Noxia - Elise Title - E-Book

Noxia E-Book

Elise Title

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Kim Burke in ihre Studentenwohnung zurückkehrt, erwartet sie ein Bild des Schreckens: Ihre beiden Mitbewohnerinnen wurden grausam ermordet, ihr Exfreund hat sich im Wohnzimmer erhängt. Verzweifelt ergreift sie die Flucht. Doch ein Jahr später verschwinden zwei Studentinnen vom Campus. Jetzt muss sie sich der Vergangenheit stellen. Ist der Mörder von damals noch unter ihnen? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 460

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Elise Title

Noxia

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

FISCHER Digital

Inhalt

Teil IProlog1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738Teil II1234567891011121314151617181920212223242526272829303132Epilog

Teil I

Prolog

Ein Teller fiel zu Boden und ging krachend zu Bruch. Die junge Frau am vorderen Tisch zuckte zusammen, doch der Mann ihr gegenüber verzog keine Miene.

»Also deshalb wolltest du mich in den letzten zwei Wochen nicht sehen. Nicht weil du Referate hattest, Prüfungen, Arbeit. Du wolltest mich schon mal drauf vorbereiten, dass du mich abservierst.«

»Scott, bitte …« Von dem Geruch nach Bratfett, der zu ihr herüberwehte, wurde ihr übel. Außerdem war es zu warm hier drin. Das Thermometer war am Nachmittag auf über dreißig Grad geklettert. Für Mitte April ein Rekord in Danby. Selbst jetzt, um kurz vor acht Uhr abends, waren es noch um die zwanzig Grad. Doch im Moe’s wurde die Klimaanlage nicht vor dem ersten Mai eingeschaltet, egal, welche Temperaturen draußen herrschten. Das wusste Kim, nach vier Jahren und rund tausend Tassen Kaffee in diesem Laden. Die Studenten beschwerten sich immer wieder, weil es entweder zu warm oder zu kalt war oder weil sich die Speisekarte nie änderte oder weil noch immer dieselbe Fünfzigerjahremusik aus den Lautsprechern schallte wie schon damals, als Moe seinen Coffeeshop eröffnete. Moe war schon lange tot, doch nach wie vor zierten dieselben Fotos von vergangenen Glanzzeiten des Currier College die Wände. Es gab zwar keinen frisch gepressten Orangensaft, aber dafür war der Kaffee schon immer erstklassig gewesen. Und Kaffee war für die Stammgäste das Wichtigste. Er entschädigte sie für die zahllosen anderen Unzulänglichkeiten.

Überhaupt, wenn sich im Moe’s dann doch gelegentlich mal etwas änderte, waren selbst die größten Meckerer bestürzt. Veränderungen waren eben nicht leicht, auch nicht, wenn sich dadurch etwas verbesserte.

Kim wusste das aus Erfahrung.

Scott blickte sie traurig an. »Warum, Kim? Was hab ich falsch gemacht?«

»Nichts. Wir haben beide nichts falsch gemacht.« Es war eine schlechte Idee gewesen, hierher zu kommen. Sie hätte sich woanders mit ihm treffen sollen. Wo sie mehr Ruhe gehabt hätten. Nein, das wäre noch schlimmer gewesen. Sie hatte sich ja gerade fürs Moe’s entschieden, weil es nah am Campus lag und von Studenten, Dozenten und Einheimischen frequentiert wurde. Sie hatte gedacht, Scott würde sich hier zusammenreißen. Aber vielleicht hatte sie sich getäuscht.

Es wäre nicht das erste Mal.

Scott starrte sie mit bohrender Intensität an. »Du findest, ich klammere mich zu stark an dich.«

»Nein.« Aber natürlich fand sie das. Er klammerte sich an sie wie ein Ertrinkender, der sie mit in die Tiefe ziehen wollte. Sie spürte es jetzt stärker denn je. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und geflohen, um sich in Sicherheit zu bringen. Aber das konnte sie Scott nicht antun. Es war schließlich nicht seine Schuld. Sie hätte früher mit ihm Schluss machen sollen. Sie hatte es vorgehabt, aber sie wusste, wie sehr sie ihn damit verletzen würde. Und sie selbst war im Leben schon zu oft verletzt worden, um diejenige sein zu wollen, die einem anderen Schmerz zufügte.

Jetzt musste sie die Sache beenden. Sie sah keine andere Möglichkeit mehr.

»Ich kann deine Wünsche nicht erfüllen. Ich weiß es. Manchmal, wenn wir zusammen schlafen und ich in deine großen, dunklen Augen sehe, dann …«

»Es hat nichts mit Sex zu tun, Scott.« Schon wieder eine Lüge. Sex. Es hatte immer auch mit Sex zu tun. In all ihren Beziehungen zu Männern hatte Sex immer eine tragende Rolle gespielt. Ob sie es wollte oder nicht. Ob aus einem Bedürfnis heraus oder aus Notwendigkeit. Ob aus Verlangen oder Furcht.

»Du hast mir im Bett was vorgespielt«, warf er ihr vor. Er war laut geworden. Kim warf einen raschen, verlegenen Blick zu der molligen, schon etwas älteren Kellnerin hinter der Theke. Norma, die im Moe’s zum festen Inventar gehörte. Sie stand mit dem Rücken zu ihnen und setzte gerade frischen Kaffee auf. Hatte sie gehört, was Scott gesagt hatte?

Und wenn schon. Norma konnte wahrscheinlich nichts mehr erschüttern.

Dennoch senkte Kim die Stimme noch mehr, in der Hoffnung, Scott würde es ihr gleichtun. »Ich habe dir nie was vorgespielt.« Nie war gelogen. Ja, manchmal hatte sie ihm doch was vorgespielt. Aber nicht am Anfang. Am Anfang hatte Scott sie immer zum Höhepunkt gebracht. Am Anfang.

Was war nur mit ihnen geschehen?

Und dann, als hätte er ihre Gedanken erraten – »Du hast einen anderen. Du treibst es mit einem anderen.«

Irgendwo hinter ihr wurde ein Tisch abgeräumt, Besteck, Teller, Gläser landeten in einer Plastikwanne. Kim hoffte, dass der Lärm Scotts Anschuldigung übertönt hatte.

Er starrte sie einige stumme Augenblicke lang hasserfüllt an. Dann lachte er schrill auf, lehnte sich auf der Bank zurück, legte die Arme rechts und links auf die Lehne und streckte seine langen Beine zu einem V. Die lässige Pose strafte seinen harten, funkelnden Blick Lügen.

»Mann, bin ich schwer von Begriff. Das kam einfach zu überraschend.« Seine Stimme war ausdruckslos, fast ohne jede Emotion. Doch dann verdunkelten sich seine Züge blitzschnell. Scotts Gefühle blieben nie lange verborgen. »Ein anderer Typ. Du vögelst einen anderen. Das ist der wahre Grund.«

Keine Frage. Keine einzige Frage. Scott stellte lediglich fest. Spielten ihre Antworten überhaupt eine Rolle? Vielleicht war es am besten, gar nichts zu erwidern.

Doch sie wusste, dass ihn dies nur noch mehr aufstacheln würde. Er hatte es nie leiden können, wenn sie dicht machte. Als würde sie ihn durch ihr Schweigen ausschließen aus ihrem Leben. Inzwischen empfand Kim es als Einbruch in ihre Privatsphäre, dass er ständig wissen wollte, was sie dachte – sich jeden ihrer Gedanken aneignen wollte.

Schon seltsam, dass sie zu Anfang gerade sein brennendes Interesse an ihr anziehend gefunden hatte. So etwas hatte sie bis dahin kaum gekannt. Nicht einmal Nate Shapiro hatte sie je bedrängt, mehr von sich preiszugeben, als sie von sich aus erzählen wollte. Und lange Zeit hatte sie nur sehr wenig erzählt. Bis sie irgendwann begriff – und diese Erkenntnis wurde ihr gerade jetzt klarer denn je –, dass Nates Verhalten nicht von mangelnder Fürsorge zeugte, sondern von Respekt. Und Vertrauen. Das Vertrauen eines anderen Menschen war ein großes Geschenk – für sie fast zu groß, um es anzunehmen.

Die Tür ging auf, ein Student kam herein, und eine wohltuende Brise wehte kurz zu Kim herüber. Sie kannte den Neuankömmling vom Sehen. Er blickte zu ihr, erkannte sie und lächelte. Kim schaute weg. Er ging an ihnen vorbei. Scott musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, während seine Finger auf der abgewetzten roten Vinyllehne der Sitzbank rhythmisch trommelten.

Von irgendwo weiter hinten hörte Kim eine weibliche Stimme »Eugene, ich bin hier« rufen. Gut, dachte sie, das bedeutete, dass er sich keinen Tisch in Hörweite nehmen würde. Es sei denn, Scott rastete vollends aus und wurde richtig laut.

Scotts Blick kehrte zu ihr zurück. Er trommelte noch immer mit den Fingern. Wartete …

Worauf?

Sie war fast versucht, ihm die Wahrheit zu sagen.

»Es geht nicht um einen anderen, Scott. Es geht nur um uns.« Die Wahrheit umkreisen. Behutsam. Er hatte ein aufbrausendes Temperament. Sie hatte schon öfters erlebt, wie er aus der Haut fuhr. Doch noch nie hatte sie seine Wut so deutlich gespürt wie jetzt. Noch nie hatte sie ihn so aufgebracht erlebt. Kalte Angst durchrieselte sie.

War sie nicht sogar gewarnt worden? Pauline, eine ihrer beiden Mitbewohnerinnen, hatte gedroht, sie vor die Tür zu setzen, wenn sie Scott noch einmal mit nach Hause brächte. Sie behauptete, bei ihm das »kalte Gruseln« zu kriegen. Ihre andere Wohngenossin, Monica, die Psychologie studierte und sich schon als fertige Therapeutin ausgab, hatte ihn als manisch-depressiv bezeichnet und hinzugefügt, dass Manisch-Depressive gefährlich werden könnten, wenn man sie provozierte. Kim hatte die Analysen der beiden mit einem Schulterzucken abgetan und sie auf Neid und Gehässigkeit zurückgeführt. Aber im Grunde war ihr von Anfang an klar gewesen, dass Scott Probleme hatte. War das nicht sogar der Grund gewesen, warum sie sich so zu ihm hingezogen gefühlt hatte? Weil sie gespürt hatte, dass sie vom selben Schlag waren?

»Scott, nun hör doch mal …« In ihrer Stimme lag ein flehender Unterton.

Kim sah, wie Scotts Wut augenblicklich in Panik umschlug: Seine blassblauen Augen blinzelten rasch, die Arme fielen schlaff herab, die Schultern sackten nach unten, seine Lippen bebten. Er beugte sich vor.

»Du bist so wunderschön, meine wilde, kleine Zigeunerin.« Er hob den Arm, um eine lockige Strähne ihrer langen, schwarzen Haare in die Hand zu nehmen, doch sie wich zurück. Seine Panik verstärkte sich.

»Verlass mich nicht, Kim! Ohne dich bin ich verloren. Ich liebe dich … Du kannst doch jetzt nicht einfach so aufhören, mich zu lieben …« Aus jedem Wort sprach völlige Verzweiflung.

Er tat Kim leid. Sie wollte ihm wahrhaftig nicht wehtun. Sie mochte Scott noch immer. Aber sie war nicht mehr in ihn verliebt. Sie hatte ihm nie gesagt, dass sie ihn liebte. Sie hatte ihm nie Versprechungen gemacht, sich nie zu irgendwas verpflichtet. Sie hatte sogar versucht, ihm begreiflich zu machen, dass sie für eine wirklich ernste Beziehung noch nicht bereit war. Aber der Augenblick war denkbar ungeeignet, ihn daran zu erinnern.

An einem der Tische lachte eine Frau. Dann noch eine. Eine Männerstimme sagte: »Ich versteh den Witz nicht, Ladys. Klärt ihr mich bitte auf?«

Scott nutzte Kims Geistesabwesenheit und ergriff ihre Hand, während sich seine Augen mit Tränen füllten. »Hör mal, ich weiß, ich bin manchmal ganz schön besitzergreifend. Aber ich kann mich doch ändern, Kim. Ich kann dir mehr Freiraum geben. Wir müssen beide noch Hausarbeiten schreiben und dann für die Abschlussprüfungen büffeln. Ich werde dir nicht auf die Pelle rücken, okay? Du kannst machen, was du willst. Aber mach nicht Schluss, Liebes! Bitte nicht!«

Die Frauen lachten noch immer.

»Es klappt einfach nicht mit uns, Scott. Aber wir können Freunde bleiben –« Verflucht, das war genau das Falsche.

Auf seiner breiten Stirn traten die Adern hervor. Seine Kiefernmuskeln zuckten in einem wütenden Spiel. »Ich will nicht dein Scheißfreund sein, Kim«, brüllte er sie an.

Die Frauen hörten schlagartig auf zu lachen.

Eine junge Kellnerin mit kastanienbraunem Haar kam mit einem Tablett vorbei und warf Scott einen Blick zu. Kim erkannte in ihr eine Studentin aus einem gemeinsamen Seminar. Sie war sich sicher, dass die anderen Gäste, fast alle Studenten, ebenfalls den Blick auf sie und Scott gerichtet hatten. Ihr einziger Trost war, dass sie gleich am Eingang und mit dem Rücken zu den übrigen Gästen saß. Dennoch wäre sie am liebsten im Boden versunken. Selbst unter den besten Bedingungen hasste sie es, im Mittelpunkt zu stehen.

Falls es Scott störte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er war einfach zu wütend. Er beugte sich weiter vor, umklammerte die Tischkante so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, und sein Gesicht war die reinste Verzweiflung.

Warum sah er nicht ein, dass es vorbei war?

Sie fühlte sich müde – unendlich müde. Scott tat ihr leid. Er tat ihr leid, weil sie wusste, dass es in seinem Leben sonst niemanden gab, der ihn auffangen konnte. Er hatte irgendwo im Norden von Maine einen älteren Bruder, Thomas, der ihn ab und zu besuchen kam. Aber genau wie Scott war auch Thomas eher ein Einzelgänger. Er wohnte allein in einem kleinen Haus außerhalb von Bangor und arbeitete als Automechaniker, was anscheinend seine einzige Leidenschaft war. Thomas wäre für Scott keine große Stütze.

Scott hatte auch keine Freunde, die ihm über die Trennung hinweghelfen könnten. Er schreckte andere Leute eher ab. Er war zu schroff, zu argwöhnisch, zu unstet. Die Reaktion ihrer Mitbewohnerinnen auf ihn war typisch. Aber er hatte den beiden ja schließlich auch immer nur Geringschätzung entgegengebracht. Genau wie den meisten anderen Leuten.

Kim hatte ihn angelogen, als sie sagte, sie könnten weiter Freunde bleiben. Sie wusste, dass das nicht klappen würde. Auch sie war eine Einzelgängerin. Auch sie hatte keine richtigen Freunde. Schon gar nicht ihre Mitbewohnerinnen – Pauline, eine magersüchtige, zickige, verwöhnte Brünette aus Pasadena in Kalifornien und Monica, eine reservierte, versnobte Blondine aus dem piekfeinen Central Park West in Manhattan. Die Einzige, die Kim als Freundin bezeichnen würde, war Laurel Geller. Aber diese Freundschaft basierte darauf, dass Kim Laurels Studienbetreuerin war. Trotzdem, sie hatten sich auch außerhalb der Uni ein wenig angefreundet. Alle paar Wochen gingen sie zusammen ins Kino und hin und wieder mal etwas essen. Zugegeben, Laurel war meistens diejenige, die die Unterhaltung bestritt, und es störte sie anscheinend auch nicht, dass Kim nur selten etwas Persönliches von sich erzählte. Laurel brauchte jemanden, der ihr zuhörte, und Kim konnte gut zuhören.

Aber jetzt hatte Kim keine Lust mehr, zuzuhören. Es würde an ihrer Entscheidung ohnehin nichts ändern, sondern Scott nur noch mehr in Rage bringen, wo er doch jetzt schon kurz davor war, völlig die Beherrschung zu verlieren.

Sie griff nach unten und wollte ihren Rucksack nehmen.

»Ich muss los, Scott. Wir können ja nochmal miteinander reden, wenn du dich beruhigt hast …« Er langte über den Tisch und packte ihren Arm, stieß dabei seine Kaffeetasse um. Sie rollte über den Tisch, und die wenigen Tropfen, die noch darin waren, spritzten auf die graue Resopalplatte wie braune Tränen.

»Ich weiß, wer es ist. Dieser Nate! Der Scheißkerl, der dich jeden verdammten Tag aus New York anruft. Denkst du, ich weiß nicht Bescheid über ihn?«

Obwohl Scott ihren Oberarm so fest umklammert hielt, dass es beinahe wehtat, hätte sie fast gelacht. »Ich weiß, dass du nicht über ihn Bescheid weißt.«

»Liebst du ihn, Kim?« Endlich mal eine Frage.

Liebte sie Nate? Ja, sie liebte ihn auf eine gewisse Weise. Er war der erste Mann, den sie je geliebt hatte. Er war auf jeden Fall der einzige Mann, dem sie je vertraut hatte. Wahrscheinlich der einzige Mann, dem sie je voll und ganz vertrauen würde.

Doch Nate Shapiro hatte nichts mit ihr und Scott Roeder zu tun. Das hatte sie Scott schon mehr als einmal erklärt. Was ihn aber nicht davon abgehalten hatte, sie weiterhin mit Fragen nach diesem geheimnisvollen Mann in ihrem Leben zu bestürmen. Einmal hatte er sogar damit gedroht, ihn in Brooklyn aufzuspüren, um ihn sich vorzuknöpfen.

Er hatte seine Drohung nicht wahr gemacht.

»Scott, ich geh jetzt.« Sie riss sich los, nahm ihren Rucksack vom Boden und stand auf, froh, so nah an der Tür zu sein, dass sie schnell verschwinden konnte.

Er folgte ihr nicht, wie sie befürchtet hatte. Nein, er rührte sich nicht von der Stelle, bis sie die schwere Glastür aufdrückte.

»Wenn du mich verlässt, Kim, wirst du es bereuen. Für den Rest deines Lebens. Das schwör ich dir!«

Sie warf ihm einen Blick zu. Ich bereue schon so vieles, Scott. Da macht das hier nun weiß Gott auch nichts mehr aus.

Aber da täuschte sie sich. Da täuschte sie sich gewaltig.

1

Wo blieb er nur? Er hatte versprochen, um neun da zu sein, spätestens um halb zehn. Jetzt war es fast elf. Sie war seit Viertel vor neun da. Für den Fall, dass er früher kam. Sie hatte schon ihr drittes Sodawasser mit Limone vor sich, aber noch keinen Schluck davon getrunken.

Sie traf sich nur ungern wieder hier mit ihm. Eine Bar war weiß Gott kein Ort, an dem sie gern ihre Zeit verbrachte. Und das Lucky McGill’s in Madisonville, einem trostlosen Kaff dreißig Meilen nördlich von Danby, das von einer längst stillgelegten Papierfabrik beherrscht wurde, war besonders heruntergekommen. Es erinnerte sie zu sehr an Zeiten, die sie vergessen wollte.

Kim saß an einem kleinen, verkratzten Tisch in der Nähe eines Fensters, dessen Scheiben so schmutzig waren, dass die Ampel draußen nur ein verwischter Farbfleck war. Die Reihe von Kugellampen, die sich über die ganze Länge des schmalen Lokals erstreckte, warf ein diffuses und trübes Licht. Kim hob das Glas an die Lippen und atmete den Limonengeruch ein, in der Hoffnung, dass er den Gestank von billigem Fusel, Zigaretten und verbrauchter Luft überdecken würde.

Wieder ertönte von hinten im Raum eine leiernde Countrymusic-Ballade. Schon die ganze Zeit, die Kim an ihrem Tisch saß, fütterte ein müde aussehendes, Bier trinkendes Pärchen mittleren Alters die Jukebox mit Münzen, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln. Wahrscheinlich hatten die beiden schon lange vor Kims Ankunft damit begonnen.

Die näselnde Stimme der Sängerin unterstrich den blechernen Ton aus dem antiquierten Fernseher über der Bar, in dem ein Spiel der Red Sox übertragen wurde. Es war ein Farbfernseher, der aber alles in Grün zeigte und einen lausigen Empfang hatte, was die begeisterten Zuschauer an der Theke, in der Mehrzahl Männer, etliche davon mit einem dicken Hintern, der über den Hocker hing, jedoch nicht störte. Alle Augen waren gebannt auf den grünen Bildschirm gerichtet.

Kim war froh über das Spiel. Als sie das letzte Mal hier war und warten musste, hatte ein Typ versucht, sie anzubaggern. Er fing damit an, dass er ihr einen Drink spendieren wollte.

Es war fast vier Jahre her, seit sie zuletzt Alkohol getrunken hatte. Es wären fünf Jahre gewesen, ohne den Ausrutscher im ersten Semester. Bei der Bewerbung für die Studentenvereinigung Sigma Delta. Ein großer Fehler. In vielerlei Hinsicht. Ein alberner Versuch, sich anzupassen. Nur um dazuzugehören. Aber wem wollte sie was vormachen? Es hatte sie schließlich niemand gezwungen, sich unter den Tisch zu saufen. Sie hatte es sich selbst zuzuschreiben.

Sie bezweifelte, dass sie überhaupt aufgenommen worden wäre. Aber sie hatte ihnen erst gar nicht die Gelegenheit gegeben, sie abzulehnen. Als ihr höllischer Kater am nächsten Tag so weit abgeflaut war, dass sie es wagen konnte, den Kopf wieder aus der Kloschüssel zu heben, zog sie ihre Bewerbung zurück.

Ironischerweise war ihr Schützling Laurel Geller Mitglied der Vereinigung. Kim hatte ihr nie erzählt, dass sie sich mal dort beworben hatte. Aber sie hatte ihr oder sonst wem an der Uni ohnehin nicht viel von sich erzählt. Das galt auch für Scott.

Sie sah auf die Uhr. Zehn nach elf. Sie überlegte, ihn anzurufen. Wo sie doch schon mal bei großen Fehlern war.

Das Baseballspiel stand kurz vor der Entscheidung. Die Yankees hatten so gut wie gewonnen. Was den Gästen an der Theke, allesamt Red-Fox-Fans, auf die Stimmung schlug. Sie beschloss zu gehen, sobald das Spiel zu Ende war. Zum Teufel mit Joe.

Aber das hieße natürlich auch: Zum Teufel mit ihrem Rendezvous. Sie hatten vorgehabt, sich hier im Lucky’s zu treffen, wie schon in der Woche zuvor, und dann zu dem unauffälligen Motel fahren, das ein paar Meilen entfernt an der Route 203 lag. Sie hätte ja im Motel auf ihn gewartet, aber als sie das zum ersten Mal gemacht hatte – war das wirklich erst zwei Wochen her? –, hatte ein einsamer Trucker, der ebenfalls dort abgestiegen war, sie allein in das Zimmer gehen sehen, und versucht, sich an sie ranzumachen. Joe hatte sich nur zwanzig Minuten verspätet – eine Fakultätssitzung hatte länger gedauert als erwartet –, doch als er kam, war sie bereits ein nervliches Wrack, weil sie sich den Trucker hatte vom Leib halten müssen. Joe hatte gedacht, ihre schlechte Stimmung hinge mit seiner »Situation« zusammen, womit er seine Ehe meinte. Kim hatte seine »Situation« von sich aus nie zur Sprache gebracht. Joe dagegen hatte ihr in all den Monaten, in denen sie sich nun schon trafen, immer wieder eingeredet, dass seine Ehe praktisch am Ende war. Er warte nur noch darauf, dass seine Tochter aufs College ging. Sie wäre im Juni mit der High School fertig. Mitte August würde sie dann nach Princeton gehen.

Als Joe ihr das erste Mal beteuerte, dass er seine Frau verlassen würde, hatte Kim ihm einen Blick zugeworfen, der ihm laut und deutlich zu verstehen gab, was sie von solchen Sprüchen hielt. Aber er versicherte es ihr immer wieder, als würde sie ihm endlich glauben, wenn er es nur oft genug wiederholte.

Sie war noch immer nicht ganz überzeugt. Sie wusste auch, dass es ziemlich unklug war, sich mit ihrem verheirateten Englischprofessor einzulassen. Dabei war Kimberley Burke doch eigentlich ausgesprochen klug. Immerhin hatte sie ein Vollstipendium fürs Currier ergattert, eines der exklusivsten und besten Colleges im Land. Und immerhin hatte sie gute Aussichten auf einen Abschluss mit Auszeichnung. Nicht schlecht dafür, dass sie mal die High School abgebrochen hatte, mit vierzehn von zu Hause ausgerissen war und auf den Straßen von Brooklyn alles getan hatte, was man tun musste, um irgendwie zu überleben. Von dort war es ein langer, beschwerlicher Weg gewesen, bis sie dann mit siebzehn wieder zurück auf die High School gegangen war und mit zwanzig am Currier angefangen hatte. Aber sie hatte die verlorene Zeit mit Riesenschritten wieder wettgemacht.

Doch was Männer betraf, hörte Kims Klugheit leider auf. Das beste Beispiel war Scott Roeder. Es gab noch andere Beispiele, aber an die dachte sie lieber nicht. An Scott wollte sie eigentlich auch nicht denken. Obwohl die Trennung am Vorabend für sie beide aufwühlend gewesen war, konnte sie nicht leugnen, dass sie sich erleichtert fühlte. Jetzt, wo sie sich endlich auf Joe eingelassen hatte, brachte sie es nicht mehr fertig, Scott hinzuhalten.

Kim hatte sich, schon lange bevor sie sein Seminar über zeitgenössische britische Literatur besuchte, zu Joseph Sanger hingezogen gefühlt. Im letzten Semester hatte sie bei ihm eine Stelle als studentische Hilfskraft gehabt und den hochintelligenten, dynamischen, selbstsicheren Professor auf Anhieb attraktiv gefunden. Natürlich war er der klassische ältere Mann – achtunddreißig, behauptete er, aber Kim vermutete, dass er die Vierzig schon überschritten hatte. Trotzdem, für eine Vierundzwanzigjährige war das nicht ausgeschlossen. Er war noch nicht alt genug, um eine Vaterfigur abzugeben. Er war nur alt genug, um mehr Lebensweisheit zu haben.

Eine Lebensweisheit, die sich in vielem zeigte, nicht jedoch – und das wussten sie beide – in ihrer Beziehung, aus der inzwischen eine heftige erotische Affäre geworden war.

Aber es war nicht nur das Körperliche, das sie zu Sanger hinzog. Und sie wollte glauben, dass auch seine Gefühle nicht nur auf dem einen beruhten. Er hatte sich jedenfalls große Mühe gegeben, sie davon zu überzeugen, dass er es ernst meinte.

Sie fragte sich, wie er reagieren würde, wenn sie ihm heute Abend erzählte, dass sie mit Scott Schluss gemacht hatte. Joe wusste von ihrer Beziehung zu Scott. Allerdings hatte er sie nie gebeten, die Sache zu beenden. Nicht einmal, nachdem sie vor zwei Wochen endlich mit Joe im Bett gelandet war und er ihr seine Liebe beteuert hatte. Vielleicht dachte er, er könne keine Forderungen an sie stellen, solange er noch mit seiner Frau unter einem Dach lebte.

Ob er sich darüber freuen würde, dass mit Scott Schluss war? Oder würde er sich unter Druck gesetzt fühlen, seine »Situation« bald zu ändern?

Kim wusste, dass Joe nicht nur seine »Situation« zu Hause Kopfschmerzen bereitete. Er hatte gute Aussichten auf einen Lehrstuhl. Wenn bekannt würde, dass er mit einer Studentin schlief …

Aber sie war ja nur noch sechs Wochen lang eine Studentin. Sobald sie ihr Examen in der Tasche hatte, könnte sie als Dozentin am College anfangen. Sie könnte in Danby bleiben. Sie und Joe würden sich bis zum Herbst weiterhin heimlich treffen müssen. Bis er seine Frau verlassen hätte. Aber dann …

Kim lächelte in sich hinein. Noch bis vor zwei Wochen, als endlich das passiert war, wonach sie sich monatelang gesehnt hatte, hatte sie keinen größeren Wunsch gehabt, als rauszukommen aus diesem langweiligen Kaff, sobald sie ihren Bachelor in der Tasche hatte. Sie wollte wieder zurück nach Brooklyn. Vielleicht ein paar Jahre als Sozialarbeiterin arbeiten, dann ihren Master in Gesundheitswissenschaften machen oder vielleicht auch Jura studieren. Sie hatte Träume, Ziele, Pläne. Wer hätte das gedacht? Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte sie nichts Weiteres als ihren nackten Überlebenswillen.

Ihr Handy klingelte. Sie klappte es auf, nahm an, dass es Joe war. Doch dann sah sie die New Yorker Nummer im Display.

2

»Hallo Nate.«

»He, wo steckst du? Du warst nicht zu Hause.«

»Ich komm gerade aus dem Kino.« Kim spürte einen leichten schuldbewussten Stich. Sie log Nate nicht gern an.

»Ein Rendezvous, was?«

»Ich bin allein.« Was auch stimmte, leider.

»Klingt einsam.«

Nate wusste, wovon er sprach. Mit diesem speziellen Zustand kannte er sich bestens aus.

»Es gibt Schlimmeres.« In der Hinsicht war wiederum Kim die Expertin.

»Was ist aus deinem letzten Typen geworden?« Er bemühte sich, beiläufig zu klingen.

Sie hatte Nate nicht viel von Scott erzählt. Erst recht nichts über sein psychisches Befinden.

»Wir haben uns getrennt«, sagte sie so beiläufig wie möglich.

»Keinen Neuen?«

Sie schmunzelte. In letzter Zeit fragte Nate häufiger nach ihrem Leben. »Lass gut sein, Nate.« Sie wusste, mehr musste sie nicht sagen.

»Was hast du dir denn angesehen?«

»Wie?«

»Welchen Film, Kim?«

Darüber hatte sie natürlich nicht nachgedacht. Und ihr kurzes Zögern würde Nate genügen, um zu wissen, dass sie log. Also konnte sie es sich sparen.

»Ich war nicht im Kino.«

Er lachte leise. »Also doch ein Neuer.«

Ihr Blick huschte zur Eingangstür. »Hoffentlich«, gab sie zu.

In diesem Moment brachen die schon schwer angetrunkenen Red-Sox-Fans an der Theke in wilden Applaus und Freudengeheul aus. Ihre Mannschaft hatte das Ruder im letzten Moment doch noch herumgerissen. Kim drückte die Hand auf das Handy, um den Lärm zu dämpfen. Doch so viele Unzulänglichkeiten Nate auch haben mochte, sein Gehör funktionierte tadellos.

»Mach verdammt nochmal, dass du da rauskommst, Kim.« Nates Stimme, die bis jetzt herzlich und liebevoll geklungen hatte, war auf einmal ein dunkles Knurren. Er musste gar nicht genau wissen, wo sie war. Dafür kannte er Kim einfach lange und gut genug.

»Mir geht’s gut, Nate.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, als sie Joe Sanger hereinkommen sah, und sofort ging es ihr wirklich gut. »Ich muss jetzt auflegen. Bis bald.«

Wieder meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie hätte Nate fragen sollen, wie es ihm ging, bevor sie hastig auflegte. Er hätte ihr zwar bestimmt keine ehrliche Antwort gegeben. Doch allein die Frage hätte ihm gutgetan.

Ihre Gewissensbisse waren schnell vergessen, als Joe auf ihren Tisch zukam. Er trug eine anthrazitfarbene Hose, ein blassblaues Hemd und ein hellgraues Leinenjackett – alles perfekt zugeschnitten auf seine schlanke, muskulöse Figur. Kim hatte noch keinen Mann gekannt, der so viel Wert auf Garderobe legte. Er gab bestimmt ein Vermögen für seine Kleidung aus. Alles war vom Feinsten und saß wie angegossen. Aber auch sonst gab er sich viel Mühe mit seinem Äußeren. Sein hellbraunes Haar saß stets in einem perfekten Schnitt. Außerdem ging er regelmäßig ins Fitnessstudio, trank selten Hochprozentiges und achtete streng auf Kohlenhydrate.

Während er auf sie zukam, fiel Kim als Erstes auf, dass an seinem Hemd ein Knopf mehr offen stand als sonst. Als er näher kam, sah sie, dass der Knopf fehlte. Bei jedem anderen Mann hätte sie nicht weiter darüber nachgedacht. Aber für Joe war ein Hemd mit einem fehlenden Knopf ebenso untragbar wie ein Anzug von der Stange …

Und der fehlende Knopf war nicht alles. Kim entdeckte einen kleinen Riss an der Brusttasche seines Leinenjacketts.

Ihre Verärgerung über seine Verspätung schlug sogleich in Besorgnis um. Als sie den Mund öffnete, um ihn zu fragen, was passiert sei, hob er eine Hand, um sie zu bremsen.

3

Joe ließ sich auf den Holzstuhl gegenüber von Kim fallen und griff geistesabwesend nach ihrem Glas. Ein Schluck von ihrem Wasser und er verzog das Gesicht.

»Hol mir bitte einen Whiskey. Einen doppelten.«

Aus der Nähe sah sie jetzt rote Flecken auf seiner rechten Wange. Und das rechte Auge verfärbte sich langsam dunkel. Vielleicht war er überfallen worden … Das würde jedenfalls erklären, warum er so spät kam. Und so außer sich war. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihm.

»Joe, du bist verletzt. Was ist denn passiert?«

»Ist es zu viel verlangt, mir einen Whiskey zu holen?«, zischte er und strich sich das Haar nach hinten.

Sein scharfer Tonfall machte Kim einen Moment lang sprachlos. Nicht, dass er nicht manchmal barsch, kurz angebunden und herrisch zu ihr – zu jedem – sein konnte. Kim wusste, dass er bei vielen seiner Kollegen und Studenten als arrogant und überheblich galt. Aber Kim hatte auch häufig eine andere Seite von Joe Sanger erlebt – seine charmante, aufmerksame, zärtliche Seite. Diese Eigenschaften hatten letztlich ihr Herz erobert. Seit sie miteinander schliefen, hatte sie ihn immer nur zärtlich und einfühlsam erlebt. Bis jetzt.

Er hatte die Augen geschlossen, und sie sah, wie angespannt seine Gesichtszüge waren. Irgendwas Schlimmes war passiert. Er war furchtbar aufgebracht, ganz eindeutig. Vielleicht würde er ihr erzählen, was los war, wenn der Whiskey ihn wieder beruhigt hatte.

Sie ging schnell zur Theke, wo alle, einschließlich des Barkeepers, noch immer gebannt das Spiel im Fernsehen verfolgten. Kim musste ihre Bestellung schreien, um sich Gehör zu verschaffen. Sichtlich ungehalten über die Störung, füllte der Barkeeper ein Whiskeyglas, ohne zu fragen, ob sie Eis oder Wasser oder sonst etwas wolle. Sie fischte einen Zehndollarschein aus ihrem Portemonnaie, Geld, das sie eigentlich nicht entbehren konnte, und knallte ihn auf die Theke.

Kaum war sie zum Tisch zurückgekehrt, da riss Joe ihr das Glas auch schon aus der Hand. Er kippte den Whiskey herunter, bevor sie wieder Platz genommen hatte.

Er hielt sich an dem leeren Glas fest und starrte hinein, als läge die Antwort auf Kims Frage dort verborgen. »Meg hat einen Tobsuchtsanfall gekriegt, als ich ihr erzählt habe, ich müsste nach dem Essen noch einmal in die Fakultät. Sie war schon davor in mieser Stimmung, weil ich erst nach acht nach Hause gekommen bin. Dann war sie sauer, weil ich das Abendessen in mich reingeschlungen habe, für das sie angeblich stundenlang in der Küche gestanden hat. Aber richtig ausgeflippt ist sie, als ich gesagt habe, ich müsste nochmal ins Büro, um was Dringendes zu erledigen. Sie hat mir vorgeworfen, ich würde lügen, ich würde mich in Wirklichkeit mit einer anderen Frau treffen wollen.« Er sagte das ohne einen Anflug von Ironie in der Stimme.

»Dann hat sie also den Verdacht, dass wir was miteinander haben?« Insgeheim spürte Kim eine Welle der Erleichterung. Vielleicht würde Megs Wutanfall ja endlich eine Entscheidung herbeiführen. Vielleicht würde Meg Joe verlassen. Ihn freigeben. Vielleicht blieb es Kim ja erspart, sich monatelang nur heimlich mit ihm treffen zu können, bis er endlich frei war.

»Nein, natürlich weiß sie nicht, dass wir uns treffen. Diese Frau ist doch paranoid.«

»Paranoid?«

Joe rang sich ein kleines Lächeln ab, doch dann wurde seine Miene wieder todernst. »Glaub mir, Kim, ich bin sehr vorsichtig. Meg hat mir schon immer Affären unterstellt, auch wenn da nichts dran war.«

Die Bemerkung versetzte Kim einen Stich. Natürlich hatte sie während ihrer Zeit am Currier die Gerüchte über den »scharfen, sexy« Professor gehört, der mit hübschen Studentinnen rummachte. Das war einer der Gründe, warum sie Sanger so lange auf Abstand gehalten hatte. Als sie ihn schließlich deswegen zur Rede stellte, hatte er zu ihrer Überraschung nichts abgestritten. Er habe ein paar Dummheiten begangen, gab er zu, aber eben nur ein paar. Und er schwor, dass diese Fehltritte Jahre zurücklagen. Als es in seiner Ehe anfing zu kriseln. Und es waren immer nur ganz kurze Affären gewesen. Bei dir ist es was ganz anderes, Kim. Du bedeutest mir etwas. Du bist mir wichtig. Wir haben eine gemeinsame Zukunft. Sonst würde ich das doch niemals riskieren.

Und er riskierte wirklich etwas. Bis zu einem bestimmten Punkt. Deshalb waren sie in dieser entlegenen Bar und würden von hier in ein ebenso entlegenes Motel fahren, wo die Wahrscheinlichkeit gering war, dass sie Kollegen, Studenten oder sonst wem begegnen würden, der sie kannte.

Kim griff über den Tisch und legte sanft eine Hand an seine gerötete Wange. »Sie hat dich geschlagen?«

»Das ist Wahnsinn. Sie ist völlig ausgerastet. Hat auf mich eingeschlagen und rumgebrüllt. Gott sei Dank war Ali nicht da.«

Ali – Joes siebzehnjährige Tochter, die nach Princeton gehen würde. Sie war Joes einziges Kind, und Kim wusste, dass sie sein Ein und Alles war. Kim kannte sie aus der Zeit, als sie bei Joe die Hilfskraftstelle gehabt hatte. Ali besuchte ihren Vater ab und zu im Büro, hatte Kim aber kaum eines Blickes gewürdigt. Kim nahm das persönlich, bis Joe ihr erzählte, dass seine Tochter auf fast alle Menschen so reagierte, außer auf ihn. Er gab ihrer Mutter die Schuld für ihr mürrisches Wesen und für ihr Misstrauen anderen gegenüber. Wie die Mutter, so die Tochter, sagte er mit Bedauern.

Eigentlich konnte Kim die Siebzehnjährige gut verstehen. In dem Alter war auch Kim ähnlich mürrisch und ablehnend gewesen. Später dann wurde sie schon etwas verträglicher, nicht mehr ganz so zickig und kantig. Und das auch nur, weil Nate Shapiro seit fast zwei Jahren an ihr herumgeschliffen hatte, fest entschlossen, sie geschmeidiger zu machen. Sie konnte noch so bocken, ihn noch so oft zurückstoßen oder verfluchen – wie sie jeden auf dieser gottverdammten hässlichen Welt verfluchte –, Nate blieb am Ball. Er bestand jeden Test, dem sie ihn unterzog. Bis heute hatte sie eigentlich nicht begriffen, warum er durchgehalten hatte. Sie war nur dankbar, dass er es getan hatte.

Kims Blick fiel auf das lädierte Gesicht ihres Geliebten. Würde Joe Sanger durchhalten? Würde er Meg wirklich verlassen, wenn Ali aufs College ging? Würden sie wirklich zusammen sein? Hatten sie eine gemeinsame Zukunft?

Oder hatte Joe bloß eine uralte Masche abgezogen, um sie ins Bett zu kriegen?

Sie fröstelte, spürte schon allein bei dem Gedanken daran, wie ihr das Herz brach.

Aber Joe merkte offenbar nichts.

»Ich dachte schon, ich komm gar nicht mehr weg«, knurrte er und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich hab zwei Stunden gebraucht, um sie zur Vernunft zu bringen.« Er sah auf seine Uhr. »Ich hab gesagt, ich bin um Mitternacht zurück.«

Es war jetzt zwanzig nach elf. Wenn sie sofort losfuhren, wären sie um halb zwölf im Motel. Fünfunddreißig Minuten brauchte man bis Danby, wenn man schnell fuhr. Er würde selbst dann zu spät kommen, wenn sie gar nicht erst aus dem Auto stiegen.

»Es tut mir leid, Kim. Ich …«

»Du musst mir nichts erklären, Joe.« Sie klammerte sich an seine Entschuldigung, die ihr vorläufig Halt geben würde.

Er beäugte sein leeres Glas. »Ich denke, wir haben noch Zeit für einen schnellen Drink.«

»Ich glaube, ich geh besser«, sagte Kim, weil sie merkte, dass sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Lust auf etwas Hochprozentiges hatte. Nate hatte recht. Sie musste hier raus.

»Warte. Klar, du willst ja keinen Drink.« Er wusste, dass sie niemals trank. Er fragte nie nach dem Grund. Auch das mochte sie an Joe. Er drängte sie nie, ihm von sich zu erzählen, von ihrer Vergangenheit. Was natürlich auch bedeuten konnte, dass es ihn nicht sonderlich interessierte …

»Und ich trinke besser auch nichts mehr.« Joe erhob sich.

»Komm schon, ich bring dich zu deinem Wagen.«

Wieder brach an der Theke Jubel aus. Die Sox hatten doch noch gewonnen.

Jetzt hatte Kim, ein eingefleischter Yankee-Fan, gar nichts mehr, worüber sie frohlocken konnte.

4

Es regnete, als sie aus der Bar traten. Joe nahm Kims Hand, und sie sprinteten zu ihrem klapprigen Honda Civic. Joe öffnete für sie die Fahrertür. Als sie sich hinters Lenkrad schob, schluckte Kim ihre Enttäuschung herunter, denn es sah ganz nach Abschied aus. Doch dann lief Joe auf die andere Seite und stieg neben ihr ein. Vielleicht würden sie ja doch noch ins Motel fahren. Als er sie an sich zog und leidenschaftlich küsste, versuchte sie, den Whiskey in seinem Atem zu ignorieren.

»Gott, wie ich dich liebe, Kim. Ich wünschte …«

»Ja, ich auch«, murmelte sie.

Er vergrub das Gesicht in ihrem feuchten Haar. Die wenigen Augenblicke im Regen hatten genügt, um ihre Lockenpracht in ein wildes Gewirr zu verwandeln. »Ich bin so froh, dass ich dich habe, Darling«, wisperte er. »Und es wird bald besser, das schwöre ich.«

Sie küssten sich erneut, und Kim spürte die Verheißung in seiner wilden Umarmung.

Sein Atem wurde lauter, als er seine Hand unter den Bund ihrer Jeans schob. Sie bremste ihn, bevor er den Reißverschluss öffnen konnte.

»Nicht hier, Joe.« Im Auto kam es ihr noch schmuddeliger vor als in einem Motel. Es weckte quälende Erinnerungen an andere Zeiten, andere Orte, andere Fehler.

Er seufzte schwer, nahm aber seine Hand weg und umfasste sanft ihr Gesicht. »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertrage. Sie hat schon öfter eine Szene gemacht, aber jetzt ist sie zum ersten Mal handgreiflich geworden.«

»Du hast doch nicht zurückgeschlagen, oder?«

Seine Hände lösten sich abrupt von Kims Gesicht. Er blickte gekränkt. Entsetzt. Wütend. »Herrje, wofür hältst du mich? Natürlich hab ich nicht zurückgeschlagen. Ich habe noch nie eine Frau geschlagen. Und ich werde erst recht nicht bei der Mutter meines Kindes damit anfangen.«

Kim schämte sich. Sie hatte es nicht nur für möglich gehalten, dass er seine Frau geschlagen haben könnte, zumal er provoziert worden war, nein, es hätte sie nicht mal besonders überrascht. Männer schlugen Frauen. Das war die harte Wirklichkeit. Zumindest ihre Wirklichkeit. Sie musste an die zahlreichen Schläge und schlimmeren Misshandlungen denken, die ihr von Männern zugefügt worden waren, bis sie kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag von einem Ritter in glänzender Rüstung gerettet wurde. Die Rüstung ihres Ritters war allerdings schon ein wenig angelaufen – ein übergewichtiger, überarbeiteter, unterschätzter achtundvierzig Jahre alter Detective von der Sitte in einem ausgebeulten grauen Jackett mit Ketchupflecken auf der blauen Krawatte. Und er brachte sie auch nicht auf seinem weißen Ross zu einem märchenhaften Palast, sondern mit Blaulicht und Sirene in seinem Polizeiwagen zur Jugendstrafanstalt, einem heruntergekommenen Gebäude in Borough Park, Brooklyn. Sie war vorher schon einmal dort gewesen. Für zehn Tage. Diesmal waren es nur drei. Am Morgen des vierten Tages wurde sie dem Richter vorgeführt. Es war keine Überraschung für Kim, dass der Beamte, der sie festgenommen hatte, bei der Anhörung dabei war. Was sie allerdings sehr wohl überraschte – ja, regelrecht umhaute –, war, dass der Cop die zweihundert Dollar für ihre Freilassung lockermachte. Anschließend unterhielten er und der Richter sich unter vier Augen und trafen eine Vereinbarung.

An diesem Tag verließ Kimberley Burke das Gericht in der Obhut von Nathan Jerome – Nate – Shapiro. An diesem Tag änderte sich ihr Leben von Grund auf.

»Ich muss jetzt los.« Joes Hand war bereits am Türgriff, und er drückte die Tür so weit auf, dass das Deckenlicht anging. Er war etwas einsilbig, und Kim bereute zutiefst, dass sie ihn praktisch bezichtigt hatte, seine Frau zu schlagen.

»Ich habe gestern Abend mit Scott Schluss gemacht«, platzte sie heraus, ohne recht zu wissen, warum. Vielleicht um Joe zu zeigen, wie wichtig er ihr war.

»Wieso denn das?«

Das war weiß Gott nicht die Antwort, die sie sich erhofft hatte.

Im dämmrigen Licht der Innenbeleuchtung hatte Joe ihr die Enttäuschung wohl angesehen. Seine Miene wurde sanfter. Er lächelte. »Ich bin froh, Kim. Der Typ war ein Spinner.«

Kim lächelte ebenfalls. »Das denken anscheinend alle.«

»Wie hat er es verkraftet?«

»Nicht gut. Aber er kommt schon drüber weg.«

Joe drückte ihr einen leichten Kuss auf die Lippen. »Ich kann’s ihm nicht verdenken, Darling. Wenn du mich abservieren würdest, würde ich das auch nicht so einfach wegstecken. Und ich bezweifle, dass ich drüber wegkommen würde.«

Kim nahm seine Hand und drückte die Fingerrücken an ihre Lippen. Sie schmeckten etwas salzig. Ein Geschmack, den sie sofort erkannte. Blut.

Sie sah auf seine Finger. An einem Knöchel war die Haut aufgeplatzt. Das Blut war noch nicht ganz getrocknet …

5

Vor einiger Zeit waren Dutzende von zwei- und dreigeschossigen Gebäuden in unmittelbarer Campusnähe in Studentenwohnungen umgebaut worden, viele davon alte Mühlen und Farmhäuser und sogar einige schmucke viktorianische Häuser auf dem Cliffwood Hill mit Blick aufs College. Ein dreigeschossiges Haus bot bequem Platz für sechs bis acht Wohnungen, die wiederum je drei bis fünf Studenten beherbergen konnten. Aufgrund der hohen Nachfrage verdienten Vermieter ein Vermögen, denn die Studenten zahlten für ein winziges Zimmer zwischen vierhundert und sechshundert Dollar – wobei sie von Glück sagen konnten, wenn sie überhaupt ein eigenes Zimmer bekamen. Da die Nachfrage das Angebot weit überstieg, erlaubten es sich diese Halsabschneider noch dazu, auf notwendige Instandsetzungsarbeiten in ihren Häusern zu verzichten.

Defekte, hoffnungslos veraltete Elektroleitungen in Kims vorheriger Wohnung hatten an einem kalten Winterabend, als sie mit Scott Roeder ausgegangen war, einen Brand ausgelöst. Zum Glück waren ihre drei Mitbewohnerinnen an dem Abend ebenfalls nicht zu Hause gewesen, und die Feuerwehr, die gleich um die Ecke war, hatte den Brand rasch löschen können. Aber die Wohnung war unbewohnbar geworden, sodass Kim und die drei anderen Frauen kein Dach mehr über dem Kopf hatten. Während ihre Wohngenossinnen, die eng befreundet waren, rasch eine neue Bleibe fanden, zog Kim vorübergehend zu Scott, doch der wohnte schon mit einem anderen Studenten zusammen, und zu dritt war es auf Dauer einfach zu eng.

Kurzfristig etwas Neues zu finden, zumal das neue Semester gerade begonnen hatte, gestaltete sich schwierig. Doch Kim hatte Glück – dank Joe Sanger. Er gab ihr den Tipp, sich an Monica Meyers zu wenden, die ebenfalls sein Seminar über zeitgenössische britische Literatur besuchte.

Monica reagierte zunächst ablehnend, da auch sie nicht allein wohnte, schlug aber schließlich ein Treffen mit ihrer Mitbewohnerin Pauline Foley vor. Als sie Kim ihre Adresse auf dem Cliffwood Hill nannte, bekam Kim plötzlich Bedenken.

Doch schließlich obsiegte die Notwendigkeit, und sie stimmte zu.

Das gemeinsame Gespräch erwies sich allerdings als regelrechtes Verhör. Pauline, klein und mit üppigen Formen, langen dunkelbraunen Haaren und einem niedlichen Gesicht mit Schmollmund, bombardierte Kim mit indiskreten Fragen, noch ehe die sich den Mantel ausziehen konnte. Sie und Monica wussten offenbar, dass Kim mit Hilfe eines Stipendiums studierte, denn Pauline ließ einige Male durchblicken, was Kim doch für ein Glück habe, das exklusive, teure College kostenlos besuchen zu dürfen. Als ob Pauline selbst, und nicht ihre Eltern, die horrenden Studiengebühren aufbrachte.

Monica, groß, sehr schlank, mit einer perfekt geraden Nase, Porzellanhaut und dünnen, zarten Lippen, die auf Kim eher edel als hübsch wirkte, tat so, als bekäme sie nicht mit, wie ihre aufdringliche Mitbewohnerin Kim in die Mangel nahm. Monicas herablassende Art reizte Kim noch mehr als Paulines unverschämte Fragen.

Als Pauline eine lange Reihe von Pflichten und Verboten auflistete, die nicht nur unzumutbar, sondern geradezu grotesk waren, wäre Kim jede Wette eingegangen, dass die Regeln nicht für die beiden galten. Sie saß in einer Zwickmühle. Sie brauchte ein Zimmer, und auf die Schnelle würde sie nichts anderes finden. Schließlich schaltete Monica sich doch ein und wies Pauline zurecht. Bis heute wusste Kim nicht, warum. Und sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass die beiden tatsächlich das Geld für die Miete benötigten. Man musste sich nur mal in der Wohnung umsehen, um zu wissen, dass Geld keine Rolle spielte.

Gemessen an den Maßstäben des Studentenlebens wohnten Pauline und Monica in einem Palast. Das zweigeschossige, grau gestrichene, ehemalige viktorianische Herrenhaus mit Ornamenten war erst kürzlich in der Mitte geteilt und in zwei geräumige Wohnungen mit je zwei Etagen verwandelt worden. Die Studentinnen lebten in der linken Wohnung, die aus einer langen Diele, einer Küche mit Essecke und Spülmaschine, einem Duschbad im ersten Stock, einem großen, luftigen Wohnzimmer mit Kamin, einem makellosen Berberteppichboden und einer edel-lässigen Einrichtung bestand, die eindeutig eher edel als lässig war. Ein gemütliches Sofa mit weißem Bezug und zwei Chintzsessel um einen quadratischen Couchtisch herum waren so arrangiert, dass sie Blick auf den Kamin und die Schrankwand boten, in welcher der Fernseher und die Stereoanlage untergebracht waren. Von dem großen Panoramafenster aus waren Cliffwood und der malerische Uhrenturm des College zu sehen. Rechterhand befand sich ein Erker, der einmal Teil des Wohnzimmers gewesen sein musste. Er war mit einer Wand abgetrennt und in einen separaten Raum verwandelt worden. Oben befanden sich zwei große Zimmer und ein Bad mit Dusche und Wanne. Pauline und Monica hatten die Zimmer oben. Sie zeigten sie Kim erst gar nicht. Der Erkerraum sollte Kims Zimmer werden. Falls, wie Pauline rasch hinzufügte, sie ihn überhaupt haben wollte.

Im Vergleich zu der ansonsten schön eingerichteten Wohnung diente die Kammer – anders konnte Kim den drei mal drei Meter großen Raum nicht bezeichnen – eher als Abstellplatz für Kartons und anderen Krimskrams denn als richtiges Zimmer. Monica murmelte irgendwas in der Richtung, dass sie noch ausmisten würden, und bot Kim ein Futonsofa an, das sie übrig hatte und das sich als Bett nutzen ließ, sowie eine Kommode, die sie nicht mehr brauchte. Einen Wandschrank hatte das Zimmer nicht, aber Kim könne die kleine Kleiderkammer in der Diele neben dem Duschbad bekommen. Das einzig Hübsche in dem Raum war der kleine Messingleuchter, der an der Decke hing und aussah, als stamme er noch aus dem ursprünglichen Haus. Doch drei der vier Kerzenbirnen waren kaputt, weshalb die Lampe nur für recht spärliches Licht sorgte. Kim fragte sich, ob die beiden den Raum mit Absicht so trostlos hergerichtet hatten, nur damit sie ablehnte. Aber dann hätten sie ihn ihr einfach gar nicht erst anzubieten brauchen.

Wieso tat Monica Joe Sanger überhaupt den Gefallen? Lief da zwischen den beiden was?

Und wenn schon. Damals sagte sich Kim, dass es sie nichts anging. Schließlich ließ sie Joe zu dem Zeitpunkt schon seit Monaten abblitzen. Und sie war überzeugt, dass sie konsequent bleiben würde. Ganz schön naiv für eine junge Frau, die doch sonst mit allen Wassern gewaschen war.

Aber das beschauliche, kleine Danby, New Hampshire, war nun mal nicht mit den wilden Straßen von Brooklyn, New York, zu vergleichen. Hier war Kim einfach nicht in ihrem Element, fühlte sich ständig irgendwie deplatziert. Erst recht bei Monica und Pauline. Sie kamen, wie nahezu alle Studenten am Currier, aus einer Welt, die ihr völlig fremd war.

Pauline schien mit angehaltenem Atem darauf zu warten, dass Kim ablehnte. Kim war versucht, ihr zu sagen, dass sie schon schlechter gewohnt hatte. Viel schlechter. Doch stattdessen fragte sie, wann sie einziehen könne. Pauline warf Monica einen Blick zu, den Monica ignorierte, und sagte, Kim könne ihre Sachen noch am Abend rüberbringen. Pauline fügte rasch hinzu, sie solle den Scheck nicht vergessen – zwei Monatsmieten im Voraus und eine Monatsmiete Kaution. Insgesamt 1200 Dollar. Das war viel Geld für Kim. Sie war ziemlich pleite, bis auf die kleine Summe, die Nate Shapiro ihr jeden Monat als Taschengeld überwies, besaß sie nichts. Das Stipendium deckte aber nicht nur die Studiengebühren ab, sondern auch die Kosten für die Miete. Das College würde ihr einen Scheck ausstellen, und sie versicherte Pauline, dass sie diesen am Abend mitbringen würde, wenn sie einzog. Monica gab ihr einen Haustürschlüssel. Herzlicher fiel ihre Aufnahme in den Schoß der Wohngemeinschaft nicht aus.

Zu Kims Erleichterung waren ihre Mitbewohnerinnen nicht zu Hause, als sie am Abend einzog. Wie sie ebenfalls erfreut feststellte, waren die Kartons und der übrige Kram aus ihrem Zimmer verschwunden, an der Wand stand das Futonsofa und direkt gegenüber eine große Eichenkommode. Monica hatte Wort gehalten.

Scott half ihr beim Tragen, obwohl es nicht mehr viel zu tragen gab, da ihre Habseligkeiten fast alle Opfer der Flammen geworden waren. Sie hatte sich aber in einem Secondhandladen etwas zum Anziehen gekauft, die Bücher fürs Studium ersetzt, und zum Glück hatte sie an dem Abend, als das Feuer ausbrach, ihren Laptop dabei gehabt.

Scott war von ihrem neuen Zimmer alles andere als begeistert und meinte, es wäre wohl kaum größer als eine Gefängniszelle. Kim hätte seine Vermutung bestätigen können, denn sie hatte schon welche von innen kennengelernt, die noch kleiner gewesen waren. Sie erwiderte aber nur, es gebe immerhin ein hübsches Fenster zur Straße mit viel Sonne am Morgen. Und, so versicherte sie ihm, ein paar farbenfrohe Poster an den faden, beigen Wänden würden die Atmosphäre schon erheblich verbessern. Woraufhin Scott zum Auto lief und mit einem gerahmten Foto zurückkam, das sie beide in inniger Umarmung zeigte. Sein Bruder Tom hatte es aufgenommen, als er ein paar Wochen zuvor aus Maine zu Besuch war. Scott hängte es rechts vom Fenster auf, direkt gegenüber der Schlafcouch. So kannst du uns beide zusammen sehen, auch wenn ich nicht bei dir bin, hatte er gesagt. Doch an dem Abend wollte er unbedingt bei ihr sein. Wenn Pauline und Monica zu Hause gewesen wären, hätte sie Scott vielleicht weggeschickt.

Am nächsten Morgen traf sie die beiden Frauen in der Küche. Kaum hatte Scott die Wohnung verlassen, stellte Pauline sie zur Rede. Ist der Typ dein fester Freund? Hast du vor, ihn ständig hier übernachten zu lassen? Das kommt absolut nicht in Frage. Wir haben an eine Person vermietet und nicht an zwei. Dann wollte sie wissen, ob Kim noch andere »Freunde« hatte, die bei ihr übernachten würden – weil sie nämlich nicht dulden würden, dass sie aus ihrer Wohnung ein Bordell machte.

Monica goss sich währenddessen seelenruhig eine Tasse Kaffee ein und lächelte Pauline kühl an. Ein bisschen mehr Sex und ein bisschen weniger Essen täte dir vielleicht auch ganz gut, Pauli, bemerkte sie trocken. Pauline blieb mit offenem Mund am Kühlschrank stehen. Falls sie sich eine Retourkutsche überlegte, so war sie nicht schnell genug. Monica schlenderte bereits zur Tür hinaus, den Kaffeebecher in der Hand.

Kim war über Monicas gehässige Bemerkung verblüfft, hatte sie doch gedacht, die beiden wären gute Freundinnen. Sie hatte sogar etwas Mitleid mit Pauline. Aber ihr Mitleid war nur von kurzer Dauer.

Sobald Monica außer Hörweite war, knallte Pauline die Kühlschranktür mit solcher Wucht zu, dass jedes Glas und jede Flasche darin rappelte. Dann fuhr sie herum und fiel über Kim her – zeterte über ihren unheimlichen Freund Scott, machte ihr Vorwürfe, dass sie die Gläser vom Vorabend nicht gespült und ihre Kosmetiktasche im Bad stehen gelassen hatte und tausend andere Sachen.

Daraufhin verlor Kim ihre Selbstbeherrschung, und sie stauchte Pauline nach Strich und Faden zusammen, bis die junge Frau in Tränen ausbrach. Kim war zwar nicht wohl dabei, dass sie so ausrastete, aber es tat ihr trotzdem gut, zur Abwechslung mal diejenige zu sein, die austeilte. Sie hätte sich wahrscheinlich noch schonungsloser Luft gemacht, wenn Pauline nicht völlig empört und aufgelöst aus der Küche gerannt wäre. Kim hörte nur noch Schritte die Treppe hinauf in den ersten Stock laufen und dann eine Tür laut zuknallen.

Kim goss sich einen Kaffee ein und fragte sich, ob Monica wieder auftauchen würde. Doch dann fiel ihr ein, dass diese bestimmt schon auf dem Weg zu Sangers Seminar war, zu dem sie selbst nun zu spät kommen würde.

 

Als Kim an jenem kalten Winterabend nach Hause kam, war es in der Wohnung noch frostiger als draußen, und draußen war es wahrhaftig bitterkalt. Pauline warf ihr bloß wütende Blicke zu, und Monica ignorierte sie einfach.

In den drei Monaten, die sie inzwischen dort wohnte, war sie mit den beiden nie richtig warm geworden. Pauline stichelte, wo sie nur konnte – obwohl sie sich, wie Kim auffiel, etwas zurückhielt, wenn Monica dabei war. Wahrscheinlich wollte Pauline es sich nicht mit ihrer eleganten blonden Mitbewohnerin verderben und fürchtete deren beißende Bemerkungen. Monica behandelte Kim weiterhin von oben herab, sowohl zu Hause als auch im Seminar, aber niemals schroff oder offen ablehnend. Im Gegenteil, sie begegnete Kim höflich und freundlich, so wie man vielleicht mit einer Hausangestellten umgehen würde. Irgendwann stellte Kim fest, dass sie sich in Gegenwart der reservierten Blondine noch unwohler fühlte als im Beisein von Pauline. Bei der unverhohlen ablehnenden Brünetten wusste sie wenigstens, woran sie war.

Kim fragte sich, ob Joe Sanger ahnte, wie es in ihrer neuen Wohngemeinschaft lief. Er fragte nie. Wenn ja, hätte sie wahrscheinlich auch nichts Negatives gesagt. Aber es war möglich, dass Monica ihm irgendwas erzählt hatte. Die beiden plauderten ab und zu nach dem Seminar miteinander. Ein paar Mal hatte sie sie zusammen im Moe’s gesehen. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass Monica in festen Händen war, hätte sie es durchaus für möglich gehalten, dass ihre Wohngenossin etwas mit ihrem Professor hatte. Aber andererseits wäre Joe Sanger dann wohl diskreter gewesen und hätte sich mit Monica nicht in der Studentenkneipe getroffen, sondern irgendwo weit ab vom Schuss – in einem Lokal wie dem Lucky McGill’s.

6

Als Kim in der kühlen Aprilnacht bei strömendem Regen vom Lucky McGill’s nach Hause fuhr, war sie zutiefst beunruhigt. Joe und seine Frau mussten ganz schön aneinandergeraten sein. Als Kind hatte Kim zur Genüge erlebt, wie ihre Eltern sich gestritten hatten, und das tagtäglich. Meistens war sie irgendwann in die Auseinandersetzung mit hineingezogen worden. Die Streitereien, die als verbale Attacken begannen, schlugen immer sehr schnell in körperliche Gewalt um. Unzählige Male war die von Nachbarn alarmierte Polizei bei ihnen zu Hause aufgetaucht. Aber das letzte Mal hatte sie noch besonders deutlich in Erinnerung. Sie war elf, und die Cops waren in Begleitung einer adretten, hübschen jungen Frau in einem schicken, beigen Kostüm erschienen. Sie war vom Jugendamt und wirkte nervös und entsetzt zugleich. Vielleicht war das einer ihrer ersten Einsätze. Einer der Cops sagte ihr, sie solle Kim in den Wagen bringen, doch Kim wehrte sich mit Händen und Füßen und schrie wie am Spieß. Schließlich packte der entnervte Cop Kim und verfrachtete sie mit Gewalt in den Wagen der Frau vom Jugendamt. Noch am selben Abend wurde sie in eine Pflegefamilie gegeben – eine von vielen, die noch kommen sollten. Es war das letzte Mal, dass Kim ihren Vater gesehen hatte.

Ihre Mutter sah sie danach noch ein einziges Mal wieder, und zwar aufgebahrt im Sarg. Das war vor drei Jahren gewesen, kurz vor Beginn ihres zweiten Jahres am Currier College. Sie hätte gar nicht vom Tod ihrer Mutter erfahren, wenn Nate ihr nicht Bescheid gesagt hätte. Kim war überrascht gewesen, dass Nate es gewusst hatte, doch dann erfuhr sie, dass er die ganze Zeit Verbindung zu ihr gehalten hatte, während Kim bei ihm wohnte. Wie er Kim später erzählte, hatte er ihre Mutter immer wieder ermuntert, ihre Tochter zu besuchen oder ihr wenigstens zu schreiben. Doch Marion Burke war der Ansicht, ihrem einzigen Kind schon genug Schaden zugefügt zu haben, und Nate konnte sie nicht davon überzeugen, dass Kim gern wieder Kontakt zu ihr gehabt hätte.

Das alles erfuhr Kim erst nach der Beerdigung ihrer Mutter.

Es war weit nach Mitternacht, als Kim vor dem stattlichen viktorianischen Gebäude hielt, das sie wohl nie als richtiges Zuhause betrachten würde, und sie stöhnte entsetzt auf, als sie sah, dass unten in der Wohnung noch überall Licht brannte. Sie hatte gehofft, die anderen würden bereits schlafen. Nach dem Abend, den sie überwiegend mit Warten verbracht hatte, und dem kurzen anstrengenden Treffen mit Joe war sie zu kaputt, um sich jetzt noch Paulines Gemecker – irgendetwas hatte sie immer an Kim auszusetzen – oder Monicas kühle Herablassung anzutun.

Erst als sie durch den prasselnden Regen den gepflasterten Weg zur Haustür hinauflief und in der vorderen Tasche an ihrem Rucksack nach ihrem Schlüsselbund kramte, stutzte Kim.

Wieso zum Teufel war auch das Licht in ihrem Zimmer an?