Judas - Elise Title - E-Book

Judas E-Book

Elise Title

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Beschreibung

Superintendent Natalie Price bereitet Schwerverbrecher auf ihre Haftentlassung vor und befindet sich in der schwersten Krise ihres Lebens. Hat sie den Häftling Dean Walsh falsch eingeschätzt? Hat er ihre beste Freundin Maggie vergewaltigt und ermordet? Bei ihren Ermittlungen stellt sich heraus, dass sie sich in einigen Menschen, die sie zu kennen glaubte, schwer getäuscht hat. Dass dabei jeder jeden zu verraten scheint, ist noch Natalies geringstes Problem – denn einer von ihnen ist ein Mörder ... ›Judas‹ ist der erste Natalie-Price-Thriller von Elise Title. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 542

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Elise Title

Judas

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

FISCHER Digital

Inhalt

Prolog12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243

Was uns nicht umbringt, macht uns stärker …

J.P

Häftling Nr. 328760

Prolog

Cambridge Police Department: Detective Lois Weaver

Aussage des Opfers

Aufgenommen im Cambridge Hospital

9. Juni 1992

Mein Name ist Alison Cole. Ich bin neunzehn Jahre alt. Die Ärztin sagt, ich kann froh sein, dass ich noch am Leben bin. Aber ehrlich gesagt – froh bin ich eigentlich nicht.

Das ist ganz verständlich, Miss Cole.

Können Sie sich vorstellen, dass ich in der Highschool mal total verrückt nach Dean Thomas Walsh war? Jedenfalls bis er die Schule geschmissen hat. Nicht, dass er mich je wahrgenommen hätte. Aber gestern Abend hat er mich dafür umso mehr wahrgenommen. Da hat er mich mächtig wahrgenommen.

Hat er sich an Sie rangemacht?

Und wie. Er hat die alte Masche gebracht: «Kennen wir uns nicht von irgendwoher?» Nur dass es keine Masche war, weil er mich tatsächlich von irgendwoher kennt. Und das sage ich ihm, und wir müssen beide lachen. Als Nächstes spendieren er und sein Kumpel Rick mir und meiner Freundin Kelly auch schon einen Drink. Okay, okay, ich weiß, ich hatte in dem Club gar nichts zu suchen, mit dem falschen Ausweis und …

Schildern Sie mir einfach, was passiert ist, Miss Cole. Hat Dean auch was getrunken?

Ja, Wodka pur. Aber er war nicht betrunken, keiner von uns … noch nicht. Wir hatten alle nur leicht einen sitzen. Jedenfalls, Dean und Rick haben uns was von irgendeiner Party erzählt und gefragt, ob wir nicht Lust hätten mitzukommen.

Die Party auf der Highland Street 43 in Somerville.

Sobald wir in diese schäbige Wohnung kamen, hab ich gewusst …

Was wussten Sie?

Ich hab gewusst, dass was Schlimmes passieren würde. Und … und so war es auch.

Was ist passiert, Alison?

Alle waren high. Nicht bloß vom Alkohol. Auch von Pillen und Dope und … Na, jedenfalls hab ich mir gesagt, sei vernünftig und bleib beim Alkohol. Ich trinke normalerweise nicht viel, deshalb hab ich gedacht, ich würd das gut überstehen. Nur …

Sie haben doch zu viel getrunken?

Ich wollte nach Hause. Mir war plötzlich richtig schlecht. Na ja, schwindelig und so. Dann hab ich gekotzt. In der Küche auf den Boden. Ich hab mich zu Tode geschämt. Aber Dean war richtig lieb. Er hat den Arm um mich gelegt und mich ins Badezimmer gebracht und … mich sauber gemacht. Dann wollte er mich in eins von den Schlafzimmern bugsieren, hat gesagt, ich sollte mich mal ’n Weilchen hinlegen. Und er würde sich zu mir legen. Okay, ich hatte zu viel getrunken, zugegeben, aber ich war nicht so betrunken, dass ich ihm nicht gesagt hätte, dass da nichts laufen würde. Ich hab noch mit keinem gleich bei der ersten Verabredung geschlafen. Und wir waren ja nicht mal richtig verabredet gewesen.

Wie hat Dean reagiert?

Er hat gesagt: «Aber klar, Baby. Absolut keine Fummelei, Baby. Ich bin ein braver Junge, Ehrenwort.» Von wegen! Auf einmal sind wir nämlich in diesem stockdunklen Schlafzimmer und Dean schmeißt mich aufs Bett. Und er fängt an, mich zu küssen … Ich will ihn wegstoßen, sag ihm, er soll aufhören, aber mir ist noch immer so schwindelig, und das Zimmer fängt an, sich zu drehen und … und da fängt er an … er fängt an, diese … schrecklichen Sachen mit mir zu machen … Es fällt mir schwer. Na ja, es ist mir peinlich. Muss ich … wirklich genauer werden?

Das ist wirklich wichtig, Alison.

Es ist so … erniedrigend. So … krank. Ich weiß nicht, ob ich drüber reden kann.

Wie wär’s, wenn Sie die Augen schließen. Vielleicht fällt es Ihnen dann leichter, mir zu schildern, was er getan hat?

Da konnte ich auch nichts sehen. Es war ja ganz dunkel. Und ich glaube, ich bin auch mal kurz ohnmächtig geworden. Als ich wieder zu mir kam, war mein Pullover über meinen Kopf gezogen. Mein BH war auf … und ich war … ansonsten nackt. Ich wollte aufstehen, aber der Scheißkerl hatte mir die Handgelenke mit meiner Strumpfhose am Kopfende von dem Bett festgebunden. Ich hab angefangen zu schreien, aber Dean hat mich auf den Bauch gedreht und mir das Gesicht ins Kopfkissen gedrückt. Ich … ich hab keine Luft gekriegt. Und er hat mir ins Ohr geflüstert, dass er mir wehtun muss, weil ich ein … ein böses Mädchen bin. Und er … hat mir wehgetan. Er … er hat angefangen, mich überall zu stoßen und zu kneifen. Er hat nach Alkohol gestunken, und ich hab gebetet, dass er vielleicht ohnmächtig wird, aber umsonst. Dann hab ich angefangen zu beten, dass ich wieder ohnmächtig werde, weil er … er hat mich genommen … von hinten. Ist in mich gestoßen, immer wieder und wieder … und es hat so wehgetan. Das hat noch nie … noch nie jemand mit mir gemacht … nie im Leben. Und die ganze Zeit hat er dabei geflucht … ich glaube, weil er … weil er nicht kommen konnte. Wahrscheinlich weil er zu besoffen war, aber er hat gesagt, es ist meine Schuld. Ich … hatte … solche … Angst …

Atmen Sie ein paarmal tief durch, Alison.

Er hat es … immer wieder versucht. Er war ziemlich erregt, aber er konnte es einfach nicht … ich meine … kommen. Das Schreckliche war, dass ich … inzwischen gehofft habe, er würde endlich … kommen, weil er dann vielleicht aufhören würde. Es hat so … wehgetan. Also … also hab ich versucht … ich hab versucht … ihm zu helfen … Oh Gott, ich hasse mich dafür. Wirklich …

Sie haben keinerlei Grund, sich für irgendwas zu hassen, Alison. Sie haben absolut nichts Falsches getan, nichts, wessen Sie sich schämen müssten. In der Situation hätte jede intelligente Frau das Gleiche getan.

Aber es hat nichts genützt. Und er ist immer wütender und wütender geworden. Und ich hab gedacht, oh mein Gott, er bringt mich um, wenn er nicht kommt. Und ich glaube wirklich, er hätte es getan, wenn …

Wenn was?

Plötzlich hat wer gegen die Tür gehämmert. Dann hab ich Kelly gehört, sie hat meinen Namen gerufen und am Türknauf gerüttelt. Dean hatte abgeschlossen. Es gelang mir, den Kopf auf die Seite zu drehen, aber bevor ich schreien konnte, hat er mir Mund und Nase zugehalten, und ich … muss ohnmächtig geworden sein. Dann weiß ich nur noch, dass auf einmal Kelly da war, sie hat geweint und mir die Handgelenke losgebunden. Dean war weg. Der hat bestimmt gedacht, ich wäre tot und nicht bloß ohnmächtig geworden. Und ein Teil von mir wünscht sich wirklich, ich wäre tot. Verstehen Sie, nur damit Dean auf dem elektrischen Stuhl landet.

Leider können wir ihn nicht auf den elektrischen Stuhl schicken, Alison, aber ich garantiere Ihnen, Dean Thomas Walsh wird im Knast Augenblicke erleben, in denen er sich wünscht, wir hätten ihn auf den elektrischen Stuhl geschickt.

… mein Mann und meine Schwester waren um meine Sicherheit besorgt, als ich mich für diese Arbeit entschied … Ich gebe zu, dass wir es mit einem gewalttätigen Potential zu tun haben. Ich gebe ebenfalls zu, dass der Job nicht jedermanns Sache ist …

Natalie Price

(aus den Boston Daily News)

1

Maggie verspätet sich. Als wir noch zusammen an der Boston State studierten und uns ein Zimmer im Wohnheim teilten, sagte sie immer, ihr Hang zu Verspätungen sei angeboren. Was kann man sonst von jemandem erwarten, sagte sie, der Mommys behaglichem Bauch endlich entrissen werden musste, weil sie fast einen Monat über dem errechneten Geburtstermin war. Ich dagegen lege viel Wert auf Pünktlichkeit, und so habe ich in den letzten zwölf Jahren so manchen Abend frustriert, genervt und schließlich wütend auf Maggie gewartet, weil sie sich wieder mal verspätet hatte – zum Essen, zum Kino, zu Ausflügen, sogar zu meiner Hochzeit (sie war meine Trauzeugin, also konnten wir schlecht ohne sie anfangen). Zu guter Letzt habe ich mich redlich bemüht, mir die Maxime der Anonymen Alkoholiker zu Eigen zu machen, an der mein Dad und meine Mom immer wieder gescheitert sind. «Gib mir die Kraft, die Dinge zu verändern, die ich ändern kann, und die Fähigkeit, die Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann.»

Doch bis dahin war es ein beschwerlicher Weg; fast meine ganze Kindheit hindurch fühlte ich mich in gewisser Weise sowohl für das Alkoholproblem meines Vaters verantwortlich, das nach Vietnam dramatische Züge annahm, als auch für die häufigen manisch-depressiven Anfälle meiner Mutter, die, wie ich immer wieder zu hören kriegte, mit meiner Geburt begonnen hatten. Dabei fand ich nie heraus, was ich eigentlich falsch machte, außer dass ich auf die Welt gekommen war. Ich war eine Musterschülerin, ich war zu Hause ordentlich und ruhig, ich passte gewissenhaft auf meine kleine Schwester auf, kochte für die Familie, wenn meine Mutter mal wieder spurlos verschwand, half sogar, meinen Dad nach oben ins Bett zu bringen, wenn er sich in seinem Arbeitszimmer sinnlos betrunken hatte. Erstaunlicherweise schaffte er es für gewöhnlich, am nächsten Morgen aufzustehen und zur Arbeit zu gehen – er war Wirtschaftsprüfer in einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft –, aber wenn er zu verkatert war, blieb es meistens an mir hängen, in seiner Firma anzurufen und zu erklären, dass mein Dad mit Migräne im Bett lag. Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, wird mir klar, dass ich gar keine richtige Kindheit hatte. Ich fühlte mich immer so verantwortlich, so alt, so allein. Mittlerweile kann ich endlich akzeptieren, dass mich keine Schuld traf und dass mir meine Kindheit gestohlen wurde.

Ich hatte im Teenageralter nur sehr wenige Freunde, weil ich nie gerne jemanden zu mir nach Hause einlud. Es hätte ja sein können, dass meine Mutter mal wieder eine ihrer Stimmungen hatte oder dass mein Vater mit einem Kater zu Hause war – oder noch schlimmer, sich gerade den nächsten antrank.

Danny Nelson war mein erster richtiger Freund. Wir lernten uns kennen, als wir beide in der 10. Klasse waren. Ich denke, ich habe ihn damals als meinen festen Freund betrachtet, obwohl wir nie richtig zusammen gingen und nach unseren unbeholfenen Fummeleien immer so verlegen waren, dass wir es nicht sehr häufig machten. Dafür erzählten wir uns aber alles. Was für uns beide eine ganz neue Erfahrung war. Dannys Vater war trockener Alkoholiker. Danny nahm mich zu meinem ersten Alanon-Treffen mit, einem von den Anonymen Alkoholikern angebotenen Hilfsprogramm für Familienangehörige von Alkoholikern. Ich fand die Treffen toll. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, irgendwo dazuzugehören. Ich ging regelmäßig hin. Schaffte es sogar, dass meine Schwester ein paarmal mitkam. (Meine Mutter wäre auch mitgegangen, aber ich hatte Angst, sie würde sich irgendwie exzentrisch aufführen und mir alles verderben.) Meine Schwester verlor bald die Lust. Sie fand es langweilig und sagte, die Treffen seien blöd. Aber meine Schwester und ich waren ja schon immer selten einer Meinung.

Rachel ist drei Jahre jünger als ich. Sie ist glücklich mit Gary Mercer verheiratet, einem Finanzberater in einer angesehenen Bostoner Firma. Sie hat drei hübsche, gesunde Kinder, zwei Mädchen und einen Jungen, alle unter sechs Jahre, und ein fleißiges Au-pair-Mädchen aus Holland. Sie wohnt in einer schönen Villa in Weston, einer der vornehmsten Gegenden von Boston. Sie leitet Führungen in einem Kunstmuseum, arbeitet ehrenamtlich für die Behindertenolympiade, hilft im Kindergarten ihrer Kinder aus. Ihre Hobbys sind Kochen und Innenarchitektur. Doch dass wir nicht so engen Kontakt haben, liegt weniger an unseren unterschiedlichen Leben und Interessen, sondern daran, dass ihre und meine Sicht auf unsere Kindheit unvereinbar sind.

Rachel sieht nicht – oder will es sich noch nicht mal selbst eingestehen –, dass wir aus einer dysfunktionalen Familie stammen. Sie beschönigt ihre Kindheit, so wie sie ihr Haus verschönert und ihre Kinder herausputzt. Wir können einfach nicht über gemeinsame Erfahrungen aus unserer Kindheit und Jugend sprechen, weil sie nicht zugeben will, dass wir gemeinsame Erfahrungen gemacht haben. Ich habe es aufgegeben, Rachels Realitätssinn im Hinblick auf unsere Erziehung zu testen, und sie wird nicht mehr wütend auf mich, weil ich unsere Eltern schlecht mache oder versuche, sie gegen sie aufzubringen. Wenn ich mich dem Thema auch nur ansatzweise nähere, schließt sie die Augen und murmelt: Mögen sie in Frieden ruhen.

Ich denke, es ist zum Teil meine Schuld, dass meine Schwester so konsequent Scheuklappen trägt. Ich habe Rachel zu sehr und viel zu lange behütet. Oder vielleicht empfindet sie insgeheim das gleiche Schuldgefühl, hat das gleiche schlechte Gewissen wie ich früher und will sich dem einfach nicht stellen. Ich weiß, dass Rachel mich für hart und verbittert hält. Und in gewissem Sinne hat sie Recht. Aber auch ich sehne mich nach dem Gefühl, eine Familie zu haben. Und Rachel ist alles, was mir an Familie geblieben ist.

Oh, wir treffen uns ab und zu, aber Rachel strukturiert unsere Begegnungen sorgfältig, sogar unsere Gespräche, damit sie nicht zu persönlich werden. Trotzdem, obwohl meine Schwester mich für eine geborene Pessimistin hält, habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass wir uns eines Tages nahe sein können.

So nahe, wie Maggie und ich uns sind.

So nahe, wie Ethan und ich uns einmal waren. Zumindest so nahe, wie ich dachte, dass wir uns wären. Aber das ist eine andere traurige Geschichte.

Es ist kurz vor neun Uhr abends. Maggie wollte um halb acht da sein. Anderthalb Stunden Verspätung ist zwar schon mal vorgekommen, aber es reicht, dass ich langsam unruhig werde. Ich stelle das Essen wieder in den Kühlschrank – ich habe eigentlich keinen Hunger, doch die Zitronenmeringe, die Maggie mitbringen will, könnte ich ohne Probleme verdrücken. Depression in Verbindung mit meiner Periode hat in mir Lust auf Süßes geweckt. Zwei Aspirin haben zumindest meine Krämpfe etwas gelindert.

Ich wähle Maggies Nummer. Nach dreimal Klingeln springt ihr Anrufbeantworter an, also gehe ich davon aus, dass sie endlich unterwegs ist. Ich will gerade wieder auflegen – überflüssig, eine Antwort zu hinterlassen –, halte aber inne, als ich höre, dass Maggie nach ihrem Ansagetext noch etwas aufgesprochen hat. Dean? Falls du das bist, es kann sein, dass ich morgen zum Lunch etwas später komme, also sagen wir doch halb eins statt zwölf. Am üblichen Treffpunkt …

Dean? Wie Dean Thomas Walsh? Am üblichen Treffpunkt?

Scheiße. Ich bin fassungslos. Sie trifft sich außerhalb des Kurses mit Walsh. Sie verabredet sich regelmäßig mit ihm zum Lunch. Quetschen sie auch noch Verabredungen zum frühen Abendessen mit rein, bevor er sich zurückmelden muss? Was quetschen sie sonst noch rein?

Maggie, Maggie, Maggie. Du bist so naiv. Meinst du, bloß weil der Typ eine dichterische Ader hat, kann er unmöglich ein abscheuliches Verbrechen begangen haben? Er hat eine Frau brutal vergewaltigt, Maggie. Er wurde von Geschworenen für schuldig befunden. Ist dafür ins Gefängnis gewandert. Ist noch immer im Gefängnis, auch wenn er in das Freigängerprogramm aufgenommen wurde. Und das Einzige, was er sagen kann, ist, dass er sich an nichts erinnert, dass er sich bis heute nicht vorstellen kann, so etwas Grässliches getan zu haben.

Walsh hat sie von seiner Unschuld überzeugt. Da bin ich sicher. Im Laufe des vergangenen Jahres hat Maggie mir gegenüber öfter Zweifel an seiner Schuld geäußert, aber relativ zurückhaltend. Sie weiß, dass ich viel zynischer bin als sie, wenn Gefängnisinsassen erklären: Ich schwöre, ich war es nicht.

Das kann ja heiter werden. Im Geist bereite ich schon den Vortrag vor, den ich ihr halten werde. Gespickt mit harten, nackten Tatsachen. Warnungen. Sorge. Falls nötig, Drohungen.

Sie wird mir widersprechen. Aber sie kann nicht gewinnen. Sie wird es einsehen. Sich auf meine Forderungen einlassen. Weil sie keine andere Wahl hat.

Aber unsere Freundschaft wird einen Knacks bekommen.

Ich fühle mich elend. Als ob ich noch mehr Einsamkeit in meinem Leben gebrauchen könnte. Noch mehr Entfremdung.

Vielleicht liege ich ja falsch. Vielleicht ist es ein anderer Dean.

 

Zwanzig vor elf. Selbst wenn Maggie von ihrer Wohnung im South End zu Fuß nach Brookline gegangen wäre, müsste sie mittlerweile hier sein. Ich entwerfe und überarbeite schon längst keine Vorträge mehr für sie über die Gefahren, sich emotional auf einen Strafgefangenen einzulassen. Der Sträfling/Dichter ist inzwischen als nebensächlich in den Hintergrund getreten.

Ich neige nicht zur Panikmache. Aber so eine Verspätung ist sogar für Maggie untypisch. Ich mache mir Sorgen, dass ihr irgendwas zugestoßen ist. Kein Autounfall. Maggie setzt sich nur in ihr Auto, wenn sie irgendwo nach außerhalb fährt. Sie nimmt die U-Bahn. Von ihrer Haltestelle zu meiner sind es höchstens zwanzig Minuten.

Meine Gedanken rasen über ein Minenfeld möglicher Katastrophen. Doch dann wird mir klar, dass die logischste Erklärung die ist, dass sie es vergessen hat. Oder sie denkt, wir wollten uns morgen treffen, nicht heute Abend. Vielleicht war sie heute Abend anderweitig verabredet. Zum Glück nicht mit Dean. Er müsste schon wieder zum Abendessen in der Anstalt sein. Ich wähle erneut Maggies Nummer.

Diesmal wird der Hörer gleich beim ersten Klingeln abgenommen. Jedenfalls hatte sie keine späte Verabredung.

«Hallo», sage ich, bemüht, meine Erleichterung zu verbergen, dass mit ihr alles in Ordnung ist, «ich wollte mich nur vergewissern, dass du gesund und munter bist. Und nein, ich bin nicht sauer. Na ja, vielleicht ein bisschen. Ich hab noch immer einen Heißhunger auf die Zitronenmeringe, die du eigentlich heute Abend mitbringen wolltest. Du schuldest mir –»

«Wer ist da?» Eine düstere Stimme fällt mir ins Wort. Eine düstere Männerstimme, die ich nicht kenne.

«Tut mir Leid … ich muss mich verwählt haben.»

«Wen möchten Sie denn sprechen?»

Ich zögere. Vielleicht ist das ja doch Maggies Nummer. Und ihr neuer Freund ist rangegangen. Ungehalten. Als hätte ich bei irgendwas gestört – oh Scheiße.

«Tut mir Leid. Ich bin eine Freundin von Maggie, und –»

«Maggie Austin?»

«Ja. Wer …?»

«Wie heißen Sie bitte?»

Der Typ geht mir wirklich auf die Nerven. Wenn das Maggies neue Flamme ist, bin ich jetzt schon bedient. Aber Maggie und ich haben einen sehr unterschiedlichen Geschmack in Sachen Männer. Was nicht heißen soll, dass meine Eroberungen besser waren. Nur anders. Aber wir haben ja auch unterschiedliche Ziele. Maggies Hauptinteressen sind nicht Ehe und Kinder. Sie sagt immer, sie kann sich nicht vorstellen, ihr ganzes Leben mit ein und demselben Mann zu verbringen.

«Sind Sie noch dran? Sind Sie Nat?»

Maggie hat ihrem Lover also von mir erzählt. Und ich bin verärgert, weil sie mir nichts von ihm erzählt hat. «Wie heißen Sie?», kontere ich.

«Leo Coscarelli.»

Ich runzle die Stirn. Der Name sagt mir nichts.

«Gut, hören Sie, Leo, ich hab bloß angerufen, weil ich Maggie sagen wollte –»

«Detective Leo Coscarelli von der Mordkommission.»

Die Luft im Raum scheint plötzlich drückender. Oder es liegt an meiner Lunge. Irgendwas erstarrt in meiner Lunge. Und in meiner Brust ist ein Klumpen, der sich anfühlt wie ein harter Knoten. «Mord … kommission? Ist was … passiert?»

«Sind Sie Nat?», fragt er wieder.

«Ja. Woher wissen Sie …? Wo ist Maggie? Ist was passiert …?» Der Raum fängt an, sich zu drehen. Ich kann nicht klar denken.

«Würden Sie mir bitte Ihren vollständigen Namen sagen?»

Ich zwinge mich, ruhig zu werden. Eine Lektion, die ich als Kind so gut gelernt habe. «Price. Natalie Price. Ich bin Superintendent des Entlassungsvorbereitungszentrums CCI Horizon House in Boston.» Ich nenne ganz bewusst meine offizielle Funktion. Um mir Autorität zu verschaffen. Obwohl ich nicht weiß, warum ich das nötig habe. «Maggie Austin ist eine enge Freundin von mir. Würden Sie mir bitte sagen –»

«Es tut mir Leid, aber ich habe eine schlimme Nachricht für Sie, Superintendent Price.»

Eine schlimme Nachricht. Wie oft habe ich diese schrecklichen Worte nicht schon zu hören bekommen. Es tut mir Leid, aber wir haben eine schlimme Nachricht für dich, Natalie, dein Vater … Ich bedauere zutiefst, Ihnen eine schlimme Nachricht überbringen zu müssen, Miss Price, aber Ihre Mutter …

Ich würde am liebsten auflegen. Dann muss ich es nicht hören. Muss es nicht wissen. Muss mich der Wahrheit nicht stellen.

Doch noch während mir diese Fluchtgedanken durch den Kopf gehen, höre ich mich selbst fragen: «Ist Maggie … tot?»

«Ja. Es tut mir Leid …»

«Wie?» Wie kann sie denn tot sein? Wie ist das möglich? Ich kann mir eine Welt ohne Maggie Austin nicht vorstellen. Ich kann mir mein Leben ohne sie nicht vorstellen.

«Darüber würde ich lieber nicht am Telefon sprechen, Superintendent.»

«Ich verstehe.» Natürlich verstehe ich das nicht. Mir schießen die Tränen in die Augen, und ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Ich atme zittrig ein, halte ein paar Sekunden die Luft an, hoffe, dass mir nicht schlecht wird.

«Ich würde gerne einen Wagen zu Ihnen schicken, um sie abzuholen. Wären Sie damit einverstanden?»

«Warum?»

«Ich möchte, dass Sie die … Ihre Freundin identifizieren.»

«Ja. Okay. Das … kann ich machen.» Nein. Ich kann das nicht machen. Ich kann das nicht. Oh Gott, mach, dass das ein schrecklicher Alptraum ist, aus dem ich gleich erwache. Mach, dass Maggie gleich vor meiner Tür steht, mit ihrem wunderbaren zerknirschten Lächeln im Gesicht –

«Ich fürchte, es ist kein hübscher Anblick. Sie sollten sich …» Der Detective zögert, noch immer mit der düsteren Stimme, in der aber jetzt ein mitfühlender Ton mitschwingt. Er setzt erneut an. «Sie sollten sich innerlich dagegen wappnen.»

«Und wie mach ich das?» Aber ich weiß, dass er darauf keine Antwort hat. Darauf gibt es keine Antwort.

 

Ich möchte mich nur noch ganz klein zusammenrollen und schluchzen. Doch trotz meines unerträglichen Kummers kann ich meine Verantwortlichkeiten nicht ausblenden. Ich kann nicht ignorieren, was für katastrophale Auswirkungen der Mord an Maggie nicht nur im Entlassungsvorbereitungszentrum, sondern auch innerhalb des gesamten Strafvollzugssystems von Massachusetts haben könnte. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt unmöglich wissen kann, ob Dean Thomas Walsh in irgendeiner Weise mit dem Mord zu tun hat, weiß ich, dass die Möglichkeit besteht und ich entsprechend handeln muss. Und zwar sofort.

«Wann hat sich Walsh zurückgemeldet?» Erstaunlicherweise klingt meine Stimme durchaus ruhig, als ich Gordon Hutchins am Apparat habe, aber meine Hand zittert so heftig, dass ich den Hörer kaum halten kann.

«Siebzehn Uhr vierzig. Probleme?»

«Und er ist jetzt da?»

«Natürlich. Du würdest es doch wohl als Erste erfahren, wenn uns einer entwischt wäre, oder?»

Manchmal frage ich mich, ob ich wirklich die Erste bin. Ich bin zwar Leiterin von Horizon House, aber ich bin trotzdem eine Frau in einer Machowelt.

«Du klingst irgendwie seltsam, Nat.» Und ich dachte, ich hätte wenigstens meine Stimme im Griff.

«Was ist los?», drängt Hutch. «Steckt Walsh in irgendwelchen Schwierigkeiten?»

«Das weiß ich noch nicht.» Ich bringe es nicht über mich, ihm das mit Maggie zu erzählen. Ich weiß, wenn ich das tue, breche ich zusammen. Und das möchte ich auf keinen Fall, weil ich Angst habe, dass ich dann nicht mehr imstande bin, die Fassung zurückzugewinnen. Bestimmt gibt es einen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Und noch nie habe ich mich diesem Punkt so nahe gefühlt wie jetzt. «Ich möchte, dass ihr mit Walsh die ganze Palette von Drogentests macht. Er soll auf alles Mögliche hin getestet werden. Dope, Kokain, Aufputschmittel, Beruhigungsmittel, Alkohol.»

«Er wird Fragen stellen.»

«Ihr werdet ihm keine Antworten geben. Und, Hutch, nimm Unterstützung mit.»

«Klingt ernst, Nat.»

«Jedenfalls so ernst, dass die Tests in einer Arrestzelle durchgeführt werden sollen. Und ich möchte, dass er strengstens bewacht wird. Lass zwei Beamte von der Tagesschicht kommen.»

«Das wird sich rumsprechen. Dann haben wir hier bald jede Menge aufgebrachte Häftlinge.»

Hutch erzählt mir nichts Neues.

«Wenn sie nur ein bisschen rumkrakeelen, können wir noch von Glück sagen.» Ich zögere, und dann platze ich damit heraus. «Maggie Austin ist ermordet worden, Hutch.»

Ich höre, wie er nach Luft schnappt, und im selben Moment klingelt es an meiner Haustür. Ich schaue zum Fenster hinaus und sehe den Polizeiwagen am Straßenrand stehen.

Der Hörer rutscht mir aus der Hand. Ich muss mich übergeben.

Durch Inanspruchnahme der im Rahmen der Entlassungsvorbereitung gewährten Vergünstigungen verpflichte ich mich, jederzeit ein musterhaftes Verhalten an den Tag zu legen. Bei den ersten Anzeichen dafür, dass ich nicht imstande bin, abweichendes Sexualverhalten zu kontrollieren, werde ich sofort die zuständigen Mitarbeiter des Horizon House informieren …

(aus der Vereinbarung im Rahmen des Sonderprogramms für Sexualstraftäter)

2

FALL NR. 209782

NAME: DEAN THOMAS WALSH

GEBURTSDATUM: 17.6.73

GEBURTSORT: NATICK, MASSACHUSETTS

Tag der Verurteilung: 11. Dezember 1992

Straftat: Vergewaltigung (MGL, nach Kap. 256, § 24)

Alter bei Einweisung: 19 Jahre, 3 Monate

Strafmaß: 6–8 Jahre

FMET (Frühestmöglicher Entlassungstermin): 16.12.98

Sicherheitseinstufung: +2 (mittel-niedrig)

Entlassungsvorbereitungsempfehlung: Programm zur Behandlung von Sexualstraftätern

CCI NORTON ENTLASSUNGSGUTACHTEN

Dean Thomas Walsh, Alter 27, weiß, männlich, Größe 1,80, Gewicht 78 Kilo, braunes Haar, blaue Augen, hat sich gut in den Strafvollzug eingefügt und sich lediglich zwei (2) Verstöße zuschulden kommen lassen, beide innerhalb der ersten sechs Monate im CCI Oakville Reception and Diagnostic Center.

 

PROGRAMMTEILNAHME: Während er den Hauptteil seiner Strafe im CCI Norton verbüßte, belegte Dean die Fächer Kunst und kreatives Schreiben und erteilte freiwillig Lese- und Schreibunterricht für Mithäftlinge. Darüber hinaus nahm er im CCI Oakville an einem zwölfwöchigen Programm für Sexualstraftäter teil. Da jedoch seine Beteiligung an besagtem Programm minimal war, wird er ein zweites Sexualstraftäter-Programm absolvieren müssen, um die Voraussetzung für eine Verlegung ins Entlassungsvorbereitungsprogramm im CCI Horizon House zu erfüllen. Überdies ist er verpflichtet, zweimal wöchentlich an Treffen der Anonymen Alkoholiker teilzunehmen.

 

VORGESCHICHTE: Die derzeit verbüßte Straftat ist Deans erster Verstoß gegen das Gesetz, weshalb das Risiko, dass er rückfällig wird, als niedrig einzustufen ist. Haupthindernis für eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft ist sein hartnäckiges Beteuern, er habe keinerlei Erinnerung an den Angriff und die Vergewaltigung. Er räumt allerdings ein, dass er zum Zeitpunkt der Straftat Probleme mit Alkohol und Drogen hatte, aber es sind während seiner Haftverbüßung keine Verstöße im Zusammenhang mit Alkohol oder Drogen bekannt geworden. Er ist sich außerdem darüber im Klaren, dass er während seines Freigangs keinerlei Kontakt mit dem Opfer Alison (Cole) Miller, Alter 27, aufnehmen darf. Ms . Miller wohnt mit ihrem Mann Richard Miller und ihren beiden Kindern, einem siebenjährigen Jungen und einem fünfjährigen Mädchen, derzeit in Newton, Massachusetts. Sie wurde von Deans Status als Freigänger in Kenntnis gesetzt und hat keine Einwände geäußert.

 

VERSTÖSSE: Bei Deans Verstößen im CCI Norton handelt es sich in beiden Fällen um tätliche Angriffe, die allerdings nicht von ihm ausgingen. In beiden Fällen jedoch erlitten die Angreifer durch Dean leichte Verletzungen.

 

FAMILIE: Eltern 1987 geschieden. Vater, Kyle Walsh, zurzeit arbeitslos, lebt mit seiner Freundin, Arlene Hayden, in Dorchester, Massachusetts. Mutter, Marion Walsh, Verkäuferin im Juweliergeschäft Barton’s in Framingham, wohnt nach wie vor im Haus der Familie in Natick, Massachusetts, zusammen mit ihrer 22 Jahre alten Tochter Christine.

 

BESUCHE: Dean wurde in den ersten sechs Monaten im CCI Norton mehrmals von seiner Mutter besucht. Nach einem heftigen Streit mit ihr im Besucherraum weigerte Dean sich, sie weiter zu empfangen. Nach zwei Anläufen kam die Mutter nicht mehr. Der Vater hat ihn nie besucht. Die einzige regelmäßige Besucherin ist seine jüngere Schwester Christine, die mindestens zweimal im Monat kommt.

 

SONSTIGE UNTERSTÜTZUNG: Das größte Interesse an Deans Resozialisierung zeigt ansonsten Professor Margaret Austin aus Boston, Massachusetts. Ms . Austin, eine unverheiratete, 33 Jahre alte Englischdozentin am Commonwealth Community College (CCC) in West Roxbury, unterrichtet seit einem Jahr auf ehrenamtlicher Basis kreatives Schreiben im CCI Norton. Dean hat an allen ihren Kursen teilgenommen. Ms . Austin beschreibt Dean als sprachlich begabten Schüler mit überdurchschnittlicher Intelligenz und herausragendem schriftstellerischem Talent. Mit ihrer Unterstützung beabsichtigt Dean, sich nach seiner Entlassung aus CCI Horizon House am CCC einzuschreiben, um Literatur zu studieren.

 

ANMERKUNG: Am 14. 3. 98 übergab Häftling Keith Franklin, der ebenfalls Ms . Austins Kurs im CCI Norton besuchte, dem Aufsichtsbeamten Carl Monroe die Kopie eines von Dean verfassten Gedichtes, weil er es für «anstößig» hielt. Franklin wies ausdrücklich darauf hin, dass er es deshalb erst zu diesem Zeitpunkt präsentierte, weil er kurz vor seiner Entlassung stand und andernfalls Vergeltungsmaßnahmen von Walsh befürchtete. Officer Monroe sagt, dass es zwischen den beiden Häftlingen in der Vergangenheit Spannungen gab, dass aber keiner von beiden bislang einen Verweis erhalten hat.

In einer Besprechung über den Vorfall sagte Ms . Austin, sie betrachte das Gedicht als einen «rein kreativen Entwurf», räumte aber ein, dass es ihrer Erfahrung nach nicht ungewöhnlich sei, dass Kursteilnehmer «eine emotionale Bindung» an ihre Dozentin entwickeln. Ms . Austin, so sei erwähnt, ist eine äußerst attraktive und lebhafte junge Frau.

Disziplinarische Maßnahmen wurden nicht ergriffen, doch Anstaltspsychologe Robert Dollard führte mit Dean ein Gespräch über das Thema «Übertragung» (siehe anhängendes Gedicht).

(Gedicht von Dean Thomas Walsh)

NOCTURNE FÜR MAGGIE

Eingesperrt in meine Zelle

Beschwöre ich deinen aufrüttelnden Duft.

Sanktionierte Grausamkeit hindert mich nicht

Deine Essenz einzuatmen

Dich mir einzuverleiben

Wie eine Hostie.

Willkommen im Entlassungsvorbereitungszentrum Horizon House. Unser Ziel ist es, den Häftlingen die sozialen, psychologischen und physischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu vermitteln.

Natalie Price

Superintendent

(aus «Orientierungshandbuch»)

3

Seit sechs Jahren arbeite ich mit Strafgefangenen. Menschen, die Verbrechen begangen haben, deren Abscheulichkeit manchmal unser Begriffsvermögen übersteigt. Doch fern von den Belastungen, Versuchungen und Frustrationen der Straße, mit einem geregelten Gefängnisalltag, der ihrem Leben einen Anschein von Ordnung verleiht und nur wenig von ihnen verlangt, wirkt eine überraschend hohe Zahl von Häftlingen mitunter überraschend normal. Manche richtig nett und sympathisch. Unter anderen Umständen, in anderen Situationen, könnte man fast meinen …

Ich will damit sagen, dass ich mir, ganz gleich für wie clever und abgebrüht ich mich auch gern halte, manchmal in Erinnerung rufen muss, was für schreckliche Verbrechen diese inhaftierten Männer und Frauen begangen haben. Wie viel Kummer und Leid sie ihren Opfern, den Angehörigen und Freunden der Opfer angetan haben …

Und jetzt bin ich selbst die Freundin eines Opfers – übermannt von unerträglichem Schmerz.

Ich habe die Identifizierung vorgenommen. Also ist es jetzt offiziell. Das Opfer in dem Schlafzimmer ist Margaret Emily Austin. Ich habe sie identifiziert, wie sie ausgestreckt nackt auf dem Bett lag, der geschmeidige, athletische Körper verdreht wie eine Stoffpuppe, die Handgelenke mit einer Strumpfhose am Kopfende ihres Bettes festgebunden. Ihr Mund weit offen, als würde ihr der panische Angstschrei noch immer über die Lippen kommen. Das Bettzeug in Unordnung, die Quilt-Überdecke am Fußende zusammengeschoben. Die Überdecke, die ihre Tante Lou für sie gesteppt hat. Ein besonderes Geschenk für eine besondere Nichte zu ihrem 30. Geburtstag stand auf der Karte, die dem Geschenk beilag. Ich beneidete Maggie um den wunderschönen Quilt. Und noch mehr um die Zuneigung, die daraus sprach. Mir hat nie ein Verwandter irgendwas Selbstgemachtes geschenkt. Keiner von meinen Verwandten hat je gesagt, ich sei etwas Besonderes. Jedenfalls keiner von meinen Blutsverwandten. Ethan hat früher oft gesagt, ich sei was Besonderes.

Ja, ich werde an Ethan denken. Dann kann ich meinem Zorn wieder freien Lauf lassen. Wut ist besser als dieses Entsetzen und der Schmerz, die in meinem Kopf gefangen sind.

Aber ich kann dem Entsetzen nicht entkommen. Das Bild von Maggie, vergewaltigt, ermordet, ist in meinen Kopf eingebrannt. Ich weiß, dass ich es nie werde auslöschen können.

Ich bin in ihrem Wohnzimmer, zusammengekauert auf Maggies grauem, geschwungenen Flanellsofa, kämpfe gegen Tränen und Übelkeit an. Mit zitternder Hand streiche ich über den weichen Stoff des Sofas und schließe die Augen, denke an den Tag, an dem ich die Couch mit Maggie zusammen ausgesucht habe. Das war vor ein paar Monaten. An dem Tag bot Bloomingdales Möbel zum Sonderpreis an, und wie Maggie immer sagte: Ich kann einfach keinem Schnäppchen widerstehen.

Es war auch der Tag, an dem ich zum ersten Mal den Verdacht fasste, dass mein Mann eine Affäre hatte.

Ich sehe Maggie und mich noch beim Lunch im Restaurant von Bloomingdales sitzen – wo wir ihr tolles Schnäppchen feierten. Während ich in einem gemischten Salat herumstochere, überlege ich, ob ich von meinem Verdacht erzählen soll. Auch als Erwachsene fällt es mir noch immer schwer, mit Anderen über meine persönlichen Schwierigkeiten zu sprechen. Obwohl es mich trauriger macht, als ich sagen kann, habe ich häufig das Gefühl, dass ich der reservierte, verschlossene Mensch geworden bin, den ich Anderen so oft vorgespielt habe.

Doch Maggie hat mir dieses Bild nie abgekauft. Als wir an der Boston State zusammenzogen, ließ sie von Anfang an einfach nicht zu, dass ich mich verschloss. Irgendwie schaffte sie es immer, mich aus der Reserve zu locken – manchmal indem sie mir gut zuredete, manchmal indem sie mich regelrecht anschrie, ich solle doch aufhören, das Gewicht der ganzen Welt auf meinen schmalen Schultern zu tragen.

Maggie wusste auch an dem Tag, dass irgendwas nicht stimmte. Sie musste mir nur ihren typischen Blick zuwerfen: Raus mit der Sprache oder ich schreie los. Fünf Minuten später hatte ich ihr alles gestanden, und meine salzigen Tränen tropften in meinen Milchkaffee. Maggie sprang von ihrem Stuhl hoch, setzte sich auf den neben mir und schloss mich in die Arme. Es war ein so aufrichtiger und hemmungsloser Ausdruck von Liebe und Mitgefühl, dass es mir absolut nichts ausmachte, dass alle in dem überfüllten Restaurant uns seltsam musterten.

Oh Gott, ich will Maggies Arme wieder um mich haben. Ich sehne mich so danach, ihre warme, seidige Wange an meiner zu spüren. Ihre melodische Stimme mit dem leicht singenden Südstaateneinschlag aus ihrer Kindheit in Georgia zu hören, während sie zu mir sagt: Männer müssen alles kaputtmachen.

Aber diesmal hat ein Mann Maggie kaputtgemacht, ihr Leben unwiederbringlich kaputtgemacht. Und ich fürchte, ich weiß, wer dieser Mann ist.

Ich höre einen erstickten Schrei und merke erschrocken, dass ich das Geräusch ausgestoßen habe.

Leo Coscarelli, der Detective von der Mordkommission, erscheint in der Tür zwischen Wohn- und Schlafzimmer. Auch er hat meinen Aufschrei gehört.

«Alles in Ordnung mit Ihnen?»

«Nein», zische ich.

«Wenn Sie gehen möchten, Ms . Price …»

«Nein», zische ich erneut. Ich werde Maggie nicht mit einem Haufen Fremder allein lassen – Cops, Gerichtsmediziner, die emsigen Beamten der Spurensicherung, die in der ganzen Wohnung herumschnüffeln. Zumindest ist jetzt keiner mehr im Wohnzimmer. Bis auf Coscarelli.

Der Detective kommt zur Couch. Zum ersten Mal nehme ich ihn richtig wahr. Seine schmächtige Statur, das schlecht sitzende blaue Sportjackett, der sich gerade auswachsende Bürstenschnitt, nicht mal ein Hauch von Bartstoppeln in seinem Jungengesicht. All das entlarvt ihn in meinen Augen als Grünschnabel. Ein junger Bursche frisch von der Polizeiakademie. Ich wette, er ist nicht mal dreißig. Wie kann man von einem so jungen und unerfahrenen Beamten die Ermittlung in einem Vergewaltigungs- und Mordfall leiten lassen?

Maggie hat jemand Besseres verdient. Den Besten. Ich werde verlangen, dass die richtigen Profis den Fall übernehmen.

«Wir müssten hier bald fertig sein, Ms . Price.»

«Woher wussten Sie meinen Namen?», frage ich argwöhnisch. «Als ich hier angerufen habe?»

«Auf dem Kalender in der Küche war eine Notiz. Freitag, 16. September. Abendessen bei Nat», sagt er. «Ich dachte, es wäre ein Mann, aber als Sie dann von der Zitronenmeringe anfingen –»

«Ja.» Mir wird wieder komisch im Magen, aber ich kämpfe gegen die Übelkeit an. Ich möchte noch mehr wissen. «Wieso sind Sie hier? Ich meine, woher wussten Sie, dass Maggie … was … passiert ist?»

«Eine Freundin hat uns verständigt.»

«Eine Freundin?»

«Karen Powell. Kennen Sie sie?»

«Sie ist Maggies Assistentin.» Ich zögere, ohne recht zu wissen wieso, bevor ich hinzufüge: «Und auch eine Freundin.»

Coscarelli mustert mich. Als ob er mein Zögern mitgekriegt hat und sich auch nach dem Grund fragt.

Aber er geht darüber hinweg. «Sie ist heute Abend gegen neun Uhr hergekommen, um Klausuren vorbeizubringen. Sie hat einen Schlüssel. Sie hat gesagt, Ms . Austin hätte ihn ihr letztes Jahr gegeben, als sie bei ihr anfing. Wussten Sie, dass Ms . Powell einen Schlüssel hat?»

«Nein. Aber es passt zu Maggie, dass sie ihr einen gegeben hat.»

«Sie hat ihre Wohnungsschlüssel einfach so verteilt?»

Der vielsagende Unterton des Detective stört mich sehr. «Nein. Das habe ich nicht gemeint. Nur den wenigen Leuten, mit denen sie befreundet ist. Ich habe ebenfalls einen Schlüssel. Sie hat auch einen von meiner Wohnung.» Ich höre mich selbst einen langen, stotterigen Atemzug nehmen, als mir klar wird, dass ich von meiner toten Freundin im Präsens rede. Sofort schießen mir Tränen in die Augen. Ich blicke weg, stelle endlich die Frage, die mir am schwersten fällt.

«Wie ist sie … gestorben?» Meine Stimme ist ein heiseres Flüstern.

Er antwortet nicht sofort. Und obwohl ich jetzt auf den Teppich starre, spüre ich seinen Blick auf mir ruhen. Was sieht er? Eine toughe Frau, die schließlich zusammenklappt?

«Weinen Sie ruhig. Ich sag’s auch nicht weiter, Superintendent.»

Ich sehe ihn trotzig an. Dass meine beste Freundin meine Pose durchschaut hat, war eine Sache, aber es ist etwas völlig anderes, wenn dieses Jüngelchen von Detective, den ich noch nie im Leben gesehen habe, mich so leicht durchschaut.

«Ich brauche weder Ihre Erlaubnis noch Ihre Verschwiegenheit», sage ich in dem offiziösen Superintendent-Ton, den ich so gut beherrsche.

Der Detective reagiert auf meine Zurechtweisung nur mit einem Nicken. «Ich kann Ihnen die Todesursache erst nach der Obduktion sagen. Aber der Gerichtsmediziner meint, sie ist wahrscheinlich erstickt.» Das tiefe, dunkle Timbre seiner Stimme ist das Einzige an Coscarelli, das mir an ihm erwachsen vorkommt.

«Wann?» Bitte lass es nach zwanzig vor sechs heute Abend gewesen sein. Sprich Walsh frei. Und mich.

Coscarelli mustert mich weiter eindringlich, unbeeindruckt von meinem wütenden Blick. «Den genauen Todeszeitpunkt wissen wir nicht. Der Gerichtsmediziner schätzt, irgendwann zwischen zwölf Uhr mittags und drei Uhr nachmittags.»

Der wütende Blick ist verschwunden. Ich kann förmlich fühlen, wie mir die Farbe aus dem Gesicht weicht. Walsh war es. Es muss Walsh gewesen sein. Und es ist alles meine Schuld …

Coscarelli redet. «Wir haben ein Gedicht auf dem Boden neben dem Bett gefunden. Unterschrift Dean … Ich vermute, einer ihrer Studenten.»

Mir stockt der Atem, als mir das erotische Gedicht in Walshs Akte einfällt. Alles meine Schuld … alles meine Schuld … Oh Maggie, es tut mir so Leid … Es tut mir so schrecklich leid …

«Was können Sie mir über Dean erzählen, Superintendent?» Fragt nicht mal, ob ich ihn kenne. Geht davon aus, dass ich ihn kenne. Weiß er, dass ich ihn kenne?

Ich schließe die Augen, denke an meine erste Begegnung mit Dean Thomas Walsh beim Einstufungsgespräch im Horizon House. Ist das wirklich erst vier Wochen her …?

… der Strafgefangene übernimmt die volle Verantwortung für das, was er dem Opfer angetan hat, und zeigt entsprechende Reue …

(aus MCI-Norton-Katalog von Bewertungskriterien)

4

Horizon-House-Einstufungskonferenz

Häftling Dean Thomas Walsh

19. August 2000

«… Natürlich hab ich Angst davor, wieder rauszukommen. Fast so viel Angst wie vor acht Jahren, als ich reingekommen bin. Aber ich gehe als ein anderer Mensch wieder raus, Superintendent Price.» Er hält inne, lächelt verlegen. «Das erzählen Ihnen wohl alle, was?»

«Im Augenblick interessiert uns nur, was Sie uns erzählen, Mr. Walsh.» Ich sehe, wie er meine Mitarbeiter, die um den großen Konferenztisch aus Eichenholz sitzen, mit einem raschen Rundumblick taxiert. Um abzuschätzen, wie er ankommt. Doch seine Augen kehren gleich wieder zu mir zurück und bleiben, wo sie sind. Daran ist nichts Ungewöhnliches. Als Leiterin von Horizon House bin ich diejenige, bei der die meisten Häftlinge Eindruck machen wollen.

Doch irgendwas an der Art, wie Dean Thomas Walshs Augen mich fixieren, macht mich ein wenig nervös. Es ist teils verführerisch. Teils so, als glaubte er, dass er genau weiß, was in mir vorgeht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das an mir liegt, also muss Maggie dahinter stecken.

Was hat Maggie ihm über mich erzählt? Die Frage ist nicht, hat sie, sondern was hat sie ihm erzählt. Ich denke, dass meine gute Freundin Maggie zu jenen engagierten, aufrichtigen Frauen gehört, die ein großes Herz und gelegentlich auch einen großen Mund haben. Ich denke, dass ich an ihr hänge. Trotz ihrer Fehler.

Meine Gedanken schweifen ab. Ich glaube, dass Dean Thomas Walsh das erkennt. Er beugt sich auf seinem Stuhl vor. Leicht seitlich, denn ich sitze ihm schräg gegenüber. Mit dieser Geste will er meine Aufmerksamkeit wieder auf sich ziehen. Es funktioniert.

«Es gibt so vieles, was für mich spricht. Ich komme auf keinen Fall wieder», sagt er aufrichtig. Ich kann die Häftlinge an einer Hand abzählen, die in dieser Situation nicht aufrichtig sind. Dabei meinen sie nicht unbedingt, dass sie nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt geraten, sondern, dass sie mittlerweile so clever sind, sich nicht mehr erwischen zu lassen. Manche Häftlinge glauben allerdings wirklich, dass sie ihre Lektion gelernt haben. Das Problem ist nur, dass es leicht ist, das zu glauben, während sie noch im Knast sitzen. Die Sache ändert sich von Grund auf, sobald sie wieder frei sind und sich den gleichen Versuchungen ausgesetzt sehen. Und den Benachteiligungen. Ganz zu schweigen von dem Drang, verlorene Zeit wieder wettzumachen.

Ihre Aussichten stehen auf jeden Fall schlecht. Aber wenn Häftlinge eine echte Chance kriegen, mit sich ins Reine zu kommen, einen Beruf zu erlernen und Selbstachtung zu gewinnen, haben sie wesentlich bessere Möglichkeiten, anständige, gesetzestreue Bürger zu werden. So habe ich jedenfalls gegenüber dem Commissioner, der Presse, der gesamten nervösen Öffentlichkeit argumentiert, um sie von diesem Entlassungsvorbereitungszentrum zu überzeugen. Und ich glaube wirklich daran. Ich habe fast zwei Jahre gebraucht, um sie auf meine Seite zu ziehen. Und fast ebenso lange, um die maßgeblichen Stellen davon zu überzeugen, dass sie mit mir als Superintendent die richtige Wahl getroffen hatten.

Wie gut wir sind, muss sich erst noch zeigen. Zumindest hatten wir bisher keine großen Katastrophen. Noch nicht.

Ich erwidere Walshs Blick direkt. Er ist schwerer zu durchschauen als die meisten Häftlinge. Vielleicht liegt es daran, dass er so gut aussieht wie ein Filmstar – das widerspenstige dunkelbraune Haar ist lässig zerzaust, der Dreitagebart gibt ihm was Verwegenes, die stahlblauen Augen strahlen genau den richtigen Hauch Verletzlichkeit aus. Ein waschechter Brad Pitt. Ein richtiger Herzensbrecher. Erneut denke ich an Maggie und an ihr großes, zerbrechliches Herz.

«Professor Austin hat mich gestern besucht und mir gesagt, das mein Antrag für die Einschreibung zum Wintersemester am CCC so weit fertig ist», sagte er mit jungenhafter Begeisterung zu mir. Ich spüre unterschwellige Gereiztheit bei meinen Mitarbeitern. Sie mögen es nicht, wenn der Häftling sie übergeht.

Walsh wirkt unbeirrt. «Hat sie schon mit Ihnen darüber gesprochen, dass ich vielleicht dieses Semester als Gasthörer ein paar Abendseminare besuchen kann? Sie meint, es wäre ganz gut, wenn ich mal ein bisschen reinschnuppere. Sie gibt da so ein Lyrikseminar – dienstags und donnerstags von sechs bis acht. Maggie meint …» Ich bin sicher, er registriert meinen Unwillen, als ich höre, dass er sie beim Vornamen nennt, denn er berichtigt sich rasch. «Professor Austin meint, das Seminar wäre genau das Richtige für mich. Ich habe um fünf im Kopierladen Feierabend. Ich könnte schnell einen Happen essen, dann die U-Bahn nehmen und wäre pünktlich da –»

«Vergessen Sie’s, Walsh. Sie kennen die Regeln hier», fällt ihm Assistant Deputy Jack Dwyer, mein Stellvertreter, ins Wort. «Sie müssen abends um sechs zum Zählappell wieder zurück sein.» Sein Ton ist schroff, fast grob. Jack hat was gegen die Glattzüngigen, gegen die Gutaussehenden.

Dean Thomas Walsh nähert sich dem Ende seiner Gefängnisstrafe wegen Vergewaltigung. Er hätte in den letzten zwei Jahren dreimal die vorzeitige Haftentlassung auf Bewährung beantragen können, hat aber darauf verzichtet. Er wollte lieber die vollen acht Jahre absitzen. Viele Häftlinge entscheiden sich für diesen Weg. Sie halten lieber bis zum Schluss durch, als mehrere Jahre lang einen Bewährungshelfer im Nacken zu haben. Walshs Entlassungstermin ist im Dezember. Noch vier Monate, und er ist draußen. Wenn er sich bis dahin nichts Schwerwiegendes zuschulden kommen lässt.

Mein Assistant Deputy hat Walsh eben daran erinnert, dass er noch lange nicht machen kann, was er will. Der kleinste Fehltritt – zum Beispiel nicht zum Zählappell erscheinen –, und er verbringt dieses Jahr Weihnachten wieder in derselben tristen Zelle, in der er seit acht Jahren sitzt.

Walsh zeigt keine Reaktion. Er bleibt ruhig. Was ihm offensichtlich nicht schwer fällt. Ich frage mich, ob das eine Überlebenstechnik ist, die er im Knast gelernt hat.

Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, hält den Blick weiter auf mich gerichtet. «Es gibt Ausnahmen von der Regel. Was ist mit den Damen und Herren, die über Nacht Freigang kriegen? Okay, okay, ich weiß. Die sind verheiratet. Aber wir Singles, wir haben auch so unsere Bedürfnisse, Superintendent Price.»

«Reden wir jetzt nicht mehr über Weiterbildung, sondern über Sex?», frage ich kühl. Ich höre meinen leitenden Beamten, Officer Gordon Hutchins, neben mir kichern. Hutch, wie er genannt wird, seit er vor achtunddreißig Jahren als Gefängniswärter anfing, kichert ein wenig zu viel. Ich habe ihn deshalb schon mal ins Gebet genommen. Und gesehen, wie er dabei mit den Zähnen geknirscht hat. Hutch hat was dagegen, wenn er von einer Vorgesetzten, die fünfundzwanzig Jahre jünger ist als er, eins auf den Deckel kriegt. Erst recht nicht von einer studierten Klugscheißerin, die noch dazu einigermaßen attraktiv ist. Hutch ist der Ansicht, dass Strafgefangene und gut aussehende Mitarbeiterinnen ein hochexplosives Gemisch sind. Ich muss zugeben, dass ich ihm bis zu einem gewissen Punkt zustimme, weshalb ich meine äußere Erscheinung bei der Arbeit so dezent wie möglich halte. Ich trage mein schulterlanges, rotblondes Haar zu einem ordentlichen – fast schon strengen – Knoten gebunden, schminke mich sehr zurückhaltend und trage maßgeschneiderte Kostüme. Achte darauf, dass der Rocksaum züchtig unterhalb des Knies bleibt. Was Hutch richtig wahnsinnig macht, ist, dass er mich, trotz der vielen Probleme, die er mit mir hat, wirklich gern mag. Und er weiß, dass ich ihn, trotz der vielen Probleme, die ich mit ihm habe, auch gern mag.

Als ich jetzt wieder meine ganze Aufmerksamkeit auf Walsh richte, merke ich, dass seine Gelassenheit erste Risse zeigt. Ein leichtes Zucken des Mundwinkels. «Ich weiß, was Sie wurmt, Price.» Nicht mehr Superintendent Price. Noch ein Riss. Und ein wenig unruhiges Füßescharren bei meinen Mitarbeitern. Sie können es nicht leiden, wenn ein Häftling so mit ihrer Chefin redet. Walsh weiß bestimmt ganz genau, dass er sich von festem Boden auf dünnes Eis begeben hat, doch er macht einen weiteren überstürzten Schritt. «Maggie hat mir erzählt, dass Sie es waren, die ihr Interesse dafür geweckt hat, kreatives Schreiben im Knast zu unterrichten. Aber Sie haben nicht damit gerechnet, dass Ihre gute Freundin mit einem von uns miesen Knastis draußen ein persönliches Verhältnis eingehen würde.»

Auch meine Gelassenheit wird ein wenig rissig. «Sie sind noch nicht draußen, Walsh.» Ich lasse den Mr.  unter den Tisch fallen. Immer mit gleicher Münze heimzahlen, hat mein Dad immer gesagt. «Freigang ist ein Privileg …»

Walshs stahlblaue Augen sprühen jetzt Funken. «Ich versuche, mich zu bessern, und kriege nichts als Drohungen von Ihnen zu hören. Wollen Sie mich fertig machen, mich wieder einbunkern, bloß weil Ihre Freundin mich für intelligent und talentiert hält und mir helfen will, dass ich studieren kann, verdammt?»

Wie von der Tarantel gestochen, springt Jack auf. Auch Hutch würde aufspringen, aber bei seinem Übergewicht – vor allem in Form eines Bierbauches – kommt er nicht so schnell hoch. Meine Arbeitsberaterin Sharon Johnson, die mir gegenübersitzt und sich ein Bein ausgerissen hat, um Walsh den Job in dem Kopierladen in Cambridge zu besorgen, verschränkt fest die Hände auf dem Tisch, die dunklen Augen angespannt, wartet auf die Explosion.

Ich kann die Bombe explodieren lassen oder entschärfen – jedenfalls vorläufig. Es liegt an mir.

«Ich würde gern ein paar Minuten mit Mr. Walsh unter vier Augen sprechen», sage ich ruhig.

Mein Team versteht das als Befehl. Was es auch sein soll. Eine elektrisierte Spannung erfasst den Raum. Es ist nicht meine Art, die Vorgesetzte herauszukehren. Nur wenn ich es für erforderlich halte.

«Nat –» Jack legt normalerweise großen Wert darauf, mich vor den Häftlingen nicht beim Vornamen zu nennen. Dieser Schnitzer und seine zusammengepressten Lippen lassen keinen Zweifel daran, dass er seine Wut kaum noch beherrschen kann.

Auch ich bin kurz davor, aus der Haut zu fahren, aber ich zügele mich.

«Ist schon in Ordnung, Deputy Dwyer», sage ich ruhig, aber bestimmt, obwohl ich weiß, dass mein Stellvertreter gerade das bestreiten möchte. Aber er wird es nicht tun. Nicht jetzt. Dafür wird er mir später die Hölle heiß machen. Anders als Hutch hält Jack Dwyer mit seiner Kritik nicht hinterm Berg. Weder bei mir noch bei sonst wem.

Früher dachte ich, Jack hege einen Groll gegen mich, weil ich Superintendent geworden war. Bis ich von Hutch erfuhr, dass Jack die Position schon vor mir angeboten worden war und er sie abgelehnt hatte. Ich war völlig überrascht, als ich das hörte. Ich hatte keine Ahnung, dass Dwyer überhaupt mit im Rennen gewesen war.

Als ich nachbohrte, warum Jack das Angebot abgelehnt hatte, deutete Hutch an, es hätte was mit der Geiselnahme zwei Jahre zuvor in Oak Ridge zu tun, dem Hochsicherheitsgefängnis von Massachusetts. Ich verstand das nicht. Jack, der damals Assistant Superintendent in Oak Ridge war, wurde bei dem Aufstand als Held der Stunde gefeiert. Er verhandelte ganz allein mit den Anführern der Häftlinge und brachte sie dazu, drei von den vier Vollzugsbeamten freizugeben, die sie als Geiseln genommen hatten. Die vierte Beamtin war schon umgebracht worden, bevor Jack am Ort des Geschehens eintraf. Niemand gab ihm dafür auch nur die geringste Schuld.

Normalerweise kriege ich Hutch dazu, aus dem Nähkästchen zu plaudern, doch was die Geiselnahme betrifft, war aus ihm nicht mehr rauszuholen. Auch nicht, inwieweit diese Geschichte der Grund dafür war, dass Jack sich dafür entschieden hatte, im Horizon House die zweite Geige zu spielen. Hutch sagte lediglich, Jack könne gut auf die Kopfschmerzen verzichten, die mit der Führungsposition zwangsläufig einhergingen. Wenig Ruhm, wenn alles gut läuft; jede Menge Ärger, wenn irgendwas schief geht. Manchmal denke ich, Jack hat eine kluge Entscheidung getroffen.

Während ich in Gedanken abschweife, sammelt Sharon Johnson ihre Unterlagen zusammen, stopft sie rasch in ihre Aktentasche. Froh, dass sie sich zurückziehen kann. Diese Orientierunsgbesprechungen machen sie immer nervös. Wer könnte es ihr verübeln? Sie ist eine zweiundvierzigjährige Exstrafgefangene und hat solche Besprechungen zur Genüge aus der anderen Perspektive erlebt.

Sharon verlässt den Raum als Erste. Hutch starrt Walsh wütend an, vermeidet jeden Blickkontakt mit mir und schlurft widerwillig hinter ihr her.

Jack steht noch immer vor seinem Stuhl. Auf den Fußballen, bereit zum Sprung. Die Stirn in Falten gelegt. Die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Die grauen Augen wie Gewitterwolken starr auf mich gerichtet. Ich denke, dass er vielleicht nicht gehen wird. Was meine Autorität untergraben würde. Ganz zu schweigen davon, dass es mich stinksauer machen würde.

Walsh hat derweil keinen Muskel bewegt. Ebenso wenig wie er seinen taxierenden Blick von mir abgewandt hat.

Jetzt starren mich also beide an, um mich zu verunsichern.

Okay, das hab ich mir selbst eingebrockt. Aber hätte ich die anderen nicht rausgeschickt, würde Dean Thomas Walsh mit hoher Wahrscheinlichkeit bald wieder in seiner zwei mal drei Meter großen Zelle im CCI Norton landen. Könnte seine Pluspunkte wegen guter Führung abschreiben. Könnte sein Wintersemester am Commonwealth Community College abschreiben.

Maggie Austins begeisterte Stimme geistert mir durch den Kopf. «Er ist so talentiert, Nat. Er ist so viel versprechend. So einen Schüler wie Dean hab ich noch nie gehabt. Mit einer anständigen Ausbildung kann er es sehr weit bringen. Sind wir ihm nicht diese Chance schuldig?»

Ich weiß, dass diese Machtprobe zwischen Jack und mir gerade mal dreißig Sekunden dauert. Aber es kommt mir viel länger vor.

Nach fünf weiteren Sekunden nimmt Jack abrupt seine Kopie von Walshs Akte. Er klopft darauf. Ein bedrohliches Trommeln. «Wir haben Sie für eine zwölfwöchige Therapie in unserem Sexualstraftäterprogramm vorgesehen, Walsh. Beginn Mittwoch, zwanzig Uhr. Ich rate Ihnen, seien Sie pünktlich.»

Das Zucken in Walshs Mundwinkel ist wieder da, zehnmal so stark. Er ist nicht glücklich über die Erinnerung. Nicht glücklich, wieder an der Therapie teilnehmen zu müssen.

Ich beobachte, wie Jack betont langsam aus dem Raum schlendert. Als die Tür zuknallt, schüttelt Dean Thomas Walsh langsam den Kopf.

Ich werde es diesem Häftling nicht leicht machen, aber ich brauche ein paar Sekunden, um mich zu sammeln.

Walsh nutzt die Pause, die ich ihm unvorsichtigerweise gewähre.

«Sie lassen nicht mit sich spaßen, was?» In seiner Stimme schwingt ein Hauch von Bewunderung mit. Dahinter klingt Argwohn an. «Ich hab viel über Sie gehört, als ich hierher kam. Und jetzt sehe ich, dass es stimmt.»

Er beugt sich leicht vor. «Aber ich hab auch gehört, dass Sie fair sind. Sie behandeln alle Häftlinge gleich. Stimmt das?»

«Ist das Ihr Anliegen, Mr. Walsh? Möchten Sie Gleichbehandlung? Oder finden Sie, dass Sie eine Sonderbehandlung verdienen?»

Er seufzt. «Wenn Sie die Wahrheit hören wollen, ich hab mich für Maggies Kurs in Norton nur deshalb gemeldet, weil ich dann nicht mehr einmal die Woche frühmorgens Wäschereidienst machen musste. Und, zugegeben, es hat auch nicht geschadet, dass sie hübsch anzusehen war. Klar, jeder Knacki, der sie zu Gesicht bekommen hat, wollte sie gern …»

«Vögeln?»

Walsh bedenkt mich mit einem unverhohlen vorwurfsvollen Blick.

«Ich finde, eine Lady sollte nicht ordinär werden», sagt er tadelnd. «Schon gar nicht als Superintendent.»

Der schizoide Moralkodex von Häftlingen erstaunt mich doch immer wieder. Schlampen fluchen. Ladys - also ehrenwerte Frauen wie Mütter, Schwestern, Ärztinnen, Wärterinnen – sollen züchtig, anständig sein. In Wort, in Kleidung und Tat. Jede Überschreitung dieser Regel bringt Häftlinge durcheinander.

Aber ich will Dean Thomas Walsh ja durcheinander bringen.

«Nervt Sie das?», frage ich bewusst unterkühlt.

Walsh deutet ein Lächeln an. Um mir zu signalisieren, dass er weiß, dass ich ihn aus der Reserve locken will. «Ich sage Ihnen, was mir an Maggie Austin am besten gefällt. Dass sie nie irgendwelche Spielchen mit mir treibt.»

«Können Sie das Gleiche sagen, Mr. Walsh?»

«Maggie mag mich, und ich mag sie. Ist das ein Verbrechen?»

«Tätlicher Angriff ist ein Verbrechen», sage ich spitz. «Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Ein abscheuliches, brutales Verbrechen. Die heimtückischste Verletzung, die man dem Körper und der Seele einer Frau zufügen kann.»

Das Mindeste, was ich darauf erwarte, ist ein verbaler Gegenangriff.

Das Letzte, was ich erwarte – vielleicht auch das Letzte, das er erwartet –, ist die Reaktion, die er zeigt.

Das Gesicht in den Händen vergraben, die breiten Schultern krampfhaft zuckend, bricht Dean Thomas Walsh zusammen, ein verurteilter Verbrecher, der fast acht Jahre Knast hinter sich hat, und weint wie ein Baby.

Die großzügige Unterstützung durch lokale Firmen hat entscheidend dazu beigetragen, dass Häftlinge dazu gebracht werden konnten, ein angemessenes Verhalten an den Tag zu legen …

MCI, Division of Community Corrections

5

«Sein vollständiger Name ist Dean Thomas Walsh. Er ist seit vier Wochen im Horizon House. Zur Vorbereitung auf seine Entlassung. Er arbeitet in einem Kopierladen. Verbüßt sechs bis acht Jahre wegen … Vergewaltigung.» Ich schaudere in Erinnerung an das Protokoll von Alison Coles Aussage, in der sie Walshs brutalen Angriff auf sie schildert. Und daran, wie entsetzlich ähnlich der Angriff auf Maggie abgelaufen ist.

Detective Leo Coscarelli hat die ganze Zeit gestanden. Doch jetzt setzt er sich neben mich auf Maggies Sofa. Instinktiv rücke ich weg. Falls er es bemerkt hat, zeigt er jedenfalls keine Reaktion.

«Wie nahe standen sie sich? Ms . Austin und Walsh?»

«Ich weiß nicht», sage ich. Was leider die Wahrheit ist.

«Jedenfalls so nahe, dass sie sich zum Lunch verabredet haben.»

Ich spüre, wie mir heiß im Gesicht wird. «Häftlinge in der Entlassungsvorbereitung dürfen außerhalb der Anstalt keinen Kontakt zu anderen Häftlingen, Exhäftlingen, Opfern oder Angehörigen aufnehmen. Wenn sie Alkohol trinken oder Drogen nehmen, fliegen sie aus dem Programm. Das Gleiche passiert, wenn sie nicht zu den vorgeschriebenen Zeiten an ihrem Arbeitsplatz sind. Wir machen bei jedem Häftling regelmäßig Stichproben vor Ort. Die einzigen Ausnahmen von dieser Regel sind genehmigte Aktivitäten.»

Coscarelli wird ungeduldig. «Verabredungen zum Lunch mit Professorinnen sind genehmigte Aktivitäten?»

«Nein. Aber sie sind auch nicht per se untersagt. Walsh war Gasthörer in einem Lyrikseminar von Maggie, das genehmigt war.» Mein Magen verkrampft sich. «Möglich, dass sie sich mit ihm zum Lunch getroffen hat, um –»

«Ihm Privatunterricht zu geben?» Das Grinsen verträgt sich nicht mit seinem braven Polizistenaussehen. Die Frage allerdings auch nicht.

«Ich habe Walsh in eine Arrestzelle sperren und unter Sonderbewachung stellen lassen, Detective. Und in zwei Stunden müsste ich erfahren, was die Drogentests bei ihm ergeben haben.»

«Sieht das hier nach seiner Handschrift aus?» Er deutet in Richtung Schlafzimmer.

Ich nicke müde, füge aber hinzu: «Er war voll mit Alkohol und Kokain damals bei seiner ersten Tat.» Ich glaube also schon jetzt, dass es eine zweite gegeben hat.

«Wann war das?», fragt er.

«Vor fast neun Jahren. Er hat keinen Aktenvermerk wegen Drogenkonsums während seiner Inhaftierung. Und es liegen keine Informationen vor, dass er in der Entlassungsvorbereitung welche genommen hat. Vor dem Test, den ich heute angeordnet habe, ist er schon dreimal getestet worden, und er war immer clean.» Jetzt versuche ich auch noch, den Scheißkerl in Schutz zu nehmen. Genauer gesagt, meinen eigenen Arsch zu retten. Selbstekel kämpft mit Trauer.

«Lassen wir Walsh mal einen Moment beiseite», sagt Coscarelli abrupt. «Hat Ms . Austin sich noch mit anderen Männern getroffen? Hatte sie einen festen Freund?»

«Ich … weiß nicht genau. Durchaus möglich, dass es da jemanden gab … in letzter Zeit. Sie hatte fast jeden Abend was vor.» Unser für heute geplantes Abendessen war das erste Mal seit fast drei Wochen, dass sie Zeit hatte. Ich hab gedacht, sie hätte einen neuen Mann kennen gelernt, und mich gewundert, dass sie so ein Geheimnis daraus machte. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Sie war manchmal so offenherzig, was ihr Liebesleben anging, dass sie mir die Schamesröte ins Gesicht trieb.

«Ich nehme an, Walsh war an den betreffenden Abenden unter Verschluss», sagt Coscarelli, «somit kommt er wohl nicht in Frage.»

Jemand räuspert sich hinter uns.

Der Gerichtsmediziner, ein spindeldürrer Mann in den Fünfzigern mit krummen Schultern und fahlem Gesicht, steht an Maggies Schlafzimmertür. Coscarelli springt auf und geht zu ihm. Sie sprechen kurz miteinander, dann folgt Coscarelli dem Gerichtsmediziner ins Schlafzimmer. Bevor er die Tür schließt, sehe ich, wie ein anderer Detective – Coscarelli hatte ihn mir zuvor als seinen Partner Mitchell Oates vorgestellt – auf ihn zugeht und ihm irgendetwas reicht. Ein Foto, denke ich. Coscarelli sieht es sich an, schließt die Tür hinter sich.

Kurz darauf kommt er wieder heraus, geht langsam zurück zur Couch und setzt sich. Er legt die Hände flach auf die Knie und scheint seine ordentlich geschnittenen und makellos sauberen Fingernägel zu inspizieren. «Hatte Ihre Freundin Gefallen an hartem Sex, Ms . Price?»

Diese Frage, so schonungslos gestellt, lässt mich vor Abscheu erbeben.

«Nein, natürlich nicht», sage ich so vehement, dass er zurückweicht. «Sie glauben doch wohl nicht, dass sie freiwillig …» Ich kann den Gedanken nicht beenden, geschweige denn den Satz. «Sie wurde vergewaltigt, Detective. Und wenn Sie das nicht sehen –»

«Es deutet nichts auf einen Kampf hin», sagt er sachlich. Aber nicht ohne eine Spur von Mitgefühl.

«Haben Sie schon mal an die Möglichkeit gedacht, dass sie zu große Angst hatte, um sich zu wehren?», entgegne ich. «Oder dass sie unter Drogen gesetzt wurde? Oder … oder vorher ermordet wurde?» Ich presse die Augen zu, doch noch immer strömen entsetzliche, perverse Bilder auf mich ein.

«Auf Ms . Austins Anrufbeantworter sind ein paar Nachrichten», wechselt Coscarelli erneut das Thema. Obwohl mir dabei ein Ruck durch den Körper fährt, spüre ich auch eine Welle der Erleichterung. Das Allerletzte, worüber ich jetzt nachdenken möchte, ist auch nur die vage Möglichkeit, dass Maggie die brutale Gewalt, die ihr angetan wurde, in irgendeiner Weise gewollt hat.

«Eine Nachricht ist von Karen Powell», sagt der Detective. «Dann haben noch zwei Männer angerufen. Unterschiedliche Stimmen. Keine Namen. Ich frage mich, ob einer von ihnen Walsh ist. Fühlen Sie sich imstande, das Band abzuhören, Ms . Price? Vielleicht können Sie die beiden ja identifizieren.»

«Ich … weiß nicht.»

«Sie wissen nicht, ob Sie sich dazu imstande fühlen?»

«Ich weiß nicht, ob ich sie identifizieren kann. Ich meine, wahrscheinlich kenne ich sie nicht. Maggie und ich waren eng befreundet, aber wir hatten verschiedene Bekanntenkreise …» Aber jetzt habe ich nur noch den einen Gedanken, dass sich unsere Kreise in letzter Zeit überschnitten haben. Dass Dean Thomas Walsh zum Mittelpunkt dieses neuen, gemeinsamen Kreises geworden ist.

«Versuchen wir’s doch, ja? Tun Sie Ihr Bestes, Superintendent.» Coscarelli ist bereits aufgestanden, schiebt eine Hand in seine Jacketttasche und holt einen kleinen Plastikbeutel heraus. Darin ist eine von diesen Minikassetten. Als er den Beutel öffnet, fällt mir auf, dass er hautfarbene Gummihandschuhe trägt. Und ich denke, er hat Maggie mit diesen Handschuhen berührt. Mir schmerzt die Kehle, als ich wieder eine Welle Übelkeit niederkämpfe. Tränen brennen mir in den Augen. Obwohl ich mich noch lange nicht von dem Schock erholt habe, begreife ich langsam die schreckliche Realität. Die überwältigende Trauer dringt allmählich an die Oberfläche. Meine Freundin ist tot. Vergewaltigt. Ermordet. Und ich bin vielleicht zum Teil mit schuld.