheit, weil ich sehr blond bin. Mir wäre immer nur ein sehr kümmerlicher Bart gewachsen. Auch schon vor meiner Hormonbehandlung. Die meisten meiner transsexuellen Freunde beneiden mich.» Ihr Lächeln lag irgendwo zwischen gequält und kokett.

«Und Slater hatte bis zum besagten Abend keine Ahnung?» Seine Frage klang schärfer, als er es beabsichtigt hatte.

«Hätten Sie es geahnt, Detective?» Ingram musterte ihn herausfordernd. «Kennen Sie den Film The Crying Game? Tja, der Freitagabend hätte eine Szene aus dem Film sein können.» In ihrer Stimme schwang gespielte Schnoddrigkeit mit. «In dem Film ist der Held scharf auf eine Frau in einer Bar, sie nimmt ihn mit zu sich nach Hause für eine Nacht voller sexueller Wonnen, und er flippt aus, als er ihr kleines Anhängsel entdeckt, mit dem er nicht gerechnet hat. Trotzdem verliebt er sich am Ende in sie.»

«In Ihrem Fall hat das Leben die Kunst aber wohl nicht imitiert, vermute ich.»

«Matt war entsetzt. Dann wurde er wütend. Sehr wütend.»

«Sie hätten ihn doch vorwarnen können.»

Sie bedachte ihn mit einem gequälten Blick. «Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich mich schon selbst dafür verflucht habe, dass ich so … naiv war. So … vertrauensselig. So verdammt blöd.»

Coscarelli versuchte, sich in Slaters Lage zu versetzen. Wie hätte er reagiert? Er wäre ganz schön fertig gewesen, keine Frage. Aber hätte er sie geschlagen? Ihn? Sie? Es sagte sich so leicht, dass er die Ruhe bewahrt hätte.

Ingram beugte sich auf ihrem Stuhl vor. «Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen, Lieutenant, aber im Grunde meines Herzens, mit jeder Faser meines Seins war ich schon vor der Operation eine Frau. Ich war schon immer eine Frau, die im falschen Körper eingesperrt war. Ich habe mich fast vom ersten Augenblick an in Matt verliebt, aber ich habe mich zurückgehalten. Erst als ich ganz und gar überzeugt war, dass er tiefere Gefühle für mich empfand und nicht nur mit mir ins Bett wollte, bin ich das Risiko eingegangen. Ich habe mir eingeredet, dass er es verstehen würde. Dass er natürlich zunächst verstört reagieren würde, aber dann doch darüber hinwegkommen könnte.»

«Sie hätten bis nach der Operation warten können. Es stimmt doch wohl, dass er dann nicht mal was gemerkt hätte?» Coscarelli war zu Anfang seiner Laufbahn für kurze Zeit bei der Sitte gewesen und hatte mit einigen Transsexuellen – vor und nach der Operation – zu tun gehabt. Und er hatte einiges von ihnen gelernt.

Eine leichte Röte färbte Ingrams Wangen. «Dank Dr. Brunaud werde ich, sobald alles ausgeheilt ist, perfekte weibliche Genitalien haben. Nicht unterscheidbar von denen einer genetischen Frau. Der gute Doktor versichert mir sogar, dass ich irgendwann einen Orgasmus haben kann.» Ihr Ton war eher klinisch als provokant.

«Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.» Eine von Coscarellis Stärken war, dass er sich nicht so leicht ablenken ließ.

«Ich wollte, dass Matt Bescheid weiß», sagte sie, jetzt mit einem Hauch Inbrunst in der Stimme. «Ich hatte schon viel zu lange mit der Lüge gelebt – nein, unter ihr gelitten. Ich dachte, ich bin es Matt schuldig, dass er die Wahrheit kennt. Die Wahrheit sieht. Ich habe zu spät begriffen, dass es verrückt war, aber ich habe wirklich gedacht, es würde ihm helfen, sie letztlich zu akzeptieren. Ich habe gedacht, er würde mich vielleicht sogar … nach Kanada begleiten. Meine Hand halten, sozusagen. Ich wusste, dass er verheiratet war, aber er hat gesagt, er würde seine Frau verlassen. Er hat geschworen, seine Ehe sei schon lange, bevor wir uns trafen, kaputt gewesen. Dass ich nicht der Grund für die Trennung sei. Er hat gesagt … dass er mich liebt. Er hat gesagt, er sei ganz sicher, dass wir eine Zukunft hätten. Ich habe ihm geglaubt.» Ihre Lippen zitterten jetzt richtig, Tränen traten ihr in die Augen. «Ich habe mich getäuscht. Wir haben uns beide getäuscht.»

II2001

Mein Arzt hat gesagt, es sei ein Phase. Es würde sich wieder geben. Irgendwann würde ich aufhören zu glauben, dass ich in Wirklichkeit ein Mädchen bin. Er hat sich geirrt. Aber ich gebe zu, dass es dunkle Zeiten gegeben hat, in denen ich mir gewünscht habe, er hätte Recht gehabt …

Lynn Ingram

Gefängnistagebuch

1

Entlassungsvorbereitungszentrum

Horizon House, Neuaufnahme-Besprechung

Boston, Massachusetts

Montag, 13. August

«Das gefällt mir nicht. Ingram hat schon im Knast Ärger gemacht, und sie wird noch mehr Ärger machen.» Gordon Hutchins, mein leitender Vollzugsbeamter, ein stämmiger Mann mit grauem, militärisch kurz geschorenem Haar, der gegen einen unaufhaltsam dicker werdenden Bauch ankämpft, sieht meinen tadelnden Blick. Ich merke, dass er einen Rückzieher macht, nicht weil er Angst vor mir hat, sondern weil er weiß, dass ich im offenen Kampf nur noch hartnäckiger werde. Mit zweiunddreißig bin ich zwar siebenundzwanzig Jahre jünger als Hutch und er ist dreißig Jahre länger als ich im Strafvollzug, aber ich bin von der neuen Schule – mit dazugehörenden sämtlichen richtigen Abschlüssen, inklusive einem Doktor in Strafrechtspflege –, und als Superintendent und Leiterin von Horizon House habe ich das letzte Wort.

«Ingram hat den Ärger nicht verursacht, Hutch», sage ich betont knapp. «Und sie erfüllt alle Voraussetzungen für eine Aufnahme. Also, weiter im Text.»

Jack Dwyer, mein dunkelhaariger, dunkeläugiger Stellvertreter, der starke Ähnlichkeit mit einem leicht abgewrackten Straßenrowdy hat, will aber nicht einfach weiter im Text machen. Wie Hutch ist auch er älter als ich – er wird bald vierzig und freut sich keineswegs darauf – und arbeitet schon länger im Strafvollzug als ich. Anders als Hutch macht es ihm allerdings Spaß, sich mit mir anzulegen. Er würde gern noch mehr mit mir machen, aber unsere private Beziehung, kompliziert von Anfang an, ist im vergangenen Jahr noch verzwickter geworden. Er bemüht sich zwar nach Kräften, das Knäuel zu entwirren, aber irgendwie verheddert sich dadurch alles nur noch mehr. Ich rechne ständig damit, dass er aufgibt, weil ich besser als die meisten anderen weiß, dass Jack Dwyer nicht gerade ein geduldiger Mensch ist. Andererseits weiß ich auch, dass er daran gewöhnt ist, zu bekommen, was er will. Aber das bin ich auch. Nur wollen wir unterschiedliche Dinge.

«Ob sie nun den Ärger verursacht hat oder nicht», sagt Jack und fixiert mich dabei, «Ingram musste jedenfalls in Schutzhaft genommen werden, nachdem sie mehrmals angegriffen und mindestens einmal vergewaltigt wurde. Und obwohl sie keinen von den Tätern verraten hat, hat ihr selbst das bei den anderen weiblichen Häftlingen oder beim männlichen und weiblichen Personal keine Sympathien eingebracht.»

«Vielleicht hat sie nichts gesagt, weil es gar keine richtigen Vergewaltigungen waren», murmelt Hutch. «Vielleicht wollte sie einfach mal Action.»

«Vielleicht hatte sie aber auch einen Heidenschiss davor, dass man sie umlegt, wenn sie jemanden verpfeift», sagt Sharon Johnson aufgebracht. Man würde es nicht vermuten bei dieser eleganten, üppigen Frau mit der kakaobraunen Haut und dem schicken, rostbraunen Designer-Kostüm, aber meine achtunddreißig Jahre alte Berufsberaterin weiß, wovon sie redet, hat sie doch selbst schon einmal hinter Gittern gesessen.

Außer Sharon ist noch ein weiterer ehemaliger Insasse im Horizon House beschäftigt: Akeem Ahmal, unser Koch, oder Küchenchef, wie er lieber genannt wird. Ich musste mich ganz schön ins Zeug legen, um den beiden die Stellen zu verschaffen, und bis heute sind sie die einzigen Exhäftlinge, die innerhalb einer Strafvollzugsanstalt arbeiten.

Um jedes Missverständnis auszuräumen, das Horizon House liegt zwar außerhalb der Gefängnismauern und ist ein schmuckes, restauriertes viktorianisches Haus, das bis zur Wende des vorigen Jahrhunderts ein hochanständiges Hotel für junge Frauen war, es liegt darüber hinaus mitten in der Bostoner Innenstadt und die Häftlinge, die bei uns aufgenommen werden, dürfen etwas Luft der Außenwelt schnuppern, aber es besteht absolut kein Zweifel daran, dass das sechsstöckige Gebäude nach wie vor ein Gefängnis ist. Wenn auch das einzige Gefängnis im Staat mit Häftlingen beiderlei Geschlechts. Obwohl Männer und Frauen auf verschiedenen Etagen getrennt untergebracht sind und jeder zwischengeschlechtliche Kontakt ohne Aufsicht streng verboten ist, finden heutzutage sämtliche internen Reha-Maßnahmen – ob es um Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, Zornbewältigung, Kindererziehung, Missbrauch und so weiter geht – bewusst gemischtgeschlechtlich statt. Es hat seine Zeit gedauert, bis ich die verantwortlichen Stellen zu der Einsicht bringen konnte, dass die persönliche Erfahrung der Häftlinge, wie das jeweils andere Geschlecht mit Problemen umgeht, weitaus wichtiger ist als das Vermeiden möglicher Risiken. Zugegeben, ich hatte nicht an das Problem gedacht, mit dem wir uns heute befassen müssen.

«Worauf steht Ingram überhaupt? Männer? Frauen? Beides?», fragt Hutch die Gruppe.

Sharon schaut ihn wütend an. «Was spielen ihre sexuellen Vorlieben denn hier für eine Rolle?»

Hutch hebt beide Handflächen in ihre Richtung. Seine Art, sich zu entschuldigen. Obwohl ich schon seit einiger Zeit Bescheid weiß, hat Sharon sich erst vor kurzem ihren Kollegen gegenüber geoutet. Vor zwei Wochen hat sie sogar Raylene Ford, mit der sie seit einigen Jahren zusammenlebt, mit zu einem Mitarbeiterpicknick gebracht. Die beiden Frauen lernten sich vor über acht Jahren während ihrer Haft im CCI Grafton kennen. Sie wurden Freundinnen und nach ihrer Entlassung ein Paar. Ich kenne Ray seit dem letzten Jahr, als wir im Horizon House eine Krise durchmachten. Während dieser chaotischen Zeit habe ich auch meine Berufsberaterin um einiges besser kennen gelernt.

«Sharon, ich will wirklich nicht respektlos sein», fasst Hutch seine Entschuldigung in Worte. «Aber ich finde, wir haben das Recht zu wissen, auf wen Ingram vielleicht ein Auge wirft. Machen wir uns nichts vor, bis auf die beaufsichtigten Maßnahmen können wir unsere Jungs und Mädchen getrennt halten, aber wir wissen doch alle, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg –»

«Bleiben wir beim Thema, Leute», falle ich Hutch ins Wort, um zu verhindern, dass unsere Besprechung sich zu einer Klatschrunde darüber auswächst, wer von unseren Schützlingen es bei einem anderen versucht oder einen anderen herumgekriegt hat. Klar, so etwas kommt vor, aber so häufig auch wieder nicht, weil die Risiken – eine Fahrkarte zurück in den Knast – für die meisten unserer Häftlinge viel zu schwer wiegen. Unsere Einrichtung ist für die Insassen eine Brücke zwischen Gefängnismauern und dem Leben draußen, und ihr Aufenthalt hier dauert sechs bis höchstens neun Monate. Manche Häftlinge flirten auf Teufel komm raus, aber da sie nur kurze Zeit hier bleiben, also bald auf freiem Fuße sein werden, halten sie ihre Leidenschaft meistens im Zaum.

«Ich sehe das so», sagt Jack, «Ingram musste bis auf vier Monate ihre ganzen drei Jahre getrennt von ihren Mithäftlingen absitzen. Auch wenn sie selbst nichts dafür konnte, sie brauchte Schutz. Wir haben hier absolut nicht die Möglichkeit, ihr diese Art von Sicherheit zu bieten, das wissen wir doch alle. Ich denke, es ist in ihrem wie auch in unserem Interesse, wenn sie auch ihre letzten sechs Monate da bleibt, wo sie ist.»

Dr. Ross Varda räuspert sich und wirft mir über den braunen Resopaltisch einen Blick zu. Ich nicke dem etwas herrischen, großen, jungen Freud-Doppelgänger zu, erleichtert, dem Gastpsychiater das Wort überlassen zu können. Der Vierunddreißigjährige rückt seine Nickelbrille zurecht, streicht sich den ordentlich gestutzten Bart glatt und blickt uns nacheinander im Uhrzeigersinn an – erst mich, dann Dwyer, Hutch und Sharon Johnson, dann wieder mich, während er mit ausdrucksloser, gemessener Stimme spricht. «Seit Lynn im CCI Grafton einsitzt, führe ich zweimal im Monat mit ihr ein Gespräch. Ich bin der Ansicht, dass die Verlegung hierher ganz in Lynns Interesse liegt. Wenn Superintendent Price zustimmt, werde ich die psychiatrischen Sitzungen mit meiner Patientin hier im Horizon House fortführen. Und ihre medikamentöse Behandlung überwachen.»

«Medikamente. Dann ist sie also doch verrückt», sagt Hutch. «Ich meine, überrascht mich eigentlich nicht. Ein Mann, der so was mit sich machen –»

«Lynn Ingram ist gesetzlich und physiologisch eine Frau», fällt Varda ihm scharf ins Wort, nicht mehr mit ausdrucksloser Stimme und auch nicht mit wohl überlegten Worten. «Und sie ist nicht verrückt. Ich habe sie, kurz nachdem sie in Grafton in eine Einzelzelle verlegt wurde, auf ein Antidepressivum gesetzt – wem würde eine solche Umgebung nicht aufs Gemüt schlagen, ganz abgesehen von den entsetzlichen Angriffen, weswegen sie ja überhaupt in Schutzhaft genommen wurde. Doch seit sie die Aussicht hat, ins Entlassungsvorbereitungszentrum zu kommen, haben sich ihre Depressionen deutlich gebessert, und sie hat gebeten, das Medikament absetzen zu dürfen. Sie nimmt jetzt nur noch ein unterstützendes Hormonpräparat.»

Jack blickt den Psychiater neugierig an. «Wieso darf sie denn Hormone nehmen?» Eine gute Frage. Natürlich erhalten Häftlinge, die Diabetes haben, Insulin, und HIV-Infizierte oder AIDS-Kranke bekommen jedes Medikament, das erforderlich ist. Kurzum, die Strafvollzugsbehörde ist gesetzlich dazu verpflichtet, dass alle unter ihrer Obhut stehenden Männer und Frauen jede lebenserhaltende medizinische Behandlung bekommen. Ohne die Hormonbehandlung wäre Lynn Ingrams körperliche Gesundheit wahrscheinlich nicht lebensbedrohend gefährdet. Aber ich vermute, dass die Gefährdung ihrer psychischen Gesundheit auf einem ganz anderen Blatt steht.

«Anfänglich hat sie ihre Hormone nicht bekommen», sagt Varda leicht gereizt. «Doch mit meiner Hilfe hat ihr Anwalt Rechtsmittel eingelegt und eine Aufhebung der Entscheidung erreicht.»

Hutch lacht höhnisch auf. «Und wenn nicht? Hätte Eva sich dann wieder in Adam zurückverwandelt? Nur ohne Pimmel?»

«Jetzt reicht’s, Hutch», zische ich. Obwohl ich wegen dieser rüden und voreingenommenen Bemerkungen ziemlich sauer auf meinen leitenden Vollzugsbeamten bin, vermute ich stark, dass jeder von uns, außer vielleicht Dr. Varda, verunsichert und beklommen auf einen Menschen reagiert, der sich einer operativen Geschlechtsumwandlung unterzogen hat. Nur die Art, wie wir mit diesen Gefühlen umgehen, ist bei jedem anders. Während der acht Jahre, die ich nun schon im Strafvollzug arbeite, habe ich etliche männliche und weibliche Häftlinge erlebt, die sich psychisch dem anderen Geschlecht zuordnen, aber noch nie jemanden, der tatsächlich eine Geschlechtsumwandlung durchgemacht hat.

Der Psychiater bedenkt Hutch mit einem missbilligenden Blick. «Das ist genau die Art von Ignoranz, die Lynn hier im Horizon House Probleme bereiten wird. Ich finde es sehr traurig, dass sich meine Hoffnung, diese Einrichtung hier wäre fortschrittlich und tolerant, als Irrglaube erweist.»

Zugegeben, meine Leute zeigen sich dem Psychiater nicht gerade von ihrer fortschrittlichsten Seite, aber ich werde ausgesprochen fuchsig, wenn ein Außenstehender einen meiner Mitarbeiter angreift.

«Sie müssen sich keine Sorgen machen, dass Gordon Hutchins irgendwelche Probleme verursacht, wenn Ingram zu uns verlegt wird», sage ich schneidend zu Varda. «Er ist der beste leitende Vollzugsbeamte, der mir je begegnet ist. Ich bin ungeheuer dankbar, dass ich ihn habe.»

Varda öffnet den Mund, der fast vollständig von dem rotblonden Vollbart verdeckt wird – ein Ausgleich für sein frühzeitig schütter werdendes, rötliches Haar? –, doch dann presst er seine dünnen Lippen zusammen, weil er sich offensichtlich – und klugerweise – eines Besseren besinnt, als sich mit mir anzulegen.

Hutch, der es nicht ausstehen kann, wenn eine Frau seine Kämpfe austrägt, auch nicht, wenn er die Frau mag und widerwillig bewundert, grinst den Seelenklempner höhnisch an. «Nennen Sie eigentlich alle Ihre Patientinnen beim Vornamen? Oder nur die hübschen?», fragt Hutch provokativ, fängt dann aber den Reg dich ab-Blick auf, den ich ihm zuwerfe. Er seufzt. «Tschuldigung, Doc.» Er sagt es nicht so, als würde er es ernst meinen. Er versucht es nicht mal.

Rote Flecke zieren Vardas Wangen oder das, was wir über dem Bart davon sehen können. Ich bin nicht sicher, ob der Psychiater wütend oder verlegen ist. Er wäre ja nicht der erste Therapeut, der sich übermäßig und unangemessenerweise mit einer attraktiven Patientin einlässt. Und ob wir Übrigen Lynn Ingram während ihres Aufsehen erregenden Prozesses vor drei Jahren im Fernsehen oder auf den Titelseiten von diversen Sensationsblättern gesehen haben, wir alle wissen, dass sie nicht bloß attraktiv, sondern schlicht und ergreifend schön ist – ganz gleich, wie wir zum Thema Transsexualität stehen.

«Darf ich mal was klarstellen?» Jacks Frage ist rhetorisch. «Wir können uns alle für Hutch verbürgen, daran besteht kein Zweifel», fügt er hinzu und fixiert Varda, «und für unsere übrigen Kollegen auch. Bei den Häftlingen sieht die Sache allerdings anders aus. Manche könnten ein Problem werden. Und wir können keine Probleme gebrauchen.» Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. «Und genau aus diesem Grund sage ich, wir sollten es lassen.»

«Und ich sage, wenn wir anfangen, Häftlinge auszuschließen, die für die Maßnahme geeignet sind, nur weil wir nicht imstande sind, für ihre Sicherheit zu sorgen, dann können wir den Laden gleich dichtmachen.» Ich spreche mit Nachdruck.

Jack wendet sich wieder an den Psychiater. «Etwas würde mich interessieren, Doc. Hat Ingram eigentlich akzeptiert, dass die Geschworenen sie wegen Totschlags schuldig gesprochen haben?» Jack stellt die Frage mit so unbeteiligter Stimme, dass Varda noch unruhiger auf seinem Stuhl hin und her rutscht.

«Lynn – Dr. Ingram –» Varda spricht mit verkniffenen Lippen, noch mehr rote Flecke auf den Wangen, «hat stets an ihrer ursprünglichen Notwehr-Erklärung festgehalten. Dennoch belastet es sie schwer, dass sie, wenn auch unbeabsichtigt, den Tod von Matthew Slater verursacht hat.»

Sharon Johnson, deren wachsende Verärgerung und Frustration über den Ablauf unserer Besprechung ihr deutlich anzusehen ist, nimmt geräuschvoll ein Blatt Papier aus der dicken Akte vor sich. «Ich habe hier einen Brief von Dr. Harrison Bell, dem Arzt der Schmerzklinik in Cambridge, in der Dr. Ingram damals gearbeitet hat, und er bittet darum, dass man ihr erlaubt, ihr Arbeitsvorbereitungsprogramm bei ihm zu absolvieren.»

«Das kann er sich ja wohl abschminken», stellt Hutch prompt klar. «Ingram hat ihre Zulassung als Psychologin verloren, als sie wegen Totschlags verurteilt wurde.»

«Dr. Bell ist natürlich darüber im Bilde, dass Ingram nicht mehr als klinische Psychologin zugelassen ist», sagt Sharon ungeduldig und blickt dann auf den Brief. «Er weist jedoch darauf hin, dass sie nach wie vor als seine Assistentin arbeiten kann. Ich finde, das wäre doch eine ideale Lösung –»

Hutch beäugt mich. «Also, ich verstehe, was du meinst, Nat, und, okay, im Großen und Ganzen bin ich hundertprozentig deiner Meinung.» Ein Kichern von Sharon Johnson zaubert ein ehrliches Lächeln auf sein Gesicht. «Na schön, vielleicht fünfundsiebzig Prozent. Ich will hier nicht der Schwarzmaler sein, aber ich weiß auch noch, dass vor gar nicht so langer Zeit nicht viel gefehlt hätte, und wir hätten den Laden dank des Fiaskos mit einem der Häftlinge dichtmachen können. Wollen wir so etwas wirklich wieder riskieren?» Obwohl er die Frage an die Gruppe gerichtet hat, weiß ich, dass Hutch ausdrücklich mich meint.

Keiner sagt ein Wort, aber ich bin sicher, dass jeder am Tisch gerade wieder lebhaft das Debakel vor Augen hat, das Hutch meint. Es ist noch kein ganzes Jahr her, dass Dean Thomas Walsh, ein Häftling, der wegen Vergewaltigung einsaß und bei uns im Zentrum auf seine Entlassung vorbereitet wurde, geflohen war, nachdem er verdächtigt wurde, eine junge Englischdozentin ermordet zu haben, die seine schriftstellerischen Ambitionen gefördert hatte. Die Dozentin, Maggie Austin, war zufällig auch meine beste Freundin gewesen. Und Jack Dwyers Geliebte.

Hutch hat Recht. Es grenzte wirklich an ein Wunder, dass unsere damals erst ein Jahr junge Einrichtung den Wirbel überstand, den die öffentliche Empörung über das Walsh-Debakel auslöste. Wegen Dean Thomas Walsh verlor ich meine beste Freundin, mein Job geriet in Gefahr, ganz zu schweigen von meinem Leben. Außerdem hätte ich fast den Fehler begangen, mich auf eine Liebschaft mit meinem Stellvertreter einzulassen, und beging den vielleicht noch größeren Fehler, eine schrecklich komplizierte Beziehung mit dem Detective anzufangen, der mit dem Walsh-Fall betraut war. Und jetzt würde diese Beziehung noch vertrackter werden. Als ich Lynn Ingrams Akte studierte, war mir als Erstes ins Auge gesprungen, dass Detective Leo Coscarelli vom Morddezernat auch die Ermittlungen im Fall Matthew Slater geleitet hatte.

Dr. Varda bricht das lange Schweigen. «Ich sollte noch erwähnen, dass eine Insassin vom Horizon House die Zellengenossin von Lynn Ingram war, bevor sie in Schutzhaft kam. Sie haben sich angefreundet. Lynn meint, dass es gut wäre, hier eine Verbündete zu haben. Ihr Name ist Nicki Holden.»

Nicki Holden ist zufällig auch die Mutter von Leo Coscarellis Kind.

Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht.

Simone de Beauvoir

2

Als wir kurz vor Mittag die Besprechung der Neuaufnahmen beenden, ist noch immer ungeklärt, ob Lynn Ingram ins Horizon House verlegt werden soll. Ich sage dem Team, dass ich am Nachmittag ins CCI Grafton fahren und mit Ingram persönlich sprechen werde, bevor ich eine endgültige Entscheidung treffe.

Alle haben mein Büro verlassen außer meinem Stellvertreter. Jack ist am Konferenztisch sitzen geblieben, während ich zielstrebig quer durch den großen, eichenholzgetäfelten Raum zu meinem Schreibtisch vor dem Erkerfenster gehe, das auf die viel befahrene Commonwealth Avenue blickt.

«Wenn du mit mir noch weiter über Ingram diskutieren willst, vergiss es, Jack», sage ich, bemüht, jeden Blickkontakt zu vermeiden. «Ich habe morgen früh als Erstes eine Etatbesprechung, auf die ich mich vorbereiten muss, dann muss ich noch etliche Entlassungsberichte durchsehen, ganz zu schweigen von der Anhörung vor dem Prüfungsausschuss –»

Er steht vom Tisch auf, kommt zu meinem Schreibtisch und setzt sich auf eine Ecke, während ich hektisch einen Stoß Papiere mit dem Halbjahresetatbericht durchblättere. Die Zahlenlisten verschwimmen mir vor den Augen.

«Du trägst wieder das Bleib-mir-vom-Leibe-Schild um den Hals.»

«Verschone mich, Jack.»

«Ich verschone dich schon viel zu lange.»

Ich blicke zu ihm auf. Er lächelt. Nicht das wie gemeißelt wirkende, spöttische Lächeln, das meist entweder Sarkasmus oder Hohn andeutet. Und mit dem ich inzwischen selbstsicher umgehen kann. Das hier ist eines seiner selteneren Lächeln, und es liegt ein Hauch Zärtlichkeit darin. Jack bringt mich immer ins Schleudern, wenn er auf liebenswert macht. Bis ich mir rasch seine zwei katastrophal gescheiterten Ehen in Erinnerung rufe, seine heimliche Affäre mit meiner besten Freundin und seine immer wieder mal auftretenden Alkoholperioden.

Ich schaue auf den Etatbericht, heuchle Konzentration.

Jack fasst mit der Hand unter mein Kinn und hebt meinen Kopf. «Komm, wir gehen was essen.»

Ich stoße brüsk seine Hand weg. «Nein», sage ich entschieden. Dass ich im Kampf gegen Jacks erotische Anziehungskraft nicht wie ein pubertierendes Mädchen kapituliere, verdanke ich meiner nicht mehr allzu geheimen Waffe. Leo Coscarelli. Leo hat zwar nicht das offenkundige Charisma eines Jack Dwyer, doch was ihm an sichtbarem Charme fehlt, macht er durch Aufrichtigkeit hundertmal wett. Und Leo hat Charisma ohne ein Alkoholproblem und ohne frühere Ehen, ob katastrophal oder anders gescheitert. Was nicht heißen soll, dass Leo nicht auch das eine oder andere Pack auf dem Buckel hat. Er hat, und das schwerste ist Häftling Nr. 479984. Nicki Holden. Und ihr gemeinsamer vier Jahre alter Sohn Jacob.

Ich will nicht verletzt werden. Nicht schon wieder. Die Tinte auf meinen Scheidungspapieren ist noch feucht. Wie sehr ich mich auch bemühe, den Zerfall meiner Ehe mit Ethan zu analysieren, das Wort Versagen leuchtet grell wie eine Dreihundert-Watt-Birne vor meinen Augen. Ich verkrafte es nicht gut zu versagen. Oder wenn mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird. So häufig, wie mir in meiner dysfunktionalen Kindheit der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, möchte man meinen, dass ich als Erwachsene zumindest aus Erfahrung besser damit klarkommen müsste. Aber weit gefehlt.

«Komm schon, Nat. Auch eine viel beschäftigte Chefin muss mal was essen», versucht Jack mich rumzukriegen, und seine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich blicke auf, sehe seinen selbstgefälligen Blick. Selbstgefällig ist besser. Sicherer. Selbstgefällig erinnert mich an Ethan. Ethan erinnert mich daran, warum ich die Scheidung auch dann noch wollte, als mein untreuer Mann wieder angeschlichen kam: Wir sind es uns schuldig, es noch mal zu versuchen, Nat. Wir hatten acht gute Jahre. – Gut für dich vielleicht. – Ich habe einen Fehler gemacht. Einen großen Fehler. – Ich auch, Ethan.

«Ich habe ein Sandwich dabei», sage ich barsch zu Jack und widme mich wieder dem Etatbericht. Ich füge nicht hinzu, dass ich noch ein zweites mitgebracht habe, falls ein gewisser kleiner Junge, der zurzeit im Besucherraum ist, auf einen Sprung in mein Büro kommen sollte. So kompliziert meine Beziehung zu Leo Coscarelli auch ist, meine Gefühle für seinen Sohn Jakey sind ganz und gar nicht kompliziert. Ich bin vernarrt in ihn.

Ich greife in meine Umhängetasche und hole ein säuberlich in Folie verpacktes Sandwich hervor, eine Geste, die meinem Stellvertreter zeigen soll, dass er sich bitte trollen möge. Aber Jack macht keinerlei Anstalten zu gehen. Er hat sich noch nie so ohne weiteres wegschicken lassen.

«Du siehst blass aus, Nat. Und du bist zu dünn. Ich finde wirklich, du solltest dich von mir zu einem netten, herzhaften Lunch entführen lassen», drängt er.

Ich habe keine Lust, mit ihm über mein Äußeres zu diskutieren. Mit meinen eins siebzig könnte ich wahrscheinlich noch gut fünf Kilo vertragen, denn seit Monaten bringe ich nur noch vierundfünfzig Kilo auf die Waage. Ich habe versucht, etwas zuzunehmen, aber ohne Erfolg. Ich habe mich sogar vor ein paar Wochen durchchecken lassen. Mein Arzt meinte, es sei der Stress. Ich sagte, also alles wie gehabt.

Jack greift sich eine vorwitzige Locke, die sich aus meinem hochgesteckten, unglaublich widerspenstigen kastanienbraunen Haar gelöst hat. Er wickelt sie sich um den Finger. Ich nehme sie ihm ab und stecke die Strähne wieder fest. Jack legt den Kopf schief, mustert mich.

«Du bist noch immer wunderschön», murmelt er.

Ich schenke ihm einen gequälten Blick. «Ich kann nicht etwas noch immer sein, was ich nie gewesen bin, Jack.» Das ist keine Koketterie von mir, und ich bin auch nicht auf noch mehr Komplimente aus. Ich bin, was mein Aussehen angeht, immer realistisch gewesen. Bei meiner Selbstanalyse schneide ich lediglich als attraktiv ab. Ich habe olivenfarbene Haut, die selten Pickel bekommt, haselnussbraune Augen, eine schmale Nase, Lippen, die für die aktuelle Mode weder zu schmal noch zu voll sind. Meine lockigen kastanienbraunen Haare sind mein auffälligstes Merkmal, und sie machen mir den meisten Kummer. Sie sind nämlich gegen mich. Gegen den Teil von mir, der sich nach außen hin flott, professionell, sachlich geben will. Ein Image, das meiner Position entspricht. Aus diesem Grund trage ich meine Haare bei der Arbeit auch immer hochgesteckt. Aus diesem Grund trage ich so gut wie kein Make-up, Pumps mit niedrigen Absätzen und streng geschnittene Kostüme – grau, schwarz, braun –, mit Röcken, die stets unterhalb der Kniescheibe enden.

Doch mein Stellvertreter bleibt entschlossen auf Verführungskurs. «Du bist immer so hart zu dir selbst, Nat. Du musst ein bisschen lockerer werden. Mehr lächeln. Du hast ein umwerfendes Lächeln. Du kriegst dann Fältchen in den Augenwinkeln –»

«Die ‹Fältchen› sind Falten. Ich gehe stramm auf die Drei- unddreißig zu, und an Tagen wie heute fühle ich mich wie hundert und sehe wahrscheinlich auch so aus. Also spar dir das Gesülze, Jack. Ich habe keine Lust –»

«Auf Ärger?»

«Richtig», sage ich.

«Wieso beschwörst du ihn dann selbst herauf, Nat?»

Ich schaue ihn an. Der Charme ist verschwunden. Ebenso die Selbstgefälligkeit. Zurück zur Arbeit. Ich hätte wissen müssen, dass er bloß nach einer Gelegenheit suchte, die Diskussion von vorhin fortzuführen.

«Ich mache nur meine Arbeit, Jack.» Ich packe langsam mein Truthahn-Käse-Sandwich aus. Ich habe ein nagendes Gefühl im Magen. Aber nicht vom Hunger. Vom Stress.

«Hat Nicki Holden dir gegenüber je Lynn Ingram erwähnt?», fragt er und beobachtet dabei meine bedächtigen Bewegungen.

«Nein. Aber ich werde mich mal mit ihr unterhalten. Und mit Ingram.»

«Coscarelli war damals für Ingrams Fall zuständig.»

«Ich weiß.» Ich knülle die Folie zu einem Ball zusammen und werfe ihn in Richtung meines Papierkorbs. Er geht daneben. Wir achten beide nicht darauf.

«Wirst du dich auch mit ihm unterhalten?»

«Leo und ich unterhalten uns andauernd.» Es ist nicht nett von mir, das zu sagen, denn ich weiß, dass Jack nicht gerade glücklich über meine persönliche Beziehung zu Leo Coscarelli ist.

«Er ist gerade im Besucherraum. Mit seiner Mutter und seinem Sohn. Nicki hat mir erzählt, dass er sie wieder häufiger besucht. Am Sonntag waren er und der Kleine ohne Grandma da. Das erste Mal, dass sie nicht die Anstandsdame gespielt hat. Und er ist die vollen zwei Stunden geblieben. Am Montag hat Nicki mir erzählt, dass er sie immer stärker bedrängt, dem Jungen zu sagen, dass sie seine Mutter ist.»

Ich schiebe mein Sandwich beiseite, der Appetit ist mir vergangen. «Warum erzählst du mir das, Jack?»

«Ich erzähle es dir, weil ich nicht will, dass du schon wieder verletzt wirst», sagt er leise.

«Fangen wir nicht wieder damit an, Jack.»

Er beugt sich näher zu mir. So nah, dass ich seinen Kaffeeatem riechen kann. Besser als damals, als er nach Whiskey und Mundspray stank. Er ist seit fast einem Jahr trocken. Was ich ihm hoch anrechne, wie er weiß.

Jack weiß auch, dass mein Dad Alkoholiker war. Dass er, als ich ein Teenager war, wegen wiederholter Trunkenheit am Steuer eine Weile im Gefängnis saß. Dass er nach seiner Entlassung in kürzester Zeit wieder drin war, weil er gegen die Bewährungsauflagen verstoßen hatte. Und dass er sich nach seiner zweiten Entlassung bemühte, bei seinen halbwüchsigen Töchtern all die Jahre wieder gutzumachen, in denen er kein richtiger Vater gewesen war, weil er sich ständig betrunken und aus allem rausgehalten hatte. Doch das dauerte insgesamt nur ein paar Wochen, in denen er es schaffte, einen Job in einer Anwaltskanzlei zu behalten – nicht mehr als Anwalt, weil er ja vorbestraft war, sondern als Anwaltsgehilfe –, Wochen, in denen er keinen Tropfen Alkohol anrührte, in denen er versuchte, mit einer Frau klarzukommen, die manisch-depressiv war und nicht immer ihre Medikamente nahm, bis er dann das Handtuch warf: Eines Tages verschwand er, war fünf Tage lang sinnlos betrunken und erhängte sich, als er wieder nüchtern genug dazu war.

Das wissen nicht viele. Aber Jack und Hutch wissen es. Und Leo.

Jack sieht mich aus einsamen Augen an. Ich weiß, dass es im vergangenen Jahr in seinem Leben höchstens mal eine Frau für ein oder zwei Nächte gab. Nach Maggies Tod litten wir beide sehr unter Trauer und Verrat. Sodass wir schließlich für eine kurze Zeit glaubten, bei einander Trost finden zu können. Ich kam wieder zur Besinnung, bevor es außer Kontrolle geriet, weil mir klar wurde, dass es nicht nur ausgesprochen dumm wäre, mit meinem Stellvertreter eine Affäre zu haben, sondern auch nutzlos. Jack sah das nicht so. Ich glaube, er lässt einerseits nicht locker, weil er nicht gut mit Zurückweisung umgehen kann. Und andererseits, weil er so den Schmerz über Maggies Tod verdrängt.

Jack steht auf und schlendert zur Tür. «Ich glaube jedenfalls, du machst mit Ingram einen Fehler.»

Er ist zur Tür hinaus, bevor ich etwas erwidern kann.

Immer muss er das letzte Wort haben.

Im Schnitt lässt sich einer von fünf Mann-zur-Frau-Transsexuellen in einer psychiatrischen Klinik stationär behandeln, und 52 Prozent der M-z-F-Transsexuellen geben an, irgendwann Opfer eines Gewaltverbrechens geworden zu sein. Diese Menschen sind überaus verletzlich, auch ohne die Belastungen der Geschlechtsumwandlung und die Isolation im Gefängnis.

Dreijährige Langzeitstudie

1992, National Gender Identity Clinic

Charing Cross Hospital

3

Meine Bürotür öffnet sich, als ich am Fenster stehe und beobachte, wie Marie Coscarelli und ihr Enkel Jakey, seine kleine Hand in ihrer, das Gebäude verlassen.

«Hast du einen Moment Zeit?», fragt eine Stimme hinter mir.

Statt mich zu meinem Besucher umzudrehen, ruht mein Blick weiter auf den beiden, die nun in ein wartendes Taxi steigen. Es ist ein warmer, luftiger Sommertag, der erste nach fast einer Woche mit nahezu ununterbrochenem Regen und grauem Himmel. Ein Tag, den man eigentlich im Freien verbringen sollte. Nicht im Büro.

«Wie ich höre, hast du Nicki am Wochenende allein mit Jakey besucht.» Ich spüre beim Sprechen ein Kratzen in der Kehle.

«Meine Mutter hatte was am Magen», sagt Leo Coscarelli und kommt näher.

«Geht’s ihr wieder besser?»

Er steht neben mir. «Was ist los, Natalie?» Außer Leo nennen mich alle Nat. Normalerweise mag ich es, wenn er meinen vollen Vornamen benutzt. Jetzt ärgert es mich. Aber andererseits war ich schon verärgert, ehe Leo kam.

«Erinnerst du dich an Lynn Ingram?», frage ich, werfe ihm einen Blick zu und setze mich wieder an meinen Schreibtisch. Leo bleibt am Fenster.

«Jemanden wie sie vergisst man nicht», sagt er harmlos.

«Nein, wohl nicht.»

«Soll sie hierher verlegt werden?», fragt er.

Ich nicke. «Was hältst du davon?»

Er lehnt sich an die Wand neben dem Fenster, die Hände tief in den Taschen seines blauen Sportjacketts. Mir fällt auf, dass er dünner aussieht, das Gesicht abgespannt. Stress? Im Job? Wegen mir? Wegen Nicki? Alles zusammen? Willkommen im Club.

«Was ich davon halte?», wiederholt er. «Ich denke, es könnte heikel sein.»

«Fandest du den Schuldspruch berechtigt?», frage ich.

«Sie hatte gestanden.»

«Dass es Notwehr war.»

Er zuckt die Achseln. «Die Geschworenen haben das anders gesehen.»

«Ich hab den Prozess zum Teil mitverfolgt.»

«Wer nicht?»

«Ihr Arzt hat bestätigt, dass sie jede Menge Blutergüsse hatte. Das stimmt mit ihrer Aussage überein, dass sie von Matthew Slater brutal angegriffen wurde.»

«Und die Geschworenen waren überzeugt, dass sie sich die Blutergüsse zugezogen hat, weil Slater sich gegen ihre Angriffe zur Wehr setzte.»

«Was glaubst du, Leo?», möchte ich wissen.

«Ich weiß nicht, was die Frage noch soll. Sie wurde von einer Jury schuldig gesprochen, die sich aus ihresgleichen zusammensetzte, Repräsentanten unserer Gesellschaft –»

«Ihresgleichen? Wie viele Transsexuelle waren denn unter den Geschworenen?»

Leo atmet langsam aus. Ein paar Sekunden vergehen. «Ich mochte sie. Sie entsprach absolut nicht dem Klischee. Kein affektiertes Getue. Keine Spur von Eitelkeit. Nicht den Hauch eines Zweifels von ihrer Seite, wer sie war. Nicht nur in Bezug auf ihr Geschlecht, sondern auch, wer sie als Mensch war. Willst du wissen, was ich nach der ganzen hässlichen Sache vor allen Dingen empfunden habe? Traurigkeit. War sie schuldig? Ich weiß es wirklich nicht.»

«Wusstest du, dass Ingram und Nicki in Grafton Zellengenossinnen waren?»

Ich sehe ihm an, dass das für ihn eine Neuigkeit ist. Und die Neuigkeit gefällt ihm gar nicht.

«Offenbar haben sie sich angefreundet. Ich fahre nach Grafton, um mit Ingram zu sprechen. Vorher sollte ich mich wohl mal ein bisschen mit Nicki über sie unterhalten.»

Leo, der normalerweise gut darin ist, sein Pokerface zu bewahren, tut sich heute schwer damit. «Wie lange ist das jetzt her? Drei Jahre?»

«Meinst du, Nicki kann sich weniger gut an Ingram erinnern als du?», kontere ich.

«Das alles ist für sie im Moment nicht einfach, Natalie.»

«Ich nehme an, du meinst Nicki.»

«Ich glaube wirklich nicht, dass sie noch mehr Kopfschmerzen braucht.»

«Und mit Kopfschmerzen meinst du wohl Lynn Ingram.»

«Nicki kommt in ein paar Monaten hier raus.»

Ich spüre die Spannung in meinem Körper. Und dann?