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Watzlaff lebt im
Land der Unfreiheit. Bei einer Fahrt übers Meer erleidet er Schiffbruch. Eine gute Gelegenheit für Watzlaff, ins
Land der Freiheit zu fliehen. Sein Alter ego, in Form eines Doppelgängers, meldet letzte Zweifel an doch Watzlaff läßt es ungerührt im Meer ertrinken. Nun hindert ihn nichts mehr, reich, mächtig und glücklich zu werden.
Außerdem:
Nochmals von vorn,
Propheten"
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Seitenzahl: 231
Sławomir Mrożek
und andere Stücke
Aus dem Polnischen von Ludwig Zimmerer und Rolf Fieguth
Diogenes
Schauspiel in zwei Akten
Sie
Papa
Gespenst
Der Kleine
Ein großes Zimmer mit drei Wänden. In der mittleren zwei symmetrisch angebrachte Fenster, hinter denen man die Äste von Bäumen mit bereits etwas gelbbraun gefärbtem Laub und einen blauen Spätnachmittagshimmel sieht. Grüne, nach innen geöffnete Fensterläden. Dazwischen ein vergoldeter Rahmen, der früher wohl ein Bild enthielt. Darunter ein abgenutztes Sofa. Weiter vorn auf der linken Seite – »links« und »rechts« vom Zuschauer aus gesehen – ein runder, mit grünem Stoff bespannter Tisch. Darüber hängt eine Petroleumlampe mit großem Schirm aus Milchglas. Ein paar Rohrstühle. Gleichartige Türen in der linken und in der rechten Wand. An beiden Wänden je ein Hirschgeweih.
Von rechts treten auf: Sie und Papa. Sie, eine hübsche Achtzehnjährige in einem kurzen, ärmellosen, violetten Sackkleid. Weiße Strümpfe und schwarze Lackschuhe mit niedrigen Absätzen. Trägt eine kleine Reisetasche und ein Handtäschchen.
Papa, ein stattlicher und kräftiger Mann an die Fünfzig, sieht gesund aus, hat ein grobschlächtiges, etwas apoplektisches Gesicht. Fassonschnitt, gestutzter, graumelierter Schnurrbart. Solider dunkler, ein wenig altmodisch wirkender Anzug, Fliege, Melone. Trägt Koffer und Regenschirm. Stellt den Koffer rechts vom Eingang in die Ecke.
Nimmt ihr die Reisetasche ab, stellt sie neben seinen Koffer. Behält den Regenschirm in der Hand.
SIE
sich umsehend Wo sind wir?
PAPA
Rate mal!
SIE
Nicht nötig! Ich weiß alles. Wirft sich auf das Sofa. Ich bin verloren.
PAPA
Warum denn?
SIE
Du hast mich kompromittiert.
PAPA
Wieso denn?
SIE
Du bist ein Scheusal, ein Scheusal!
PAPA
Was hast du denn jetzt schon wieder?
SIE
Wir befinden uns in einem Hotel.
PAPA
Nichts dergleichen!
SIE
sachlich Wo denn sonst?
PAPA
Ja, wie soll man das bezeichnen?
SIE
abermals tragisch Widersprich mir nicht! Ich habe gleich gewußt, daß das dabei herauskommt. Irgendein Provinzhotel, das schmierige Lächeln des Portiers und natürlich ein Doppelzimmer. Ach, wie mickrig das alles ist, wie mickrig! Schluchzt, schnieft, sucht Tränen zu vergießen.
PAPA
Da bist du aber im Irrtum.
SIE
Ich flehe dich an, hab wenigstens die Courage, es zuzugeben. Du richtest mich zugrunde. Du bist ein widerlicher Egoist, du hast dein Wort gebrochen.
PAPA
Ich bitte dich …
SIE
Nur keine Ausreden! Alle werden es erfahren. Und er auch. Du weißt schon, wer. Schluchzt ein wenig künstlich.
PAPA
Beruhige dich endlich! Das ist kein Hotel.
SIE
Natürlich nicht! Das ist eine schmutzige, verstunkene Absteige. Hier gibt es ja nicht einmal Bett, Schrank und Telefon … Bricht plötzlich ab, zieht einen Spiegel aus der Handtasche, schaut hinein. Mein Gott, wie ich aussehe!
PAPA
erfreut über den Wechsel des Themas Hübsch!
SIE
Grauenvoll! Klingle dem Zimmermädchen! Macht ihr Gepäck auf, wühlt darin herum. Worauf wartest du noch? Ich brauche ein Bügeleisen.
PAPA
Wenn du endlich einmal zuhören wolltest …
SIE
Dann klingle ich selbst. Wo ist denn hier die Klingel?
PAPA
Erstens, wenn ich klingle, dann kommt wer und sieht dich in meiner, dich kompromittierenden Gesellschaft.
SIE
Stimmt, das hatte ich vergessen.
PAPA
Zweitens, wenn wer kommt, sieht er auch mich in deiner, mich kompromittierenden Gesellschaft.
SIE
Nein! Klingle lieber nicht!
PAPA
Drittens, ich klingle nicht, weil hier gar keine Klingel ist. Viertens, ich könnte noch so lange klingeln, es käme doch niemand, weil wir hier ganz unter uns sind.
SIE
Wieso? Ist hier niemand?
PAPA
Absolut niemand!
SIE
Dann sind wir also gar nicht im Hotel?
PAPA
Nein! Wie oft soll ich es dir noch sagen? Hängt den Schirm über eine Stuhllehne, nimmt sie an der Hand und führt sie ans rechte Fenster. Reißt es auf. Was siehst du?
SIE
Bäume, einen Park …
PAPA
Einen Wald, einen alten Forst. Wir sind in einer Einöde.
SIE
Du hast mich betrogen.
PAPA
Ich?
SIE
Ja! Du hast mir eine Fahrt ins Blaue versprochen.
PAPA
Ist das nicht eine Fahrt ins Blaue?
SIE
Natürlich nicht! Wenn mir jemand so etwas verspricht, dann denkt er an das fescheste Hotel am Platz, am Meer oder in den Bergen. Und wohin hast du mich gebracht? In eine Bruchbude!
PAPA
Übertreib nicht! Hier ist es ganz gemütlich.
SIE
Ich hatte gedacht, ich verdiente wenigstens einen gewissen Luxus. Aber vielleicht reicht es bei dir nicht dazu?
PAPA
irritiert Aber … wenn du damit gerechnet hast, dann wäre es doch keine Überraschung gewesen … dein Hotel … an diesem Platz.
SIE
Im Gegenteil! Ich bin immer von den Socken, wenn ein Mann hält, was er verspricht.
Papa gibt ihr eine Ohrfeige.
PAPA
Und jetzt marsch, in die Ecke!
Sie geht kindlich schluchzend in die Ecke.
Auf die Knie!
SIE
Ich mag nicht.
PAPA
Auf die Knie, sag ich!
Sie kniet, mit dem Rücken zum Zuschauer, nieder.
Du glaubst, so etwas kannst du dir mir gegenüber herausnehmen?
SIE
Warum haust du mich?
PAPA
Was sollen diese Flausen, Launen und Szenen? Ich bin doch schließlich nicht dein Liebhaber.
SIE
Aber …
PAPA
Kein Wort mehr!
SIE
Nur …
PAPA
Hast du vergessen, wer ich bin?
SIE
Aber du …
PAPA
Du wagst es immer noch, den Mund aufzumachen?
SIE
Aber du sollst doch mein Liebhaber werden.
Schweigen.
PAPA
Woher weißt du das?
SIE
Du hast es selbst gesagt.
PAPA
Das habe ich nicht gesagt.
SIE
Auf jeden Fall hast du es mir zu verstehen gegeben.
PAPA
Wie kannst du es wagen, mir solche Absichten in die Schuhe zu schieben?
SIE
Du hast mir klipp und klar gesagt, daß ich dir gefalle.
PAPA
Eine Frechheit, mir das zu glauben …
Schweigen.
Und selbst wenn es so wäre! In erster Linie hast du Respekt vor mir zu haben. Ich kann sagen, was ich will.
Du hast dich auf jeden Fall bescheiden und anständig zu benehmen.
SIE
Ja, Päpchen!
PAPA
wieder in Zorn geratend Du darfst mich nicht aufregen.
SIE
Ich will es nicht mehr tun.
PAPA
Mich nicht quälen!
SIE
Es soll nicht mehr vorkommen.
PAPA
leiser Und warum nicht?
SIE
Weil du es nicht mehr möchtest.
PAPA
Und wenn ich es wollte?
SIE
dreht sich, immer noch auf den Knien, zum Zuschauerraum hin. Hoffnungsvoll Also machen wir doch was Schlimmes?
PAPA
Wenn ich es mir nicht anders überlege.
SIE
Schade! Setzt sich auf den Boden. Du hast mich schwer enttäuscht.
PAPA
Ich habe es mir ja noch nicht anders überlegt.
SIE
Aber du bist schon nicht mehr so faszinierend.
PAPA
verdutzt Gefalle ich dir nicht?
SIE
Nicht mehr so wie anfangs. Anfangs warst du großartig.
PAPA
Jetzt nicht mehr?
SIE
Jetzt bist du ein Langweiler und mäkelst an mir herum: Das darf man … Das darf man nicht … Ich bereue es, daß ich mich darauf eingelassen habe.
PAPA
Ich muß manchmal streng sein und für Disziplin sorgen.
SIE
Eben! Früher warst du anders. Dämonischer!
PAPA
Ich bin immer noch dämonisch.
SIE
Sinnlicher, geheimnisvoller! Mir ist es manchmal ganz heiß den Rücken hinuntergelaufen.
PAPA
beunruhigt Jetzt nicht mehr?
SIE
Du hast mich aus den Pantinen gekippt. Mein Gott, war das schön! Anfangs so ein Papilein, in Pantoffeln und wie gehabt. Und dann auf einmal ein richtiger Verführer, ein ganz anderer Mensch! Ja, was noch Tolleres …
Schweigen.
PAPA
Sprich dich aus!
SIE
Du fängst ja doch gleich wieder an zu schimpfen.
PAPA
Ich gebe dir die Erlaubnis.
SIE
Auch ein Vati, aber ein ganz anderer. Für mich hattest du etwas so umwerfend Inzestuöses.
PAPA
Wie bitte?
SIE
Entschuldige vielmals!
PAPA
Mein liebes Kind, das ist nicht der richtige Begriff.
SIE
Wieso? Wäre das denn keine wirkliche Blutschande?
PAPA
Im eigentlichen Sinne des Wortes: nein.
SIE
Aber doch eine Todsünde?
PAPA
Wenn wir schon dabei sind, möchte ich dich darauf aufmerksam machen, daß sowohl Blutschande als auch … na, die Bezeichnung ist nicht so wichtig … in der Bibel vorkommen, und zwar im Alten Testament, in sehr ordentlichen Familien.
SIE
aufspringend, sehr laut Du mußt einem auch alles vermiesen!
PAPA
Ich versichere dich, das kommt auch heute noch sehr häufig vor, freilich insgeheim, damit keiner was merkt.
SIE
Jetzt sag bloß noch, daß nichts dabei sei, und schick mich wieder in die Ecke, damit es auf das gleiche hinauskommt wie in der Schule. Und ich hatte geglaubt, wir begingen etwas Himmelschreiendes.
PAPA
Übertreiben wir nicht!
SIE
enthusiastisch Etwas ganz … Phantastisches.
PAPA
Kindliche Illusionen!
SIE
Etwas … Entsetzliches.
PAPA
Man muß maßhalten.
SIE
Etwas schrecklich Verbrecherisches.
PAPA
So etwas tut man nicht.
SIE
sehr laut Ich möchte aber etwas anstellen.
PAPA
Was denn?
SIE
Etwas, was sich nicht gehört.
PAPA
schreiend Ich dulde nicht, daß du solche Reden führst …
Schweigen.
Aber wozu eigentlich?
SIE
Mit Fleiß!
PAPA
Wem denn?
SIE
Euch allen.
PAPA
Drück dich genauer aus!
SIE
Der ganzen Welt!
PAPA
Mir auch?
SIE
Allen!
PAPA
Aber warum denn mit Fleiß?
SIE
Das verstehst du nicht. Da bist du zu erwachsen zu.
PAPA
Gott sei Dank!
SIE
Er würde mich verstehen.
PAPA
Wer?
SIE
Mein Mann!
Schweigen.
PAPA
Na, dann trinken wir auf seine Gesundheit! Er nimmt aus seinem Koffer eine Flasche Kognak und zwei silberne Becher, gießt ein, reicht ihr einen Becher, steht stramm, hebt den Becher. Zackig Auf das Wohl des Bräutigams!
SIE
Warum tust du denn so feierlich? Wir sind doch nicht auf der Hochzeit.
PAPA
Ich war nicht eingeladen.
SIE
Ich kann dieses Drum und Dran nicht leiden.
PAPA
hartnäckig Auf das Wohl des Bräutigams!
SIE
stellt ihren Becher auf den Tisch. Ich mag nicht.
PAPA
Ex! Tradition bleibt Tradition!
SIE
Ich habe keine Lust.
PAPA
Willst du nicht, daß er gesund bleibt?
SIE
Ich wünsche ihm das Beste, aber du bist boshaft.
PAPA
Irrtum! Wenn ich sage: »Auf das Wohl des Bräutigams«, dann meine ich es auch so. Ich hatte noch keine Gelegenheit, auf seine Gesundheit zu trinken … mit dir. Das ist alles.
SIE
Was hast du denn gegen ihn? Was hat er dir getan?
PAPA
Wenn du austrinkst, sage ich es dir.
Sie nimmt den Becher, sie stoßen an. Papa stellt seinen Becher auf den Tisch und küßt sie auf die Stirn.
Willkommen in meinem Haus!
SIE
stößt ihn zurück. Im Grunde benimmst du dich wie ein Schwein.
PAPA
Hüte deine Zunge!
SIE
Der arme Junge hat das nicht verdient.
PAPA
Das ist nicht deine Angelegenheit.
SIE
So etwas tut man nicht.
PAPA
So etwas sagt man nicht.
SIE
Du schimpfst, ich sei verdorben, und benimmst dich selbst daneben.
PAPA
Was habe ich denn getan?
SIE
Du tust ihm Unrecht.
PAPA
Genug!
Schweigen. Sie stellt den Becher auf den Tisch.
SIE
Darf ich es sagen?
PAPA
Was?
SIE
Wer mein Mann ist.
PAPA
Nicht nötig!
SIE
Nur für den Fall, daß du es vergessen hättest.
PAPA
Ich habe gesagt: genug!
SIE
Es könnte ja sein, daß du es vergessen hast.
PAPA
ruhig Gut, sag es!
SIE
feierlich Er ist dein …
PAPA
heftig Du möchtest bestimmt sagen, daß er mein Sohn ist, nicht wahr? Darum geht es dir? Das hättest du dir sparen können. Ich kenne ihn besser als du, diesen deinen Gatten. Seit siebzehn Jahren kenne ich ihn. Soll ich dir sagen, was er ist? Ein Rotzlöffel, der nicht einmal das Zeug zum Ehemann hat.
SIE
Da bin ich aber anderer Meinung.
PAPA
Unterbrich mich nicht! Ich bin jetzt dran! Ein charakterloser Bengel, der weder Energie noch Talent hat, der ohne mich aufgeschmissen wäre, der ohne mich überhaupt nicht auf der Welt wäre. Ich tue ihm Unrecht? Ich, dem er alles zu verdanken hat? Ich habe alles für ihn getan, sogar das Leben habe ich ihm gegeben.
SIE
Er hat dich nicht darum gebeten.
PAPA
Aber genommen hat er es. Da kannst du überhaupt nicht mitreden. Als was hast du ihn denn kennengelernt, als jemand, der von sich sagt: »Ich«, der sagt: »Ich bin«, »Ich war«, »Ich werde sein«, »Ich will«? … Als ob er dazu überhaupt das Recht hätte. Nur ich weiß, wie er wirklich ist. Ich habe ihn gesehen, wie er über den Boden gerutscht ist, wie er sich vor der Dunkelheit gefürchtet, wie er sich blödsinnig gefreut hat, wenn man ihm zwei Finger über Kreuz zeigte. Wenn ich ihn nur ein bißchen anschrie, hat er angefangen zu zittern und ist vor Angst blaß geworden. Ich kenne ihn, wie er demütig auf mich zugekrochen ist, unbeholfen, konfus, hilflos, bereit zu allem und unfähig zu allem. Wie er vor sich hinstarrte, wenn er glaubte, ich hätte ihn nicht im Auge, und ratlos daran herum sinnierte, wie er sich bei jedermann Liebkind machen könnte. Nachäffend »Was soll ich bloß, wie soll ich bloß, damit ich bloß …« Er wollte, daß man ihn hereinläßt, ihn mitmachen läßt, nett zu ihm ist. Und dann kamen seine Anstellerei in der Schule, seine läppischen Versuche, den starken und tüchtigen Prachtkerl zu spielen, so zu tun, als ob er wer sei. Alles Angabe, alles Heuchelei! Ich kenne seinen Jammer, seine heimliche Heuchelei, seine ekelhaften kleinen Geheimnisse. Und deshalb weiß ich, was ich sage. Das ist kein Mannsbild, das ist kaum ein Mensch, das ist gerade noch mein Sohn.
SIE
Du bist ungerecht.
PAPA
setzt sich, da er sich offensichtlich müde geredet hat. Ich? Wieso?
Schweigen.
SIE
Zum Beispiel …
Schweigen.
Zum Beispiel hat er ein gutes Herz.
PAPA
abwinkend Ein Weichling!
SIE
Er ist lieb.
PAPA
Aus Feigheit.
SIE
Er sieht gut aus.
PAPA
Das hat er von seinem Vater.
SIE
Er ist jung.
PAPA
Wie bitte?
SIE
nachdrücklich Jung ist er.
Schweigen.
PAPA
Das geht vorüber.
SIE
Und er liebt mich.
PAPA
Aha, darauf kommt es dir an. Hat er dir das gesagt?
SIE
Ja!
PAPA
Und um seine Liebe unter Beweis zu stellen, hat er dich geheiratet, stimmt’s?
SIE
Natürlich.
PAPA
Das heißt, daß er dich betrogen hat.
SIE
Jetzt schlägt’s aber dreizehn.
PAPA
Selbstverständlich möchtest du glauben, daß er dich deinetwegen geheiratet hat. Aber in Wirklichkeit hat er dich nur meinetwegen geheiratet, weil er mir zeigen wollte, daß er endlich erwachsen und ein Kerl ist. Imponieren wollte er mir. Das war sein letzter verzweifelter und aussichtsloser Versuch. Das war so dumm wie alles, was er anfängt. Nie vergesse ich, wie er mit der Neuigkeit zu mir kam: »Papa«, sagt er, »ich habe geheiratet.« Und dabei schaut er mich an, als ob er sagen wollte: »Jetzt sind wir gleichberechtigt, jetzt sind wir quitt, jetzt bin ich nicht mehr dein Sohn, jetzt bin ich Ehemann.« Triumphierend hat er das gesagt, mit einem Wort: frech!
SIE
Und du?
PAPA
steht auf. Ich habe den Fehdehandschuh aufgenommen.
SIE
Das ist noch lange kein Grund, ihn auf dem Kieker zu haben.
PAPA
Er hat mich beleidigt.
SIE
Damit, daß er mich geheiratet hat?
PAPA
Ja.
SIE
Ausgerechnet mich.
PAPA
Du hast es erraten.
SIE
Gefalle ich dir nicht?
PAPA
Im Gegenteil.
SIE
Jetzt kapiere ich gar nichts mehr.
PAPA
Gerade darauf beruhte sein niederträchtiger Plan. Er hat genau gewußt, daß du mir gefällst, und dich deshalb in mein Haus gebracht. Mit Genugtuung wollte er beobachten, wie ich auf dich schaue, als alter Schnorrerpapa, für den nichts mehr abfällt. Das sollte seine Rache sein. Er rechnete damit, ich würde leiden, hoffnungslos, heimlich und doch vor seinen Augen. Vor mir hat er sich nicht geniert mit dir. Ich könnte dir aufzählen, wie oft er die Tür zu eurem Schlafzimmer offengelassen hat, wie oft er dir erlaubt hat, im Negligé in der Wohnung herumzulaufen. Wie oft hat er mich mit einem dummdreisten Grinsen auf dem pickligen Gesicht beim Frühstück angesehen, wenn du noch ganz verschlafen zwischen uns saßt. Wenn ich dich bloß auf der Straße im Vorbeigehen gesehen hätte, wäre es mit meiner Ruhe schon vorbei gewesen. Aber er hat dich zu mir gebracht, hat mich gezwungen, in deiner Gegenwart zu leben, ganz nahe bei dir und doch so fern und ohne die geringste Atempause.
SIE
Ist dir das wirklich so nahegegangen?
PAPA
Deshalb sage ich ja, daß er mich beleidigt hat.
SIE
Ich merkte schon, daß dir etwas fehlt, aber ich kam nicht auf die Idee, daß ich es bin.
PAPA
Tu nicht so!
SIE
Du nimmst dir das zu sehr zu Herzen.
PAPA
Zu sehr zu Herzen? Du hast ja keine Ahnung, wie oft ich nachts nicht schlafen konnte, deinetwegen natürlich. Aber das wäre nicht das Schlimmste gewesen. Das Schlimmste war, daß er das wußte und wollte. Ehrenwort, machmal war ich nahe daran, euch beide vor die Tür zu setzen. Aber das wäre ja nur die Krönung seines Erfolgs gewesen. Ich sollte schweigend leiden oder offen klein beigeben. Darauf hat er gewartet. Aber ich habe mir gesagt, wart nur ab, Bürschchen, dann erlebst du noch etwas, freilich etwas anderes, als du meinst. Er hat mich doppelt beleidigt.
SIE
Was hat er denn noch angestellt, der arme Junge?
PAPA
Etwas noch Schlimmeres: Er hat mich nicht für voll genommen.
SIE
Ich verstehe nicht.
PAPA
Er hat keine Angst vor mir gehabt.
SIE
Wovor hätte er denn Angst haben sollen?
PAPA
Vor mir natürlich. Er hat geglaubt, mich könne er ungestraft schikanieren. Was soll schon so ein Schwiegervater? Er hat geglaubt, daß er mich mit dieser Schwiegervaterschaft festlegen könne wie einen alten Köter an die Kette, daß er meinetwegen nicht eifersüchtig zu sein braucht, sich keine Sorgen um dich machen müsse. Er hat geglaubt, daß ich zu alt bin, um ihm in die Quere zu kommen. Er hat mich beleidigt, weil er mich nicht fürchtete. Und deshalb habe ich beschlossen, dich zu meiner Geliebten zu machen.
SIE
Also doch! Mit einem Seufzer Armer Kleiner …
Schweigen.
Aber jetzt bleibt es auch dabei?
PAPA
Jetzt werden Nägel mit Köpfen gemacht.
SIE
Und wenn ich nicht mittue?
PAPA
Dann verführe ich dich.
SIE
Jetzt erst?
PAPA
Drücken wir es genauer aus: Ich erlaube dir, meine Geliebte zu werden, vorausgesetzt, daß du dich nicht anstellst.
SIE
Also, du erlaubst mir …
PAPA
Jawohl, unter der Bedingung, daß du dich anständig aufführst.
SIE
Und dann bekomme ich als Fleißbillett …
PAPA
Mit frechen Gören will ich nichts zu tun haben.
SIE
Also, Papi, wenn ich brav bin, darf ich das heilige Band der Ehe besudeln …
PAPA
Du mußt es wert sein.
Sie holt ihre Tasche aus der Ecke, stopft ihre Sachen hinein.
Wohin willst du denn?
SIE
Heim! Nach Hause!
PAPA
Willst du ihn nicht betrügen?
SIE
Ich denke nicht daran.
PAPA
Aber ich erlaube es dir doch.
SIE
Du kannst mir erlauben, was du willst.
PAPA
Ich gehe noch weiter: Ich bevollmächtige dich dazu.
SIE
Das ist noch zu wenig.
PAPA
Ich befehle es dir.
SIE
Du kannst mir den Buckel hinunterrutschen.
PAPA
Was hast du gesagt?
Schweigen.
Ich verstehe schon, das sind so deine Witze.
Sie hebt ihre Reisetasche auf. Papa nimmt sie ihr aus der Hand und stellt sie wieder auf den Boden.
Hiergeblieben!
SIE
empört Oooh!
PAPA
Lassen wir einmal diese Familienangelegenheiten beiseite. Und auch den Kleinen. Nehmen wir einmal an, daß ich mich dir nicht als Schwiegervater hingebe, ja nicht einmal als seriöser, gut situierter Herr, der eine verantwortliche Stellung einnimmt, das Vertrauen und die Achtung der Gesellschaft genießt. Ich werde für dich einfach die Leidenschaft deines Lebens sein, etwas Elementares, eine Naturgewalt.
SIE
Du?
PAPA
Sieh in mir einfach eine griechische Gottheit.
SIE
In dir?
PAPA
Ja, in mir. Komm näher! Leiser Ich will dir etwas sagen.
SIE
geht auf ihn zu. Jawohl, Papi!
PAPA
Ich bin kein Papi, ich bin ein Zeus.
SIE
Was?
PAPA
Das heißt … wie ein Zeus. Ich meine das bildhaft. Zeus, Jupiter, der aus der alten Sagenwelt. Das müßtet ihr doch in der Schule durchgenommen haben. Lernt ihr denn heutzutage gar nichts mehr?
SIE
Doch! Ich kann mich schwach erinnern.
PAPA
Also, siehst du, so einer bin ich. Der Papa ist nur eine meiner Verkörperungen. Zum Teufel mit dem Papa. Wichtig ist die Kraft, die ich in mir spüre. Der Papa, das ist nur ein Symbol, so wie der Sturm, das Gewitter, das Leuchten des Blitzes Zeichen der Stärke sind. Schau mich an! Lüftet den Hut, so daß seine Glatze sichtbar wird. Siehst du den Rauhreif an meinen Schläfen? Genau das wollte ich dir sagen. Ich bin kein grüner Junge mehr.
SIE
Na und?
PAPA
Wo befinden sich die ewigen Schneefelder? Nur auf den Gipfeln. Das grüne Gemüse wächst in den Niederungen und verwelkt im Herbst, aber der Schnee der Firne bleibt. Du mußt zu den Gipfeln streben. Ich bin ein Kilimandscharo.
SIE
Was?
PAPA
unsicher Ein Kilimandscharo …
SIE
Quatsch! Nimmt ihre Reisetasche, geht nach rechts.
PAPA
Bleib hier!
SIE
Warum?
PAPA
Weil ich dich darum bitte.
SIE
Das ist etwas anderes. Kommt zurück. Ich möchte nur noch wissen, warum du mich bittest.
PAPA
Bitten ist nicht das richtige Wort. Eher … drängen. Ja, ich dränge in dich.
Sie geht wieder nach rechts.
Geh nicht weg!
SIE
kommt zurück. Gut, ich bleibe. Aber nur unter einer Bedingung.
PAPA
unsicher Unter welcher?
SIE
Daß du dich jetzt hinkniest.
PAPA
Ich?!
Sie geht schweigend nach rechts.
Warte!
Sie bleibt stehen.
Warum sollte ich mich hinknien?
SIE
wendet sich ihm zu. Weil ich es schon getan habe.
PAPA
Ich? Vor dir?
SIE
Nein! Ich vor dir.
PAPA
Für mich schickt sich das nicht.
SIE
Jetzt bist du an der Reihe.
PAPA
Ich warne dich. Es gibt gewisse Grenzen.
SIE
nähert sich ihm, stellt ihre Reisetasche ab. Du brauchst keine Angst zu haben. Auf die Knie mit dir!
PAPA
Aber wenn ich vor dir knie …
SIE
Fällt dir kein Zacken aus der Krone. Ich weiß, was ich will. Du solltest mehr Vertrauen haben.
PAPA
Das kann dumm ausgehen. Läßt sich auf die Knie nieder. Schweigen. Und jetzt?
SIE
Es ist gut so.
PAPA
Aber weiter?
SIE
Bist du dir darüber im klaren, wie blöd du aussiehst?
PAPA
Habe ich es nicht gesagt?
SIE
Einfach komisch!
PAPA
Dann stehe ich auf.
SIE
Dann gehe ich.
PAPA
Was soll ich denn tun?
SIE
Es gibt nur einen Ausweg.
PAPA
hoffnngsvoll Welchen?
SIE
Ein einziges Wort kann deine Ehre retten. Es gibt nur eins, das sich zu sagen ziemt, wenn du vor mir kniest, nur ein Wort, das du sagen mußt, wenn du in dieser Stellung nicht komisch wirken willst.
PAPA
mißtrauisch Worauf willst du hinaus?
SIE
Schluß jetzt mit der Verstellerei!
PAPA
Das ist ein hinterlistiges Manöver.
SIE
Wenn du das Wort nicht sagst, siehst du sehr blöde aus.
Schweigen.
Wird’s bald?
Schweigen.
Oder kannst du es nicht? Dann helfe ich dir drauf. Fängt an zu lachen.
PAPA
Hör auf!
SIE
Ich falle um, das ist zu komisch. Ein Zeus, ein Kilimandscharo, ein Papi auf den Knien! Lacht.
PAPA
Hör auf. Gut … dann sage ich es.
SIE
Worauf wartest du denn noch?
Schweigen. Papa brummt etwas Unverständliches.
Lauter!
Papa brummelt wieder.
Ich verstehe kein Wort.
PAPA
brüllt gequält Ich habe mich verliebt.
SIE
In wen?
PAPA
brüllt In dich!
SIE
tut verwundert In mich?
PAPA
brüllt In dich, in dich, in dich! Reicht es noch immer nicht?
SIE
unnachgiebig Das heißt also, daß du mich liebst?
PAPA
resigniert, schwach Ich liebe …
SIE
triumphierend Na siehst du!
PAPA
Sehe ich jetzt nicht mehr lächerlich aus?
SIE
Noch einen Augenblick! Jetzt mußt du mir schwören.
PAPA
Was soll ich schwören?
SIE
Daß du nur mich liebst.
PAPA
Ja, dich allein.
SIE
Daß du niemals im Leben so geliebt hast.
PAPA
Muß das sein?
SIE
Wieso? Bist du dir dessen nicht sicher?
PAPA
Doch, natürlich.
SIE
Warum zögerst du dann?
Schweigen.
Nun?
Schweigen.
PAPA
Gut! Ich schwöre es.
Hinter dem Fenster ruft dreimal ein Kuckuck.
SIE
Was ist das?
PAPA
steht auf, wischt sich mit dem Ärmel die Hose an den Knien ab. Ein Kuckuck.
SIE
Woher weißt du das?
PAPA
Weil ich es gehört habe.
SIE
Aber warum ruft er denn?
PAPA
Weil er ein Kuckuck ist.
SIE
Vielleicht will er uns warnen.
Papa trägt ihr Gepäck wieder in die Ecke rechts hinten.
Ich habe Angst. Hier ist es so unheimlich. Stellt sich auf ein Bein, umfaßt das andere am Knöchel mit beiden Händen.
PAPA
Was machst du denn?
SIE
Ich messe den Puls.
PAPA
Aber doch nicht an dieser Stelle! Gib mir deine Hand!
SIE
Bestimmt habe ich Fieber.
PAPA
faßt sie am Handgelenk.
Schweigen.
Der Puls ist ganz normal.
SIE
Das macht die Aufregung. Ich bin nämlich sehr nervös.
PAPA
Was hast du denn?
SIE
stützt sich auf ihn. Mir ist ganz schwach.
PAPA
hält sie fest, beunruhigt Das wird gleich besser.
SIE
Du bist so erfahren.
PAPA
Wahrscheinlich eine ganz gewöhnliche Migräne.
SIE
So klug …
PAPA
Komm, leg dich lieber hin! Will sie zum Sofa führen, aber sie ist dabei umzufallen. Er nimmt sie auf die Arme, ist offensichtlich beunruhigt.
SIE
Und so stark.
Papa legt sie auf das Sofa.
PAPA
Nimm einen Schluck, das wird dir guttun. Holt die Flasche und einen Becher vom Tisch.
SIE
Aber nur ein Tröpfchen!
Papa reicht ihr den Becher. Sie trinkt in einem Zug aus.
PAPA
Und jetzt schließt du die Augen und machst es dir bequem … Ja, so! Legt ihr die Beine auf das Sofa und setzt sich, die Flasche in der Hand, neben sie.
Schon seit einer Weile wird es langsam, fast unmerklich dunkler. Das Blau hinter den Fenstern verdämmert.
Schau mal, wie still es hier ist. Die Sonne versinkt, und der Kuckuck geht gleich schlafen und wird mein Kleines nicht mehr erschrecken. Der Abendfrieden der Natur …
Aus der Ferne ertönt ein Schuß, langanhaltendes Echo.
SIE
auffahrend Und das?
PAPA
Das war bestimmt ein Jägersmann.
SIE
Ich habe solches Herzklopfen.
PAPA
Es gibt keinen Grund zur Aufregung.
SIE
Warum hat er denn geschossen?
PAPA
Denk nicht mehr daran!
SIE
legt sich zurück. Erzähl mir was!
PAPA
Was möchtest du denn hören?
SIE
Erzähl mir etwas über dich!
Schweigen.
PAPA
Wo fang ich da am besten an?
SIE
Einfach so!
PAPA
salbungsvoll In der heutigen Epoche …
SIE
Hast du einen Teddy gehabt?
PAPA
Was für einen Teddy?
SIE
Einen Teddybären aus Plüsch. Zieht Papa am Ohr, quiekt affektiert. Du mein Teddy-Teddy-Bärchen.
PAPA
Au, das tut weh.
SIE
Weil du keine Phantasie hast. Sehnst du dich manchmal?
PAPA
Die Jahre sind vorbei.
SIE
Vergeht das mit dem Alter?
PAPA
gekränkt Nicht mit dem Alter, sondern mit der Zeit.
SIE
Das kommt auf dasselbe raus.
PAPA
Ganz und gar nicht. Es gab Zeiten, in denen man mit offenen Augen geträumt hat.
SIE
Wovon?
PAPA
Vom Größten und Höchsten.
SIE
zieht ihn am Ärmel und hält ihm den leeren Becher hin. Noch ein bißchen!
PAPA
ihr eingießend Die Welt war damals ganz anders. Romantischer, geistiger! Wir haben von großen Taten geträumt.
SIE
Von welchen?
PAPA
Von solchen, die Geschichte machen.
SIE
Toll! Trinkt in einem Zug aus, stellt den Becher auf den Boden.
PAPA
Von fernen Zielen, von grundlegenden Umwälzungen.
SIE
Erzähl mir mehr davon! Nimmt ihm die Flasche ab, trinkt daraus, merkt, daß Papa verstummt ist. Warum sprichst du nicht weiter?
PAPA
Weil es darüber nicht mehr zu sagen gibt.
SIE
Tu doch nicht so! Trinkt schon wieder.
PAPA
Nein, wirklich nicht, vorbei ist vorbei. Ich weiß selbst nicht, ob man sich darüber freuen soll oder nicht. Schlägt sich leicht auf den Mund. Was rede ich da? Natürlich soll man sich freuen.
SIE
stellt die Flasche auf den Boden. Worüber denn?
PAPA
Daß das alles der Vergangenheit angehört.
SIE
Was denn?
PAPA
Ich habe es dir doch gesagt. Paßt du denn nicht auf?
SIE
leicht beschwipst Mein armer Junge, hast du sie sehr geliebt?
PAPA
Wen denn?
SIE
Nun … diese Frau?
PAPA
Welche Frau?
SIE
Du hast sie geliebt, gib’s zu!
PAPA
Sie?
SIE
Du kannst ganz aufrichtig sein. Ich habe Verständnis dafür.
PAPA
Sie?
SIE
Das sieht man dir doch an. Was ist aus ihr geworden?
PAPA
Aus ihr? … Meinetwegen! Lacht. Gestorben ist sie.
SIE
Warum lachst du da?
PAPA
belustigt Natürlich, gestorben ist sie.
SIE
Sofort hörst du auf damit!
PAPA
Gut, ich höre auf und bin wieder ernst. Unterdrückt das Lachen.
SIE
Ich verstehe dich. Du lachst, weil du leidest.
PAPA
fröhlich Gewiß, gewiß …
SIE
Wann … ist das denn passiert?
PAPA
Vor langer Zeit. Du warst noch ganz klein.
SIE
Ich kann es dir nachfühlen, und ich verzeihe dir. Ernsthaft, im Ton der Ergriffenheit