7,99 €
Die Erlebnisferien im Romantikhotel stellen sich trotz Schöner Aussicht als ungemütlich heraus; eine heißumkämpfte Position als Seelenhirte in einer kleinen Gemeinde mit Lauter Sündern entpuppt sich als Alptraum.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 176
Sławomir Mrożek
Zwei Stücke
Aus dem Polnischen von Christa Vogel
Diogenes
Schauspiel in zwei Akten
Reverend Richard Bloom
25–30 Jahre alt
Reverend Gloria Burton
25–30 Jahre alt
Mrs. Maria Simpson
50–55 Jahre alt
Tante Rosa
60–65 Jahre alt
Professor Ned Wilkinson
50–55 Jahre alt
Mrs. Ami Wilkinson
50–55 Jahre alt
Thomas
25–30 Jahre alt
Betty
20–25 Jahre alt
Chico sprich: Tschiko
17–20 Jahre alt
heute
Die Handlung spielt in einem kleinen Ort in Neu-England, USA
Auf der Bühne ist es dunkel. Jemand zieht im Hintergrund einen Vorhang auf. Hinter dem Panoramafenster erscheint eine kleine historische Kirche mitten im Grünen. Sommer, später Nachmittag. Die Person, die den Vorhang zurückgezogen hat, ist eine korpulente Person in mittleren Jahren (Mrs. Simpson). Ein junger Mann (Reverend Bloom) steht neben ihr. Ein Koffer auf dem Boden.
MRS. SIMPSON
Es wird Ihnen hier sicher gefallen.
REV. BLOOM
Oh, ganz sicher.
MRS. SIMPSON
Das heißt, nur die Landschaft. Die Leute sind schrecklich.
REV. BLOOM
Was ist an den Leuten so Schreckliches?
MRS. SIMPSON
Lauter Sünder.
REV. BLOOM
Das ist nichts Außergewöhnliches, wir sind alle Sünder.
MRS. SIMPSON
Nirgends gibt es solche Sünder wie in unserer Gemeinde.
REV. BLOOM
Habe ich das so zu verstehen, daß Sie weniger sündig sind?
MRS. SIMPSON
Ich? Aber wieso denn?
REV. BLOOM
Weil Sie die anderen so streng verurteilen.
MRS. SIMPSON
Ganz im Gegenteil, ich sündige am meisten.
REV. BLOOM
Das ist wohl wieder übertrieben.
MRS. SIMPSON
Na, Sie kennen mich nicht.
REV. BLOOM
Das habe ich tatsächlich noch nicht geschafft. Aber Sie sehen nicht wie ein Luzifer aus.
MRS. SIMPSON
Und wie sehe ich aus?
REV. BLOOM
Na, wie soll ich sagen … Ganz anständig, eben.
MRS. SIMPSON
Alles nur Schein! Wenn ich Ihnen die Tiefe meiner Seele zeigen würde … Soll ich sie Ihnen zeigen?
REV. BLOOM
Jetzt? Gleich?
MRS. SIMPSON
Was spricht dagegen?
REV. BLOOM
Ich bin grade erst angekommen.
MRS. SIMPSON
Also ist es noch nicht zu spät. Schon im nächsten Augenblick kann ich sterben. Ich habe so eine Ahnung, daß ich gleich sterbe.
REV. BLOOM
Das weiß man nie, Ahnungen täuschen oft.
MRS. SIMPSON
Reverend, das ist Ihre Pflicht.
REV. BLOOM
Alles zu seiner Zeit. Später steh ich gern zu Diensten, aber erst mal …
MRS. SIMPSON
kommt näher und senkt die Stimme Ich habe Visionen …
REV. BLOOM
Das ist noch nichts Schlimmes. Es kommt darauf an, was Sie sehen.
MRS. SIMPSON
Das, was ich sehe, ist nur die Hälfte des Übels. Wichtiger ist, was Sie sehen werden.
REV. BLOOM
Aber, Mrs. Simpson!
MRS. SIMPSON
Was Sie in meiner Seele erblicken werden. Und dann sagen Sie mir, ob ich nicht verflucht bin, die sündigste, ekelhafteste, schimpflich verachtenswerteste …
REV. BLOOM
Mrs. Simpson, ich bin überzeugt, daß Sie eine außergewöhnliche Sünderin sind. Die schlimmste in der Gemeinde.
MRS. SIMPSON
Das ist noch nichts Großes.
REV. BLOOM
Na gut, dann die schlimmste in der Region.
MRS. SIMPSON
Das ist auch nichts Tolles …
REV. BLOOM
Also im ganzen Land. Auf dem ganzen Kontinent, wenn Sie das vorziehen. In der ganzen Welt. Ja, Sie sind die unbestrittene Weltmeisterin auf dem Gebiet der schwersten Sünden. Ich verspreche, daß wir das detailliert besprechen werden. Aber zunächst möchte ich gern ein Glas Tee.
MRS. SIMPSON
Ich bitte um die Papiere.
REV. BLOOM
Was für Papiere?
MRS. SIMPSON
Ihre Dokumente, Reverend. Die Bestätigung, daß Sie in unsere Gemeinde geschickt wurden, mit dem Stempel der entsprechenden Kirchenbehörden. Ihre Nomination oder wenigstens ein Zeugnis über den Abschluß eines geistlichen Seminars. Oder irgendwas in der Art.
REV. BLOOM
Mit welchem Recht?
MRS. SIMPSON
Als Vorsitzende des Gemeindekomitees habe ich das Recht, Ihre Legitimation zu überprüfen.
REV. BLOOM
Ganz recht, aber wozu? Was wollen Sie?
MRS. SIMPSON
Sind Sie ein Priester?
REV. BLOOM
Selbstverständlich.
MRS. SIMPSON
Aber ich habe da Zweifel. Sie weigern sich, meine seelischen Bedürfnisse zu befriedigen.
REV. BLOOM
Ich weigere mich überhaupt nicht, ich würde nur gern vorher eine Tasse Tee trinken.
MRS. SIMPSON
Bitte die Dokumente.
REV. BLOOM
Bitte sehr. Er öffnet seinen Koffer und holt eine Mappe heraus. Aus der Mappe nimmt er ein Dokument und gibt es Mrs. Simpson. Mrs. Simpson überprüft das Dokument.
REV. BLOOM
Und bitte … Er überreicht ihr das nächste Dokument, das Mrs. Simpson ebenfalls überprüft.
REV. BLOOM
Und bitte. Er zeigt ihr noch ein Dokument, Mrs. Simpson überprüft es.
REV. BLOOM
Reicht das?
MRS. SIMPSON
gibt ihm die Dokumente zurück Sie scheinen in Ordnung zu sein.
REV. BLOOM
Na sicher sind sie in Ordnung. Wieso verdächtigen Sie mich?
MRS. SIMPSON
Bitte entschuldigen Sie mich, aber heutzutage weiß man ja nie. Überall tauchen Fremde auf, überall Betrüger, irgendwelche Typen von wo weiß woher, junge Leute … Verzeihung, ich wollte Sie nicht verletzen. Sie sind ja auch noch jung.
REV. BLOOM
Das vergeht mit der Zeit von allein.
MRS. SIMPSON
Aber drogenabhängig sind Sie nicht, oder?
REV. BLOOM
Nein, soweit mir bekannt ist, nicht.
MRS. SIMPSON
Außerdem sind Sie ja Priester, das ist was anderes, da hat das Alter keine Bedeutung.
REV. BLOOM
Kleinigkeit, darüber müssen wir nicht reden.
MRS. SIMPSON
Auf der anderen Seite frage ich mich, weshalb die uns nicht einen älteren geschickt haben.
Rev. Bloom zuckt die Achseln.
Ist das Ihre erste Stellung?
REV. BLOOM
So ist es.
MRS. SIMPSON
Das habe ich mir gedacht. Ich bringe gleich den Tee. Sie geht hinaus.
Rev. Bloom setzt sich sichtbar erleichtert auf einen Sessel. Er streckt die Beine aus und zündet sich eine Zigarette an. Man hört ein Klingeln an der Eingangstür.
Im Hintergrund Könnten Sie öffnen?
Rev. Bloom will die Zigarette ausmachen, aber er findet keinen Aschenbecher. Er wirft sie also auf den Boden, tritt sie mit dem Absatz aus und steckt den Stummel in seine Tasche. Er versucht mit den Händen fuchtelnd den Rauch zu verteilen, was ihm aber nicht gelingt. Er geht Richtung Vorzimmer. Bevor er dahin gelangt, öffnet sich die Tür und Rev. Burton, das heißt eine junge und schöne Frau, kommt herein. Rev. Burton trägt einen Koffer.
REV. BLOOM
Wie sind Sie hierhergekommen?
REV. BURTON
Ich habe die Tür aufgestoßen. Sind Sie Mrs. Simpson?
REV. BLOOM
Ich fürchte, das bin ich nicht.
REV. BURTON
Merkwürdig.
REV. BLOOM
Wieso?
REV. BURTON
Mir hat man gesagt, dass Mrs. Simpson mich erwartet.
REV. BLOOM
Vielleicht haben Sie eine falsche Adresse.
REV. BURTON
Ist hier das Gemeindebüro?
REV. BLOOM
Ja.
REV. BURTON
Dann ist das kein Irrtum. Sie sind Mrs. Simpson, und Sie erwarten mich.
REV. BLOOM
Soweit ich weiß, bin ich nicht Mrs. Simpson.
REV. BURTON
Offensichtlich wissen Sie nicht alles.
REV. BLOOM
Mrs. Simpson dagegen befindet sich in der Küche. – Mrs. Simpson! Da ist jemand für Sie.
Mrs. Simpson kommt herein.
REV. BURTON
streckt Mrs. Simpson die Hand entgegen Mrs. Simpson! Wie schön, Sie kennenzulernen.
MRS. SIMPSON
ohne die Geste zu erwidern Womit kann ich Ihnen dienen?
REV. BURTON
Entschuldigen Sie die Verspätung.
MRS. SIMPSON
Das macht nichts.
REV. BURTON
Ich sehe, daß Sie beschäftigt sind. Ihr Mann hat mir das schon erzählt.
MRS. SIMPSON
Wer?
REV. BURTON
Ihr Mann. Mrs. Simpson dreht sich zu Rev. Bloom.
REV. BLOOM
Gucken Sie mich nicht so an, ich bin vollkommen unschuldig.
Mrs. Simpson dreht sich zu Reverend Burton.
MRS. SIMPSON
Entschuldigen Sie, aber wer sind Sie eigentlich …
REV. BURTON
Ach, ich dachte, das wüßten Sie. Sie streckt wieder ihre Hand aus. Reverend Gloria Burton.
Die verdutzte Mrs. Simpson streckt ihr automatisch die Hand hin. Mrs. Simpson und Reverend Gloria Burton drücken sich die Hand.
MRS. SIMPSON
Wieso Reverend … Sie haben gesagt: Reverend?
REV. BURTON
Ich bin der neue Propst dieser Gemeinde hier.
MRS. SIMPSON
Das heißt … Sie sind Priester?
REV. BURTON
Selbstverständlich, wenn ich Propst bin …
MRS. SIMPSON
Aber … Aber, sind Sie keine Frau?
REV. BURTON
Natürlich, aber unter diesen Umständen hat das keine Bedeutung, das ist eine Subkategorie, eine geringfügige Spezifik. Hauptsächlich bin ich eine geistliche Person.
REV. BLOOM
Mrs. Simpson, ich würde Ihnen raten, Frau Reverend Burton nach ihren Papieren zu fragen.
REV. BURTON
Mir scheint, Mr. Simpson, daß Sie sich als Ehemann berechtigt fühlen, sich in Angelegenheiten einzumischen, die nur Ihre Frau betreffen. In der Zukunft werden wir die Angemessenheit Ihrer Neigung abwägen.
MRS. SIMPSON
Miss Burton …
REV. BURTON
Ich muß Sie darauf aufmerksam machen: Reverend Burton.
MRS. SIMPSON
Verehrte Reverend Burton, dieser Mann ist nicht mein Mann.
REV. BURTON
Das macht nichts. Ihr Verhältnis zueinander ist in diesem Augenblick nicht das grundsätzliche Thema.
MRS. SIMPSON
Und zwischen ihm und mir besteht überhaupt kein Verhältnis in dem Sinne, auf den Sie anspielen. Dieser Herr ist der neue Propst unserer Gemeinde.
REV. BURTON
Der neue Propst?
MRS. SIMPSON
Der gerade erst angekommen ist.
REV. BURTON
Wenn das wahr ist, wer bin ich dann?
MRS. SIMPSON
Ich habe keine Ahnung.
REV. BLOOM
Das ist wohl ein Mißverständnis. Ich verdächtige Miss Burton nicht …
REV. BURTON
Reverend Burton.
REV. BLOOM
Ich verdächtige Miss Burton nicht, sich die Würde und den Titel angeeignet zu haben, die ihr rechtmäßig nicht zustehen. Ich bin sicher, daß es uns gelingt, mit ein wenig Geduld und gutem Willen von beiden Seiten die Angelegenheit aufzuklären. Miss Burton, denke ich, repräsentiert eine gewisse gesellschaftliche Gruppe, deren charakteristische Eigenschaft, wenn auch eine zweitrangige, diese Zweitrangigkeit haben Sie ja vor einem Augenblick selbst betont, die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht ist. Irre ich mich auch nicht, Miss Burton?
REV. BURTON
Reverend Burton, wie oft muß ich das noch sagen.
REV. BLOOM
Reverend oder nicht – dazu kommen wir noch, wenn wir eine gewisse Ordnung der Dinge, über die wir uns verständigen wollen, einhalten. Also der fortschrittliche Flügel jener gesellschaftlichen Gruppe fordert das Recht der priesterlichen Weihen.
REV. BURTON
Haben Sie was dagegen?
REV. BLOOM
Gott bewahre! Zumal die Kirchenobrigkeit immer mehr geneigt ist, diesen Forderungen entgegenzukommen.
REV. BURTON
Worum geht es Ihnen also dann?
REV. BLOOM
Selbst wenn Sie zu dem linken Flügel der Gruppe gehören, heißt das ja immer noch nicht, daß Sie das Recht auf die Priesterweihe tatsächlich besitzen. Deshalb frage ich offiziell und in Gegenwart eines Zeugen: Miss Burton, sind Sie durch die Kirche berechtigt, seelsorgerliche Tätigkeiten auszuüben?
REV. BURTON
Das bin ich.
REV. BLOOM
Seit wann?
REV. BURTON
Seit einer Woche.
REV. BLOOM
Aber nicht jeder Priester ist ein Propst, obwohl jeder Propst ein Priester ist. Reverend Burton, besitzen Sie eine Nominierung für die Stellung eines Propstes in der hiesigen Gemeinde?
REV. BURTON
Die besitze ich.
REV. BLOOM
Darf ich fragen, wann Sie die Nominierung erhalten haben?
REV. BURTON
Heute vormittag.
MRS. SIMPSON
Die geht aber ran.
REV. BLOOM
Danke, ich habe keine weiteren Fragen mehr.
MRS. SIMPSON
Aber ich! Ich habe eine Frage an Sie beide! Einer von Ihnen betrügt hier, es kann nicht anders sein. Wer von Ihnen also ist der Betrüger?
REV. BLOOM
Nicht unbedingt. Es ist ganz und gar möglich, daß sowohl die Nominierung von Reverend Burton als auch meine beide legal und rechtskräftig sind.
MRS. SIMPSON
Auf welche Art und Weise?
REV. BLOOM
Mich hat man zuerst ernannt, aber Reverend Burton hat dank ihrer ungewöhnlichen Energie denselben Posten wie ich erhalten.
MRS. SIMPSON
Na eben! Wie konnten die ihr einen Posten geben, den sie schon jemand anderem gegeben haben?
REV. BLOOM
Sie wurden von Reverend Burton terrorisiert. Die Kirchenobrigkeit, das sind auch nur Menschen, und nichts Menschliches ist ihnen fremd. Also auch nicht die Angst und die Unterwerfung vor der Übermacht. Aber Reverend Burton ist, wir hatten bereits die Gelegenheit, das zu bemerken, mit einer ungeheuren Überzeugungskraft ausgestattet. Sie ist in dieses Haus eingetreten, bevor ich überhaupt die Tür vor ihr aufmachen konnte.
MRS. SIMPSON
Aber das ist unzulässig! Was denken die sich denn?
REV. BLOOM
Die denken, daß sich die Konsequenzen ihrer inkonsequenten Handlungen irgendwie von selber lösen. Sie schaffen ein Problem und rechnen damit, daß das Problem sich von selbst löst. Und damit haben sie in gewisser Weise recht, weil es noch nie so war, daß es sich nicht irgendwie gelöst hat. Die Natur, die Naturkräfte, kurz gesagt das Leben, hilft sich letzten Endes immer selbst. Es ist mir peinlich, das zu sagen, Mrs. Simpson, aber selbst die Heilige Kirche steht nicht über der Desintegration, dem Chaos und der Unverantwortlichkeit, die unsere Zivilisation bedrohen.
MRS. SIMPSON
Wir wollen hier keinen weiblichen Priester! Ich protestiere!
REV. BLOOM
Und Sie protestieren vergeblich. Die Bürokratie liebt es nicht, ihre Schwächen, ihre Unordnung und ihre Fehler einzugestehen. Ganz besonders liebt sie es nicht, Entscheidungen zurückzuziehen, insbesondere falsche. Das würde ihr Prestige ankratzen und vor allem mehr Arbeit bedeuten. Ihr Protest wird zu nichts führen.
REV. BURTON
So ist es! Zu nichts, das kann ich garantieren.
REV. BLOOM
Sehen Sie? Reverend Burton ist derselben Meinung.
MRS. SIMPSON
Warum protestieren Sie dann nicht selber, Reverend?
REV. BLOOM
Es gibt gewisse Gründe, weshalb ein Protest schlecht angesehen wäre.
MRS. SIMPSON
Und Sie geben so leicht auf, Reverend? Sind Sie überhaupt ein Mann?
REV. BLOOM
Nur zweitrangig, vor allem bin ich eine geistliche Person, ähnlich wie Reverend Burton. Mit dem Unterschied natürlich, daß Reverend Burton zweitrangig eine Frau ist.
REV. BURTON
Ich sehe, daß wir uns verstehen, Reverend … Reverend … Verzeihung, aber ich weiß Ihren Namen noch nicht.
REV. BLOOM
Bloom, Richard Bloom.
REV. BURTON
Sie sind Jude, Reverend?
REV. BLOOM
Nur zweitrangig.
MRS. SIMPSON
Was soll das heißen?!
REV. BURTON
Warum wundern Sie sich so? Bloom ist ein typisch jüdischer Name.
MRS. SIMPSON
Aber hat er nicht Jesus Christus gekreuzigt?
REV. BLOOM
Ich persönlich habe daran keine Erinnerungen.
MRS. SIMPSON
Ich glaube, ich werde verrückt! Wie kann jemand, der unseren Herrn gekreuzigt hat, sein Diener sein?
REV. BLOOM
Das kann ich mit der Änderung meiner Ansichten erklären.
REV. BURTON
Sie haben Vorurteile, Mrs. Simpson. Im Gegensatz zum Judaismus ist das Christentum keine Stammesreligion, ähnlich wie es auch keine, oder es sollte jedenfalls keine sein, männlich-chauvinistische Religion ist. Es ist eine universelle Religion. Als solche eignet sie sich geradezu ideal für eine Religion des globalen Dorfes.
MRS. SIMPSON
Des was?
REV. BURTON
Der Weltkugel. Anders gesagt, es sollte die Religion der modernen Welt sein. Mehr noch, das Christentum kann sich als der entscheidende Faktor für die Vereinigung unseres Planeten erweisen. Das wenigstens ist meine Meinung.
MRS. SIMPSON
Unsere Gemeinde hat nichts mit der Weltkugel zu tun.
REV. BURTON
Wir leben nicht mehr im Mittelalter, Mrs. Simpson. Glauben Sie etwa immer noch, daß die Sonne um die Erde kreist?
MRS. SIMPSON
Das geht mich gar nichts an, was da um was kreist. Ich wünsche nur nicht, daß mein Dorf um irgendwas kreist.
REV. BURTON
Um die Sonne, Mrs. Simpson.
MRS. SIMPSON
Das ist mir egal. Wir wollen hier keinen Juden.
REV. BURTON
Es gibt keine Juden, Mrs. Simpson, sie existieren nicht. Die Juden wurden schon von Jean-Paul Sartre dekonstruiert. Seine Definition des Judentums ist folgende: »Ein Jude ist jeder, den die anderen für einen Juden halten.« Das heißt, daß die Juden eine rein geistige Kategorie und ein soziales Phänomen sind, aber keine Wesenheit an sich. Wenn ich also Sie, Mrs. Simpson, eine Jüdin nenne, heißt das, Sie sind eine Jüdin.
MRS. SIMPSON
Ich? Eine Jüdin?!
REV. BURTON
Beruhigen Sie sich, wenn ich das nicht sage, heißt das, daß Sie keine sind.
MRS. SIMPSON
Dann sagen Sie das nicht.
REV. BURTON
Okay, mache ich nicht. Aber nur unter der Bedingung, daß Sie Reverend Bloom auch keinen Juden nennen.
MRS. SIMPSON
Das wird schwer sein. Könnten Sie sich nicht was anderes ausdenken?
REV. BURTON
Mrs. Simpson, noch ein Wort, und ich sage, wer Sie sind.
MRS. SIMPSON
Schon gut, schon gut, ich versuche es.
REV. BURTON
Ich rate es Ihnen.
In der Küche pfeift der Teekessel und signalisiert damit, daß das Wasser kocht.
MRS. SIMPSON
Entschuldigung, das Wasser kocht. Sie geht hinaus.
REV. BURTON
Es ist doch ganz leicht gegangen.
REV. BLOOM
Aber nicht für mich.
REV. BURTON
Aber jetzt unter uns: Sind Sie wirklich Jude?
REV. BLOOM
Wenn Sie mich so nennen …
REV. BURTON
Ach, hören Sie auf, schließlich sind Sie nicht Mrs. Simpson. Wie steht es mit Ihnen wirklich?
REV. BLOOM
Um die These von Jean-Paul Sartre zu vertiefen – ich bin ein Jude, wenn ich mich selber für einen Juden halte.
REV. BURTON
Und wenn nicht?
REV. BLOOM
Dann bin ich auch ein Jude.
REV. BURTON
Aber dann gibt es keinen Grund! Warum also?
REV. BLOOM
Das ist die Frage. Vielleicht deshalb, weil ich mich einen Juden nennen kann, wann immer ich will. Irgendwie scheint mir, daß ich das Recht dazu habe.
REV. BURTON
Und andere haben nicht das Recht?
REV. BLOOM
Nur die, die Juden sind.
REV. BURTON
Das heißt, nicht alle?
REV. BLOOM
Nein, nicht alle.
REV. BURTON
Aber das ist elitär!
REV. BLOOM
Dagegen kann ich auch nichts machen.
REV. BURTON
Wieso fühlen Sie sich so außergewöhnlich?
REV. BLOOM
Ich gestehe, daß mir das nicht klar ist.
REV. BURTON
Okay, solange Sie es als Ihr Recht bezeichnen und nicht als Pflicht, ist es zulässig, obwohl man gerade so … ich warne Sie. Aber wenn Sie das als Ihre Pflicht ansähen … Oh! Dann wäre es ganz schlimm!
REV. BLOOM
Was ist da der Unterschied?
REV. BURTON
Der Unterschied ist, daß man vom Recht Gebrauch machen kann oder nicht, die Pflicht dagegen befindet sich im Widerspruch mit der Freiheit der Wahl, sie ist Determinismus und Rassismus. Sie wollen ja wohl nicht als Rassist gelten?
REV. BLOOM
O nein! Um nichts in der Welt!
REV. BURTON
Das heißt, Sie fühlen sich nicht verpflichtet, Jude zu sein, nicht wahr?
REV. BLOOM
O nein! So weit würde ich nicht gehen!
REV. BURTON
Ich atme erleichtert auf, weil ich mir schon Sorgen um Sie gemacht habe. Ihre Pflicht, sich zum Judentum zu bekennen, stünde in absolutem Widerspruch zu der universellen Freiheit des Individuums.
REV. BLOOM
Wenn wir schon davon reden – wenn man Sie Jüdin nennt, fühlen Sie sich dann als Jüdin?
REV. BURTON
Ich nenne mich nie Jüdin.
REV. BLOOM
Wieso nicht?
REV. BURTON
Es ist mir nie in den Sinn gekommen.
REV. BLOOM
Na, dann probieren Sie es mal.
REV. BURTON
Das ist doch unseriös.
REV. BLOOM
Nur ein Experiment.
Mrs. Simpson kommt herein, sie schiebt einen kleinen Servierwagen vor sich her, auf dem Teller, Tassen, eine Teekanne, Kuchen etc. stehen.
MRS. SIMPSON
Entschuldigung, es hat etwas Zeit gebraucht. Ich hatte nur eine Person erwartet.
REV. BURTON
Muß ich mich überflüssig fühlen?
MRS. SIMPSON
Ganz wie Sie meinen.
REV. BURTON
Dann meine ich das nicht und fühle mich nicht überflüssig. Soll ich Ihnen helfen?
REV. BLOOM
Halten Sie sich zurück, Reverend, das ist ein typisch weiblicher Reflex, und wenn Sie dem nachgeben, dann tritt Ihre Weiblichkeit, Reverend, an die erste Stelle.
MRS. SIMPSON
Danke, Reverend, aber solange nicht klar ist, wer hier herrschen wird, bin ich für das Haus verantwortlich.
REV. BURTON
Aber das ist schon klar, Mrs. Simpson, ich werde hier herrschen.
REV. BLOOM
Und ich? Was wird mit mir?
REV. BURTON
Sie, Reverend, sind mein Gast.
REV. BLOOM
Entschuldigen Sie, aber ich bin zum Propst ernannt worden.
REV. BURTON
Ich auch. Sie, Reverend, können mein Vikar werden.
REV. BLOOM
Aber ich habe Priorität. Ich bin als erster ernannt worden, und ich war zuerst hier.
REV. BURTON
Reverend, glauben Sie an das Jüngste Gericht?
REV. BLOOM
Was für eine Frage! Wollen Sie meine professionelle Kompetenz anzweifeln? Ich verstehe, daß Sie mit mir konkurrieren, aber das sind unfaire Methoden. Ich habe ein Diplom, Mrs. Simpson kann das bestätigen. Ich bin völlig zu Recht hier! … Augenblick … Oder machen Sie vielleicht irgendwelche rassistischen Andeutungen?
REV. BURTON
Bitte, werden Sie nicht albern, Reverend. Ich habe Ihnen eine rein theologische Frage gestellt, um mit Ihnen von Priester zu Priester zu reden, nichts weiter. Also Sie glauben selbstverständlich an das Jüngste Gericht, das heißt an das endgültige Ziel, auf das die gesamte Menschheitsgeschichte zusteuert. Die Krönung der Geschichte, die Erfüllung und das Ende aller Dinge. Ist es nicht so?
REV. BLOOM
Ja, sicher.
REV. BURTON
Also wenn das Jüngste Gericht der wichtigste Moment der Geschichte ist, dann verhält sich die Hierarchie der Wichtigkeit aller dem Jüngsten Gericht vorangehenden Dinge nur im Verhältnis zu dem Jüngsten Gericht. Das heißt, die Dinge, die sich näher dem Ende zu ereignen, haben eine größere Bedeutung als die Dinge, die näher dem Anfang passierten. Das heißt, daß Sie, Reverend, hier eher waren als ich, bedeutet weniger, als daß ich hier später ankam.
REV. BLOOM
Aber auf welcher Grundlage?
REV. BURTON
Aber das sage ich doch. Auf der Grundlage des Jüngsten Gerichts.
REV. BLOOM
Ich war als erster hier!
REV. BURTON
Das heißt als zweiter.
MRS. SIMPSON
Genau!
REV. BLOOM
Damit kann ich mich nicht einverstanden erklären.
REV. BURTON
Wenn Sie das nicht akzeptieren, Reverend, geraten Sie in den Verdacht der Häresie.
MRS. SIMPSON
Das würde mich überhaupt nicht wundern. Er ist … Reverend weiß wer.
REV. BLOOM
Ich habe nicht gesagt, daß ich nicht einverstanden bin, sondern daß ich mich nicht einverstanden erklären kann.
REV. BURTON
Dann verzichten Sie also auf die Stelle als Probst und nehmen den Posten eines Vikars an?
REV. BLOOM
Und was ist, wenn ich nein sage?
REV. BURTON
Alle Wege sind offen, niemand wird Sie hier zurückhalten, Reverend.
REV. BLOOM
Lassen Sie uns darüber reden.
MRS. SIMPSON
Ich höre gern zu. Setzen wir uns?
Sie nehmen um den Tisch herum Platz.
REV. BURTON
Schachmatt, Reverend, da hilft gar nichts. Mein Argument des Jüngsten Gerichtes als Beziehungspunkt jeder Art von Relativität ist nicht zu erschüttern. Kann ich Milch zum Tee haben? Danke.
REV. BLOOM