Striptease - Slawomir Mrozek - E-Book

Striptease E-Book

Slawomir Mrozek

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Beschreibung

»Groteske Sketche und Komödien, mit denen Mrozek sich das Theater eroberte und weltweite Berühmtheit erlangte: Eskalationen von schwarzem Humor, Stücke in der Nähe zum damals florierenden absurden Theater des Westens; und zwar mehr zu Ionesco als zu Beckett, aber nicht eine bloße Nachahmung, weiterführend vielmehr.«

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Sławomir Mrożek

Striptease

und andere Stücke

Aus dem Polnischen von Ludwig Zimmerer

Diogenes

Polizei

Drama aus dem Gendarmenmilieu

Hinweise für eine eventuelle Inszenierung:

Dieses Stück enthält nichts außer dem, was es enthält, also: keine Anspielungen auf irgend etwas und keine Metaphern. Zwischen seinen Zeilen steht nichts; zwischen ihnen lesen zu wollen, ist daher verlorene Liebesmüh. Der nackte Text ist eindeutig; die Sätze und Szenen haben ihren logischen Sinn – es braucht also nichts in sie hineingelegt zu werden. Ohnedies verlangt das Stück vom Zuschauer gespannte Aufmerksamkeit; würde ihm etwas hinzugefügt, müßte es zwangsläufig ermüden.

Für bühnenbildnerische Gags, Ausschmückungen und Witze bleibt hier kein Spielraum. Nichts bedarf einer besonderen Hervorhebung, und auch mit der »Atmosphäre« des Stückes sollte man behutsam umgehen. Übertreibungen sowie alle Arten von Interpretationen sind unangebracht und können dem Stück nur schaden. Es handelt sich hier, um Gottes willen, auch nicht um eine Komödie, deren Pointen man mit Akzenten versehen könnte. Enthält dieses Stück Pointen, so sind sie der Art, daß sie ohne ein »Achtung! Es folgt ein Witz« vorgetragen werden können. Nebenbei bemerkt: dieses Stück will weder supermodern noch experimentell sein.

Meine Forderungen tragen mir vielleicht den Vorwurf ein, ich verstünde nichts vom Theater. Möglicherweise stimmt das. Aber darum geht es nicht. Ich weiß andererseits sicher, daß gewisse Elemente des Theatralischen, des theatergerechten Denkens inzwischen längst banal und oberflächlich, ja zu einem Fetisch, einem gedankenlosen Schema geworden sind. Die Manie, aus jedem simplen Schauspiel schöpferisch-neuartige Metaphern herauszulesen, wirkt auf die Dauer langweilig.

So weiß ich also recht gut, was mein Stückchen nicht ist. Was es jedoch wirklich ist, weiß ich nicht. Aber das gehört schon nicht mehr zu meinen Pflichten. Um diese Dinge soll sich das Theater kümmern. Die Annahme, meine Verbotshinweise schränkten den Regisseur ein, ließen ihm keine Möglichkeiten mehr offen, würde von mangelndem Respekt für das Theater zeugen. Eine so armselige und enge Institution ist das Theater denn doch nicht.

Personen

Der Polizeipräsident

Der Häftling, ein ehemaliger Verschwörer; später Adjutant

Der Polizeisergeant, ein Provokateur

Die Gemahlin des Sergeantenprovokateurs

Der General

Ein Polizist

Ort der Handlung:

Akt I und III:

Im Büro des Polizeipräsidenten.

Akt II:

Am häuslichen Herd des

Sergeantenprovokateurs.

Erster Akt

Büro des Polizeipräsidenten. Unerläßliche Requisiten: ein Schreibtisch, zwei Stühle, eine gut sichtbare Tür, zwei Porträts: das des Infanten (Säugling in einem altmodischen Kinderwagen oder Kleinkind im Stil der bürgerlichen Kinderphotographien des 19. Jahrhunderts) und das des Regenten (alter Knacker mit martialischem Schnurrbart). Wer mit der Polizei zu tun hat, trägt Schaftstiefel, Säbel, Vatermörder und Schnurrbart. Der Verschwörer hat einen Spitzbart à la Fortschrittler des 19. Jahrhunderts. Die kurze Ziviljacke des Provokateurs sitzt etwas zu knapp. Alle Uniformknöpfe blitzen schrecklich metallen. Die Uniformen sind dunkelblau.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

beendet stehend das Ablesen eines Textes … bleibt mir also nur noch das Verlangen, meinen Verbrechen mit größtem Abscheu abzuschwören und unserer Regierung fürderhin mit allen Kräften in gebührender Ehrfurcht und allerhöchster Liebe auf immerdar zu dienen. Setzt sich, legt das Blatt beiseite.

DER HÄFTLING

Legen Sie es nicht weg. Ich unterschreibe.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Wieso?

DER HÄFTLING

Ich unterschreibe, und damit basta.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Aber warum denn?

DER HÄFTLING

Wieso »warum«? Seit zehn Jahren sitze ich in Untersuchungshaft und Sie verhören mich, seit zehn Jahren legen Sie mir täglich diesen Schrieb zur Unterschrift vor, und wenn ich mich weigere, drohen Sie mir mit peinlichen Folgen oder reden auf mich ein, daß ich besser daran täte zu unterschreiben. Und wenn ich endlich dazu bereit bin, um hier herauszukommen und unserer Regierung dienen zu können, wundern Sie sich und fragen »warum«?

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Aber wieso denn jetzt auf einmal?

DER HÄFTLING

Weil ich mich gewandelt habe, Herr Präsident.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Inwiefern gewandelt?

DER HÄFTLING

Eine richtige innere Wandlung. Ich mag nicht mehr gegen die Regierung kämpfen.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Aber warum denn nicht?

DER HÄFTLING

Ich bin es leid. Soll gegen die Regierung kämpfen, wer will. Was geht’s mich an? Spione einer fremden Macht, Agenten oder dergleichen werden sich wohl noch finden lassen. Ich jedenfalls habe keine Lust mehr. Ich habe das meine getan.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

traurig Von Ihnen hätte ich das nicht erwartet. Den Kampf gegen die Regierung einstellen! Konformist werden! Und wer macht das? Der älteste Gefängnisinsasse des Landes!

DER HÄFTLING

Eben, Herr Präsident! Stimmt es übrigens, daß ich der letzte Häftling im ganzen Lande bin?

DER POLIZEIPRÄSIDENT

zögernd Ja!

DER HÄFTLING

Sehen Sie! Jedermann ist längst davon überzeugt, daß unser System das beste ist. Meine ehemaligen Kollegen haben ihre Schuld bekannt, haben Gnade gefunden und durften nach Hause gehen. Es gibt einfach niemanden mehr zum Verhaften. Und ich soll der letzte Verschwörer sein? Im Grunde bin ich Briefmarkensammler.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Das sagen Sie jetzt. Und wer hat die Bombe auf den General geworfen?

DER HÄFTLING

Jetzt kommen Sie mir schon wieder mit dieser alten Geschichte. Und außerdem war es ein Blindgänger. Schade um jedes Wort!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Ich erkenne Sie wirklich nicht wieder. Zehn Jahre lang haben Sie alle Aussagen verweigert und sich prächtig gehalten. Wie oft haben Sie, statt zusammenzubrechen und, wie es sich gehörte, zu unterschreiben, stolz die Porträts erhebt sich und steht stramm unseres Infanten und Seines Onkels, des Regenten, setzt sich bespuckt. Wir haben uns doch so aneinander gewöhnt. Alles war in bester Ordnung, und jetzt wollen Sie auf einmal die ganze Vergangenheit ausradieren.

DER HÄFTLING

Ich sage Ihnen doch, daß es keinen Sinn mehr hat. Wenn ich ideologisch nicht so vereinsamt wäre, könnte ich vielleicht noch weitermachen. Aber man stelle sich vor, daß unser ganzes schönes, fruchtbares, friedliches Land schon seit langem erhebt sich und steht stramm für unseren Infanten und Seinen Onkel, den Regenten, begeistert ist, und daß keiner mehr im Gefängnis ist außer mir, dem letzten Häftling! Ehrlich gesagt, Herr Präsident, ich habe meine früheren Überzeugungen einfach verloren. Daß das ganze Volk für die Regierung und gegen mich ist, gibt doch zu denken. Mit einem Wort: Wir haben eine sehr gute Regierung.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Hmmm … Hmmm …

DER HÄFTLING

Wie bitte?

DER POLIZEIPRÄSIDENT

steht auf, wird amtlich Indem ich mit aufrichtiger Freude und Zufriedenheit das Geständnis des Häftlings zur Kenntnis nehme, aus dem hervorgeht, daß sich unter dem erzieherischen Einfluß des Gefängnisses in ihm ein innerer Wandel vollzogen hat, fühle ich mich dennoch verpflichtet, nachzuprüfen, ob seine neuen, erfreulichen und allseitig wissenschaftlich begründeten Ansichten auch genügend tiefschürfend und dauerhaft sind. Setzt sich, in einem anderen Ton Nun sagen Sie mal, wie kommen Sie eigentlich plötzlich auf die Idee, daß unsere Regierung gut sei?

DER HÄFTLING

Herr Präsident! Wo haben Sie Ihre Augen? Schließlich hat doch unser Land in seiner ganzen Geschichte noch niemals eine solche Blütezeit erlebt wie jetzt. Vom Fensterchen meiner Zelle aus erblicke ich, wenn ich die Pritsche davorschiebe, den Kübel mit dem Boden nach oben daraufstelle, hinaufsteige und mich auf die Zehenspitzen stelle, eine wunderschöne Wiese, auf der in jedem Frühjahr Blumen in den verschiedensten Farben sprießen. Zur Zeit der Heuernte kommen Landleute auf diese Wiese und mähen das Gras. Im Laufe der letzten zehn Jahre konnte ich auf ihren Gesichtern einen Ausdruck der Zufriedenheit wahrnehmen, der von Jahr zu Jahr deutlicher wurde.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Aber Sie wissen doch, daß die Hausordnung es verbietet, aus dem Fenster zu schauen.

DER HÄFTLING

Das gilt doch nicht für die Zellen, die der ideologischen Umerziehung dienen. Aber das ist noch gar nichts, Herr Präsident. Hinter der Wiese ist ein Hügelchen, und dahinter ist im Laufe der letzten sieben Jahre eine Fabrik mit einem Kamin entstanden, aus dem häufig Rauch aufsteigt.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Als Feind unrichtiger Informationen muß ich Ihnen mitteilen, daß es sich da um ein Krematorium handelt.

DER HÄFTLING

Ja möchten Sie vielleicht, daß man die Verstorbenen wie vor Jahrhunderten in der Erde verscharrt? Haben die Atheisten nicht das gleiche Recht wie die Gläubigen, über ihren Leib und ihren Leichnam zu verfügen? Was Sie sagen, ist lediglich eine Bestätigung dessen, was ich schon geahnt habe, daß nämlich in unserem Lande auch im Bereich der religiösen Überzeugungen weiteste Toleranz herrscht.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Hmmm …

DER HÄFTLING

Oder nehmen wir die Kultur! Immer wenn ich in meiner Zelle auf und ab gehe, mehr in der Längsachse als in der Quere, denn, wie Sie wissen, hat die Zelle die Form eines länglichen Rechtecks, wenn ich also meinen Spaziergang mache, bin ich einfach ganz begeistert.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Dagegen läßt sich nichts sagen.

DER HÄFTLING

Sehen Sie!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Ich bin im Dienst und darf meine Aufgabe nicht auf die leichte Schulter nehmen. Das heißt, ich darf mich von Ihrem Sinneswandel nicht so mir nichts dir nichts überzeugen lassen. Zunächst muß ich Ihre Gesinnung prüfen, ob sie frei von Wankelmut und Zweifeln ist. Blicken Sie nicht vielleicht mit einer allzu rosigen Brille auf unsere Wirklichkeit? Versucht man sich ein Gesamtbild von unserem Wirtschaftsleben zu machen, darf man verschiedene Einzelerscheinungen, wie z.B. das Eisenbahnwesen, nicht übersehen.

DER HÄFTLING

Sogar der erbittertste Feind unserer staatlichen Ordnung kann nicht leugnen, daß es das Phänomen Eisenbahn bei uns gibt.

Pause – der Polizeipräsident und der Häftling sehen sich an. Der Polizeipräsident steht auf kommt hinter dem Schreibtisch hervor, geht schweigend auf und ab. Bleibt stehen, schaut einen Augenblick auf die Porträts des Infanten und Seines Onkels, des Regenten. Der Häftling sieht ihm hinterdrein wie beim Tischtennis dem Ball.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Und was diese Herrschaften betrifft, zeigt auf die Bilder hatten Sie da nie zufällig irgendwie merkwürdige Gedanken? … Ungeduldig Sie wissen schon …

DER HÄFTLING

Ich verstehe nicht, Herr Präsident.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

irritiert Wenn man Sie jetzt reden hört, bekommt man den Eindruck, Sie hätten damals auf den General Brezeln geworfen und keine Bombe. Kam Ihnen denn niemals der Gedanke, daß steht stramm unser Regent, der Onkel unseres Infanten, im Rührt-euch ein Kretin ist?

DER HÄFTLING

steht vor Empörung auf Aber, Herr Präsident!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

nimmt sich zusammen Schon gut, schon gut. Natürlich ist er keiner. Geht wieder auf und ab Soweit, was die Gesinnung betrifft … Aber Sie müssen zugeben, daß selbst die besten Köpfe ihre Schwächen haben können, zum Beispiel im Bereich der Gewohnheiten und Neigungen.

Bleibt stehen, starrt den Häftling an, blinzelt ihm zu. Dieser reagiert nicht. Der Polizeitpräsident tritt noch näher an ihn heran, blinzelt ihm noch einmal sehr betont und vielsagend zu, wobei er dieses Blinzeln durch eine Bewegung des Kopfes und sogar des Halses unterstreicht. Der Häftling sieht sich um, als gälte das alles einem, der hinter ihm steht.

DER HÄFTLING

Warum zwinkern Sie mir zu, Herr Präsident?

DER POLIZEIPRÄSIDENT

reißt sich den Uniformkragen auf. Schämen sollten Sie sich, als alter Verschwörer eine solche Frage zu stellen!

DER HÄFTLING

Das ist auf den erzieherischen Einfluß des Gefängnisses zurückzuführen, den Sie vorher erwähnten. Ehrenwort, ich habe glatt vergessen, was ein solches Blinzeln bedeuten könnte. Eine Anspielung vielleicht? Etwas Schlimmes im Zusammenhang mit der Person unseres Infanten und Seines Onkels, des Regenten? Sprechen Sie doch, um Gottes willen!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Dann glauben Sie also nicht, daß unser Onkel Regent ein alter Schmutzfink sei?

DER HÄFTLING

Er? Dieser edle Greis?

DER POLIZEIPRÄSIDENT

geht wieder auf und ab. Gut also, sehr gut … Bleibt stehen. Im Namen des Polizeipräsidiums gratuliere ich Ihnen zu Ihrer Entwicklung reicht dem Häftling die Hand. Aber geben wir uns darob keiner allzu eilfertigen Freude hin! Das betrifft sowohl Sie, in dem sich eine, wie wir hoffen wollen, echte Wandlung vollzieht, als auch mich, der nicht das Recht hat, dem allzu unvorsichtig Glauben zu schenken. Sie erklären also, Sie hielten den Onkel Regenten nicht für einen … nun, Sie wissen schon Bescheid. Aber die Psychologie lehrt uns, daß der Mensch meint, er denke etwas nicht, und in Wirklichkeit denkt er es doch. Was haben Sie dazu zu sagen?

DER HÄFTLING

Sie haben ganz recht. Genau darum geht es. Manchmal meinen wir, daß wir denken, daß wir nicht denken, aber wir denken doch, während wir es in Wirklichkeit nicht denken. Ja, das Denken ist eine Macht, Herr Präsident.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

sentenziös, streng, mißtrauisch, lauernd Aber nur, wenn es im Dienste des Menschen steht.

DER HÄFTLING

Genau!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

unlustig Na gut! Jetzt schauen Sie sich einmal unseren Infanten an! Ein bißchen klein, nicht?

DER HÄFTLING

Wie jedes Kind.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Ein Hosenscheißer, wollten Sie sagen, nicht?

DER HÄFTLING

Herr Präsident! Wäre nicht Ihre Uniform und Ihr Rang, könnte ich mir vielleicht einbilden, Sie hätten recht. Aber wenn unser Polizeipräsident persönlich sagt, unser junger Herrscher sei ein Hosenscheißer, dann kann das niemals der Wahrheit entsprechen. Hätte mir das ein Krämer oder ein Steinhauer auf der Landstraße zugeflüstert, wer weiß, ob mir dann nicht Zweifel gekommen wären. Aber der Polizeipräsident! Niemals! Nein, das kann meine höchste Achtung und Bewunderung für die Person unseres Infanten … und natürlich auch Seines Onkels, des Regenten, nur bekräftigen.

Der Polizeipräsident setzt sich sichtlich ermüdet. Jetzt steht der Häftling auf tritt an den Schreibtisch, ergreift die Initiative.

Sie können mir glauben! Ich habe mit meinen alten irrigen, staatsfeindlichen Ansichten gebrochen. Die Ursache dafür ist doppelter, nämlich äußerer wie innerer Art, und gerade diese Duplizität bürgt für jene Tiefe und Dauerhaftigkeit, um die es Ihnen, Herr Präsident, in echter Sorge um mein Wohl geht. Die äußeren Beweggründe, wir sprachen bereits davon, sind der allseitige Aufschwung unseres Landes, von dem man sich an Hand der erstbesten Zeitung überzeugen kann. Machen Sie doch die Augen auf! Stecken Sie den Kopf angesichts unserer Errungenschaften nicht in den Sand! In unserem Lande soll es an etwas fehlen? Man braucht zum Beispiel doch nur an Ihr Einkommen zu denken, und sofort wird die Grundlosigkeit solcher Klagen klar. Kurzum, ich bin begeistert und verhehle es nicht.

Er zieht den Stuhl an den Schreibtisch, setzt sich, wird vertraulich.

Für den Fall aber, daß Sie Zweifel hegen, ob die Antriebe allgemeiner Natur stark genug sind, um die Unumstößlichkeit meiner neuen Überzeugung zu garantieren, möchte ich Ihnen auch die anderen Antriebe nennen, von denen ich Ihnen sagte, sie seien innerlicher und gewissermaßen persönlicher Art. Sehen Sie, von Kind auf habe ich keine Ruhe und Ordnung gekannt; kein erhabenes Ziel schwebte mir vor Augen, und alle Disziplin war mir fremd. Immer nur Freiheit und Freiheit! Und sehen Sie, die Einförmigkeit dieser geistigen Nahrung hat nur einen Teil meines Ichs zufriedengestellt. Gefühle der Empörung gegenüber der Autorität, den Willen, mich allen von der Obrigkeit auferlegten Einschränkungen zu widersetzen, ja, das hatte ich in Hülle und Fülle. Aber im Laufe all dieser Jahre wuchs in mir ein gewisses Ungenügen. Ich kam zu der Überzeugung, daß ich gewissermaßen ein minderwertiger Mensch sei. Ich, der freie Aufrührer, das Vorbild aller Verschwörer, lernte eine mir ganz neue Sehnsucht kennen. Wie kommt das nur? fragte ich mich. Warum hat mich das Schicksal zum Krüppel gemacht und mir die beglückende Fähigkeit vorenthalten, einverstanden, untertan, regierungstreu zu sein? Warum fehlt mir das angenehme Gefühl der Einheit mit der Obrigkeit, das beseligende Ja zur Erfüllung gebieterischer Pflichten, das um so angenehmer ist, als man sich nicht um Entscheidungen zu kümmern braucht und gerade im Gehorsam das so wohltuend auf das Selbstgefühl wirkende Bewußtsein der eigenen Rolle ünd Aktivität gewinnen kann. Ich war nur ein halber Mensch, Herr Präsident, bis ich endlich begriff, daß es noch nicht zu spät ist. Jawohl! Und so kam denn der Zeitpunkt, da mein erstes Ich, das ewig unzufriedene und grüblerische Ich, an Übersättigung starb, während das zweite erwachte und mit lauter Stimme nach der ihm zustehenden Nahrung verlangte, nach dem freudigen und ruhigen Einverständnis, der munteren Hoffnung und dem stillen Frieden, nach all dem, was der Mensch erfährt, wenn er sich vorbehaltlos einreiht. Die fröhliche Gewißheit, daß das Regiment unseres Infanten und Seines Onkels, des Regenten beide stehen auf und setzen sich dann wieder ebenso gut, weise und tugendhaft ist, wie wir selbst es sind, gibt uns ein Gefühl der Wonne, das den armen, aufs Negieren beschränkten und dadurch in ihrem Menschsein unerfüllten Individualisten völlig fehlt. Jetzt erst bin ich zu dieser Erkenntnis herangereift. Und ich sollte weiter der letzte Häftling in diesem voll erblühten und bis ins Mark hinein regierungstreuen Lande sein? Der letzte häßliche Fleck im Strahlenkranze der Herrschaft unseres Infanten und Seines Onkels, des Regenten? Der einzige Rabe, der durch die Schwärze seiner Flügel den reinen Regenbogen unseres Staatswesens trübt? Nur meinetwegen braucht man noch die Polizei, nur meinetwegen können Richter und Wächter nicht nach Hause gehen, lassen sich die leerstehenden Gefängnisse nicht in Kindergärten verwandeln. Nur meinetwegen, Herr Präsident, müssen Sie in Ihrer unbequemen Uniform in diesem stickigen Büro hocken, statt sich mit der Angelrute oder dem Jagdgewehr im Garten der Natur zu tummeln. So erkläre ich also feierlich, Herr Präsident, daß Sie das Spiel gewonnen haben. Die Mission der Polizei ist erfüllt. Der letzte, der noch etwas gegen die Regierung hatte, streckt die Waffen und wünscht nichts mehr, als möglichst bald miteinzufallen in den vieltausendstimmigen Chor unserer Bürger, die dem Infanten und Seinem Onkel, dem Regenten, ein unablässiges Hosianna singen. Zum erstenmal in der Geschichte der Welt wird auf diese Weise das Ideal des Ordnungsstaates buchstäblich und ohne den geringsten Rest verwirklicht. Mit meiner Person verschwindet jetzt das letzte Hindernis. Der heutige Tag muß für Sie ein Höhepunkt Ihres Lebens sein, Herr Präsident. Es ist der Tag Ihres Endsiegs, die Krönung eines Werks, zu dem Sie berufen waren und an dem Sie Ihr Leben lang gearbeitet haben. Die Unterschrift, zu der Sie mich zehn Jahre lang vergeblich zu bewegen suchten, will ich heute leisten. Ich werde entlassen und kann fürderhin für die Regierung eintreten. Sofort schreibe ich einen offenen Brief an den Infanten und Seinen Onkel, den Regenten. Und ich kann Ihnen sagen, ein so demütiger, so von höchster Ehrfurcht und Liebe durchdrungener Brief ist noch nie geschrieben worden.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Sie haben vorhin erwähnt, daß Sie Briefmarkensammler sind.

DER HÄFTLING

überrascht Ja. Aber wieso kommen Sie darauf zurück?

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Überlegen Sie sich gut, ob Sie uns wirklich verlassen wollen. Sie könnten sich alles noch einmal durch den Kopf gehen, Ihre neue Überzeugung reifen lassen. Man sagt doch, plötzliche Entschlüsse seien des Teufels. In der Zwischenzeit würden wir Ihnen sogar beim Sammeln von Postwertzeichen behilflich sein. In vielen interessanten Ländern der Erde arbeiten Agenten unseres Nachrichtendienstes, die uns ihre Berichte zusenden. Wir könnten die Briefmarken ablösen und sie Ihnen für Ihr Album zur Verfügung stellen. Draußen kommen Sie nicht so leicht an gute Marken.

EIN POLIZIST

tritt ein. Der Sergeant ist zurück.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Er soll hereinkommen.

Der Sergeant tritt ein. Ein stämmiger Mann mit roten Bäckchen und besonders langem Schnurrbart. Er hinkt und wird von dem Polizisten gestützt. Er hat ein blaues Auge. Vor den Porträts des Infanten und Seines Onkels, des Regenten, steht er stramm; dann läßt er sich auf einen Stuhl fallen. Er trägt einen Regenmantel und ein grünes Hütchen mit schmaler Krempe.

Na, Sergeant, hat’s geklappt? – Aber wie sehen Sie denn aus? Was ist passiert?

DER SERGEANT

stöhnt.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Tut’s weh?

DER SERGEANT

nickt, zieht ein Taschentuch heraus, legt es sich auf das kranke Auge. Der Polizeipräsident schickt den Polizisten mit einer Handbewegung hinaus.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Jetzt können Sie sprechen.

DER SERGEANT

Ich wurde verprügelt, als ich zum Zwecke des Provozierens regierungsfeindliche Äußerungen tat.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Aber wer hat Sie denn verprügelt? Sie wollen doch nicht behaupten …

DER SERGEANT

Leider doch! Das der Regierung treu ergebene Volk hat mich verprügelt.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

finster Ich habe damit gerechnet.

DER HÄFTLING

Sehen Sie, Herr Präsident, das alles bestätigt nur meine These.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

scharf Mischen Sie sich nicht ein. Sergeant, berichten Sie ausführlich!

DER SERGEANT

Sofort nach Erhalt Ihrer Instruktion, Herr Präsident, machte ich mich an die Ausführung derselben. Zuerst beschaffte ich mir einen Anzug, obwohl ich, wie Sie wissen, Zivilkleidung nicht ausstehen kann. Zum Zwecke noch vollständigerer Tarnung setzte ich mir ein grünes Hütchen auf und zog einen Regenmantel an. Anschließend begab ich mich auf die Straße. Ich postierte mich eine Zeitlang gegenüber dem staatlichen Eichamt und benahm mich auffällig, aber niemand schenkte dem Beachtung. Daher ging ich zum Platz und schnitt Grimassen vor dem Denkmal unseres Infanten und Seines Onkels, des Regenten. Aber auch das fiel keinem Menschen auf, weil es dort alle eilig haben. Ich ging also weiter und stellte mich vor einem Kiosk, an dem es Bier gab, in die Schlange. Wie ich mich umschaue, merke ich, daß vor dem Kiosk lauter Durchschnittsbürger stehen. So ungefähr dreißigste bis achtunddreißigste Lohnkategorie. Ausgezeichnet, denke ich. Die Schlange rückt langsam vor, und ich überlege mir die ganze Zeit, wie ich es am besten anfange. Wie die Reihe endlich an mir ist, sage ich zum Verkäufer scheinbar ganz nebenbei: »Ein kleines Regierungsbier!« Verstehen Sie, Herr Präsident, Regierungsbier? So als ob die Regierung für dieses Bier verantwortlich sei oder so etwas – und dafür, daß es klein ist. Aber der Verkäufer, der einen unintelligenten Eindruck macht, versteht nicht oder will nicht verstehen und fragt lediglich: »Hell oder dunkel?« Da werde ich deutlich. »Völlig einerlei«, sage ich, »die Landwirtschaft geht bei uns ohnedies vor die Hunde, und wer nicht stiehlt, kann von seinem Einkommen ja doch nicht leben.« Die hinter mir schieben sich daraufhin dichter heran, und einer fragt, ob das vielleicht Anspielungen auf unsere Regierung sein sollen; er sei nämlich staatlicher Angestellter, und eine Verleumdung des Staates werde er nicht zulassen. Da fange ich erst richtig an: über die Viehzucht, den Außenhandel und auch ein wenig über die Polizei, vor allem die geheime. Da löst sich ein junger Bursche mit einer Schlägermütze aus der Menge und rückt mir auf die Pelle: »Nimm du unsere Polizei nicht in dein ungewaschenes Maul, denn wenn du so weitermachst, dann fängst du auch noch an, gegen das Militär zu hetzen, und möchtest den Wehrdienst abkürzen oder ganz beseitigen, ausgerechnet jetzt, wo ich doch im Herbst zur Musterung soll.« Daraufhin kriegt ein Frauenzimmer, das etwas abseits steht, fast Krämpfe: »Schaut euch den an!« schreit sie. »Unsere Polizei paßt ihm nicht. Dabei habe ich gerade in der letzten Woche einen Antrag auf Vornahme einer Hausdurchsuchung eingereicht, und dieser Hundsfott will mir die Freude verderben. Nach einer Hausdurchsuchung ist einem immer wohler; vorher fühlt man sich halt doch etwas komisch und kommt sich nicht so zuverlässig vor.« Ich merke, daß das Provozieren hier keine leichte Aufgabe ist. Aber, Herr Präsident kennen mich ja; in der Polizei diene ich beinahe von Kindesbeinen an, und auch das Provozieren ist mir eine heilige, wenn auch harte Pflicht – schon deshalb, weil mich, wie gesagt, dieses Zivilzeug ganz krank macht. Ich überlege also nicht lange und rede wacker weiter. Alles schön der Reihe nach, wie es sich gehört. Zuerst hechle ich die Steuern durch, dann die Verhältnisse in den Krankenhäusern und schließlich komme ich auf den Infanten steht auf und Seinen Onkel, den Regenten, zu sprechen. »So einer bist du? Gegen unsere heißgeliebte Obrigkeit willst du lästern!« rufen sie da und hauen mich durch.

DER HÄFTLING

Bravo! Ein tüchtiges Volk!

DER SERGEANT

Und verstehen Sie, Herr Präsident, als sie auf mich losschlugen, tobten in mir zwei gegensätzliche Gefühle: das Gefühl des Kummers und das der Freude. Traurig stimmte es mich, daß ich den Befehl des Herrn Präsidenten nicht durchführen konnte, weil es mir nicht gelang, jemanden zu provozieren, und wir auf diese Weise wieder keinen zum Verhaften haben. Auf der anderen Seite freute es mich, daß Ehrfurcht und Liebe gegenüber der Obrigkeit und der Person steht auf unseres Infanten und Seines Onkels, des Regenten, in unserem Volk so allgemein und stark sind, wie Herr Präsident gütigst an meinem Auge ablesen wollen.

DER HÄFTLING

halb zu sich selbst, begeistert Ein prächtiges Land! Prächtige Menschen!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Umschläge mit essigsaurer Tonerde sollten Sie machen.

DER HÄFTLING

Herr Präsident! Der Bericht des Sergeanten hat mich in meiner Überzeugung endgültig bestärkt. Meinen alten Ansichten, an die ich nicht mehr ohne Ekel zurückdenken kann, will ich auf der Stelle abschwören. Auf der Stelle unterschreibe ich den Unterwerfungsakt. Ich bitte um das Formular, um Feder und Tinte.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

verdrossen Unwiderruflich also?

DER HÄFTLING

Nichts kann mich mehr davon abbringen. Sobald ich dieses Gebäude, mit dem mich so viele Erinnerungen verbinden, hinter mir habe, werde ich mich unverzüglich in den Dienst der Regierung stellen. Los, unterschreiben wir!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Auf die Briefmarken legen Sie also keinen Wert mehr?

DER HÄFTLING

Was bedeuten mir Postwertzeichen, wenn meiner der Dienst beim steht auf Infanten und Seinem Onkel, dem Regenten, harrt. Was ist schon die Leidenschaft des Sammelns im Vergleich mit der Leidenschaft des Dienens? Was soll mir ein Album, wenn ich mich zum erstenmal in meinem Leben nach der düsteren Zeit der Anarchie den Wonnen des Gehorsams hingeben kann.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Gut also! Ich will nicht weiter in Sie dringen. Hier, das Formular, eine Feder und Tinte! Legt dem Häftling ärgerlich die Gegenstände hin.

DER HÄFTLING

Endlich! unterschreibt. Der Polizeipräsident nimmt das Formular, nimmt Löschpapier, bläst auf das Blatt. Klingelt. Ein Polizist tritt ein.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Bringen Sie ihm seine Sachen! Zum Häftling Sie haben mich tief enttäuscht. Ich dachte, Sie hielten durch. Zuerst waren Sie immer so standhaft.

Der Polizist bringt die Sachen des Gefangenen: Pelerine, Gesichtsmaske und Bombe.

Wir haben Ihnen die Dinge zurückzugeben, die Sie im Augenblick der Verhaftung bei sich trugen.

DER HÄFTLING

O diese Gespenster der Vergangenheit! Nimmt aus der Hand des Polizisten die Verschwörerpelerine, wirft sie sich um die Schultern, steckt die Maske in die Tasche. Der Polizist hält ihm die Bombe hin. Nein! Die will ich nicht mehr sehen! Damit ist Schluß für immer! Herr Präsident, würden Sie zur Erinnerung an eine gemeinsam verbrachte Zeit diese Bombe entgegennehmen? Sie wird Zeugnis ablegen von Ihrem väterlichen Triumph über mich. Das ist alles, was vom letzten Verhör übrigblieb. Die Maske nehmen Sie am besten auch. Zieht sie aus der Tasche.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Wie Sie wünschen. Übernimmt gleichgültig Bombe und Maske und legt sie in die Schreibtischschublade.

DER HÄFTLING

Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen. Der letzte Verschwörer ist tot. Ein neuer Untertan erblickt das Licht der Welt. An Ihrer Stelle ließe ich Böllerschüsse abfeuern und gäbe meinen Leuten drei Tage frei. Aber wieso eigentlich nur drei Tage? Von heute an werden sie ohnedies nichts mehr zu tun haben. Leben Sie wohl, und besten Dank für alles!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Keine Ursache!

Der Häftling schüttelt der Reihe nach dem Präsidenten, dem Sergeanten, dem Polizisten die Hand, geht ab. Der Polizist macht vorschriftsmäßig kehrt, tritt ebenfalls ab. Polizeipräsident und Sergeant bleiben schweigend zurück. Plötzlich hört man durch das Fenster, offensichtlich von der Straße aus, einen markerschütternden Schrei des Häftlings.

STIMME DES HÄFTLINGS

Es lebe unser Infant und Sein Onkel, der Regent!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

vergräbt sein Gesicht in den Händen, scheint einem Zusammenbruch nahe Ogottogott!

DER SERGEANT

verträumt Vielleicht ließe der sich provozieren …

Zweiter Akt

Am häuslichen Herd des Provokateurs. An der Wand die bekannten Bilder des Infanten und Seines Onkels, des Regenten, außerdem ein Hochzeitsbild des Sergeanten und seiner Frau. Tür und Fenster gut sichtbar, ein Tisch, zwei Stühle. Eine Schneiderpuppe – daran, sehr sorgfältig angelegt, die vollständige Uniform des Sergeanten mit zahlreichen Orden. Dicht daneben eine kleine spanische Wand, unter der Schaftstiefel hervorschauen. Ein Gummibaum oder eine Palme. Auf einem Tischchen eine Hantel. Die Frau des Provokateurs. Der Polizeipräsident wie im ersten Akt, aber anscheinend inkognito, da Kapuzenmantel über der Uniform. Säbel umgeschnallt.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Kapuze tief über die Augen gezogen Guten Tag! Ist Ihr Mann zu Hause?

DIE FRAU DES SERGEANTEN

Er ist noch nicht vom Dienst zurück.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Noch nicht vom Dienst zurück? Soviel ich weiß, hat er heute seinen freien Tag.

DIE FRAU DES SERGEANTEN

Er mag nicht frei haben. Wünschen Sie etwas von ihm?

Der Polizeipräsident tritt in die Mitte des Zimmers, streift seine Kapuze ab.

… Herr Präsident!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Pst! Nicht so laut! Hat Ihr Mann nicht gesagt, wann er zurückkommt?

DIE FRAU DES SERGEANTEN

Nein! Er ist aus eigenem Antrieb in die Stadt provozieren gegangen. Wer weiß, wie lange das dauert?

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Lassen Sie sich nicht stören! Wie ich sehe, sind Sie am Nähen.

DIE FRAU DES SERGEANTEN

steckt verschämt ihre Handarbeit weg. Ach, nur so eine Kleinigkeit … Tressen für seine Unterhose. Er fühlt sich so schlecht in Zivil. Irgend etwas Militärisches muß er anhaben. Auch wenn’s keiner sieht. Plötzlich in anderem Ton – flehentlich Herr Präsident!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

schaut sich um Was gibt’s?

DIE FRAU DES SERGEANTEN

Befreien Sie ihn von diesem Dienst. Schicken Sie ihn nicht mehr in Zivil zum Provozieren!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Aber was ist denn passiert?

DIE FRAU DES SERGEANTEN

Keiner weiß, wie elend und mager er geworden ist, seitdem er in Zivil gehen muß. Er kann ohne Uniform nicht leben. Er verschmachtet.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Da läßt sich nichts machen. Provozieren kann man nur in Zivil.

DIE FRAU DES SERGEANTEN

Wenn er wenigstens seine Dienstmütze dabei tragen könnte, dann wäre ihm gleich wohler.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Das geht doch nicht. Die Mütze würde Aufmerksamkeit erregen.

DIE FRAU DES SERGEANTEN

im Ton einer vertraulichenMitteilung Freilich! Seit so langer Zeit hat er schon keine Verhaftung mehr vornehmen können. Ihnen gegenüber läßt er sich bestimmt nicht anmerken, wie sehr er darunter leidet, aber zu Hause ist es fast nicht mehr zum Aushalten mit ihm. Eine einzige Verhaftung würde ihm schon enorm gut tun.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

sentenziös Ohne Provozieren – kein Arretieren!

DIE FRAU DES SERGEANTEN

dumpf und betrübt Ich habe schon aufgehört, daran zu glauben.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Kennen Sie nicht zufällig jemand, der in Frage käme?

DIE FRAU DES SERGEANTEN

Woher!.Alle sind ja so gottserbärmlich regierungstreu. Wenn ich etwas wüßte, würde ich es bestimmt gleich meinem Mann sagen, damit er sich nicht mehr so zu quälen brauchte. Er fragt mich auch ohnedies immer aus.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Und die Nachbarn? Oder entferntere Verwandte?

DIE FRAU DES SERGEANTEN

Ach was! Die sind alle in Ordnung. Einmal hat in unserer Straße ein alter Mann gewohnt, der hat immer geschimpft. Aber nicht wegen der Regierung, sondern wegen seinem Zipperlein. Außerdem ist er bald gestorben. Bestimmt aus Vorsicht.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

So ist es. Nirgends rührt sich etwas … Wie haben Sie eigentlich Ihren Mann kennengelernt?

DIE FRAU DES SERGEANTEN

Ach, Herr Präsident, das ist schon lange her. Er hat mich denunziert und ich ihn. So haben wir uns kennengelernt.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Haben Sie Kinder?

DIE FRAU DES SERGEANTEN

Zwei! Aber jetzt sind sie eingesperrt. Soll ich sie herauslassen?

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Nein, ich möchte nicht stören. Ich bin nur vorbeigekommen, um Ihren Mann zu treffen.

DIE FRAU DES SERGEANTEN

Vielleicht ist er schon zurück. Er horcht zuerst immer noch im Treppenhaus herum. Ich schaue schnell mal nach.

Geht hinaus. Leiserwerdende Schritte im Treppenhaus. Das Fenster geht auf. Der Sergeant (in Zivil) kommt durch das Fenster. Den Regenmantel und das grüne Hütchen trägt er in der Hand.

DER SERGEANT

Der Herr Präsident bei uns? Welch eine Ehre!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Pst! Ich bin inkognito. Darüber sprechen wir noch. Aber warum kommen Sie denn durchs Fenster?

DER SERGEANT

Ich bin über die Dächer geklettert, weil ich dachte, daß sich da vielleicht etwas Illegales tut. Ich war ohnedies schon auf dem Heimweg; da dachte ich mir: heute gehe ich einmal über die Dächer. Da ist es auch nicht weiter, und vielleicht läßt sich da etwas finden. Denn unten ist nach wie vor alles in Ordnung.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Na und?

DER SERGEANT

hebt resigniert die Arme. Nichts, Herr Präsident. Eine Menge Vögel und sonst gar nichts. Ist meine Frau nicht da?

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Sie ist im Treppenhaus, weil sie dachte, Sie dort zu finden.

DER SERGEANT

Sie horcht zum Zeitvertreib immer im Treppenhaus herum. Darf ich mich umziehen, Herr Präsident? Ohne Uniform komme ich mir ganz nackt vor.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Sie können sich umziehen, soviel Sie wollen. Sie sind ja hier zu Hause, und außerdem haben Sie Ihren freien Tag.

DER SERGEANT

hinter der spanischen Wand Habe ich. Aber ich dachte mir, daß es vielleicht gerade heute klappt, und ging los. Am Vormittag habe ich ein bißchen provoziert, aber alles für die Katz. Alle laufen herum und rufen immer nur »vivat«.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Wenn wir lauter solche Polizisten hätten wie Sie, gäbe es diese allgemeine und bestürzende Ordentlichkeit vielleicht nicht. Das heißt, umgekehrt, ich wollte sagen, Männern wie Ihnen haben wir diese ideale Ruhe zu verdanken. Sie verdienen Beförderung.

DER SERGEANT

legt hinter der spanischen Wand seine Uniform an. Kleinigkeit, Herr Präsident! Es hat mich einfach gewurmt. Ich mußte ein bißchen herumlaufen und es noch einmal probieren. Ich tue es sogar gern.

Pause. Der Sergeant kommt in voller Uniform, mit Säbel und Orden, hinter der spanischen Wand hervor. Streckt sich vor Wohlbehagen.

Was für eine Wohltat! Endlich fühle ich mich zu Hause. Sie haben ja keine Ahnung, was für ein Vergnügen es ist, wenn man von der Arbeit kommt und sich umziehen kann. Das heißt … Verzeihung! Merkt, daß er sich zu lässig benommen hat, steht stramm. Solche Unarten kommen durch die Arbeit in Zivil. Zivilkleidung demoralisiert. Herr Präsident wollen gütigst verzeihen! Ich werde mich künftig besser in acht nehmen.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Unsinn! Ich habe heute wichtigere Dinge im Kopf. Schicken Sie Ihre Frau unter irgendeinem Vorwand fort, damit sie uns nicht stört. Vermutlich ist sie noch immer im Treppenhaus. Eine tüchtige Frau! Aber ich muß mit Ihnen unter vier Augen sprechen.

DER SERGEANT

Jawohl, Herr Präsident! Geht. Seine Schritte entfernen sich im Treppenhaus. Der Polizeipräsident legt seinen Mantel ab und setzt sich. Schritte. Der Sergeant kommt zurück. Ich habe ihr befohlen, wasserfesten Leim zu besorgen.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Einen besseren Vorwand konnten Sie nicht finden?

DER SERGEANT

Das ist kein Vorwand, Herr Präsident. Mein Regenmantel hat tatsächlich einen Riß bekommen, als ich das letztemal verprügelt wurde.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Na, schon gut! Hat sie es weit?

DER SERGEANT

Sie ist frühestens in einer dreiviertel Stunde wieder da.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Sie wundern sich vermutlich über meinen Besuch?

DER SERGEANT

Wie Herr Präsident befehlen!

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Also Sie wundern sich.

DER SERGEANT

Jawohl! Der Herr Polizeipräsident bei mir zu Hause! Eher hätte ich mit einer Revolution gerechnet.

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Geben wir uns keinen Schwärmereien hin, lieber Sergeant. Im übrigen rechnet natürlich ein wachsamer Polizeisergeant ständig mit der Möglichkeit einer Revolution. Aber nicht darüber wollte ich sprechen … Sie verrichten Ihren Dienst tadellos.

DER SERGEANT

Wie könnte ich anders, Herr Präsident!

DER POLIZEIPRÄSIDENT