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Während der Besetzung Polens durch die Nazis wird ein Hauptmann der Wehrmacht in einem polnischen Haus einquartiert, in dem ein Junge mit seiner Tante lebt. Der Junge ist völlig fasziniert von Rosemarie, der Geliebten des Hauptmanns. Als der kleine Amor, wie Rosemarie ihn lachend nennt, von den Partisanen angeworben wird, auf den Nazi ein Attentat zu verüben, stürzt ihn das in einen tiefen Konflikt ...
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Seitenzahl: 458
Sławomir Mrożek
und andere Stücke
Aus dem Polnischen von Witold Kośny und Christa Vogel
Diogenes
Fernsehspiel
Der Mann
Der Greis
Der Junge
Die Frau
Ein Burghof mit einem Wehrgang. Über dem Hof der klare Himmel, an dem Möwen kreisen. Zwischen den Steinplatten des Hofes wächst Gras, an den Mauern wilde Rosensträucher. Die Mauern sind efeubedeckt. Alles ist halb verfallen, verlassen. Auf dem Hof ein Brunnen ohne Wasser.
Den Kopf auf den Rand des Brunnens gestützt, schläft, halb sitzend, halb liegend, der Greis; er ist abgemagert und sieht vernachlässigt aus. Er trägt ausgefranste Hosen und ein altmodisches Jackett mit langen Rockschößen, das aus dem Lagerbestand eines Wohltätigkeitsfonds stammen könnte.
In der Ecke des Hofes malt kniend der Junge mit Kreide ein Schiff auf den Boden. Die Zeichnung ist naiv und primitiv. Der Junge hat ein gestreiftes Hemd und zerlöcherte Hosen an.
Oben auf dem Wehrgang erscheint der Mann. Sein Oberkörper ist nackt, er hat volles Haar und einen Bart. Auf den Schultern trägt er drei große Schwerter. Er bleibt stehen und betrachtet von oben den Schlafenden und den Jungen. Er steigt vom Wehrgang in den Hof hinab und nähert sich dem Schlafenden. Als der Junge ihn bemerkt, wischt er eilig mit den Händen und seinen nackten Fußsohlen die Zeichnung weg. Der Mann nimmt die Schwerter von der Schulter und stößt sie mit Schwung auf den Steinboden. Das Eisen klirrt auf den Steinen, ein weithallendes Echo im Wehrgang. Der alte Mann schreckt hoch.
MANN
Verzeihung, Vater Prior. Es war keine Absicht.
GREIS
Ach, du bist es nur, Bruder.
MANN
mit Betonung auf ›nur‹ Ja, nur ich.
GREIS
Ich hatte einen schrecklichen Traum.
MANN
Du hast geschlafen?
GREIS
Nein, nein gar nicht.
MANN
Und der Traum?
GREIS
Es war kein Traum. Es war … eine Vision.
MANN
Und was hast du gesehen?
GREIS
Nichts.
MANN
Wieso Vision, wenn du nichts gesehen hast?
GREIS
Ich habe was gesehen. Und das war eben das Nichts. Ein schrecklicher Traum.
MANN
Also doch ein Traum.
GREIS
Eine Vision.
MANN
Nichts kann man nicht sehen!
GREIS
Gewöhnlich nicht. Aber ich habe es gerade eben gesehen. Ist es schon Morgen?
MANN
Nachmittag.
GREIS
Sonntag.
MANN
Samstag.
GREIS
Natürlich Samstag. Das wollte ich gerade sagen.
MANN
Der Tag der Heiligen Klara.
GREIS
Ganz richtig.
MANN
Das heißt, bald ist Mariä Himmelfahrt.
GREIS
Ja, ja, wenn wir heute die Heilige Klara haben, ist in drei Tagen Mariä Himmelfahrt.
MANN
Das heißt, es ist jetzt Zeit …
GREIS
Warte, es ist so heiß … Es ist Zeit, sagst du?
Der Mann schweigt.
Felsen in der Brandung und Kliffe. Die weißen Schaumkronen der Wellen schlagen unaufhörlich ans Ufer. Auf den Felsen der gewaltige Bau einer altertümlichen Festung, halb verfallen. Bollwerke, Mauern mit Zinnenkranz und ein Glockenturm.
An der Stelle, wo sich zwischen Meer und Felsen ein kleines Stückchen Strand erstreckt, sammeln der Mann und der Junge Bretter und zerschlagene Kisten auf, die die Wellen anschwemmen. Sie tragen sie landeinwärts und stapeln sie aufeinander. Gemeinsam schleppen sie einen großen Balken.
Plötzlich läßt der Junge den Balken fallen und läuft ins Wasser, ohne auf die Wellen zu achten. Er watet bis zum Gürtel ins Wasser und blickt zum Horizont. Am Horizont zieht langsam die Silhouette eines Schiffes vorbei. Der Junge winkt dem Schiff zu. Der Mann läuft ihm nach. Er packt den Jungen am Genick und taucht ihn mehrere Male unter Wasser. Der Junge verschluckt sich und würgt. Der Mann bringt ihn ans Ufer zurück und wirft ihn auf den Sand. Der Junge würgt. Er ist halb erstickt.
Das Schiff bewegt sich langsam und kaum erkennbar am Horizont weiter.
In den Gemäuern der Festung sind Fensteröffnungen und Schießscharten. In einem der Fenster sieht man ein auf das Meer bzw. auf das Schiff gerichtetes Fernrohr.
Das Innere einer kleinen Kapelle. Der Widerschein des Himmels in einer Fensteröffnung, durch das Fenster flutende Sonnenstrahlen schneiden auf dem Fußboden ein Vieleck aus. Eine Steinplatte, die auf zwei kleineren, senkrecht aufgestellten Platten liegt, dient als Altar. Darüber ein Relief, ein Kreuz und anstelle des gekreuzigten Christus – ein Rosenstock. Das Kreuz und die Rose sind in Stein gehauen. Die Zweige der Rose umranken das Kreuz, die Blüte an der Stelle, an der sich sonst der Kopf des Gekreuzigten befindet. Man hört weit entfernt das Tosen der Wellen und Möwengeschrei.
Der Greis geht in die Kapelle. Er kniet vor dem Altar nieder, faltet die Hände. Er beginnt zu beten, seine Lippen bewegen sich lautlos. Nach kurzem überfällt ihn Müdigkeit. Er sinkt immer tiefer nach vorn. Von seinem inbrünstigen Gebet ist nichts mehr übrig. Er wirkt wie eine zerknitterte, verschrumpelte Gestalt, die immer mehr von der Erde aufgesogen wird. Schließlich sackt er ganz zusammen. Er liegt auf der Seite, die Beine angewinkelt wie ein Embryo, und schläft ein.
Der Junge kommt in die Kapelle und bleibt vor dem Schlafenden stehen. Er geht in die Hocke, berührt den Schlafenden. Dann zieht er einen Apfel aus seiner Tasche. Er legt den Apfel auf den Fußboden, direkt neben die Wange des Greises. Er steht auf und geht auf Zehenspitzen hinaus.
Über dem Schlafenden steht der Mann. Er stößt mit dem Fuß den Apfel fort. Der Apfel rollt weg. Der Mann hebt den Apfel auf und verläßt die Kapelle.
Vor ihm das Panorama der Mauern, Ruinen und Felsen. Weiter weg das Meer. Die Kapelle liegt auf einer Anhöhe. Der Mann blinzelt in die Sonne und beißt in den Apfel.
Weiter weg sitzt der Junge auf der Mauer und beobachtet die Kapelle. Als er den Mann sieht, springt er von der Mauer und läuft den Abhang hinunter. Er verschwindet hinter einer Bodenwelle.
Den Apfel essend, geht der Mann den schmalen Pfad von der Kapelle nach unten.
Ein Platz in einer Mauernische. Ein Haufen von Brettern und Balken, die jetzt getrocknet sind. Der Mann hackt sie zu Brennholz. Er arbeitet geschickt und mit großer Kraft. Die Scheide der erhobenen Axt glänzt in der Sonne. Das Krachen der Schläge. Die Schläge werden immer heftiger, stärker als nötig, der Rhythmus der Schläge beschleunigt sich. Vom Gesicht und vom Oberkörper des Mannes rinnen Schweißtropfen. Statt eine Pause zu machen, hackt er noch schneller. Eine Art wütende Raserei hat ihn ergriffen, und man sieht, daß die Arbeit für ihn eine Entladung überschüssiger Kraft und Energie bedeutet. Es ist die pure Aggressivität. Plötzlich – fällt die erhobene Axt nicht hinunter. Der Mann läßt sie langsam sinken. Er steht einen Augenblick mit gesenktem Kopf da. Dann legt er die Axt fort und setzt sich mit herunterbaumelnden Armen auf einen Holzklotz. Nach der verkörperten Wut wirkt er jetzt wie der Inbegriff von Apathie.
Von weit oben sieht der Greis aus einem schmalen Fenster durch das Fernrohr.
An einigen Stellen sind die Ruinen in die Erde gesunken und so sehr mit Gras überwachsen, daß sie schon als Weideplatz für ein paar Schafe und Ziegen dienen. Der Junge sitzt auf einem Stein und hütet eine kleine Herde.
Schafe blöken. Der Junge steht auf und sieht sich wachsam um. Er geht zur Spitze der Geröllhalde. Auf der anderen Seite sieht er den Greis. Der Greis sucht etwas, biegt die Sträucher mit seinem Stock auseinander. Er bückt sich, hebt eine Wurzel auf, wirft sie wieder fort und sucht weiter.
Der Garten. Der Mann gräbt den Boden mit einer Hacke um. Am Himmel erscheinen drei moderne Kampfflugzeuge. Sie überfliegen die Insel mit lautem Getöse. Auf die Hacke gestützt, sieht ihnen der Mann mit in den Nacken gelegtem Kopf nach.
Weide. Der Junge zieht sich einen Splitter aus seiner nackten Fußsohle. Er hebt den Kopf, als die Flugzeuge vorbeibrausen.
Klosterzelle. Am Tisch ist der Greis eingenickt, seine Stirn liegt auf einem alten, aufgeschlagenen Buch, das mit Hieroglyphen bedeckt ist. Am Fenster steht das altmodische Fernrohr auf einem Dreifuß.
Flugzeuge dröhnen. Der Alte wacht auf, hebt den Kopf. Er geht ans Fenster und sieht durch das Fernrohr. Im Visier des Fernrohrs ein Schiff am Horizont.
Das Innere des Küchenrefektoriums. Eine sehr große Feuerstelle mit einem Rauchfang. Am Rande der Feuerstelle bescheidene Küchengeräte: ein Kessel, der über dem Feuer hängt, einige Pfannen, tönerne Töpfe und Schüsseln.
Der Junge macht sich am Feuer zu schaffen, facht es an, rührt die Speise in dem Kessel um. Nicht weit weg ein großer, massiver Tisch, längs des Tisches Bänke. Am Tisch sitzen auf derselben Bank, aber ziemlich weit voneinander entfernt, der Greis und der Mann. Vor jedem steht ein tönerner Eßnapf und ein Zinnlöffel. Der Mann sitzt rechts vom Greis.
Der Junge nimmt den Kessel vom Feuer. Er gießt den Inhalt in eine große Schüssel und stellt sie auf den Tisch vor den Greis. Er nimmt seinen Platz links vom Greis ein. Alle drei stehen auf und falten die Hände zum Gebet. Schweigen. Nach einer Weile wenden sich der Mann und der Junge erwartungsvoll dem Greis zu. Der schweigt noch immer.
MANN
sagt dem Greis halblaut die Worte des Gebets vor »Vater unser …«
Der Greis schweigt weiter.
Ungeduldig »Vater unser, der Du bist im Himmel …«
Der Greis schweigt. Die Kinnlade fällt ihm herunter, der Bart zittert. Der Greis kann sich weder an den Wortlaut des Gebets erinnern noch das Zittern beherrschen. Er setzt sich hin und verbirgt sein Gesicht in den Händen. Der Mann wendet sich von ihm ab, der Junge ebenfalls, beide starren wieder vor sich hin. Der Mann spricht laut und vernehmlich das Gebet.
»Vater unser, der Du bist im Himmel, nimm gnädig unseren Dank für die Gaben, die uns beschert sind. Diese Speise möge nicht uns selber stärken, sondern unseren Körper, der nur das Werkzeug ist in der Hand des Baumeisters Deines Heiligtums, das Schwert in der Hand Deines Erzengels. Wie Schwerter und Werkzeuge sollen unsere Körper dahinschwinden, wenn Dein Heiligtum emporragt und Deines Feindes Macht besiegt ist. Zu Deinem Ruhm, nach Deinem Willen, zu unserer Erlösung. Amen.
JUNGE
Amen.
Der Mann und der Junge setzen sich und sehen den Greis erwartungsvoll an. Der Greis nimmt die Hände vom Gesicht, schöpft mit dem Schöpflöffel aus der großen Schüssel, um zuerst seinen eigenen Eßnapf zu füllen. Seine Hand zittert, die dünne Suppe ergießt sich auf den Tisch.
Der Mann nimmt ihm schweigend den Schöpflöffel aus der Hand und füllt seinen Napf. Danach seinen eigenen. Zum Schluß den des Jungen. Sie essen schweigend. Der Greis hängt seinen Bart in die Suppe, kleckert, schlürft. Ein Bild von gebrechlicher Altersschwäche.
Der Junge wirft während des Essens verstohlene Blicke zum Greis. Der Mann scheint nichts außer seinem Essen wahrzunehmen. Das Feuer leckt an der Feuerstelle hoch und knistert. In der Tiefe des Gebäudes hört man den Schrei eines Nachtvogels.
Mit einem Holzeimer schlenkernd, geht der Junge auf einem Pfad von den Gebäuden zur Zisterne. Der Junge kniet am Brunnenrand nieder und beugt sich über das Wasser. Im Wasser spiegelt sich sein Gesicht. Der Junge sieht sich sein Spiegelbild an. Er streckt die Hand aus und bewegt die Finger. Er entdeckt, wie sein Spiegelbild genau dieselben Bewegungen vollzieht. Er streckt die Zunge heraus und schneidet verschiedene Grimassen.
Er hört auf zu gestikulieren und betrachtet sein Spiegelbild.
Ein Stein fällt in die Mitte des Spiegelbildes und verzerrt es kreis- und wellenförmig. Nicht weit entfernt, am Rande der Zisterne, steht der Mann. Er hat ein geschlachtetes Lamm mit zusammengebundenen Hinterläufen über die Schulter geworfen. Der Junge nimmt den Eimer und schöpft Wasser. Der Mann wartet, bis der Junge damit fertig ist, dann geht er den Pfad zu den Gebäuden hinunter. Der Junge folgt ihm mit dem vollen Eimer.
Eine Mondnacht. Die Klosterzelle ist vom Mondlicht überflutet. Im Strahl des Mondlichts liegt der Junge mit weit offenen Augen auf dem Bett. Die Hände hat er unter dem Nacken verschränkt. Seine Augen sind unbeweglich.
Die Geräusche einer warmen Mittelmeernacht. Das intensive eintönige Zirpen der Grillen. Eine Stille, die mit gespannter, in der Tiefe der Nacht verschleierter Aktivität angefüllt ist. Die Welt hat die Dreidimensionalität des Tages verloren, jetzt besteht sie ausschließlich aus dem Spiel des Mondlichts und des Schattens. Sanftes und rhythmisches Rauschen der Wellen. Der Junge zieht sich mit einer plötzlichen, heftigen Bewegung die Pferdedecke über den Kopf. Er dreht sich auf den Bauch.
Eine andere Klosterzelle, ebenfalls von Mondlicht überflutet. Auf dem Bett liegt der Mann. Die Augen offen, unbeweglich. Nach einem Augenblick richtet er sich im Bett auf und zieht unter dem Bett einen Blechkoffer hervor. Er zündet die Öllampe an. Er öffnet den Koffer und nimmt ein verschnürtes Päckchen heraus. Er macht das Päckchen auf. Es sind alte Briefe, Personalpapiere und Fotografien. Der Mann betrachtet im Lichte der Lampe das erste Foto. Auf der Fotografie sind Arbeiter und Seeleute in einem kleinen Hafen, mit ein paar Segelbooten und Fischkuttern. Sie sind lustig: ein Erinnerungsfoto, anläßlich irgendeiner Feier. Wahrscheinlich sind sie etwas angeheitert. Darauf weisen die übertriebenen Mienen und Grimassen hin, die in einer solchen Situation den Teilnehmern witzig oder flott erscheinen, aber, auf dem Foto festgehalten, nach Jahren eher lächerlich wirken. Zwischen den Männern steht ein junger, bartloser Kerl, der dem Mann, der das Bild betrachtet, ähnelt.
Das zweite Foto: derselbe junge Mann in der Uniform der Kriegsmarine. Das typische Bild eines jungen Mannes im Kriegsdienst, aufgenommen von einem Provinzfotografen während des Urlaubs.
Das Panorama des Meeres, der Ruinen, der Mauern und Basteien, beleuchtet von einem riesigen Vollmond. Auf dem Pfad schleppt sich der Greis, in einen Mantel mit Kapuze gehüllt, vorwärts; er stützt sich auf einen Stock. In einiger Entfernung folgt ihm heimlich der Junge.
Das dritte Foto: ein Mädchen in einem einteiligen, etwas altmodischen Badeanzug, nicht allzu hübsch, nicht allzu schlank. Sie posiert stehend am Strand vor dem Hintergrund des Meeres. Ein Bein hat sie vor das andere gestellt, eine Schulter hochgezogen, mit der Hand hält sie die Haare hoch, wie das manchmal in billigen Illustrierten von Filmstars gezeigt wird. Sie lächelt breit, etwas gekünstelt und kokett. Es ist ein sympathisches, wenn auch leicht gewöhnliches Gesicht.
Der durch die Kapuze vermummte Greis sucht etwas im Gras, im Gestrüpp, biegt mit dem Stock die Büsche auseinander. Der Junge folgt ihm heimlich. Plötzlich stolpert der Greis und fällt stöhnend hin. Er versucht aufzustehen. Der Junge nähert sich ihm, ruft:
JUNGE
Pater … Pater Prior? …
Der Greis stöhnt, der Junge läuft zu ihm.
GREIS
Ich bin gefallen.
Der Junge hilft ihm aufzustehen, stützt ihn.
Bring mich zurück.
Der Greis und der Junge kehren auf dem Pfad zu den Gebäuden zurück. Der Greis hinkt und stützt sich auf die Schulter des Jungen.
Die Zelle. Der Junge hilft dem Alten ins Bett. Der Greis stöhnt. Der Junge kniet beim Bett nieder. Der Greis legt dem Jungen die Hand auf den Kopf.
GREIS
Du bist gewachsen.
JUNGE
Wächst du nicht mehr, Pater Prior?
GREIS
Aber nein. Ich verwandle mich, aber ich wachse nicht mehr.
JUNGE
Du änderst dich nicht. Du bist immer derselbe.
GREIS
Das kommt dir nur so vor.
JUNGE
Wie änderst du dich, wenn du nicht mehr wächst?
GREIS
Ich verliere das Gedächtnis.
JUNGE
Was bedeutet das?
GREIS
Das bedeutet, daß ich nicht mehr weiß, was war.
Der Greis stöhnt und verändert die Lage des verletzten Beins.
Möchtest du mir helfen?
Der Junge nickt schweigend.
Weißt du, warum ich auf der Wiese war?
Der Junge schüttelt schweigend den Kopf.
Ich habe Heilkräuter gesucht. Oder besser: eine bestimmte Wurzel. Bei Vollmond soll man sie am leichtesten finden. Weißt du, wie sie aussieht?
Der Junge schüttelt den Kopf.
Wie ein Mensch, nur ganz klein. Es heißt, sie gibt einem das Gedächtnis und die Gesundheit wieder. Verstehst du?
Der Junge nickt.
Du verstehst nichts, aber es macht nichts. Wenn du so eine Wurzel für mich finden würdest … Suchst du sie für mich?
JUNGE
Ja.
Die Hand des Greises wirkt einschläfernd auf ihn.
GREIS
Wenn du eine findest, gib sie mir. Aber nur mir. Das ist unser Geheimnis. Ganz allein unseres.
Der Junge schläft ein. Er ist, mit dem Kopf auf dem Bettrand, von der Hand des Alten wie ein kleines Kind in den Schlaf gewiegt, eingeschlafen. Er atmet ruhig und gleichmäßig. Als der Greis merkt, daß der Junge schon schläft, starrt er vor sich hin und bewegt lautlos die Lippen. Er führt Selbstgespräche.
Der Mann zerreißt alle drei Fotos in kleine Schnipsel.
Ein kleiner Hof vor dem Eingang zum Küchenrefektorium. Das geschlachtete Lamm ist mit den Hinterläufen an einem Haken in der Wand aufgehängt; es ist halbabgezogen. Der Junge hält das Lamm an den Vorderläufen straff. Der Mann nimmt das Lamm geschickt mit dem Messer aus, schneidet die Sehnen durch, zieht das Fell ab.
Der Junge hilft ihm dabei.
MANN
Was macht der Pater Prior?
JUNGE
Ich weiß nicht.
MANN
Ist er oben in seiner Zelle?
JUNGE
Ich weiß nicht.
MANN
Vielleicht ist er in der Kapelle?
JUNGE
Ich weiß nicht, ich habe ihn nicht gesehen.
MANN
Läuft er auf der Wiese rum?
JUNGE
Nein.
MANN
Woher weißt du das, wenn du ihn nicht gesehen hast?
Der Junge schweigt. Der Mann stößt plötzlich in eine gespannte Sehne des Lamms, direkt neben der Hand des Jungen. Der Junge zuckt unwillkürlich mit der Hand zurück, obwohl er, wenn der Stoß ihm zugedacht gewesen wäre, zu spät reagiert hätte.
Paß doch auf!
Der Junge hält wieder das Lamm. Sie arbeiten schweigend weiter.
Nach dem Abendessen. Der Junge räumt den Tisch ab. Erst die Schüssel, die vor dem Greis steht, dann die, aus der der Mann gegessen hat, zum Schluß seine eigene. Der Greis und der Mann sitzen schweigend da, satt und schwerfällig. Der Mann stochert in den Zähnen. Der Junge geht an dem Mann vorbei, um die Schüsseln zum offenen Kamin zu tragen. Der Mann stellt ihm ein Bein. Der Junge fällt hin und läßt die Schüsseln fallen. Er richtet sich bis zur Hocke auf und sieht den Mann von unten an.
MANN
Paß doch auf!
Der Junge sammelt die Scherben vom Boden. Der Greis bekommt einen Hustenanfall, er preßt die Hände gegen die Brust. Der Mann sieht ihn aufmerksam und herausfordernd an.
Strand. Der Junge zeichnet mit einem Stock ein menschliches Gesicht in den Sand. Die Zeichnung ist einfach, schematisch. Die Wellen überspülen das Gesicht, wenn sie zurückfließen, ist das Bild verwischt.
Der Junge zeichnet es von neuem. Die nächste Welle verwischt das nächste Bild.
Der Junge zeichnet es zum dritten Mal. Auch diese Zeichnung verschwindet mit dem Kommen und Gehen der nächsten Welle. Jedesmal beobachtet der Junge gespannt, in welchem Maße sein Werk zerstört wird. Aber er ist ebenso hartnäckig wie die Welle. Er zeichnet ein neues Bild und wartet, bis die nächste Welle es verwischt.
Die Hartnäckigkeit des Jungen und die Unvermeidlichkeit der Wellen. Der Junge weiß noch nicht, daß sein Zweikampf von vornherein verloren ist. Die Welle verfügt über das, was sich Ewigkeit nennt, während die Zeit des Jungen begrenzt ist.
Der Greis in der Zelle. Er brütet über dem Buch. Aber seine Augen starren ins Leere. Er fährt mit den Fingern über das Pergament wie ein Blinder, der die Schrift durch Berühren zu entziffern versucht.
Nach einer Weile steht er auf und geht zu dem Fernrohr. Er sieht hindurch. Im Visier des Fernrohrs – der Garten. Einige Olivenbäume, armselige Gartenbeete. Der Junge und der Mann arbeiten im Garten, sie graben mit Hacken um. Der Junge stößt mit seiner Hacke auf einen harten Gegenstand in der Erde. Er bückt sich und holt einen menschlichen Schädel aus der Erde heraus; er ist alt und brüchig. Er gibt seinen Fund dem Mann. Der nimmt den Schädel, dreht ihn in den Händen, besieht ihn sich und wirft ihn dann weit weg in die Büsche. Beide kehren an ihre Arbeit zurück.
Der Greis richtet das Fernrohr auf den Horizont. Am Horizont ein Schiff.
Strand. Starker Wind. Der Junge geht am Strand entlang und beobachtet seinen Schatten auf dem Sand. Er läuft schnell oder bleibt stehen, um zu prüfen, ob der Schatten ihn begleitet. Er versucht, sich von ihm loszureißen. Er duckt sich, er flieht, dann versucht er, mit beiden Beinen gleichzeitig auf seinen eigenen Schatten zu springen, natürlich vergeblich, weil der Schatten mit ihm springt. Dann geht er in die Hocke, sein Schatten krümmt sich genauso. Der Junge nimmt einen kleinen Stock und zeichnet den Umriß seines Schattens, den Kopf und die Schultern. Er steht auf und tritt zur Seite. Der Schatten tritt aus der Zeichnung. Sandkörnchen werden vom Wind hochgewirbelt und vermischen sich kaum merklich, aber ständig. Nach einem Augenblick verwischt der gezeichnete Umriß des Schattens. Aber der Schatten ist neben dem Jungen wie vorher, wie immer. Der Junge versucht, von neuem zu fliehen. Er rennt los in der Hoffnung, daß der Schatten ihn nicht einholt. Umsonst. Der Junge bleibt stehen, spuckt auf seinen Schatten, trampelt mit den Füßen drauf herum. Er sammelt Steine und bewirft seinen Schatten damit, als wenn er Steine nach einem Hund würfe, den er verjagen will. Dann rennt er wieder. Er läuft um den Felsvorsprung herum, plötzlich bleibt er stehen. Hinter dem Felsvorsprung sitzt der Mann, versunken in den Anblick des Meeres, auf einem Stein. Am Horizont schiebt sich langsam ein Schiff vorbei. Der Junge zieht sich vorsichtig zurück.
Eine sanfte Meeresbrandung, das rhythmische Rauschen der Wellen, vermischt mit dem Ton einer Pfeife, immer wieder derselbe Melodiefetzen, der anhebt und plötzlich abbricht. Das Rauschen der Wellen ist ruhig, die Pfeife scharf und beunruhigend.
Der Greis geht eine Treppe hinunter, die zu einer großen Tür führt, die mit Eisen und Nägeln beschlagen ist. Auf der gesamten Oberfläche der Tür ist ein Ornament, gleichzeitig eine Verstärkung aus Schmiedeeisen, ein großes Kreuz, auf dem Kreuz ein Rosenstrauch. Die Tür ist mit einem imponierenden Vorhängeschloß verschlossen. Der Greis zieht einen sehr großen, sehr alten Schlüssel aus seiner Jacke heraus. Er steckt den Schlüssel ins Schloß und dreht ihn um. Er drückt mit aller Anstrengung gegen die Tür, kann sie aber nur einen Spaltweit öffnen. Er ist alt, krank und schwach. Der Kontrast zwischen seiner Schwäche und der Stärke der Tür sowie der Größe des hochgewölbten Saales, der aussieht wie ein Kirchenschiff, in den er jetzt eintritt, muß gut sichtbar ein. Er schließt die Tür hinter sich. Er wirkt klein und armselig in diesem majestätischen, wenn auch verlassenen Raum. Schmale längliche Fenster mit hoch angebrachten Glasmalereien: Die Scheiben sind teilweise kaputt, aus einigen Fenstern sind sie ganz und gar herausgefallen. Unter der Kuppel des Saales kreisen Schwalben, Schwalbennester liegen auf den Simsen.
Der Greis ruht sich aus, er lehnt sich mit dem Rücken an die Tür. Er hat einen Hustenanfall, sein Husten hallt mit einem übernatürlich lauten Echo in der Tiefe und in der hohen Kuppel des Saales wider. Der Greis geht an den Wänden entlang. Unter den Fenstern hängen Porträts. Der Greis hebt den Kopf und lehnt sich zurück, um sie betrachten zu können. Es sind alte, nachgedunkelte Porträts. Sie stellen Ritter-Mönche mit strengen, rauhen, vergeistigten und vom Glauben beseelten Gesichtern dar. Weiße Streifen von Vogeldreck durchschneiden die Rüstungen und festlichen Gewänder von oben nach unten. Der Greis geht an den Säulen vorbei. Auf den Kapitalen wiederholt sich das Motiv von Kreuz und Rose. Der Greis gelangt an das Ende des Saales. Hier befindet sich eine ähnliche Tür in der Wand wie die erste, nur sehr viel kleiner. Über der Tür bedeckt ein riesiges Gemälde fast den gesamten Platz an der Wand; es stellt die Seeschlacht bei Lepanto zwischen der christlichen und der türkischen Flotte dar: eine unendliche Menge von Galeeren im Handgemenge, das Kampfgetümmel füllt lückenlos die ganze Oberfläche des Bildes aus. Das Drama der Schlacht zerfällt in Tausende von Episoden, Rauch aus den Geschützen und Handfeuerwaffen, Bogen, Spieße, Lanzen, Säbel, Schwerter, Schilder, christliche Fahnen und türkische Halbmonde bilden ein Dickicht, in dem man nur etwas unterscheiden kann, wenn man Detail für Detail betrachtet. Die Christen und Türken kämpfen ineinander verschlungen, sie geben einander die Todesstöße auf jede mögliche Weise, selbst die töten noch, die bereits ins Meer gestoßen sind und dort untergehen. Höchste Kampfesanspannung. Derartige Bilder von solch wichtigen historischen Ereignissen gibt es in vielen Versionen. Der Greis bleibt vor dem Bild stehen und betrachtet es. Das Rauschen der Wellen und die Pfeife sind hier gedämpft, aber immer noch deutlich zu hören.
Ein Felsvorsprung über der Meeresoberfläche, aus einer bestimmten Entfernung und Höhe gesehen. Vom Felsen springt der nackte Mann ins Wasser. Sein Flug in der Luft, schön und gekonnt. Er verschwindet im Wasser. Ein Schwarm von Möwen über der Stelle, an der er verschwunden ist. Wellenrauschen und Möwengeschrei.
Der Alte holt einen zweiten, entsprechend kleineren Schlüssel hervor und öffnet die Tür. Er geht eine Wendeltreppe einen Stock tiefer in den nächsten Saal. Dieser Saal ist bedeutend niedriger, die Mauern scheinen dicker, die Säulen gedrungener zu sein. Wenige schmale Fenster ohne Glasmalereien, es sind eher Schießscharten. Beträchtlich weniger Licht. In diesem Saal befinden sich Sarkophage. Dieselben Ritter-Mönche, die ein Stockwerk höher auf den Porträts dargestellt sind, liegen hier als steinerne Statuen in ewiger Ruhe. In ihren Rüstungen, mit den Schwertern zur Seite, die Hände fromm zusammengelegt oder auf der Brust gefaltet. Das Wellenrauschen und die Pfeife dringen kaum bis hierher. Der Greis geht an den Särgen entlang. Er berührt die steinernen Gesichter.
Unterwasserwelt. Fischschwärme. Seesterne und andere Elemente der Unterwasserlandschaft. Die Silhouette eines Tauchers huscht rasch vorüber. Alles macht den Eindruck einer irrealen Schönheit und Harmonie. Absolute Stille.
Der Greis holt einen nächsten, noch kleineren Schlüssel hervor und öffnet eine sehr schmale und niedrige Tür, verschwindet hinter ihr. Absolute Dunkelheit und absolute Stille. In der Dunkelheit geht eine Fackel an. Der Greis steigt, die Fackel in der Hand, sehr enge, steile, schlüpfrige Treppen hinunter. Er stößt ungeschickt an die Wände an. Die Treppe hört auf. Es beginnt ein Gang mit Nischen an beiden Seiten. In diesen Nischen liegen die Schädel und Knochen der Toten. Sie sind ausgetrocknet oder halb zerfallen, Skelette in morschen Kleiderfetzen. Das Grinsen der Schädel. Der Greis erleuchtet im Vorbeigehen die Nischen. Die Gestalt des Greises wird in der Tiefe des Ganges kleiner. Die Fackel verwandelt sich in ein flackerndes, langsam verlöschendes Flämmchen.
Plötzlicher heller Sonnenschein. Die hohe Bastion, die die Insel und das Meer beherrscht. Auf der Spitze der Bastion eine altmodische Kanone, die aufs Meer zielt. Auf der Kanone sitzt rittlings der Junge und entlockt seiner Pfeife jene scharfen, hohen Töne, die vorher zu hören waren. Unten am Fuße der Bastion und des Felsens laut vernehmbar das Rauschen der Wellen.
Der Greis wacht in seiner Zelle über dem Buch auf. Er redet, oder vielmehr er flüstert, zu sich selber.
GREIS
Ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich an gar nichts.
Glockengeläut. Das Panorama der Insel im Sonnenuntergang. Der Glockenturm. Der Mann läutet die Glocken, indem er an einem Seil zieht.
Küchenrefektorium. Der Mann und der Junge sitzen auf ihren Plätzen. Alles ist zum Abendessen bereit. Endlich hört man schlurfende Schritte, der Greis tritt ein, langsam, gebrechlich, auf seinen Stock gestützt. Er geht zu seinem Platz. Alle stehen zum Gebet auf.
Wieder eine Mondnacht. Vollmond. Der Mann sitzt am Tisch. Im Licht der Öllampe versucht er, die Fotos wieder zusammenzusetzen, deren Schnipsel auf dem Tisch liegen.
Plötzlich flackert die Flamme der Lampe, als wenn Durchzug entstanden wäre. Der Mann dreht die Flamme größer und kehrt zu seiner Beschäftigung zurück.
Mondnacht. Der Greis brütet in seiner Zelle über dem aufgeschlagenen Buch. Auf dem Tisch ein dreiarmiger Leuchter, alle drei Kerzen brennen. Der Schrei eines Nachtvogels hinter dem Fenster. Der Greis steht auf und geht zum Fenster. Er lehnt sich hinaus. Die grenzenlose Fläche des Meeres glänzt im Mondlicht. Hinter seinem Rücken hört man das Quietschen einer offenen Tür und das Rascheln der Buchseiten. Der Greis dreht sich um. Die Tür ist offen, die Zugluft spielt mit den Buchseiten und läßt die Flammen der Kerzen flackern.
Der Greis schließt die Tür und setzt sich an sein Buch.
Der Junge schläft unter der Pferdedecke. Er bewegt sich im Schlaf, dreht sich auf die andere Seite und deckt sich damit halb auf. Irgend jemandes Hände decken ihn wieder sorgfältig zu, wie jemand, der bei einem schlafenden Kind wacht und aufpaßt, daß es zugedeckt bleibt. Man sieht aber weder die Arme noch die Person. Nahaufnahme.
Der Hof wie im ersten Bild. Der Brunnen, die drei Schwerter an den Brunnen gelehnt. Scharfes Licht, ein überzeichnetes Bild. Der Mann steht vorn, frontal, er streckt die Hand anklagend aus. Er schreit.
MANN
Es ist jetzt Zeit.
Das Echo prallt vom Wehrgang zurück. Das Gesicht des Mannes ist wutverzerrt.
Die Bastion in der Dämmerung, direkt nach Sonnenuntergang. Wolkenfetzen über dem Horizont. Eine Fahne mit dem Wappen des Kreuzes und der Rose flattert in stürmischem Wind auf dem Hintergrund der Wolken, im Dämmerlicht.
Der Strand. Schäumende Wellen stürmen ans Ufer. Dämmerlicht. Das Rauschen des Meeres und des Windes. Vorne, auf dem Hintergrund der Wellen und des bewölkten Himmels, die Fackel, die von dem Greis gehalten wird; das Feuer der Fackel wird vom Wind fast ausgelöscht. Auf der Bildfläche erscheint eine schwarze Hand, die Handflächen und der Arm einheitlich schwarz. Die Hand klammert sich um das Gelenk des Greises. Seine Finger öffnen sich. Die Fackel fällt aus seiner Hand. Man hört den Schrei des Greises.
Der Greis in seiner Zelle. Im dreiarmigen Leuchter brennen die Kerzen, auf dem Tisch liegt das Buch. Der Greis liegt auf dem Rücken auf dem Fußboden. Er flüstert leise, verzweifelt
GREIS
Nichts, nichts, nichts …
Er hebt den Kopf, dann steht er auf, langsam und ungeschickt. Er nimmt eine Peitsche von der Wand, kniet in der Mitte der Zelle nieder und entblößt sich bis zum Nabel. Er hebt die Hand zum ersten Schlag.
Eine andere Hand hält seine Hand fest. Nahaufnahme des greisen Handgelenks, das von langen, schmalen Fingern umklammert wird. Die arthritischen Finger des Greises lösen sich und lassen die Peitsche fallen. Das Gesicht des Greises drückt Verblüffung aus. Der Greis bleibt bewegungslos kniend. Frontalaufnahme. Frauenarme umarmen ihn, sie kreuzen sich auf seiner eingefallenen Brust.
Bin ich gestorben?
Die Arme lockern sich und ziehen sich zurück. Der Greis dreht sich um. Vor ihm steht eine junge Frau, schlank, groß und schön. Sie hat einen Parka mit großen aufgenähten Taschen an; Leinenhosen sowie Leinenschuhe mit elastischen Sohlen, die es ihr ermöglichen, sich schnell und lautlos zu bewegen. Dunkles dichtes Haar, das glatt nach hinten gekämmt und zusammengebunden ist. Sie macht einen selbstsicheren und geschickten Eindruck. Der Greis betrachtet sie im Knien. Nach einem Augenblick sagt er, mehr zu sich als zu ihr:
Nein, ich bin allein.
Die Frau sieht ihn mit wohlwollendem Lächeln an. Der Greis will aufstehen, aber es fällt ihm schwer.
Die Frau stützt ihn behutsam wie eine Krankenschwester. Sie führt ihn zu dem Stuhl am Tisch.
Allein …
Er macht die Kerzen heller, indem er Wachs abgießt und den Docht dadurch verlängert; er blättert gedankenlos eine Seite des Buches um. Die Frau steht in einer gewissen Entfernung hinter ihm. Plötzlich dreht sich der Greis zu ihr um.
Habe ich dich auch vergessen?
FRAU
Nein, du hast mich nie gekannt.
GREIS
Das ist gut. Sonst müßte ich dich um Verzeihung bitten.
FRAU
Nicht nötig.
GREIS
Ich vergesse alles.
FRAU
Aber du hast nicht vergessen, daß du nicht vergessen dürftest.
GREIS
Ich bin alt.
FRAU
Nicht älter, als du bist.
GREIS
Ich werde bald sterben.
FRAU
Du wirst länger leben, als du glaubst.
GREIS
Es gibt keine Rettung für mich.
Die Frau zieht aus der Tasche ihres Parkas eine Mandragora (Alraunewurzel) heraus, die Wurzel, die so ähnlich wie ein kleiner Mensch aussieht. Es ist eine deformierte Ähnlichkeit, aber deutlich und beunruhigend, wie bei primitiver Bildhauerei. Sie legt das Figürchen vor dem Greis auf das Buch neben die Kerzen.
Mandragora.
FRAU
Das hast du gesucht, nicht wahr?
Der Greis streckt seine Hand aus. Die Frau nimmt die Mandragora und steckt sie wieder in ihre Tasche.
GREIS
Gib sie mir.
FRAU
Nein.
GREIS
Was willst du dafür?
FRAU
Nichts.
GREIS
Ich gebe dir alles, was du willst.
FRAU
Du besitzt nichts.
GREIS
Dann schenk sie mir. Als Almosen.
FRAU
Nein.
GREIS
Warum nicht? Alten Menschen gibt man Almosen. Bitte.
FRAU
Ich sage nein.
GREIS
Warum?
FRAU
Weil du das Falsche erbittest.
GREIS
Ich möchte mein Gedächtnis und Gesundheit.
FRAU
Ich weiß und will dir helfen.
GREIS
Aber du verweigerst mir das, was ich am meisten brauche.
FRAU
Du irrst dich. Was du forderst, hilft dir nicht. Ich werde dir etwas geben, was dich wirklich heilt.
GREIS
Was?
FRAU
Wenn die Zeit reif ist, wirst du es selber erraten.
GREIS
Ich bin wahnsinnig. Ich rede mit einem Gespenst. Anscheinend ist mein Ende nahe.
Die Frau tritt zu ihm und legt ihm die Hand auf die Stirn. Sie zieht ein flaches Schächtelchen aus ihrer Tasche, legt es auf den Tisch und öffnet es. Drinnen befindet sich eine Ampulle und eine Spritze sowie Desinfektionsmittel.
Es ist nicht meinetwegen. Wenn es nur um mich ginge, ich bin bereit zu sterben. Aber sie …
FRAU
Ich weiß, ich weiß.
Sie öffnet die Ampulle und zieht die Spritze auf.
GREIS
Sie glauben mir, sie verlassen sich auf mich …
FRAU
Sie müssen dir glauben.
GREIS
Und ich betrüge sie. Ich gebe vor, etwas zu wissen, aber ich weiß nichts, weil ich alles vergessen habe …
FRAU
Du hast keine andere Wahl.
GREIS
… und nie etwas gewußt habe.
FRAU
Das ist nicht deine Schuld.
GREIS
Ich bin klein und gering, aber ich bin ein Diener dessen, der größer ist als ich. Ein erbärmlicher Diener.
FRAU
Es wird alles gut. Komm.
Sie faßt ihn unter die Arme und bewegt ihn dazu, aufzustehen. Der Greis läßt sich fügsam zum Bett führen.
GREIS
Ich kenne die Wahrheit nicht, die man mir anvertraut hat. Das ist meine Sünde.
FRAU
Sei ganz ruhig. Habe ich dir nicht gesagt, daß ich dir helfen werde?
GREIS
Du? Du bist doch nur ein Geschöpf meiner Phantasie.
FRAU
Das ist erst mal unwichtig. Jetzt leg dich hin.
GREIS
Vielleicht sogar ein böser Geist?
FRAU
Sehe ich so böse aus?
GREIS
Ein böser Geist kann jede Gestalt annehmen. Sogar die eines Engels.
FRAU
Vorzüglich, das ist schon ein Kompliment. Heb den Kopf.
Sie schiebt ihm ein Kissen unter den Kopf und will ihm den Ärmel hochkrempeln. Der Greis wehrt sich.
GREIS
Nein, nein.
FRAU
Komm, laß mich.
GREIS
Mein Körper ist … abscheulich.
FRAU
Das spielt keine Rolle.
GREIS
Aber früher war ich anders.
FRAU
Du bist immer derselbe.
GREIS
Das hat mir schon einmal jemand gesagt. Wer? Wer hat mir das gesagt?
FRAU
Das Kind.
Die Frau krempelt seinen Ärmel hoch. Der Greis leistet keinen Widerstand mehr.
GREIS
Ja, das Kind. Du bist wie ein Kind, du weißt nicht, was Alter heißt.
FRAU
Ich bin eine Frau und kein Kind.
GREIS
Das ist ganz gleich.
FRAU
Du weißt sehr wohl, daß es nicht ganz gleich ist.
GREIS
Für mich schon.
FRAU
Nein, nicht einmal für dich.
Die Frau nimmt die Arztutensilien vom Tisch. Sie setzt sich auf das Bett. Sie desinfiziert seinen Arm. Dann gibt sie ihm eine Spritze. Als sie damit fertig ist, legt sie die Geräte wieder in die Schachtel.
Hat es weh getan?
GREIS
Ganz sicher weiß ich nur eins: Früher war alles anders. Der Rest ist undeutlich und verschwommen.
FRAU
Wie fühlst du dich?
GREIS
Ich möchte schlafen.
FRAU
Das ist gut.
Die Frau zündet sich eine Zigarette an.
GREIS
Das ist nicht gut. Ich schlafe tagsüber immer ein und kann nachts nicht schlafen. Und nur nachts kann ich die Schrift lesen. Was soll denn werden, wenn ich Tag und Nacht schlafe?
FRAU
Das schadet nichts.
GREIS
In der Schrift steht die Wahrheit. Ich muß die Wahrheit erkennen.
Die Frau lächelt.
Du verstehst das nicht. Wer soll die Wahrheit denn erkennen und sie ihnen überliefern, wenn nicht ich? Das ist meine Pflicht.
FRAU
Aber du kannst die Schrift ja gar nicht lesen.
Der Greis richtet sich in seinem Bett auf.
GREIS
Schweig!
Die Frau drückt ihn vorsichtig, aber resolut auf das Kopfkissen zurück. Im übrigen fällt der Greis schon kraftlos von allein zurück. Es war nur ein kurzes Aufbäumen aus Wut, das aber ohnehin über seine Kräfte ging.
Es ist also herausgekommen … Ja, ich kann die Schrift nicht lesen. Obwohl ich es versuche.
FRAU
Das ist kein Wunder. Das Buch ist aramäisch geschrieben. Die Sprache kennt heute außer Gelehrten niemand mehr.
GREIS
Ja, und ich bin kein Gelehrter. Dabei sollte ich einer sein. Ein Prior sollte gelehrt sein. Aber ist es vielleicht meine Schuld, wenn ich nichts gelernt habe?
FRAU
Nein, das ist nicht deine Schuld.
GREIS
Ich wollte nicht Prior werden. Aber ich bin allein übriggeblieben, als einziger, der letzte. Als Einsiedler. Einer muß sie führen. Wer soll das tun? Dieser Vagabund etwa? Das Kind?
FRAU
Nein, nur du.
GREIS
Die andern sind gestorben, die, die vor mir da waren. Sie haben mich nichts gelehrt.
FRAU
Sie wußten nichts.
GREIS
Also haben auch sie betrogen?
FRAU
Sie hatten keine andere Wahl. Genau wie du. Du darfst sie nicht verachten.
GREIS
Ich hab es geahnt.
FRAU
Hier versteht schon seit langem niemand mehr die Schrift.
GREIS
Aber sie hätten mir doch was sagen, was mitgeben können, außer der Schrift.
FRAU
Das konnten sie nicht. Es war ihnen nichts übermittelt worden.
GREIS
Aber ihre Vorgänger …
FRAU
Die hatten das Wissen und hätten es weitergeben können. Aber in jeder Generation wurde es etwas weniger. Seit langem haben sie alles vergessen. Du bist nicht der erste.
GREIS
Aber ich bin der letzte.
FRAU
Die Schrift sagt, daß der Orden ewig währen wird.
GREIS
Kannst du Aramäisch?
FRAU
Nein, aber ich weiß, was in dem Buch steht.
GREIS
Was denn?
FRAU
Das erzähle ich dir zur rechten Zeit.
GREIS
Ich habe keine Zeit mehr.
FRAU
Du hast soviel, wie du brauchst.
GREIS
Erzählst du mir alles?
FRAU
Vielleicht.
Die Frau steht auf. Der Greis schließt die Augen.
GREIS
Dank dir, mein Gott. Selbst wenn es ein Trugbild ist, das du mir gesandt hast, bin ich dir dankbar. Aber nein, ein Trugbild ist Sünde, und du führst deinen Diener nicht in Versuchung. Ich begebe mich in deine Obhut.
Er reißt in plötzlicher Panik die Augen auf. Er hebt den Kopf die Zelle ist leer. Der Greis richtet sich im Bett auf dann fällt er langsam auf das Kopfkissen zurück. Er flüstert:
Apage, Apage …
Der Mann geht den Pfad an der Mauer entlang. Er trägt ein Fäßchen auf der Schulter. Er hört hinter der Mauer das Plätschern von Wasser und die Stimme des Greises.
GREIS
Mehr, mehr …
Der Mann setzt das Fäßchen ab und stellt es auf den Pfad. Er steigt drauf und sieht von dieser Erhöhung aus, was hinter der Mauer passiert.
In einer Tonne, gefüllt mit heißem, dampfenden Wasser, sitzt der Greis nackt. Der Junge schrubbt seinen Rücken. Daneben liegt die Kleidung des Greises. Ein leerer Eimer steht daneben. Nebendran der Eingang zum Küchenrefektorium.
Mehr, stärker …
Der Mann zieht sich mit den Händen hoch, legt ein Bein über die Mauer, setzt sich auf die Mauer und betrachtet die beiden von oben. Als der Junge ihn sieht, hört er auf, den Rücken des Greises zu schrubben. Der Greis und der Junge sehen in einiger Verwirrung von unten her zu dem Mann.
Bring Wasser.
Der Junge nimmt den Eimer und geht in das Küchenrefektorium. Der Greis wendet sich an den Mann, als wolle er sich rechtfertigen.
Ich fühle mich heute besser …
Der Mann antwortet nicht.
Man muß seinen Körper pflegen …
Der Mann antwortet nicht, spuckt nur von der Mauer herunter. Der Junge erscheint mit einem Eimer voll heißem Wasser. Der Greis dreht sich zu ihm um.
Nein, nein, schon gut.
Der Junge geht in die Küche zurück. Der Mann zieht sein Bein von der Mauer weg und verschwindet wieder, indem er auf der anderen Seite hinunterspringt. Der Greis sitzt zusammengekauert mit gebeugtem Kopf in der Tonne.
Die Bastion oben. Der Junge sitzt mit gekreuzten Beinen da und poliert ein Schwert, die beiden andern liegen daneben. Neben der Kanone das Fäßchen. Auf der Plattform der Bastion erscheint der Mann. Er trägt drei Brustpanzer. Er wirft sie mit Getöse neben die Schwerter. Der Junge steht bei seinem Anblick auf. Der Mann nimmt dem Jungen das Schwert aus der Hand. Er prüft das Ergebnis seiner Arbeit, indem er mit dem Finger die Schärfe der Klinge überprüft. Er gibt ihm das Schwert wortlos zurück. Er verläßt die Bastion und geht die Treppe hinunter. Der Junge nimmt das Schwert mit beiden Händen und führt Stöße in die Richtung aus, in der der Mann verschwunden ist. Er schlägt wütend, wenn auch mit Mühe. Offensichtlich ist er in diesem fiktiven Kampf der Sieger.
Der Pfad, der zur Kapelle führt. Der Greis geht ihn entlang. Er stützt sich auf den Stock und ruht sich alle paar Meter aus. Endlich gelangt er zur Kapelle. Schatten, nur im Fenster zur Meerseite der Schein der Sonne. In der Fensternische sitzt die Frau und sieht durch das Fenster. Sie dreht sich beim Eintritt des Greises nach ihm um, rührt sich aber nicht von der Stelle. Als der Greis sie erblickt, bleibt er am Eingang stehen, geht dann, ohne sie zu beachten, in das Innere der Kapelle und kniet vor dem Altar nieder.
FRAU
Ist der Blick von hier nicht schön?
Der Greis beachtet sie immer noch nicht.
Ich hatte geahnt, daß es hier schön sein muß. Aber daß es so schön ist. Dieser Platz übertrifft alle meine Erwartungen.
GREIS
Ein böser Geist sollte tagsüber nicht erscheinen.
FRAU
Ich bin kein böser Geist.
GREIS
Was willst du von mir?
FRAU
Ich? Du bist es doch, der was braucht.
GREIS
Ich brauche nichts von dir.
FRAU
Das letzte Mal hast du was anderes gesagt.
GREIS
Ich sollte nicht mit dir sprechen.
FRAU
Aber du hast Lust.
GREIS
Der Teufel versucht immer, das Gewissen des Sünders einzuschläfern.
FRAU
Ich will dir helfen.
GREIS
Warum?
FRAU
Nur so, völlig selbstlos.
GREIS
Das glaube ich nicht.
FRAU
Da hast du recht. Aber es wird eine Zeit kommen, da du mich von dir aus rufen wirst.
GREIS
Hinweg mit dir! Weiche von mir!
FRAU
Das kann ich nicht. Ich kann nur weggehen.
Die Frau steht auf, geht an dem knienden Greis vorbei und verläßt die Kapelle. Erst nach einer ganzen Weile wendet der Greis den Kopf, aber am Eingang zur Kapelle leuchtet nur das unendliche Blau des Himmels.
Im Lampenschein legt der Mann geduldig die Fetzen der drei Fotografien zusammen, er will sie wieder ganz haben. Man hört gedämpfte Musik. Blues. Der Mann steht auf, horcht, nimmt die Lampe vom Tisch, geht zur Tür, macht sie auf und geht auf den Wehrgang. Er läuft einmal rundherum. Die Musik kommt weder näher, noch entfernt sie sich, dann hört sie auf. Der Mann kehrt in seine Zelle zurück. Er kommt jetzt von der entgegengesetzten Seite, weil er rund um den Wehrgang gelaufen ist. Er schließt die Tür und stellt die Lampe auf den Tisch. Im Schein der Lampe liegen die drei Fotografien unberührt, als wären sie nie zerrissen worden oder als wären sie auf eine magische Art und Weise wieder zusammengewachsen. Der Mann geht ans Fenster. Die Leere der Nacht und des Meeres.
Die Bastion. Der Mann und der Junge machen sich an der Kanone zu schaffen. Sie putzen das Geschützrohr mit Hilfe eines Putzstocks. Daneben liegen die drei Schwerter, die drei Panzer und das Fäßchen.
Küchenrefektorium. Nach dem Abendessen. Schweigen. Der Greis und der Mann sitzen hinter dem Tisch, der Junge räumt das Geschirr ab.
MANN
Geh schlafen.
Der Junge unterbricht die Tätigkeit erstaunt und sieht den Mann an. Auch der Greis sieht ihn verwundert an. Der Mann wiederholt sich ungeduldig.
Du kannst morgen aufräumen, jetzt geh schlafen.
Der Junge sieht fragend den Greis an. Der erlaubt es mit einem Kopfnicken. Der Junge verläßt das Refektorium.
Es ist ein Fremder auf der Insel.
GREIS
Hast du jemanden gesehen?
MANN
Nein, aber ich weiß es.
GREIS
Geister.
Der Mann nimmt einen Zigarettenstummel aus der Tasche, legt ihn auf den Tisch vor den Alten. Der Greis streckt die Hand aus, zieht sie aber wieder zurück, ohne den Stummel zu berühren. Der Mann nimmt den Stummel, steht auf und geht zum Feuer. Er zündet ihn am Feuer an, macht einen Zug, verschluckt sich aber sofort. Er wirft den Stummel ins Feuer.
MANN
Ich bin es nicht mehr gewohnt.
GREIS
Alles liegt in Gottes Händen.
MANN
Was machen wir?
Der Greis schweigt.
Ich warte auf Anweisungen.
GREIS
Wie du meinst …
MANN
Ich meine gar nichts. Ich bin nicht der Prior.
GREIS
Darauf willst du hinaus …
MANN
Du regierst hier, Pater Prior, also denk dir was aus.
GREIS
Beneidest du mich um meine Macht?
Der Mann bricht in Gelächter aus, es ist ein brutales, unheilverkündendes Lachen.
MANN
Was für eine Macht?
GREIS
Du bist aufsässig, unverschämt und ungehorsam. Du untergräbst meine Autorität.
MANN
Was für eine Autorität? Wen gibt es denn hier außer uns beiden?
GREIS
Das Kind.
MANN
Eben. Und wen noch?
GREIS
Auch wenn wir nur wenige zählen, bilden wir einen heiligen Orden …
MANN
Ein Greis, ein Kind und ein Tor.
GREIS
Ein Orden, dessen Gesetzen du dich freiwillig unterworfen hast. Du solltest sie auch achten.
MANN
Wie lange noch?
GREIS
Bis es sich erfüllt.
MANN
Was?
Der Greis schweigt.
Willst du es mir nicht sagen?
GREIS
Das Geheimnis.
MANN
Kennst du dieses Geheimnis?
GREIS
Ja.
MANN
Lüge!
Der Greis steht auf, um zu gehen. Aber der Mann zwingt ihn, sich wieder zu setzen.
Reden wir ohne Groll miteinander.
GREIS
Nicht ich habe angefangen.
MANN
Was treiben wir hier?
GREIS
Wir warten.
MANN
Worauf?
GREIS
Das darf ich nicht sagen.
MANN
Weißt du, was ich davon halte? Du betrügst mich. Du offenbarst mir das Geheimnis nicht, nicht weil du es mir nicht sagen darfst, sondern weil du es selbst nicht kennst.
GREIS
Weshalb sollte ich dich belügen?
MANN
Weil du mich nur so hier halten kannst.
GREIS
Ich habe dein Leben gerettet.
MANN
Und ich soll dir dafür dankbar sein. Aber damit ist nichts. Ich bin nicht aus Dankbarkeit hiergeblieben, sondern weil ich geglaubt habe, daß du etwas weißt. Etwas, wofür es sich lohnt zu leben. So viele Jahre …
GREIS
Du hast dich nicht geirrt.
MANN
Aber ich glaube nicht mehr.
GREIS
Bist du dessen sicher?
Der Mann schweigt.
Wenn du dir sicher bist, dann geh.
MANN
Ich bleibe noch.
Der Mann geht im Dunkeln zu seiner Zelle. Er zündet die Lampe auf dem Tisch an. Im Lampenschein liegt ein ungeöffnetes Päckchen Zigaretten, ein Feuerzeug und eine ebenfalls ungeöffnete Ginflasche.
Der Mann nimmt die Flasche in die Hand und liest das Etikett. Er nimmt das Zigarettenpäckchen, betrachtet es, macht es auf, nimmt eine Zigarette heraus, steckt sie sich in den Mund, greift nach dem Feuerzeug. Aber er ändert seinen Entschluß. Er legt das Feuerzeug wieder hin, nimmt die Zigarette aus dem Mund und legt sie auf den Tisch. Er geht zum Bett, holt unter dem Bett den Koffer hervor, öffnet ihn. Er nimmt ein in Wachstuch eingeschlagenes Bündel heraus, wickelt es aus. In dem Bündel befinden sich ein Revolver und eine Schachtel Munition. Er setzt sich an den Tisch. Er schiebt das Feuerzeug und die Zigaretten beiseite. Er lädt das Magazin.
Das Gesicht des Jungen auf der Wasseroberfläche der Zisterne gespiegelt. Neben ihm erscheint eine zweite Spiegelung, das Gesicht der Frau. Die Haare hängen ihr lose bis auf die Schultern herab. Der Junge dreht sich um, neben ihm steht die Frau. Sie sieht ihn mit einem gewinnenden Lächeln an. In der Hand hält sie ein Spielzeug, ein Schiffsmodell.
JUNGE
Bist du von drüben?
Er zeigt auf das Meer.
FRAU
Ja.
Sie gibt ihm das Spielzeug. Er will es nicht annehmen.
Hast du Angst?
JUNGE
Ich darf keine Schiffe angucken.
FRAU
Tu nicht so, ich weiß genau, was du machst, wenn dich niemand sieht.
Der Junge sieht verwirrt zu Boden.
Ich sag es niemandem.
Die Frau kniet bei der Zisterne nieder, setzt das Schiffchen ins Wasser und stößt es leicht an.
Glaubst du mir nicht?
JUNGE
Nein, das ist es nicht.
FRAU
Und wieso guckst du mich so komisch an?
JUNGE
Du bist so anders …
FRAU
Ja.
JUNGE
Warum?
FRAU
Ich bin eine Frau.
JUNGE
Was heißt das?
FRAU
Das erfährst du noch früh genug.
Der Junge kniet neben ihr nieder.
JUNGE
Darf ich dich anfassen?
FRAU
Nein.
JUNGE
Weshalb darf ich keine Schiffe angucken?
FRAU
Wer verbietet es dir denn?
JUNGE
Die andern.
FRAU
Sie wollen dich hierbehalten.
JUNGE
Ich will nicht hierbleiben.
Der Junge stößt das Schiff an, das inzwischen seinen Schwung verloren hat.
FRAU
Du wirst wohl hierbleiben.
JUNGE
Und du?
FRAU
Ich gehe weg.
JUNGE
Nimm mich mit!
FRAU
Nein.
JUNGE
Bitte, nimm mich mit. Nimmst du mich mit?
FRAU
Dann mach die Augen zu.
Der Junge schließt die Augen. Die Frau nimmt sein Gesicht in beide Hände und küßt ihn leicht auf die Stirn.
JUNGE
Kann ich sie wieder aufmachen?
FRAU
Noch nicht, erst wenn ich rufe.
Die Frau entfernt sich leise, auf Zehenspitzen. Der Junge bleibt eine Weile mit geschlossenen Augen stehen, dann öffnet er sie, ohne das versprochene Zeichen abzuwarten. Die Frau ist verschwunden. Geblieben ist nur das Schiffchen, das auf der Oberfläche der Zisterne leicht schaukelt.
Eine Zimmerflucht im Dachgeschoß. Die Mansarden sind leer, nur von Zeit zu Zeit Überreste eines Gerätes, ein schiefer Tisch, ein Brett, verfaulendes Stroh, auf dem Boden zerstreut. Die Türen fehlen, nur die Türöffnungen und die Scharniere in den Mauern sind noch vorhanden. Die Gänge zwischen den Mansarden bilden Perspektiven, einer immer in den zweiten eingepaßt, immer kleiner werdend. Auch die Fenster, die auf das Meer und den Himmel blicken, sind ohne Rahmen. An die Wand gepreßt, schleicht sich der Mann mit dem Revolver in der Hand heran. In der Tiefe der Zimmerflucht hört man leise Musik. Blues. Der Mann schiebt sich an der Wand entlang bis zum nächsten Durchgang. Dann läuft er in das nächste Zimmer, das genauso leer ist wie das vorhergehende. Die Musik scheint wieder von woanders her zu kommen.
Die Szene wiederholt sich. Der Mann schleicht sich an und versteckt sich. Es ist gleichsam eine Jagd auf die Musik, die unerreichbar bleibt. Die Musik scheint immer weiter zu wandern und stets woanders zu sein. Der Mann ändert seine Taktik. Er klettert durch das Fenster auf den Sims, der am Gebäude entlangführt. Er preßt seinen Rücken gegen die Wand und schiebt sich auf dem Sims Schritt für Schritt vorwärts. Vor ihm und unter ihm der Abgrund, die Dächer der Gebäude, das Ufer der Insel und das Meer. Auf diese Weise gelangt er an das nächste Fenster. Sicht von innen auf dieses Fenster. Vorne auf dem Fußboden steht ein kleines Transistorradio mit einer Antenne. Laute Musik. Der Mann erscheint im Fenster. Er klettert hinein, außer dem Radio auf dem Fußboden ist hier niemand und nichts. Der Mann geht zum Radio, kniet sich hin und beginnt, daran zu hantieren. Er dreht an den Knöpfen, die Musik wird leiser, man hört Fetzen von Nachrichtenansagen in verschiedenen Sprachen, Knacken und Fetzen verschiedener Melodien.
FRAU
Du glaubst sicher nicht an Gespenster …
In dem Durchgang zur nächsten Mansarde steht die Frau. Sie lehnt lässig an dem Türrahmen, betrachtet den Mann halb spöttisch, halb belustigt.
Der Mann zielt mit dem Revolver auf sie.
MANN
Nein, ich glaube nicht an Gespenster.
FRAU
Schade.
MANN
Wer hat dich geschickt?
FRAU
Vielleicht ist das auch besser …
MANN
Die andern?
FRAU
Auf die Art vermeiden wir Mißverständnisse …
MANN
Sag ihnen, daß sie hier nichts mehr zu suchen haben.
FRAU
… und verlieren keine Zeit.
MANN
Sag ihnen, daß ich nichts mit ihnen zu tun haben will.
FRAU
Und ich?
MANN
Geh, woher du gekommen bist.
FRAU
Dich wundert also nichts, dich überrascht nichts, du hast vor nichts Angst?
MANN
Nein.
FRAU
Das ist nicht gut. Dann fände ich es schon besser, wenn du an Gespenster glaubtest.
MANN
Wir verlieren nur Zeit.
FRAU
Ganz meine Meinung.
Die Frau drückt auf einen Stein in der Mauer. Vor den Füßen des Mannes öffnet sich eine Versenkbühne. Der Mann verschwindet unter den Fußboden.
Der Saal mit den Porträts. Nahaufnahme eines Würdenträgers in Purpurtoga, mit einem Barett auf dem Kopf, einem Zepter in der Hand, einer goldenen Kette um den Hals. Das Porträt platzt auseinander, der Mann fällt heraus und auf den Fußboden. Er liegt bewegungslos, wie betäubt, gleichzeitig fliegt das Radio runter, aus dem jetzt irgendeine Melodie ertönt, die in starkem Gegensatz zu der Situation steht. Man hört die Stimme der Frau mit einem vielfachen Echo.
Lebst du noch?
Der Mann bewegt sich, krabbelt auf allen vieren, fuchtelt mit dem Lauf des Revolvers, den er festgehalten hat, in verschiedenen Richtungen herum, ohne herausfinden zu können, woher die Stimme kommt. Er macht das Radio aus und wartet, daß die Stimme sich wieder meldet.
Hier bin ich.
Da, wo die Bogen der Kreuzgewölbe zusammenlaufen, befindet sich eine runde Öffnung, in der Öffnung das Gesicht der Frau.
Der Mann schießt in die Richtung. Der Schuß hat einen sehr lauten Widerhall in dem leeren Saal.
Ach, hör auf.
Ihr Gesicht verschwindet aus der Öffnung. Der Mann geht etwas hinkend zur Pforte, die aber von außen verriegelt ist. Der Mann versucht hilflos, herauszufinden, wie man sie öffnet.
Nicht da lang.
Der Mann dreht sich schnell nach der Öffnung oben um. Aber diesmal kam die Stimme nicht von dort. Der Mann kann nicht verstehen, woher sie kommt. Er sieht sich mißtrauisch um, geht von der Pforte weg, läuft durch den Saal.
Die zweite, kleinere Tür, unter dem Bild, das die Schlacht bei Lepanto darstellt, ist angelehnt. Der Mann geht hindurch und kommt zur Wendeltreppe. Er geht einen Stock tiefer und kommt in den Saal mit den Sarkophagen. Auf einem der Sarkophage, der Wendeltreppe gegenüber, sitzt die Frau bei den Gebeinen eines steinernen Ritters und feilt ihre Nägel, als säße sie auf dem Bett.
Wo warst du so lange? Ich warte mich ja tot.
Der Mann hebt den Revolver.
Ach, hör mit dieser Schießerei auf. Das führt doch zu nichts.
Der Mann läßt den Revolver sinken.
MANN
Wer bist du?
FRAU
Na endlich fängst du an, dich für mich zu interessieren.
Der Mann nähert sich ihr.
Nein, bleib da.
MANN
Ich denke, du willst dich unterhalten.
FRAU
Natürlich, aber komm mir nicht zu nah. Nach allem, wie du dich benommen hast …
Sie weist auf den nächsten Sarkophag, so, wie man einem Gast einen Platz auf dem Sofa anbietet. Der Mann setzt sich auf einen Sarkophag.
MANN
Was willst du?
FRAU
Ich sag dir ganz offen: Du gefällst mir.
MANN
Ich?
FRAU
Wundert dich das? Sehr gut, du fängst an, dich zu wundern.
MANN
Du willst ja wohl nicht behaupten, daß du meinetwegen hierhergekommen bist?
FRAU
Ausschließlich.
MANN
Unsinn. Du hast mich noch nie gesehen. Wir kennen uns nicht.
FRAU
Doch, natürlich.
MANN
Nehmen wir an, es ist wahr, obwohl es ausgeschlossen ist. Wozu dann all diese Fisimatenten?
FRAU