Lauter Sünder / Schöne Aussicht - Slawomir Mrozek - E-Book

Lauter Sünder / Schöne Aussicht E-Book

Slawomir Mrozek

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Beschreibung

Die Erlebnisferien im Romantikhotel stellen sich trotz Schöner Aussicht als ungemütlich heraus; eine heißumkämpfte Position als Seelenhirte in einer kleinen Gemeinde mit Lauter Sündern entpuppt sich als Alptraum.

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Sławomir Mrożek

Lauter Sünder Schöne Aussicht

Zwei Stücke

Aus dem Polnischen von Christa Vogel

Diogenes

Lauter Sünder

Schauspiel in zwei Akten

Personen

Reverend Richard Bloom

25–30 Jahre alt

Reverend Gloria Burton

25–30 Jahre alt

Mrs. Maria Simpson

50–55 Jahre alt

Tante Rosa

60–65 Jahre alt

Professor Ned Wilkinson

50–55 Jahre alt

Mrs. Ami Wilkinson

50–55 Jahre alt

Thomas

25–30 Jahre alt

Betty

20–25 Jahre alt

Chico sprich: Tschiko

17–20 Jahre alt

 

Zeit

heute

 

Ort

Die Handlung spielt in einem kleinen Ort in Neu-England, USA

Erster Akt

Auf der Bühne ist es dunkel. Jemand zieht im Hintergrund einen Vorhang auf. Hinter dem Panoramafenster erscheint eine kleine historische Kirche mitten im Grünen. Sommer, später Nachmittag. Die Person, die den Vorhang zurückgezogen hat, ist eine korpulente Person in mittleren Jahren (Mrs. Simpson). Ein junger Mann (Reverend Bloom) steht neben ihr. Ein Koffer auf dem Boden.

MRS. SIMPSON

Es wird Ihnen hier sicher gefallen.

REV. BLOOM

Oh, ganz sicher.

MRS. SIMPSON

Das heißt, nur die Landschaft. Die Leute sind schrecklich.

REV. BLOOM

Was ist an den Leuten so Schreckliches?

MRS. SIMPSON

Lauter Sünder.

REV. BLOOM

Das ist nichts Außergewöhnliches, wir sind alle Sünder.

MRS. SIMPSON

Nirgends gibt es solche Sünder wie in unserer Gemeinde.

REV. BLOOM

Habe ich das so zu verstehen, daß Sie weniger sündig sind?

MRS. SIMPSON

Ich? Aber wieso denn?

REV. BLOOM

Weil Sie die anderen so streng verurteilen.

MRS. SIMPSON

Ganz im Gegenteil, ich sündige am meisten.

REV. BLOOM

Das ist wohl wieder übertrieben.

MRS. SIMPSON

Na, Sie kennen mich nicht.

REV. BLOOM

Das habe ich tatsächlich noch nicht geschafft. Aber Sie sehen nicht wie ein Luzifer aus.

MRS. SIMPSON

Und wie sehe ich aus?

REV. BLOOM

Na, wie soll ich sagen … Ganz anständig, eben.

MRS. SIMPSON

Alles nur Schein! Wenn ich Ihnen die Tiefe meiner Seele zeigen würde … Soll ich sie Ihnen zeigen?

REV. BLOOM

Jetzt? Gleich?

MRS. SIMPSON

Was spricht dagegen?

REV. BLOOM

Ich bin grade erst angekommen.

MRS. SIMPSON

Also ist es noch nicht zu spät. Schon im nächsten Augenblick kann ich sterben. Ich habe so eine Ahnung, daß ich gleich sterbe.

REV. BLOOM

Das weiß man nie, Ahnungen täuschen oft.

MRS. SIMPSON

Reverend, das ist Ihre Pflicht.

REV. BLOOM

Alles zu seiner Zeit. Später steh ich gern zu Diensten, aber erst mal …

MRS. SIMPSON

kommt näher und senkt die Stimme Ich habe Visionen …

REV. BLOOM

Das ist noch nichts Schlimmes. Es kommt darauf an, was Sie sehen.

MRS. SIMPSON

Das, was ich sehe, ist nur die Hälfte des Übels. Wichtiger ist, was Sie sehen werden.

REV. BLOOM

Aber, Mrs. Simpson!

MRS. SIMPSON

Was Sie in meiner Seele erblicken werden. Und dann sagen Sie mir, ob ich nicht verflucht bin, die sündigste, ekelhafteste, schimpflich verachtenswerteste …

REV. BLOOM

Mrs. Simpson, ich bin überzeugt, daß Sie eine außergewöhnliche Sünderin sind. Die schlimmste in der Gemeinde.

MRS. SIMPSON

Das ist noch nichts Großes.

REV. BLOOM

Na gut, dann die schlimmste in der Region.

MRS. SIMPSON

Das ist auch nichts Tolles …

REV. BLOOM

Also im ganzen Land. Auf dem ganzen Kontinent, wenn Sie das vorziehen. In der ganzen Welt. Ja, Sie sind die unbestrittene Weltmeisterin auf dem Gebiet der schwersten Sünden. Ich verspreche, daß wir das detailliert besprechen werden. Aber zunächst möchte ich gern ein Glas Tee.

MRS. SIMPSON

Ich bitte um die Papiere.

REV. BLOOM

Was für Papiere?

MRS. SIMPSON

Ihre Dokumente, Reverend. Die Bestätigung, daß Sie in unsere Gemeinde geschickt wurden, mit dem Stempel der entsprechenden Kirchenbehörden. Ihre Nomination oder wenigstens ein Zeugnis über den Abschluß eines geistlichen Seminars. Oder irgendwas in der Art.

REV. BLOOM

Mit welchem Recht?

MRS. SIMPSON

Als Vorsitzende des Gemeindekomitees habe ich das Recht, Ihre Legitimation zu überprüfen.

REV. BLOOM

Ganz recht, aber wozu? Was wollen Sie?

MRS. SIMPSON

Sind Sie ein Priester?

REV. BLOOM

Selbstverständlich.

MRS. SIMPSON

Aber ich habe da Zweifel. Sie weigern sich, meine seelischen Bedürfnisse zu befriedigen.

REV. BLOOM

Ich weigere mich überhaupt nicht, ich würde nur gern vorher eine Tasse Tee trinken.

MRS. SIMPSON

Bitte die Dokumente.

REV. BLOOM

Bitte sehr. Er öffnet seinen Koffer und holt eine Mappe heraus. Aus der Mappe nimmt er ein Dokument und gibt es Mrs. Simpson. Mrs. Simpson überprüft das Dokument.

REV. BLOOM

Und bitte … Er überreicht ihr das nächste Dokument, das Mrs. Simpson ebenfalls überprüft.

REV. BLOOM

Und bitte. Er zeigt ihr noch ein Dokument, Mrs. Simpson überprüft es.

REV. BLOOM

Reicht das?

MRS. SIMPSON

gibt ihm die Dokumente zurück Sie scheinen in Ordnung zu sein.

REV. BLOOM

Na sicher sind sie in Ordnung. Wieso verdächtigen Sie mich?

MRS. SIMPSON

Bitte entschuldigen Sie mich, aber heutzutage weiß man ja nie. Überall tauchen Fremde auf, überall Betrüger, irgendwelche Typen von wo weiß woher, junge Leute … Verzeihung, ich wollte Sie nicht verletzen. Sie sind ja auch noch jung.

REV. BLOOM

Das vergeht mit der Zeit von allein.

MRS. SIMPSON

Aber drogenabhängig sind Sie nicht, oder?

REV. BLOOM

Nein, soweit mir bekannt ist, nicht.

MRS. SIMPSON

Außerdem sind Sie ja Priester, das ist was anderes, da hat das Alter keine Bedeutung.

REV. BLOOM

Kleinigkeit, darüber müssen wir nicht reden.

MRS. SIMPSON

Auf der anderen Seite frage ich mich, weshalb die uns nicht einen älteren geschickt haben.

Rev. Bloom zuckt die Achseln.

Ist das Ihre erste Stellung?

REV. BLOOM

So ist es.

MRS. SIMPSON

Das habe ich mir gedacht. Ich bringe gleich den Tee. Sie geht hinaus.

Rev. Bloom setzt sich sichtbar erleichtert auf einen Sessel. Er streckt die Beine aus und zündet sich eine Zigarette an. Man hört ein Klingeln an der Eingangstür.

Im Hintergrund Könnten Sie öffnen?

Rev. Bloom will die Zigarette ausmachen, aber er findet keinen Aschenbecher. Er wirft sie also auf den Boden, tritt sie mit dem Absatz aus und steckt den Stummel in seine Tasche. Er versucht mit den Händen fuchtelnd den Rauch zu verteilen, was ihm aber nicht gelingt. Er geht Richtung Vorzimmer. Bevor er dahin gelangt, öffnet sich die Tür und Rev. Burton, das heißt eine junge und schöne Frau, kommt herein. Rev. Burton trägt einen Koffer.

REV. BLOOM

Wie sind Sie hierhergekommen?

REV. BURTON

Ich habe die Tür aufgestoßen. Sind Sie Mrs. Simpson?

REV. BLOOM

Ich fürchte, das bin ich nicht.

REV. BURTON

Merkwürdig.

REV. BLOOM

Wieso?

REV. BURTON

Mir hat man gesagt, dass Mrs. Simpson mich erwartet.

REV. BLOOM

Vielleicht haben Sie eine falsche Adresse.

REV. BURTON

Ist hier das Gemeindebüro?

REV. BLOOM

Ja.

REV. BURTON

Dann ist das kein Irrtum. Sie sind Mrs. Simpson, und Sie erwarten mich.

REV. BLOOM

Soweit ich weiß, bin ich nicht Mrs. Simpson.

REV. BURTON

Offensichtlich wissen Sie nicht alles.

REV. BLOOM

Mrs. Simpson dagegen befindet sich in der Küche. – Mrs. Simpson! Da ist jemand für Sie.

Mrs. Simpson kommt herein.

REV. BURTON

streckt Mrs. Simpson die Hand entgegen Mrs. Simpson! Wie schön, Sie kennenzulernen.

MRS. SIMPSON

ohne die Geste zu erwidern Womit kann ich Ihnen dienen?

REV. BURTON

Entschuldigen Sie die Verspätung.

MRS. SIMPSON

Das macht nichts.

REV. BURTON

Ich sehe, daß Sie beschäftigt sind. Ihr Mann hat mir das schon erzählt.

MRS. SIMPSON

Wer?

REV. BURTON

Ihr Mann. Mrs. Simpson dreht sich zu Rev. Bloom.

REV. BLOOM

Gucken Sie mich nicht so an, ich bin vollkommen unschuldig.

Mrs. Simpson dreht sich zu Reverend Burton.

MRS. SIMPSON

Entschuldigen Sie, aber wer sind Sie eigentlich …

REV. BURTON

Ach, ich dachte, das wüßten Sie. Sie streckt wieder ihre Hand aus. Reverend Gloria Burton.

Die verdutzte Mrs. Simpson streckt ihr automatisch die Hand hin. Mrs. Simpson und Reverend Gloria Burton drücken sich die Hand.

MRS. SIMPSON

Wieso Reverend … Sie haben gesagt: Reverend?

REV. BURTON

Ich bin der neue Propst dieser Gemeinde hier.

MRS. SIMPSON

Das heißt … Sie sind Priester?

REV. BURTON

Selbstverständlich, wenn ich Propst bin …

MRS. SIMPSON

Aber … Aber, sind Sie keine Frau?

REV. BURTON

Natürlich, aber unter diesen Umständen hat das keine Bedeutung, das ist eine Subkategorie, eine geringfügige Spezifik. Hauptsächlich bin ich eine geistliche Person.

REV. BLOOM

Mrs. Simpson, ich würde Ihnen raten, Frau Reverend Burton nach ihren Papieren zu fragen.

REV. BURTON

Mir scheint, Mr. Simpson, daß Sie sich als Ehemann berechtigt fühlen, sich in Angelegenheiten einzumischen, die nur Ihre Frau betreffen. In der Zukunft werden wir die Angemessenheit Ihrer Neigung abwägen.

MRS. SIMPSON

Miss Burton …

REV. BURTON

Ich muß Sie darauf aufmerksam machen: Reverend Burton.

MRS. SIMPSON

Verehrte Reverend Burton, dieser Mann ist nicht mein Mann.

REV. BURTON

Das macht nichts. Ihr Verhältnis zueinander ist in diesem Augenblick nicht das grundsätzliche Thema.

MRS. SIMPSON

Und zwischen ihm und mir besteht überhaupt kein Verhältnis in dem Sinne, auf den Sie anspielen. Dieser Herr ist der neue Propst unserer Gemeinde.

REV. BURTON

Der neue Propst?

MRS. SIMPSON

Der gerade erst angekommen ist.

REV. BURTON

Wenn das wahr ist, wer bin ich dann?

MRS. SIMPSON

Ich habe keine Ahnung.

REV. BLOOM

Das ist wohl ein Mißverständnis. Ich verdächtige Miss Burton nicht …

REV. BURTON

Reverend Burton.

REV. BLOOM

Ich verdächtige Miss Burton nicht, sich die Würde und den Titel angeeignet zu haben, die ihr rechtmäßig nicht zustehen. Ich bin sicher, daß es uns gelingt, mit ein wenig Geduld und gutem Willen von beiden Seiten die Angelegenheit aufzuklären. Miss Burton, denke ich, repräsentiert eine gewisse gesellschaftliche Gruppe, deren charakteristische Eigenschaft, wenn auch eine zweitrangige, diese Zweitrangigkeit haben Sie ja vor einem Augenblick selbst betont, die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht ist. Irre ich mich auch nicht, Miss Burton?

REV. BURTON

Reverend Burton, wie oft muß ich das noch sagen.

REV. BLOOM

Reverend oder nicht – dazu kommen wir noch, wenn wir eine gewisse Ordnung der Dinge, über die wir uns verständigen wollen, einhalten. Also der fortschrittliche Flügel jener gesellschaftlichen Gruppe fordert das Recht der priesterlichen Weihen.

REV. BURTON

Haben Sie was dagegen?

REV. BLOOM

Gott bewahre! Zumal die Kirchenobrigkeit immer mehr geneigt ist, diesen Forderungen entgegenzukommen.

REV. BURTON

Worum geht es Ihnen also dann?

REV. BLOOM

Selbst wenn Sie zu dem linken Flügel der Gruppe gehören, heißt das ja immer noch nicht, daß Sie das Recht auf die Priesterweihe tatsächlich besitzen. Deshalb frage ich offiziell und in Gegenwart eines Zeugen: Miss Burton, sind Sie durch die Kirche berechtigt, seelsorgerliche Tätigkeiten auszuüben?

REV. BURTON

Das bin ich.

REV. BLOOM

Seit wann?

REV. BURTON

Seit einer Woche.

REV. BLOOM

Aber nicht jeder Priester ist ein Propst, obwohl jeder Propst ein Priester ist. Reverend Burton, besitzen Sie eine Nominierung für die Stellung eines Propstes in der hiesigen Gemeinde?

REV. BURTON

Die besitze ich.

REV. BLOOM

Darf ich fragen, wann Sie die Nominierung erhalten haben?

REV. BURTON

Heute vormittag.

MRS. SIMPSON

Die geht aber ran.

REV. BLOOM

Danke, ich habe keine weiteren Fragen mehr.

MRS. SIMPSON

Aber ich! Ich habe eine Frage an Sie beide! Einer von Ihnen betrügt hier, es kann nicht anders sein. Wer von Ihnen also ist der Betrüger?

REV. BLOOM

Nicht unbedingt. Es ist ganz und gar möglich, daß sowohl die Nominierung von Reverend Burton als auch meine beide legal und rechtskräftig sind.

MRS. SIMPSON

Auf welche Art und Weise?

REV. BLOOM

Mich hat man zuerst ernannt, aber Reverend Burton hat dank ihrer ungewöhnlichen Energie denselben Posten wie ich erhalten.

MRS. SIMPSON

Na eben! Wie konnten die ihr einen Posten geben, den sie schon jemand anderem gegeben haben?

REV. BLOOM

Sie wurden von Reverend Burton terrorisiert. Die Kirchenobrigkeit, das sind auch nur Menschen, und nichts Menschliches ist ihnen fremd. Also auch nicht die Angst und die Unterwerfung vor der Übermacht. Aber Reverend Burton ist, wir hatten bereits die Gelegenheit, das zu bemerken, mit einer ungeheuren Überzeugungskraft ausgestattet. Sie ist in dieses Haus eingetreten, bevor ich überhaupt die Tür vor ihr aufmachen konnte.

MRS. SIMPSON

Aber das ist unzulässig! Was denken die sich denn?

REV. BLOOM

Die denken, daß sich die Konsequenzen ihrer inkonsequenten Handlungen irgendwie von selber lösen. Sie schaffen ein Problem und rechnen damit, daß das Problem sich von selbst löst. Und damit haben sie in gewisser Weise recht, weil es noch nie so war, daß es sich nicht irgendwie gelöst hat. Die Natur, die Naturkräfte, kurz gesagt das Leben, hilft sich letzten Endes immer selbst. Es ist mir peinlich, das zu sagen, Mrs. Simpson, aber selbst die Heilige Kirche steht nicht über der Desintegration, dem Chaos und der Unverantwortlichkeit, die unsere Zivilisation bedrohen.

MRS. SIMPSON

Wir wollen hier keinen weiblichen Priester! Ich protestiere!

REV. BLOOM

Und Sie protestieren vergeblich. Die Bürokratie liebt es nicht, ihre Schwächen, ihre Unordnung und ihre Fehler einzugestehen. Ganz besonders liebt sie es nicht, Entscheidungen zurückzuziehen, insbesondere falsche. Das würde ihr Prestige ankratzen und vor allem mehr Arbeit bedeuten. Ihr Protest wird zu nichts führen.

REV. BURTON

So ist es! Zu nichts, das kann ich garantieren.

REV. BLOOM

Sehen Sie? Reverend Burton ist derselben Meinung.

MRS. SIMPSON

Warum protestieren Sie dann nicht selber, Reverend?

REV. BLOOM

Es gibt gewisse Gründe, weshalb ein Protest schlecht angesehen wäre.

MRS. SIMPSON

Und Sie geben so leicht auf, Reverend? Sind Sie überhaupt ein Mann?

REV. BLOOM

Nur zweitrangig, vor allem bin ich eine geistliche Person, ähnlich wie Reverend Burton. Mit dem Unterschied natürlich, daß Reverend Burton zweitrangig eine Frau ist.

REV. BURTON

Ich sehe, daß wir uns verstehen, Reverend … Reverend … Verzeihung, aber ich weiß Ihren Namen noch nicht.

REV. BLOOM

Bloom, Richard Bloom.

REV. BURTON

Sie sind Jude, Reverend?

REV. BLOOM

Nur zweitrangig.

MRS. SIMPSON

Was soll das heißen?!

REV. BURTON

Warum wundern Sie sich so? Bloom ist ein typisch jüdischer Name.

MRS. SIMPSON

Aber hat er nicht Jesus Christus gekreuzigt?

REV. BLOOM

Ich persönlich habe daran keine Erinnerungen.

MRS. SIMPSON

Ich glaube, ich werde verrückt! Wie kann jemand, der unseren Herrn gekreuzigt hat, sein Diener sein?

REV. BLOOM

Das kann ich mit der Änderung meiner Ansichten erklären.

REV. BURTON

Sie haben Vorurteile, Mrs. Simpson. Im Gegensatz zum Judaismus ist das Christentum keine Stammesreligion, ähnlich wie es auch keine, oder es sollte jedenfalls keine sein, männlich-chauvinistische Religion ist. Es ist eine universelle Religion. Als solche eignet sie sich geradezu ideal für eine Religion des globalen Dorfes.

MRS. SIMPSON

Des was?

REV. BURTON

Der Weltkugel. Anders gesagt, es sollte die Religion der modernen Welt sein. Mehr noch, das Christentum kann sich als der entscheidende Faktor für die Vereinigung unseres Planeten erweisen. Das wenigstens ist meine Meinung.

MRS. SIMPSON

Unsere Gemeinde hat nichts mit der Weltkugel zu tun.

REV. BURTON

Wir leben nicht mehr im Mittelalter, Mrs. Simpson. Glauben Sie etwa immer noch, daß die Sonne um die Erde kreist?

MRS. SIMPSON

Das geht mich gar nichts an, was da um was kreist. Ich wünsche nur nicht, daß mein Dorf um irgendwas kreist.

REV. BURTON

Um die Sonne, Mrs. Simpson.

MRS. SIMPSON

Das ist mir egal. Wir wollen hier keinen Juden.

REV. BURTON

Es gibt keine Juden, Mrs. Simpson, sie existieren nicht. Die Juden wurden schon von Jean-Paul Sartre dekonstruiert. Seine Definition des Judentums ist folgende: »Ein Jude ist jeder, den die anderen für einen Juden halten.« Das heißt, daß die Juden eine rein geistige Kategorie und ein soziales Phänomen sind, aber keine Wesenheit an sich. Wenn ich also Sie, Mrs. Simpson, eine Jüdin nenne, heißt das, Sie sind eine Jüdin.

MRS. SIMPSON

Ich? Eine Jüdin?!

REV. BURTON

Beruhigen Sie sich, wenn ich das nicht sage, heißt das, daß Sie keine sind.

MRS. SIMPSON

Dann sagen Sie das nicht.

REV. BURTON

Okay, mache ich nicht. Aber nur unter der Bedingung, daß Sie Reverend Bloom auch keinen Juden nennen.

MRS. SIMPSON

Das wird schwer sein. Könnten Sie sich nicht was anderes ausdenken?

REV. BURTON

Mrs. Simpson, noch ein Wort, und ich sage, wer Sie sind.

MRS. SIMPSON

Schon gut, schon gut, ich versuche es.

REV. BURTON

Ich rate es Ihnen.

In der Küche pfeift der Teekessel und signalisiert damit, daß das Wasser kocht.

MRS. SIMPSON

Entschuldigung, das Wasser kocht. Sie geht hinaus.

REV. BURTON

Es ist doch ganz leicht gegangen.

REV. BLOOM

Aber nicht für mich.

REV. BURTON

Aber jetzt unter uns: Sind Sie wirklich Jude?

REV. BLOOM

Wenn Sie mich so nennen …

REV. BURTON

Ach, hören Sie auf, schließlich sind Sie nicht Mrs. Simpson. Wie steht es mit Ihnen wirklich?

REV. BLOOM

Um die These von Jean-Paul Sartre zu vertiefen – ich bin ein Jude, wenn ich mich selber für einen Juden halte.

REV. BURTON

Und wenn nicht?

REV. BLOOM

Dann bin ich auch ein Jude.

REV. BURTON

Aber dann gibt es keinen Grund! Warum also?

REV. BLOOM

Das ist die Frage. Vielleicht deshalb, weil ich mich einen Juden nennen kann, wann immer ich will. Irgendwie scheint mir, daß ich das Recht dazu habe.

REV. BURTON

Und andere haben nicht das Recht?

REV. BLOOM

Nur die, die Juden sind.

REV. BURTON

Das heißt, nicht alle?

REV. BLOOM

Nein, nicht alle.

REV. BURTON

Aber das ist elitär!

REV. BLOOM

Dagegen kann ich auch nichts machen.

REV. BURTON

Wieso fühlen Sie sich so außergewöhnlich?

REV. BLOOM

Ich gestehe, daß mir das nicht klar ist.

REV. BURTON

Okay, solange Sie es als Ihr Recht bezeichnen und nicht als Pflicht, ist es zulässig, obwohl man gerade so … ich warne Sie. Aber wenn Sie das als Ihre Pflicht ansähen … Oh! Dann wäre es ganz schlimm!

REV. BLOOM

Was ist da der Unterschied?

REV. BURTON

Der Unterschied ist, daß man vom Recht Gebrauch machen kann oder nicht, die Pflicht dagegen befindet sich im Widerspruch mit der Freiheit der Wahl, sie ist Determinismus und Rassismus. Sie wollen ja wohl nicht als Rassist gelten?

REV. BLOOM

O nein! Um nichts in der Welt!

REV. BURTON

Das heißt, Sie fühlen sich nicht verpflichtet, Jude zu sein, nicht wahr?

REV. BLOOM

O nein! So weit würde ich nicht gehen!

REV. BURTON

Ich atme erleichtert auf, weil ich mir schon Sorgen um Sie gemacht habe. Ihre Pflicht, sich zum Judentum zu bekennen, stünde in absolutem Widerspruch zu der universellen Freiheit des Individuums.

REV. BLOOM

Wenn wir schon davon reden – wenn man Sie Jüdin nennt, fühlen Sie sich dann als Jüdin?

REV. BURTON

Ich nenne mich nie Jüdin.

REV. BLOOM

Wieso nicht?

REV. BURTON

Es ist mir nie in den Sinn gekommen.

REV. BLOOM

Na, dann probieren Sie es mal.

REV. BURTON

Das ist doch unseriös.

REV. BLOOM

Nur ein Experiment.

Mrs. Simpson kommt herein, sie schiebt einen kleinen Servierwagen vor sich her, auf dem Teller, Tassen, eine Teekanne, Kuchen etc. stehen.

MRS. SIMPSON

Entschuldigung, es hat etwas Zeit gebraucht. Ich hatte nur eine Person erwartet.

REV. BURTON

Muß ich mich überflüssig fühlen?

MRS. SIMPSON

Ganz wie Sie meinen.

REV. BURTON

Dann meine ich das nicht und fühle mich nicht überflüssig. Soll ich Ihnen helfen?

REV. BLOOM

Halten Sie sich zurück, Reverend, das ist ein typisch weiblicher Reflex, und wenn Sie dem nachgeben, dann tritt Ihre Weiblichkeit, Reverend, an die erste Stelle.

MRS. SIMPSON

Danke, Reverend, aber solange nicht klar ist, wer hier herrschen wird, bin ich für das Haus verantwortlich.

REV. BURTON

Aber das ist schon klar, Mrs. Simpson, ich werde hier herrschen.

REV. BLOOM

Und ich? Was wird mit mir?

REV. BURTON

Sie, Reverend, sind mein Gast.

REV. BLOOM

Entschuldigen Sie, aber ich bin zum Propst ernannt worden.

REV. BURTON

Ich auch. Sie, Reverend, können mein Vikar werden.

REV. BLOOM

Aber ich habe Priorität. Ich bin als erster ernannt worden, und ich war zuerst hier.

REV. BURTON

Reverend, glauben Sie an das Jüngste Gericht?

REV. BLOOM

Was für eine Frage! Wollen Sie meine professionelle Kompetenz anzweifeln? Ich verstehe, daß Sie mit mir konkurrieren, aber das sind unfaire Methoden. Ich habe ein Diplom, Mrs. Simpson kann das bestätigen. Ich bin völlig zu Recht hier! … Augenblick … Oder machen Sie vielleicht irgendwelche rassistischen Andeutungen?

REV. BURTON

Bitte, werden Sie nicht albern, Reverend. Ich habe Ihnen eine rein theologische Frage gestellt, um mit Ihnen von Priester zu Priester zu reden, nichts weiter. Also Sie glauben selbstverständlich an das Jüngste Gericht, das heißt an das endgültige Ziel, auf das die gesamte Menschheitsgeschichte zusteuert. Die Krönung der Geschichte, die Erfüllung und das Ende aller Dinge. Ist es nicht so?

REV. BLOOM

Ja, sicher.

REV. BURTON

Also wenn das Jüngste Gericht der wichtigste Moment der Geschichte ist, dann verhält sich die Hierarchie der Wichtigkeit aller dem Jüngsten Gericht vorangehenden Dinge nur im Verhältnis zu dem Jüngsten Gericht. Das heißt, die Dinge, die sich näher dem Ende zu ereignen, haben eine größere Bedeutung als die Dinge, die näher dem Anfang passierten. Das heißt, daß Sie, Reverend, hier eher waren als ich, bedeutet weniger, als daß ich hier später ankam.

REV. BLOOM

Aber auf welcher Grundlage?

REV. BURTON

Aber das sage ich doch. Auf der Grundlage des Jüngsten Gerichts.

REV. BLOOM

Ich war als erster hier!

REV. BURTON

Das heißt als zweiter.

MRS. SIMPSON

Genau!

REV. BLOOM

Damit kann ich mich nicht einverstanden erklären.

REV. BURTON

Wenn Sie das nicht akzeptieren, Reverend, geraten Sie in den Verdacht der Häresie.

MRS. SIMPSON

Das würde mich überhaupt nicht wundern. Er ist … Reverend weiß wer.

REV. BLOOM

Ich habe nicht gesagt, daß ich nicht einverstanden bin, sondern daß ich mich nicht einverstanden erklären kann.

REV. BURTON

Dann verzichten Sie also auf die Stelle als Probst und nehmen den Posten eines Vikars an?

REV. BLOOM

Und was ist, wenn ich nein sage?

REV. BURTON

Alle Wege sind offen, niemand wird Sie hier zurückhalten, Reverend.

REV. BLOOM

Lassen Sie uns darüber reden.

MRS. SIMPSON

Ich höre gern zu. Setzen wir uns?

Sie nehmen um den Tisch herum Platz.

REV. BURTON

Schachmatt, Reverend, da hilft gar nichts. Mein Argument des Jüngsten Gerichtes als Beziehungspunkt jeder Art von Relativität ist nicht zu erschüttern. Kann ich Milch zum Tee haben? Danke.

REV. BLOOM