Auf hoher See/Striptease - Slawomir Mrozek - E-Book

Auf hoher See/Striptease E-Book

Slawomir Mrozek

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Beschreibung

Auf hoher See gibt es kein Entrinnen: Einer der drei schiffbrüchigen Männer auf dem Floß soll aufgefressen werden, damit wenigstens die beiden anderen überleben können. Jeder versucht den anderen davon zu überzeugen, dass gerade er gefressen werden müsse. – In pointierten Dialogen werden die Lügen und Phrasen erkennbar, mit denen Menschen dazu gebracht werden, ihr Leben zu opfern.

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Seitenzahl: 58

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Sławomir Mrożek

Auf hoher See/Striptease

Zwei Einakter

Aus dem Polnischen von Ludwig Zimmerer

Diogenes

Auf hoher See

Schauspiel in einem Akt

Personen

Der dicke Schiffbrüchige

Der mittlere Schiffbrüchige

Der schmächtige Schiffbrüchige

Ein Briefträger

Ein Lakai

Die Handlung vollzieht sich in einem Akt bei gleichbleibender Dekoration. Die Bühne stellt ein Floß auf hoher See dar. Die drei Schiffbrüchigen tragen elegante schwarze Anzüge, weiße Hemden, korrekt gebundene Krawatten. Aus den Brusttaschen ihrer Jacken schauen die Ecken weißer Tüchlein. Die Schiffbrüchigen sitzen auf drei Stühlen. Außerdem befindet sich auf dem Floß ein großer Koffer.

DER DICKE

Ich habe Hunger.

DER MITTLERE

Ich würde gern etwas essen.

DER SCHMÄCHTIGE

Sind die Vorräte zu Ende?

DER DICKE

Die Vorräte sind völlig erschöpft. Es ist nicht das geringste übriggeblieben.

DER SCHMÄCHTIGE

Ich dachte, ein bißchen Kalbfleisch mit Erbsen müßte noch da sein.

DER DICKE

Nichts ist übriggeblieben.

DER MITTLERE

Essen!

DER SCHMÄCHTIGE

Ich könnte auch etwas vertragen.

DER DICKE

Etwas? Seien Sie doch realistisch …

DER MITTLERE

Mir ist schon alles gleich.

DER SCHMÄCHTIGE

Sie haben doch selbst gesagt, daß die Vorräte erschöpft sind. Was meinten Sie also?

DER DICKE

Wir müssen essen, aber nicht etwas, sondern jemanden.

DER MITTLERE

schaut nach rechts, nach links und hinter sich. Ich sehe keinen.

DER SCHMÄCHTIGE

Ich sehe auch niemanden, abgesehen von … Bricht plötzlich ab. Pause.

DER DICKE

Wir müssen einen von uns essen.

DER MITTLERE

Essen wir doch einen.

DER SCHMÄCHTIGE

eilig zustimmend Ja, ja, essen wir einen auf.

DER DICKE

Meine Herren, wir sind doch schließlich keine Kinder. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß wir nicht alle gleichzeitig rufen können: »Essen wir doch!« In dieser Lage muß einer von uns sagen: »Bitte sehr, meine Herren, bedienen Sie sich.«

DER MITTLERE

Wer?

DER SCHMÄCHTIGE

Wer?

DER DICKE

Eben das wollte ich Sie fragen.

Betretenes Schweigen.

Ich appelliere an Ihren Kameradschaftsgeist, an Ihre gute Erziehung.

DER MITTLERE

zeigt plötzlich in die Luft, als ob ihn dort etwas sehr interessierte. Da fliegt eine Möwe, eine Möwe!

DER SCHMÄCHTIGE

Vielleicht ist das nicht fein, was ich jetzt sage, aber ich muß gestehen, daß ich schrecklich egoistisch bin. Schon in der Volksschule habe ich mein Vesperbrot immer allein aufgegessen.

DER DICKE

Das ist gar nicht schön … Aber wenn nichts anderes übrigbleibt, müssen wir losen.

DER MITTLERE

Ausgezeichnet!

DER SCHMÄCHTIGE

Das ist die beste Lösung.

DER DICKE

Die Auslosung vollzieht sich nach folgendem System. Einer der Herren nennt irgendeine Zahl. Dann nennt der zweite eine andere Zahl. Am Schluß nenne ich auch eine Zahl. Wenn dann die Summe der drei Zahlen ungerade ist, fällt das Los auf mich, und das heißt, ich werde gegessen. Sollte die Summe jedoch eine gerade Zahl sein, wird einer von Ihnen gegessen.

DER MITTLERE

Nein, ich bin eigentlich ein Gegner von Glücksspielen.

DER SCHMÄCHTIGE

Und wenn Sie sich vertun, was dann?

DER DICKE

Sie haben kein Vertrauen zu mir. Schade!

DER MITTLERE

Suchen wir einen besseren Ausweg, wir sind schließlich zivilisierte Menschen. Das Los ist ein Überbleibsel finsterer Zeiten.

DER SCHMÄCHTIGE

Ein vulgärer Aberglaube.

DER DICKE

Gut, führen wir also freie und allgemeine Wahlen durch!

DER MITTLERE

Keine schlechte Idee! Zum Dicken Wenn es Ihnen recht ist, bilden wir beide eine Wählergemeinschaft, einen Block. Das vereinfacht die ganze Sache.

DER SCHMÄCHTIGE

Der Parlamentarismus hat sich überlebt.

DER DICKE

Aber es bleibt kein anderer Weg. Oder wollen Sie eine Diktatur? Ich würde mich bereit erklären, die Macht zu ergreifen.

DER SCHMÄCHTIGE

Nein, nein! Nieder mit der Tyrannei!

DER DICKE

Also, freie Wahlen!

DER MITTLERE

Geheime!

DER SCHMÄCHTIGE

Aber ohne Wahlbündnisse! Jeder stellt sich selbständig als Gegenkandidat auf.

DER DICKE

steht auf und nimmt aus dem Koffer einen Zylinder. Hier ist ein Hut. Die Karten mit dem Namen des Kandidaten kommen hier hinein.

DER SCHMÄCHTIGE

Ich habe nichts zum Schreiben.

DER MITTLERE

Wir helfen Ihnen gerne aus.

DER DICKE

einen Füllfederhalter aus der Tasche ziehend Bitte sehr!

DER MITTLERE

sich die Hände reibend Zur Urne! Zur Urne!

DER SCHMÄCHTIGE

Einen Augenblick! Wenn wir schon als moderne Menschen eine Wahl veranstalten, dann können wir die vorausgehende Etappe des Wahlkampfes nicht überspringen. Sie kommt in der ganzen zivilisierten Welt vor dem eigentlichen Wahlakt.

DER DICKE

Wenn Sie unbedingt wollen!

DER MITTLERE

Agitieren wir also, aber machen wir schnell!

DER DICKE

steht auf, stellt einen Stuhl in die Mitte des Floßes. Die Versammlung ist eröffnet! Wer tritt als erster ans Rednerpult?

DER MITTLERE

zum Schmächtigen Vielleicht Sie?

DER SCHMÄCHTIGE

Ich möchte lieber anschließend … Ich war nie ein guter Redner.

DER DICKE

Aber Sie sind der Urheber des Projekts.

DER MITTLERE

Ja, Sie haben den Massen dieses Versammlungen-Abhalten, diese Politikasterei eingeredet. Nun müssen Sie auch den Anfang machen.

DER SCHMÄCHTIGE

Wenn Sie unbedingt wollen …

Stellt sich auf den als Rednerpult dienenden Stuhl. Die beiden anderen Schiffbrüchigen nehmen vor ihm Aufstellung. Der Dicke zieht ein mit zwei Stäben versehenes Transparent aus der Tasche und reicht ein Ende dem Mittleren. Sie entfalten das Transparent über ihren Köpfen. Die Aufschrift lautet: »Wir wollen essen«.

Hm … meine Herren!

DER MITTLERE

ihn unterbrechend Wir sind einfache Menschen. Wir wollen keine Schmeicheleien hören …

DER DICKE

Sehr richtig! Nieder mit den zuckersüßen Worten! Wir wollen die nackte Wahrheit hören …

DER SCHMÄCHTIGE

Kollegen, wir haben uns hier versammelt …

DER MITTLERE

Zur Sache!

DER DICKE

Wir müssen an die Arbeit.

DER SCHMÄCHTIGE

Wir haben uns hier versammelt, um das brennende Problem der Lebensmittelversorgung einer Lösung entgegenzuführen. Kollegen, ich sollte dabei als Kandidat nicht in Erwägung gezogen werden. Ich habe Frau und Kinder. Mehr als einmal saß ich bei Sonnenuntergang im Garten und schaukelte meine Kinder, während meine Frau neben mir saß und häkelte, solange das Licht reichte. Meine Herren Kollegen, rufen Sie sich dieses milde, friedliche Bild vor Augen, und fragen Sie sich, ob es nicht Ihr Herz bewegt.

DER MITTLERE

Das sind keine Argumente. Wenn es ums Gemeinwohl geht, müssen die Gefühle schweigen. Schaukeln können die Kinder auch alleine.

DER DICKE

Und sogar besser!

DER MITTLERE

Sehr richtig! In den Kindergarten mit ihnen! Da gibt’s Karussells und Schaukeln genug. Nein, Kinder … das sind keine Argumente.

DER SCHMÄCHTIGE

Aber Kollegen! Als ich noch ein Knäblein war, reiften in mir hehre Pläne. Zugegeben, ich habe später nicht genug an mir gearbeitet, hab’ nicht erreicht, was ich erträumt’. Aber ich fühle es: noch ist’s nicht zu spät. Noch läßt sich manches gutmachen. So gelobe ich denn, daß ich mich nicht mehr gehenlasse und nicht erlahme im Streben nach meinem Ziel. Gar manches Mal bin ich gestrauchelt, das stimmt. Am Glauben an mich selbst hat’s mir gefehlt; Trägheit und tatenlose Resignation kamen noch dazu. Aber ich kann noch alles nachholen. Ich schwöre es, jetzt wird nachgeholt! Ich werde meinen Willen trainieren, meinen Charakter stählen, mir Wissen aneignen, bis daß ich all das erreiche, was ich noch vor mir habe. Ich bringe es noch zu etwas!

DER MITTLERE

Lauter!

DER SCHMÄCHTIGE

Ich bringe es noch zu etwas!

DER DICKE

Das ist Subjektivismus!

DER MITTLERE

Wir wollen essen!

DER DICKE

Wenn’s gefällig ist, jetzt zusammen! Drei, vier!

DER DICKE UND DER MITTLERE

im Chor Wir wol-len essen! Wir wol-len es-sen!

DER SCHMÄCHTIGE