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Ein Luxushotel auf der Krim, die Gäste vertreiben sich die Zeit. Und die Zeit vergeht: der erste Akt spielt um 1910 mit Figuren aus Cechov-Stücken, der zweite Akt kurz nach der Revolution. Im dritten Akt, nach der Perestroika, ist das Hotel zum Treffpunkt für die neuen russischen Business-Männer geworden. Alles hat sich verändert, aber die Strukturen und Menschen sind dieselben. Oder etwa doch nicht?
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Seitenzahl: 157
Sławomir Mrożek
Eine tragische Komödie in drei Akten
Aus dem Polnischen von Christa Vogel
Diogenes
Tatjana Jakowlewna Borodin, 28 Jahre alt, Akte I, II, III
Lily Karlowna Swjetlow, 25 Jahre alt, Akte I, II, III
Matrjona Wasilewna Tschelsowa, 45 Jahre alt, Akte I, II, III
Anastasja Petrowna Batuschkowa, 60 Jahre alt, Akte I, III
Iwan Nikolajewitsch Zachedrynskij, 50 Jahre alt, Akte I, II, III
Pjotr Alexejewitsch Sejkin, 30 Jahre alt, Akte I, II, III
Rudolf Rudolfowitsch Wolf, 30 Jahre alt, Akte I, II, III
Alexander Iwanowitsch Tschelsow, 45 Jahre alt, Akte I, II, III
Ilja Subatyj, 22 Jahre alt, Akt II
Petja, 27 Jahre alt, Akt III
Wladimir Iljitsch Lenin, 40 Jahre alt, Akt I
Der Franzose, 30–40 Jahre alt, Akt II
General, Akt III
Werwolf, Akt III
Katharina die Große, 18–30 Jahre alt, Akt III
Der erste Mann, 30–40 Jahre alt, Akt III
Der zweite Mann, 30–40 Jahre alt, Akt III
1. Matrose, 20–25 Jahre alt, Akt III
2. Matrose, 20–25 Jahre alt, Akt III
In der Reihenfolge, wie sie im 1. Akt auftreten:
Pjotr Alexejewitsch Sejkin, Oberleutnant, 30 Jahre alt
Tatjana Jakowlewna Borodin, Lehrerin, 28 Jahre alt
Iwan Nikolajewitsch Zachedrynskij, eine »unklare Persönlichkeit«, 50 Jahre alt
Alexander Iwanowitsch Tschelsow, Kaufmann, 45 Jahre alt
Matrjona Wasilewna Tschelsowa, seine Frau, 45 Jahre alt
Rudolf Rudolfowitsch Wolf, Eisenbahningenieur, 30 Jahre alt
Lily Karlowna Swjetlow, Schauspielerin, 25 Jahre alt
Anastasja Petrowna Batuschkowa, Dienerin, 60 Jahre alt
Wladimir Iljitsch Lenin, Revolutionär, 40 Jahre alt
Der Komponist des Liedes
»Der Postkutscher« (»Jamschtschik«) ist J. Feldmann,
der Text stammt von N. Ritter.
Dieses Lied soll russisch,
d. h. in der Originalversion
gesungen werden.
Krim 1910. Eine einstige Residenzvilla, jetzt eine Pension. Die Bühne wird von fünf Wänden bestimmt, d.h. die Spielfläche ist die Hälfte eines Achtecks, das parallel zu den Seiten 1 und 5 und vertikal zu den Seiten 1 und 7 in zwei Hälften geteilt ist. Alle Bezeichnungen »rechts«, »links« sind vom Zuschauerraum aus gesehen.
Zwei Seitenwände, vertikal zum Proszenium, sind als Wand 1 (die linke Wand) und als Wand 5 (die Wand rechts) bezeichnet die dem Zuschauerraum gegenüberliegende zentrale Wand als Wand 3. Die linke schräg laufende Wand, zwischen Wand 1, d.h. der vertikalen zum Publikum und der Wand 3, d.h. der zentralen Wand, wird als Wand 2 bezeichnet. Die schräge Wand rechts, zwischen der Wand 5, d.h. der parallelen zum Publikum und der Wand 3, d.h. der zentralen Wand, wird als Wand 4 bezeichnet.
Zwischen der linken Wand, die vertikal zum Publikum verläuft, d.h. vertikal zum Proszenium (Wand 1), und dem Proszenium befindet sich ein Ausgang in die linke Kulisse. Dieser Ausgang stellt den Korridor dar, der in die Gästezimmer führt, in die Küche, in die Wirtschaftsgebäude und zum Ein- und Ausgang der Dienerschaft, d.h. er ist für die Dienerschaft bestimmt.
Zwischen der rechten Wand, der vertikal zum Zuschauerraum verlaufenden, d.h. vertikal zum Proszenium (Wand 5) und dem Proszenium befindet sich ein Ausgang zur rechten Kulisse. Dieser Ausgang ist der Hauptein- und -ausgang, d.h. für die Gäste der Pension bestimmt. Er führt zu angenommenen Treppen, da der Salon sich im ersten Stock befindet.
In der zentralen, dem Publikum gegenüberliegenden Wand (Wand 3) gibt es einen Ausgang auf einen Balkon, d.h. eher auf eine Terrasse. Dieser Ausgang ist offen. Um unnötige Schwierigkeiten mit Türen zu vermeiden, gibt es keine Tür. Das Klima auf der Krim ist mild, die Handlung spielt mitten im Sommer, außerdem erlaubt der Stil des Stückes solche Abweichungen vom Naturalismus. Sofern man will, kann man annehmen, daß die Türen nach außen aufgehen.
Dieser Ausgang ist breit, mehrere Personen können frei stehen, ohne sich zu behindern. Es ist weniger eine Tür als vielmehr der Rahmen einer kleinen Bühne im Hintergrund. Der Eindruck, daß es sich um eine kleine Bühne im Hintergrund der großen Bühne handelt, wird zusätzlich unterstrichen, da sie von Plüschvorhängen umrahmt (die jetzt offen sind), mit Schlaufen zusammengebunden und von oben einem Gardinenbrett abgeschlossen wird.
Die Umrahmung wird horizontal von der Balustrade der Terrasse abgeschnitten, einem durchbrochenen Zierwerk, also keine Mauer, das aus einer steinernen Brüstung und ebenfalls steinernen kleinen Säulen besteht. Hinter der Balustrade sieht man die Wipfel von Zypressen, dahinter das saphirblaue Meer und über dem Horizont das azurne Blau des Himmels.
Wenn die genaue Erarbeitung der Perspektive und der Bildkomposition es nicht zuläßt, daß man die Wipfel der Zypressen sieht, kann man darauf verzichten. Die Villa befindet sich abseits, und der Salon – wie schon gesagt – im ersten Stock. Die Entfernung vom Meer ist beliebig, Hauptsache, man sieht das Meer. Unter dem Balkon, parallel zum Meer, verläuft eine unsichtbare Durchfahrtstraße.
Wir ahnen, daß jener Balkon sich an der Fassade des Gebäudes nach rechts und links entlangzieht und als alternativer Kommunikationsweg zwischen dem Salon und den Gästezimmern dient.
Weil die nutzbare Oberfläche der Wand gegenüber nicht sehr groß ist, nimmt der breite Ausgang sie ein, oder vielmehr er öffnet fast die ganze Wand. Zwischen der linken Umrahmung dieses Ausgangs und der Ecke zwischen der zentralen Wand gegenüber (Wand 3) und der schrägen Wand (Wand 2) kann man wahrscheinlich nicht mehr als einen Stuhl stellen. Genauso ist es rechts von der Umrahmung, zwischen der Umrahmung und der Ecke zwischen der zentralen Wand gegenüber (Wand 3) und der schrägen Wand (Wand 4), wo auch nur ein oder zwei Stühle Platz finden.
Auf der Mitte der Bühne ein runder Tisch für acht Personen, mit einem faltenreichen, dunklen, gemusterten Stoff mit Fransen bedeckt. Auf dem Tisch etwas, was dazu dient, den Gästen Früchte anzubieten. Am besten eine Kristallschale auf einem ebenfalls kristallenen Ständer. Es geht darum, daß dieses Objekt gut exponiert wird und die Früchte darauf stark gegenwärtig, also sichtbar sind. Erst einmal aber ist diese »Früchteschale« durchsichtig leer.
Bei dem Tisch und um den Tisch herum stehen vier Stühle. Diese Stühle, wie auch die beiden Stühle vor der zentralen Wand gegenüber (Wand 3), die sich an jeder Seite des Balkonausgangs befinden, gehören zu derselben Garnitur. Insgesamt gehören acht Stühle dazu. Der siebente und der achte Stuhl stehen irgendwo herum, wahrscheinlich vor der Wand 2 und (oder) vor der Wand 4, das hängt von den Maßen der Bühne und den Forderungen der Regie ab.
Vor der linken, vertikal zum Proszenium verlaufenden Wand (Wand 1) ein Tisch mit kleinen Bücherfächern, ein sogenannter »Sekretär« mit Schreibutensilien für die Pensionsgäste, damit sie hier ihre Korrespondenz erledigen können. Davor ein Stuhl. Wegen der Erfordernisse des Realismus sollte dies der Stuhl Nr. 9 sein und nicht zu der anderen Garnitur gehören. Wenn aber das Theater arm und die Bühne sehr klein ist, oder wenn die Szene aus anderen Gründen zu voll gestellt wirken sollte, kann es auch einer der Stühle aus der Garnitur sein.
Weiter hinten, vor der Wand 2 (der schrägen), ein Sofa, auf dem bequem drei Personen sitzen können. Über dem Sofa an der Wand hängt eine Gitarre.
Auf der rechten Seite der Bühne, unter der Wand 4 (schräg) eine Anrichte, die zur Aufbewahrung von Porzellan, Gläsern, Weingläsern etc. dient. Über der Anrichte hängt eine Flinte an der Wand.
Näher vor der Wand 5 (vertikal zum Proszenium) ein kleiner Sessel. Das sollte ein einzelner, besonderer Sessel sein, d.h., er hat mit der Garnitur nichts zu tun.
Die oben beschriebene Bühnenarchitektur, die erwähnten und beschriebenen Möbel, die Art und Weise, wie sie angeordnet sind, sind unabdinglich, damit die Vorstellung funktioniert, das nötige Minimum. Sollte noch etwas hinzugefügt, ergänzt oder variiert werden, so gehört das zur Inszenierung. Die oben angeführten Anleitungen bitte ich als grundsätzliches Schema zu behandeln. Die jeweilige Festlegung der Bühnenbildprobleme gehört zu den Aufgaben des Regisseurs und ihre Lösung zu denen des Bühnenarchitekten.
Je größer die Bühne ist, je mehr Raum da ist, desto besser für dieses spezifische Stück. Wenn man alles zusammendrängt, die Bühne vollpackt, ist es wenig zuträglich für das Stück, insbesondere da im 3. Akt die Öffnung erfolgt, d.h. das Hinausgehen aus dem geschlossenen Raum ins Freie. Im 2. Akt erfolgt teilweise ein Dekorationswechsel (die Wände, die Architektur der Bühne bleiben dieselben, aber das Innere verändert sich völlig). Im 3. Akt absoluter Dekorationswechsel.
Dieses Stück verlangt also physischen Raum. Wie kann man zum Beispiel den Tisch »in die Mitte« stellen, ohne daß er gleichzeitig den Ausgang auf die Terrasse blockiert, visuell für die Zuschauer und räumlich für die Schauspieler? Das wird selbst auf einer großen Bühne schwer, und auf einer kleinen unmöglich zu lösen sein. Ein anderes Beispiel: Die Vieleckigkeit der Wände »verschwendet« einen bedeutenden Teil der brauchbaren Bühne. Und schon im 1. Akt werden acht Personen gleichzeitig auf der Bühne sein. Ganz zu schweigen vom j. Akt, dem »im Freien«.
Aber das Stück verlangt nicht nur physischen Raum. Es gibt auch einen »inneren« Raum, d.h. den Raum der Vorstellung. Um so größer, da jeder Akt in einer anderen Epoche spielt und das Ganze etwa hundert Jahre umfaßt.
Der Vorhang geht hoch.
Links am »Sekretär« sitzt, mit dem Rücken zum rechten Ausgang, der Oberleutnant Pjotr Alexejewitsch Sejkin in einer offenen Uniformjacke und schreibt.
Nach einem Augenblick kommt von rechts Tatjana Jakowlewna Borodin, eine schlanke dunkelhaarige Frau mit dunklen Augen, in sommerlichen Pastellfarben gekleidet. Sie trägt einen Schirm von ebenfalls lebendiger Farbe, über die Schulter geworfen eine etwas fantasievolle Stofftasche, die kann bestickt oder folkloristisch sein. Eine unter dem Kinn zugeknöpfte Bluse mit langen Ärmeln, einen langen bis zu den Knöcheln reichenden, in der Taille und auf den Hüften eng anliegenden Rock. Hut und Handschuhe. Sejkin wendet den Kopf, kehrt aber sofort zu seinem Schreiben zurück. Tatjana steht einen Augenblick da, dann setzt sie sich auf den Sessel neben dem Eingang.
Pause.
TATJANA
Ah, unschön.
Pause.
Alle haben nach Ihnen gefragt …
SEJKIN
ohne das Schreiben zu unterbrechen Alle?
TATJANA
Naja, vielleicht Mademoiselle Lily weniger. Aber die ganze Gesellschaft … Warum sind Sie denn nicht mit uns gekommen, Pjotr Alexejewitsch?
Pause.
So schöne Aussichten! Und keine einzige Wolke. Und der Pfad schlängelt sich immer höher, höher und höher …
SEJKIN
ohne sein Schreiben zu unterbrechen Aufs Meer?
TATJANA
Was aufs Meer?
SEJKIN
Ich denke an diese Aussicht. Sicher aufs Meer.
TATJANA
Ja! Aufs Meer, auf die Berge, auf die Gärten. Wissen Sie, daß sie jetzt blühen?
SEJKIN
Das schließe ich nicht aus.
TATJANA
Wohin du siehst – Natur, wo du atmest – Luft.
SEJKIN
Da kann man nicht widersprechen.
TATJANA
Aber Sie sind hier eingeschlossen, immer allein …
SEJKIN
Das stimmt.
TATJANA
Das ist nicht gesund, Pjotr Alexejewitsch, man muß rausgehen unter die Menschen.
SEJKIN
Wozu?
TATJANA
Man muß mit den Menschen leben.
SEJKIN
Das heißt mit wem?
TATJANA
Na, mit den Leuten.
SEJKIN
Mit allen?
TATJANA
Ohne Menschen ist der Mensch unmenschlich.
SEJKIN
Und mit den Menschen ist er menschlich?
TATJANA
Man muß die Menschen lieben.
Sejkin wirft die Feder hin und wendet sich zu Tatjana um.
SEJKIN
Sie irren sich. Entweder aufs Meer oder auf die Berge.
TATJANA
Was aufs Meer?
SEJKIN
Die Aussicht. Man kann nur auf die Berge oder nur auf das Meer sehen. In zwei Richtungen kann man nicht gleichzeitig sehen.
TATJANA
Wer will mir das verbieten?
SEJKIN
Die Gesetze der Physik, die Geometrie, die Geographie, die Optik … In zwei Richtungen kann man nicht … Um eine Seite zu sehen, muß man auf der anderen sein. Die Berge sind auf der Erde, und das Meer auf dem Meer. Um auf das Meer zu sehen, müssen Sie an Land sein, und um auf die Berge zu sehen – auf dem Meer, und das am besten auf Deck eines Dampfers, denn sonst ertrinken Sie sofort. Na vielleicht noch auf einem Boot.
TATJANA
Sie sind böse auf mich?
SEJKIN
Auf einem Dampfer, auf einem Boot, auf was auch immer, Hauptsache, nicht direkt auf dem Wasser. Auf dem Wasser kann man nicht laufen, obwohl es angeblich so einen Fall gab … Na, schweigen wir davon. Man muß etwas Festes unter den Füßen haben, etwas, was einen Halt gibt. Wenn das kein Festland ist, dann wenigstens ein Festlandersatz. Und das heißt, daß man so oder so nur vom Land aus auf das Meer sehen kann.
TATJANA
Sie haben schlechte Laune.
SEJKIN
Ich denke nur logisch.
TATJANA
Aber weshalb so logisch?
SEJKIN
Das ist eine unlogische Frage. Logisch denken kann man nur logisch, weder weniger noch mehr. Entweder logisch oder nicht logisch.
TATJANA
Sie mögen keine Poesie?
SEJKIN
Poeten haben wir mehr als genug. Iwan Zachedrynskij ist zum Beispiel ein Poet.
TATJANA
Und wer noch?
SEJKIN
Iwan Zachedrynskij reicht.
TATJANA
Kennen Sie seine Verse?
SEJKIN
Nein, aber ich kenne Iwan Zachedrynskij.
TATJANA
Mir gefallen sie nicht.
SEJKIN
Und Iwan Zachedrynskij?
TATJANA
ohne auf seine Frage zu antworten Meiner Meinung nach sind sie zu … zu poetisch.
SEJKIN
Die Verse?
TATJANA
Irgendwas fehlt da … Ach, ich weiß schon, es fehlt die Logik.
SEJKIN
In den Versen?
TATJANA
Mir gefällt die Logik.
SEJKIN
Seit wann denn das?
TATJANA
Seit kurzem. Um die Wahrheit zu sagen, erst seit heute. Das, was ich von Ihnen über die Logik gehört habe, war sehr überzeugend. Die Logik begeistert mich!
SEJKIN
Warum?
TATJANA
Weil sie … so logisch ist …
SEJKIN
Bitte, bitte, das habe ich nicht gewußt.
TATJANA
Und ihre Poesie hat.
Man hört einen Kuckuck rufen.
SEJKIN
Ich muß Sie warnen, daß …
Tatjana legt den Finger auf den Mund, damit Sejkin schweige. Sejkin schweigt. Tatjana zählt mit den Fingern das Rufen des Kuckucks, es sind fünf Mal, dann schweigt auch der Kuckuck.
Ich muß Sie warnen, daß auch die Logik …
TATJANA
flüsternd Sagen Sie nichts.
Der Kuckuck läßt sich ein sechstes Mal vernehmen.
Sechs! Eine gerade Zahl!
SEJKIN
Was hat das für eine Bedeutung?
TATJANA
Ein gutes Vorzeichen.
SEJKIN
Und Sie glauben daran?
TATJANA
Warum nicht? Glauben ist besser als nicht glauben. Glauben Sie denn an nichts. Pjotr Alexejewitsch?
SEJKIN
Wie soll man das sagen … Ich bemühe mich.
TATJANA
Zu glauben oder nicht zu glauben?
SEJKIN
Das läuft auf dasselbe hinaus.
TATJANA
O nein! Es hängt alles davon ab, was man will.
SEJKIN
Das ist alles egal.
TATJANA
O nein! Es gibt einen Unterschied.
SEJKIN
Es gibt keinerlei Unterschied.
TATJANA
Aber ja doch!
SEJKIN
heftig Nein.
Pause.
TATJANA
sanft Schreien Sie nicht so, Pjotr Alexejewitsch.
Kurze Pause.
Mich können Sie anschreien, aber … Im allgemeinen gehört es sich nicht.
Sejkin steht auf knöpft seine Uniform zu, krempelt die Ärmel der Jacke herunter, knallt die Hacken zum »Stillgestanden« zusammen und verbeugt sich knapp.
SEJKIN
Entschuldigung.
Tatjana streckt die Hand zu ihm aus. Sejkin nähert sich ihr und gibt ihr einen vorschriftsmäßigen Kuß auf die Hand, d.h. auf die Handschuhe. Er entfernt sich sofort, zunächst einige Schritte zurück, als Zeichen der Hochachtung. Tatjana bleibt einen Augenblick, eine Sekunde lang, mit erhobener Hand stehen.
Pause.
Er geht auf der Bühne hin und her, in Gedanken versunken, er ist sich seines Herumlaufens nicht bewußt. Wissen Sie, wenn ich glaube, habe ich Zweifel, und dann höre ich auf zu glauben, denn was ist ein Glaube mit Zweifeln wert. Ich bemühe mich also, nichts zu glauben. Verstehen Sie?
TATJANA
Reden Sie weiter.
SEJKIN
Also gut, ich glaube nicht. Aber dann beginnen mich Zweifel zu quälen, ob ich wirklich nicht glaube. Und ich fange an, wieder von Anfang an zu glauben. Und dann wieder … Kurz gesagt, so geht es im Kreis.
TATJANA
Sie sind sehr müde.
SEJKIN
Ja, sehr. So oder so gibt es Zweifel, und Zweifel quälen sehr.
TATJANA
Sie tun mir leid. Aber darf man wissen, an was Sie glauben?
SEJKIN
An alles und nichts.
TATJANA
An die Logik auch nicht?
SEJKIN
Um die Wahrheit zu sagen, nein. Zum Teufel mit der Logik.
TATJANA
Das ist schrecklich!
SEJKIN
Aber ehrlich.
Pause. Tatjana greift in ihre Tasche und holt eine Apfelsine heraus. Sie streckt die Hand mit der Apfelsine zu Sejkin aus. Pause.
TATJANA
Ich habe Ihnen eine Apfelsine gebracht.
SEJKIN
Für mich?
TATJANA
Extra für Sie.
SEJKIN
Ich … Ich weiß nicht, ob ich das mag …
Pause.
Sejkin nähert sich Tatjana und bleibt vor ihr stehen.
Pause.
Sejkin steht unbeweglich vor Tatjana. Tatjana sitzt mit ausgestreckter Hand da, in der Hand hält sie die Apfelsine.
Eine Baßstimme hinter der Bühne.
STIMME
Limonade! Ein Königreich für eine Limonade!
Man hört das »perlende« Lachen einer Frau.
Sejkin wendet sich von Tatjana ab, geht zu dem Tisch mit den Schreibutensilien und bedeckt den bereits beschriebenen Bogen mit unbeschriebenen.
Tatjana steht auf, geht zum Tisch, legt die Apfelsine in die Obstschüssel.
Von rechts treten auf:
1. Iwan Nikolajewitsch Zachedrynskij, ein stattlicher Mann. Ein leicht ergrauter Backenbart, sonst ein glatt rasiertes Gesicht. Er trägt einen legeren Leinenanzug, ein weites Jackett und zerknautschte Hosen. Ein weißes Hemd und ein schwarzes Tuch um den Hals. Auf dem Kopf einen abgesteppten Leinenhut in der Form eines Napfes, eine Anglerkappe. Eine Zeitung in der linken Tasche seines Jacketts.
2. Lily Karlowna Swetlow, eine schlanke Blondine. Ohne Schirm, aber mit einem breiten Strohhut. In der Hand hat sie einen Fächer.
3. Alexander Iwanowitsch Tschelsow. Bart mit Schnurrbart des Typs »breiter Spaten«. Ein seidenes Russenhemd mit Gürtel, weiche Stiefel mit hohen Schäften. Keine Kopfbedeckung.
4. Matrjona Wasilewna Tschelsowa.
5. Rudolf Rudolfowitsch Wolf. Glattrasiertes Gesicht, gut geschnittener Anzug aus beigefarbenem Alpaka. Auf dem Kopf einen flachen, steifen Strohhut, darunter pomadisierte Haare mit einem Mittelscheitel. Ein dünner eleganter Stock. Eine breite Seidenkrawatte mit einer Nadel.
6. Anastasja Petrowna Batuschkowa mit einem Korb voller Apfelsinen.
LILY
Sie sind kein Demokrat, Iwan Nikolajewitsch.
ZACHEDRYNSKIJ
In dem Fall nicht. Das ist eine Frage des Stils. »Limonade für eine Republik«, das klingt schlecht.
WOLF
Und umstürzlerisch.
ZACHEDRYNSKIJ
Nicht unbedingt. Wer würde eine Limonade für eine Republik abgeben?
SEJKIN
Ich!
ZACHEDRYNSKIJ
Ach, unser Oberleutnant. Wo sind Sie denn geblieben?
TSCHELSOWA
zu Sejkin, kokett Er hat sich versteckt wie immer.
LILY
sieht Tatjana an Na, aber nicht vor allen.
TSCHELSOW
Ob Königreich oder Republik, es ist heiß.
TSCHELSOWA
Wie drückst du dich aus, Aljoscha.
TSCHELSOW
Ja, wie soll ich das anders sagen …
TSCHELSOWA
Ich bitte Sie sehr um Entschuldigung, mein Mann dachte an die Temperatur.
LILY
Sie denken an die Temperatur?
ZACHEDRYNSKIJ
Und er hatte recht, was für eine Hitze. Anastasja Petrowna, gibt es nicht vielleicht was zu trinken?
Anastasja legt die Apfelsinen aus dem Korb in die Obstschüssel, die auf dem Tisch steht.
ANASTASJA
Ich bringe Kwas.
TSCHELSOWA
Er hat um Limonade gebeten.
ZACHEDRYNSKIJ
Von mir aus auch Kwaß, das mag ich sogar lieber.
TSCHELSOWA
Wir haben alle gehört …
ZACHEDRYNSKIJ
Das muß man nicht wörtlich nehmen. »Ein Königreich für einen Kwaß«, das klingt noch schlechter als eine »Republik für eine Limonade«, und für den russischen Durst ist Kwaß das allerbeste.
TSCHELSOW
Heilige Worte.
ZACHEDRYNSKIJ
Die Kunst und das Leben, Anastasja Petrowna. So ist es immer bei uns. Shakespeare hat geschrieben: »Ein Königreich für eine Limonade« und er hat eine Limonade getrunken: Und was machen wir? Wir schreiben »Limonade« und trinken Kwaß.
SEJKIN
Dann bringen Sie doch endlich die Limonade für Iwan Nikolajewitsch.
ZACHEDRYNSKIJ
Danke, Oberleutnant, aber es ist wirklich nicht nötig.
WOLF
Na dann probiere ich auch mal diesen Kwaß.
ZACHEDRYNSKIJ
Bravo! Unser Gast akklimatisiert sich, und was für die Damen?
TSCHELSOWA
spricht das »an« sehr prätentiös aus Orangeede.
LILY
Wohl Orangeade.
ZACHEDRYNSKIJ
Und Sie, Tatjana Jakowlewna?
TATJANA
Danke, ich habe keinen Durst.
LILY
Nein?
ZACHEDRYNSKIJ
Na, dann wissen wir ja alles, Anastasja Pjetrowna, Kwaß, Orangeade und nichts.