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Amalia Zeichnerin

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Beschreibung

Die beiden Schauspieler Esteban und Oliver leben glücklich miteinander in London. Doch während eines gemeinsamen Urlaubs in Mexiko gerät Esteban wieder in eine depressive Phase, die ihre Beziehung auf eine harte Probe stellt. Denn auch Oliver gerät dabei an seine Grenzen. Zugleich hat er noch mit anderen Problemen zu kämpfen, wagt es aber nicht, sich Esteban anzuvertrauen. Wird die Liebe der beiden stark genug sein und einen Weg für sie finden?

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Table of Contents

Titelei

Inhaltswarnungen

Vorbemerkung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Abspann

Nachwort und Danksagung

Impressum

 

 

 

 

An seiner Seite

 

Gay Romance

© Amalia Zeichnerin 2019

 

 

Inhaltswarnungen zu diesem Roman

 

Symptome einer Depression bis hin zu Suizidgedanken (ohne dass suizidale Handlungen darauf folgen), Ansätze einer sexuellen Belästigung, Andeutungen von Homophobie

 

Zu „Die Rolle seines Lebens” war eigentlich gar keine Fortsetzung von mir geplant. Im Gespräch mit Leserinnen hörte ich allerdings mehrfach den Wunsch nach einer, und mir kamen selbst auch weitere Ideen für Esteban und Oliver. Diese Fortsetzung schließt allerdings nicht an den Epilog von „Die Rolle seines Lebens” an. Dort wird erwähnt, dass seit der bisherigen Handlung über ein Jahr vergangen ist. Was in dieser Zeit passiert, habe ich allerdings nur angedeutet. „An seiner Seite” erzählt nun ausführlicher, was Esteban und Oliver in diesem Jahr erlebt haben … und geht noch darüber hinaus.

 

Oliver

 

Viel Glück!, textete Esteban ihm.

Danke, schrieb Oliver zurück und fügte ein Herz-Emoji hinzu. Glück, das konnte er wirklich gebrauchen, denn egal wie renommiert er mittlerweile als Schauspieler war, bei jedem Vorsprechen fing er praktisch wieder bei Null an.

Diesmal ging es um einen Fernsehfilm der BBC, der sich mit dem Thema Flüchtlinge in England befasste. Oliver hatte sich für die Hauptrolle beworben, einen Sozialarbeiter, der einen Skandal aufdeckt und dadurch in einen Kriminalfall verwickelt wird.

Verstohlen musterte er die anderen Schauspieler, die mit ihm warteten. Einige kannte er vom Sehen, manche waren ihm gänzlich unbekannt. Zusammengearbeitet hatte er noch mit keinem von ihnen. Er wollte gerade noch einen Blick in das Skript werfen, als Chris Devon hereinkam.

Chris gehörte zu den besonders charismatischen Menschen, nach denen sich unwillkürlich alle umdrehten, wenn sie einen Raum betraten. Er war etwas größer als Oliver und hatte strahlend blaue Augen, die immer ein wenig zu leuchten schienen.

„Hi, Chris”, begrüßte Oliver ihn, fast gleichzeitig mit einem der anderen Anwesenden.

Chris nickte ihnen nacheinander zu und setzte sich auf einen der freien Plätze. Olivers Herz setzte einen Schlag aus, als er sich daran erinnerte, wie er Chris vor einigen Jahren auf einer Filmpremierenparty kennengelernt und eine Zeitlang heimlich für ihn geschwärmt hatte. Natürlich war nie etwas daraus geworden. Chris war hetero und damals mit einem weltweit bekannten Model liiert gewesen, die mittlerweile ihre eigene Kosmetik-Linie vertrieb. Mittlerweile hatten sie sich getrennt, zumindest wenn man der Boulevardpresse Glauben schenkte.

Oliver dachte an seinen Freund Esteban und bekam prompt ein schlechtes Gewissen. Seine Schwärmerei für Chris war schon Jahre her. Dennoch wirkte dessen Anziehungskraft noch immer auf ihn. Warum musste der Kerl auch ausgerechnet zu diesem Casting erscheinen?

Aber Oliver musste ihn nicht erst fragen, denn es war offensichtlich: Wenn die BBC Filme produzierte, standen die Schauspieler bei den Castings Schlange. Und gerade wenn es um brandaktuelle Themen ging, war Chris Devon oft einer der ersten, der sich für die entsprechende Stoffe interessierte.

Oliver wurde vor ihm aufgerufen.

Chris schenkte ihm einen unergründlichen Blick, als er aufstand. „Möge der Bessere gewinnen”, sagte sein Kollege mit ernster Miene. War das eine Kampfansage oder einfach eine nette Floskel? Oliver versuchte nicht weiter darüber nachzudenken, während er den Flur entlang ging.

Das Vorsprechen lief richtig gut. Er hatte seinen Text auswendig gelernt, sodass er sich mehr auf den Ausdruck konzentrieren konnte. Die drei Leute vor ihm – eine Castingagentin, ein Produzent und der Regieassistent – wirkten sympathisch und sahen ihm mit sichtlichem Interesse zu. Auch hatte er die Gelegenheit, einen Teil des Textes mit einem Gegenüber zu sprechen, was ihm immer leichter fiel, als gewissermaßen die Wand anzureden. Sie ließen ihm rund zwanzig Minuten Zeit, fast zwei ganze Szenen. Gewiss ein gutes Zeichen

„Danke, wir melden uns”, sagte die Castingagentin. „Es könnte übrigens noch ein zweites Casting geben, wir treffen hier wahrscheinlich erst einmal eine Vorauswahl.”

„Danke, dann weiß ich Bescheid.” Er wünschte ihnen einen schönen Tag.

Beim Hinausgehen war er so positiv gestimmt, dass er Chris, der ja eigentlich sein Konkurrent war, ein fröhliches „Viel Glück!” wünschte.

„Danke”, sagte dieser mit einem Stirnrunzeln und wandte den Blick wieder seinem Skript zu. Damit war das Gespräch offensichtlich für ihn beendet. Oliver war es gleich, gut gelaunt verließ er das Gebäude.

Seine Gedanken wandten sich Esteban zu, den er gleich wiedersehen würde. Sie waren mittlerweile seit mehreren Monaten zusammen und er hatte das Gefühl, dass die Liebe, die er für den Amerikaner empfand, mit jedem Tag mehr wurde. Vielleicht war es rührselig, so zu denken, aber das war ihm gleich. Außerdem war er Schauspieler, Emotionen waren sein täglich Brot.

Was für einen erstaunlichen Weg Esteban beschritten hatte – erst war er der Liebe wegen nach London gezogen, für einen Mann, der mittlerweile sein Exfreund war. Dann war er zurückgegangen nach Kalifornien, obwohl sich schon kurz vorher etwas zwischen Oliver und ihm angebahnt hatte. Doch sie beide waren zu blind gewesen, um zu begreifen, dass es mehr war als nur eine bedeutungslose gemeinsame Nacht. Das war Oliver erst klar geworden, als Estebanbereits Tausende Meilen von ihm entfernt war. Es kam ihm immer noch wie ein Wunder vor, dass sein Freund schließlich nach einiger Bedenkzeit doch das Wagnis eingegangen war, zu Oliver nach London zurückzukehren, obwohl er eben dort gerade erst den Scherbenhaufen einer zerbrochenen Beziehung hatte zusammenkehren müssen.

Was niemanden leicht gefallen wäre und Esteban noch weniger, der seit seiner Jugend immer wieder phasenweise an Depressionen litt. Im Moment allerdings ging es ihm gut und an ihrem gemeinsamen Himmel waren keine Wolken zu sehen. Hoffentlich würde das noch eine ganze Weile so bleiben.

Olivers Gedanken wandten sich beruflichen Dingen zu. Seine Rolle in einer Krimiserie war mittlerweile herausgeschrieben worden und vor kurzem war dort für ihn die letzte Klappe gefallen. Ein dramatischer Tod hatte das Aus für seinen Charakter bedeutet; immerhin ein epischer Abgang, der ihn auch schauspielerisch sehr gefordert hatte. Er hätte zwar gern noch länger in der Serie mitgespielt, aber es hatte wohl nicht sollen sein. Auf der anderen Seite war so für ihn der Weg frei geworden, um bald in einem schwulen Indie-Liebesfilm mitzuwirken. Außerdem hatte er einen kurzen Part für ein Jugend-Fantasy-Hörbuch eingesprochen.

Bei dem Indie-Film hatten Esteban und er quasi den Jackpot gewonnen, denn sie waren beide für die Hauptrollen gecastet worden. Dass man als Paar zusammen engagiert wurde, war gewiss ähnlich selten wie ein Sechser im Lotto, und er freute sich sehr darüber. Die Dreharbeiten würden schon bald beginnen, aber natürlich musste er sich auch schon jetzt nach weiteren Jobs umschauen, was ihn zu dem heutigen Vorsprechen geführt hatte.

Der Himmel über London präsentierte sich dramatisch an diesem Dezembernachmittag – graue Wolken jagten in schneller Folge vorbei und kalte Windböen rüttelten an seinem Auto, während er sich durch den zähen Verkehr in der Innenstadt wühlte, nach Norden in Richtung Belsize Park.

Einen angenehmen Kontrast zu dem ungemütlichen Wetter bot ihre gemeinsame Wohnung. Selbst im Flur roch er die Aromen von Chili und Knoblauch, die aus der Küche drangen.

Esteban begrüßte ihn mit einer Umarmung. „Ich habe Quesadillas gemacht.”

Oliver küsste ihn und lachte, als er dabei einen Hauch von Knoblauch bemerkte. „Ich merke, du hast bereits abgeschmeckt. Wie gut, dass wir heute Abend nichts weiter vorhaben … ”

„Was soll das denn heißen? Ich habe noch jede Menge mit dir vor”, erwiderte sein Freund und hob eine Augenbraue, was von einem zweideutigen Lächeln begleitet wurde.

„Na, dann werde ich wohl auch mal lieber Knoblauch essen”, erwiderte Oliver grinsend. Er strich Esteban über die Stoppeln seines Dreitagebarts und zerzauste ihm in einer spielerischen Geste das dunkle, fast schwarze Haar.

„Es ist wirklich gut, dass wir heute nichts mehr vorhaben.”

„Warum?”

„Weil du soeben meine Frisur ruiniert hast”, feixte sein Freund.

Lachend zog Oliver ihn in eine weitere Umarmung und küsste ihn noch einmal.

Später, als sie beim Abendessen saßen, erzählte er von dem Vorsprechen. Er verschwieg, wie er sich an seine Schwärmerei für Chris Devon erinnert hatte. Schließlich war es Jahre her und spielte keine Rolle mehr.

„Meinst du, dieser Devon hat bessere Chancen als du?”, erkundigte sich Esteban.

„Na ja … schwer zu sagen. Er spielt richtig gut, so viel ist klar. Mal schauen.” Oliver trank einen Schluck Wein, der die Schärfe der Quesadillas wegspülte.

„Ich bin schon so gespannt auf unseren gemeinsamen Filmdreh”, platzte er heraus.

„Ich auch. Und ich bin ganz schön nervös.”

„Warum denn?”

„Also, ich meine, es ist eine Sache eine Beziehung zu haben. Aber es ist eine ganze andere, mit deinem real life Partner eine Beziehung zu spielen.”

Love one way or another, der schwule Indie-Liebesfilm war ihr zweites gemeinsames Filmprojekt und schon in der nächsten Woche sollten die ersten Proben stattfinden.

„Ach, ich denke, dass wird sich alles finden”, sagte Oliver. „Von dem Regisseur habe ich bisher nur Gutes gehört und er machte doch einen richtig netten Eindruck, als wir uns kennengelernt haben, findest du nicht?”

„Ja, ich denke auch.”

Bereits vor ein paar Wochen, als sie erfolgreich gecastet worden waren, hatte der Regisseur Aaron Mason sie zum Abendessen in ein schickes Restaurant eingeladen, um über seinen Film zu sprechen. Es war ein langer, aber keineswegs langweiliger Abend geworden und man merkte, dass Mason viel Herzblut in das Projekt steckte, zu dem er auch das Drehbuch geschrieben hatte. Dass Oliver und Esteban sich öffentlich zu ihrer Beziehung bekannt hatten, war mit ein Grund gewesen, warum sich Mason letztendlich für sie entschieden hatte.

„Wisst ihr, da draußen gibt es eine ganze Reihe an schwulen Darstellern, die sich geoutet haben”, hatte er ihnen gesagt. „Wir müssen also längst nicht mehr auf Heteros zurückgreifen, um so eine Geschichte zu erzählen. Also, ich meine, nichts gegen Heteros, aber wer könnte glaubhafter in einem solchen Film sein, als zwei Männer, die tatsächlich zusammen sind?”

Nun hätte man einwenden können, dass es dann ja nicht mehr weit her war mit dem Schauspielen. Aber auf der anderen Seite war eine fiktive Geschichte immer noch etwas anderes als die Realität, deshalb hatte sich Oliver einen entsprechenden Kommentar verkniffen.

„Ich freue mich schon auf Weihnachten”, sagte Esteban unvermittelt.

„Das ist doch noch eine Weile hin.”

„Trotzdem, das erste Weihnachten mit deiner Patchworkfamilie. Wird bestimmt schön.”

„Ja, mal sehen.” Auf jeden Fall würde es etwas Neues für Oliver sein; ein erstes Weihnachtsfest mit seinem Sohn, von dem er erst vor wenigen Monaten erfahren hatte. Und mit dessen Eltern – seiner Exfreundin von damals, Alison, und ihr Mann Philip.

„Und weißt du, worauf ich mich schon freue?”, fragte er seinen Esteban.

„Lass mich raten – auf unseren Urlaub in Mexiko?”

„Genau. Auch wenn das noch länger hin ist”, sagte Oliver mit einem Lächeln.

„Dann kann ich dir meine Großeltern vorstellen. Und meine Eltern werden auch da sein“, erwiderte Esteban.

„Ich muss gestehen, das macht mich ein bisschen nervös.”

„Muss es nicht, sie wissen ja schon von dir”, sagte Esteban. „Und sie sind wirklich nett.”

„Trotzdem. Es ist immer ein bisschen seltsam, wenn man die Eltern seines Partners kennenlernt, finde ich.”

Esteban zögerte und nickte schließlich. „Auch wieder wahr, das ging mir mit deinen Eltern ähnlich. Aber ich mag sie.”

„Ich denke, das beruht auf Gegenseitigkeit.“

Sie hatten Olivers Eltern vor kurzem besucht, es war eine Einladung zum Abendessen gewesen. Die beiden lebten in einem kleinen Haus im Stadtteil Cranford des Bezirks Hounslow, ganz im Westen Londons. Mit dem Auto war man in einer Dreiviertelstunde dort, wenn der Verkehr es zuließ.

Seine Mutter hatte Esteban sehr herzlich begrüßt, fast wie einen alten Freund der Familie, während sein Vater etwas zurückhaltender gewesen war. Doch es war ein angenehmer Abend gewesen und auch Esteban hatte sich positiv dazu geäußert.

„Deine Eltern sind mir sympathisch”, hatte er anschließend gesagt, als sie wieder nach Hause fuhren. Da er von Olivers Mutter mit Fragen über Kalifornien und Mexiko gelöchert worden war, hatte Esteban viel darüber erzählt. Oliver hatte ein wenig über seine anstehenden Jobs berichtet und sie hatten auch über allgemeine Themen gesprochen, zum Beispiel den anstehenden Brexit, der die Innen- und Außenpolitik gehörig aufwühlte.

Für Oliver war es eine Erleichterung gewesen, dass seine Eltern Esteban so herzlich aufgenommen hatten.

„Jedenfalls bin ich gespannt auf Mexiko. Und auf deine Verwandten”, sagte er nun.

„Das merke ich. Du studierst ja jetzt schon fleißig die Reiseguides … und lernst Spanisch”, sagte Esteban lachend.

„Du kennst mich doch. Ich bereite mich halt gern vor, ob im Beruf oder privat”, erwiderte Oliver mit einem schiefen Grinsen.

„Ja, das ist mir nicht entgangen.” Esteban hob sein Glas mit Rotwein. „Auf die Familie. Und auf Mexiko.”

Oliver hob ebenfalls sein Glas. „Und auf uns.”

„¡Salud!”, prostete sein Freund ihm auf Spanisch zu und Oliver tat es ihm gleich.

Nach dem Abendessen machte Esteban seine Ankündigung wahr – er hatte tatsächlich noch so einiges vor mit ihm. Was sich Oliver nur allzu gern gefallen ließ. Entsprechend kurz war die Nacht, zumal sie später noch lange wach lagen und miteinander über Gott und die Welt redeten.

 

Esteban

 

„Ich kann das nicht”, stammelte er.

Oliver und er standen fast nackt voreinander, nur mit hautfarbenen, enganliegenden Unterhosen bekleidet. Das war es nicht, was ihm den Boden unter den Füßen wegzog. Sondern die Tatsache, dass rund ein Dutzend Leute sie beobachteten: Der Kameramann, der Regisseur, der Regieassistent, das Script Girl, die Beleuchterin und noch einige mehr.

Ihre Positionen waren durch neonfarbene Klebestreifen auf dem Boden genauestens markiert. Sie beide standen so, dass die Kamera nur das von ihren Körpern einfing, was in einem Film noch als jugendfrei durchging.

„Cut!”, rief der Regisseur. „Wir machen eine Pause. Esteban, Oliver, zieht euch was über und kommt bitte mal mit.”

Esteban schlüpfte in den Morgenmantel, der auf einem Garderobenständer hing. Schon fühlte er sich etwas wohler. Oliver tat es ihm gleich.

Aaron Mason führte sie in den Raum, in dem einiges an technischen Geräten untergebracht war.

„Setzt euch”, bat er sie mit einer einladenden Geste und deutete auf einige Klappstühle, die an der Wand lehnten. Er hatte das Drehbuch mit dabei.

Nachdem sie alle Platz genommen hatten, sah er Esteban aufmerksam an. „Was war denn los eben? Du hast doch schon erotische Szenen gedreht, oder?”

„Ja, schon. Aber das fällt mir immer schwer. Und jetzt ganz besonders. Ich meine, Oliver ist schließlich mein Lebensgefährte.”

„Hmm … ” Aaron rieb sich übers Kinn. „Wenn du vor der Kamera agierst, wer bist du dann gefühlsmäßig? Bist du Esteban, oder deine Rolle, Nick in diesem Fall?”

„Nick, natürlich. Ich meine, eigentlich. Aber eben in der Szene, da hab ich die Verbindung zu meiner Rolle verloren. Da war ich wieder ich selbst und hab mich plötzlich wie von außen beobachtet.”

„Ah, ich glaube, ich verstehe. Du bist dir deiner Selbst bewusst geworden. Das wird ja nichts Neues für dich sein und es geht vielen Schauspielern von Zeit zu Zeit so. Sie stehen plötzlich neben sich und fragen sich, was sie da eigentlich spielen. Ist ja auch nicht verwunderlich, immerhin ist jeder Filmdreh eine sehr künstliche Situation.”

„Ja, das ist es wohl”, erwiderte Esteban zögernd.

„Na gut, dann lass uns mal überlegen, wie wir dich sozusagen aus deinem Kopf bekommen, damit du deiner Rolle den Raum geben kannst, den sie braucht.”

Oliver warf Esteban einen nachdenklichen Blick zu, während Aaron ihn kritisch musterte.

„Du siehst ganz schön angespannt aus. Wie wäre es mit einer kleinen Entspannungsübung?”, fragte der Regisseur.

„Das könnte helfen”, gab er zu.

„Gut. Kennst du eine Übung, die dir gut tut und die nicht allzu lange dauert?”

Esteban nickte. „Ja, progressive Muskelentspannung.” Er hatte diese Methode schon vor Jahren im Rahmen seiner Psychotherapie gelernt.

„Gut, dann mach das mal. Und dann sehen wir uns in einer Viertelstunde wieder.” Der Regisseur wandte sich an Oliver. „Komm, lassen wir ihn mal so lange allein. Ich möchte auch mit dir noch sprechen.”

Kurz darauf war Esteban allein, doch es fiel ihm schwer, sich auf die Übung zu konzentrieren. Bei diesem Dreh, wie bei allen Dreharbeiten, gab es einen festen Zeitplan. Oftmals dauerte länger, das bedeutete dann Überstunden, manchmal bis spät in die Nacht, wenn es die Umstände zuließen. Aber er wollte nicht der Grund dafür sein, dass all die anderen Mitarbeiter länger arbeiten mussten. Das hier musste einfach funktionieren.

Warum war es nur so schwer, Sexszenen zu drehen? Warum konnte er sich nicht einfach fallen lassen? Aber er kannte die Antwort darauf: Es war ein Riesenunterschied, ob zwei Menschen in einem intimen Moment allein waren, oder ob sie von einem Dutzend Leute beobachtet wurden. Auch war der Ablauf einer Szene sehr künstlich. Sie konnten sich nicht frei bewegen, es gab Positionen, die es zu beachten galt und eine mehr oder weniger strikte Choreographie, damit das Beste aus der Szene herausgeholt werden konnte. Diese hatten sie vor dem Dreh mehrfach durchgespielt, was noch zu seiner Anspannung und Nervosität beigetragen hatte. Was gab es dabei nicht alles zu beachten — hin und wieder war schon ein kleiner Schatten an Körper oder Gesicht zu viel und dann mussten sie sich solange dirigieren lassen, bis die Licht- und Schattenverhältnisse im Bild aus Sicht des Regisseurs oder des Kameramannes besser waren.

¡Mierda!, fluchte er in Gedanken auf Spanisch. Das hatte er sich schon als Kind angewöhnt, weil amerikanische Kraftausdrücke in der Schule verpönt waren. Seine Gedanken hörten gar nicht mehr auf zu rattern. Er musste sich zwingen, sich auf die Muskelanspannung und -Entspannung zu konzentrieren. Anspannen … Pause … Entspannen. Nachspüren… und die andere Seite.

Die Viertelstunde war viel zu schnell um. Wirklich entspannt fühlte er sich nicht, als Oliver und Aaron wieder hereinkamen.

„Und wie fühlst du dich jetzt?”, fragte der Regisseur.

„Etwas ruhiger”, sagte Esteban.

„Na, das ist doch eine gute Basis. Sprechen wir doch ein bisschen über Nick und seinen Liebsten. Was bisher zwischen ihnen passiert ist und wo sie jetzt, zu Beginn dieser Szene, stehen. Damit ihr beide wieder den Einstieg findet und du ein bisschen mehr ,aus deinem Kopf’ herauskommst.”

Die beiden Charaktere, die sie darstellten, hatten sich vor der Sexszene gestritten, allerdings hatten sie diese Szene noch gar nicht gedreht. Das war eine weitere Schwierigkeit – dass nur selten chronologisch gedreht wurde. Aber Esteban hatte die Szene im Kopf, sie war sehr emotional und aufwühlend. Sie sprachen darüber.

„Ich sag euch was, spielen wir doch einmal diesen Streit durch”, schlug Aaron schließlich vor. „Vielleicht fällt euch dann die aktuelle Szene leichter.”

Also versetzte Esteban sich in die Lage Nicks, der sich mit seinem Freund stritt. Schon bald fühlte er sich an ihren ersten gemeinsamen Dreh erinnert, als Oliver und er zwei rivalisierende Männer gespielt hatten, die mehr als einmal Streitgespräche gehabt hatten. Die Erinnerung daran half ihm. Dennoch, es war schwer, das Gesicht seines realen Freundes direkt vor sich zu haben und ihm Gemeinheiten an den Kopf zu knallen.

„Lüg mich nie wieder an, verdammt noch mal!”, rief er.

„Ach, das musst du gerade sagen”, giftete Oliver zurück. „Wer hat denn gelogen, als es um Jamie ging? Du hast ihm die ganze Zeit den Rücken gedeckt, dabei wusstest du genau, dass er Dreck am Stecken hatte.”

„Ich hatte es ihm versprochen, Mann! Er hat mir vertraut! Aber du, du warst einfach nur zu feige, es zuzugeben … ”

Und so ging es weiter, sie beide redeten sich in ihren Rollen in Rage. Bald rauschte Esteban das Adrenalin durch die Adern, der Streit wühlte ihn auf, auch wenn er nur gespielt war.

„Das war richtig gut”, lobte sie der Regisseur später. „So will ich das sehen, wenn wir diese Szene drehen. Und ich habe noch einen Vorschlag für dich, Esteban. Wenn wir gleich die Sexszene drehen, konzentriere dich voll auf Oliver. Wenn wir unterbrechen, wenn wir was ändern zwischendurch, wenn du die anderen Leute siehst – achte nicht so sehr darauf, sondern bleibe mit deiner Aufmerksamkeit ganz bei ihm. Vielleicht hilft dir das, dich mehr auf die Szene einzulassen.”

Esteban warf seinem Freund einen fragenden Blick zu.

Der nickte ihm aufmunternd zu. „Das wird schon.”

„Okay… ich versuch’s.”

„Nein. Versuch es nicht nur, sondern mach es“, forderte Aaron ihn auf.

Esteban nickte. „In Ordnung.”

Der Regisseur lächelte erfreut. „Dann sag ich den anderen Bescheid, dass wir weiterdrehen.”

Es dauerte eine Weile, bis alle Beteiligten wieder einsatzbereit waren. Die Scheinwerfer wurden erneut eingeschaltet; sie sorgten für ein leicht unwirkliches, helles Licht.

Oliver und Esteban wurden beide von der Maskenbildnerin abgepudert, dankenswerterweise nur im Gesicht. Wenn sie sich seinen gesamten Körper vorgenommen hätte, wäre es wohl dahin gewesen mit Estebans Entspannung. Die sich sowieso bereits wieder zu verflüchtigen drohte angesichts der Tatsache, dass er so gut wie nackt vor einem Dutzend Leute stand. Es war ein schwacher Trost, dass er damit nicht allein war.

Kurz darauf sorgte Aaron für eine Überraschung. „Lasst uns etwas ausprobieren“, erklärte er. „Vergesst mal die Choreographie. Achtet nur auf die Markierungen am Boden, damit ihr im Fokus bleibt. Und ansonsten, improvisiert ihr bitte. Esteban, du konzentrierst dich bitte wie besprochen ganz auf Oliver. Stell dir vor, es sei ein Tanz und Oliver übernimmt die Führung. Kann sein, dass wir zwischendurch unterbrechen oder ein bisschen eingreifen und hier und da was ändern. Ihr wisst ja, wie es ist. Aber ich baue darauf, dass ihr etwas Gutes draus macht. Und wenn alle Stricke reißen, haben wir immer noch die Choreographie in der Hinterhand. Denkt jetzt bitte noch einmal an den Streit, den wir vorhin durchgespielt haben. Ich möchte von euch etwas Intensives und Emotionales sehen.”

Der Regisseur wartete ein paar Sekunden.

Esteban ging im Geiste noch einmal das aufwühlende Gespräch durch.

„Seid ihr bereit?” fragte Aaron schließlich.Oliver wechselte einen Blick mit Esteban. Er lächelte leicht.

Esteban nickte dem Regisseur zu. „Ich bin so weit.” Auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber das wollte er nicht zugeben.

„Ich auch”, sagte Oliver.

Der Regisseur nickte dem Kameramann zu. Dieser rief: „Ton ab!“

Als nächstes gab er die Ansage. „Klappe!“

Der Assistent, welcher die Filmklappe betätigte, rief „Love one way or another Szene 24, Take 3” und schlug die Klappe mit einem klackenden Geräusch zusammen.

„Action!”, rief der Regisseur.

Es ist ein Tanz…, rief sich Esteban Aarons Worte ins Gedächtnis. Diese Vorstellung war tatsächlich hilfreich. Die Szene sollte ein Echo auf den vorangegangenen Streit und die Versöhnung werden und genau das nahm Oliver nun in Angriff. Er klammerte sich an Esteban, als ob sein Leben davon abhinge und küsste ihn so rau und leidenschaftlich, dass ihm die Luft wegblieb.

Nach diesem Auftakt fiel es ihm nicht schwer, sich auf Olivers Bewegungen und seine Berührungen einzulassen. Es gelang ihm sogar, die Scheinwerfer und die Menschen um sie herum innerlich auszublenden. Eine Hitzewelle jagte durch seinen Körper.

Wer war er? Esteban, ein Schauspieler, oder Nick, ein Schwuler mit einer problematischen Vergangenheit? Es spielte keine Rolle mehr, der fiktive Charakter und sein echtes Selbst verschwammen, wurden eins. Oliver und er wälzten sich durch das Bett, verschlangen ihre Gliedmaßen ineinander. Sein Freund bedeckte seine Haut mit Küssen, zerzauste ihm das Haar. Esteban brach der Schweiß aus, einzelne Strähnen klebten an seiner Stirn, aber das war egal. Er vergaß sich selbst, vergaß, dass sie beobachtet wurden. Unter Olivers Berührungen war er nur noch donnernder Herzschlag, Bewegung und Gefühl.

Erst das laute „Schnitt!” von Aaron riss ihn aus dieser intensiven Erfahrung mit seinem Freund.

Er zuckte zusammen und sah zu dem Regisseur hinüber, der über beide Ohren strahlte. „Wunderbar, das war sehr gut für den Anfang. Das drehen wir noch einmal, von der Umarmung und dem Kuss zu Beginn.”

Noch zweimal ließ Aaron sie diese Intimitäten erneut darstellen. Ach was, darstellen, für Esteban war es fast so echt, als ob Oliver und er allein zu Hause wären. Er fragte sich, woher Oliver die Energie nahm, alles noch einmal so intensiv zu machen wie beim ersten Mal, doch er ließ sich von ihm mitreißen.

An einigen Stellen griff der Regisseur dann doch noch ein, die Beleuchtung war nicht optimal, oder ein Fuß ragte unschön ins Bild, doch das waren letztendlich Kleinigkeiten.

 

„Wie hast du das gemacht?”, fragte er seinen Freund später, als sie in dessen Wagen nach Hause fuhren. „Du hast mich völlig umgehauen – und das meine ich positiv.”

„Ich muss gestehen, das war nur zum Teil gespielt. Kann man sich ja eigentlich denken, schließlich sind wir wirklich zusammen. Ich hab an all die Liebe gedacht, die ich für dich empfinde. Ich mich auch daran erinnert, wie sehr ich dich vermisst habe, als du damals wieder nach Kalifornien gezogen bist.”

Esteban wurde ganz warm ums Herz bei diesen Worten. „Ich fühle mich gerührt.”

Oliver warf ihm einen verschmitzten Blick zu, ehe er wieder nach vorn auf die Straße sah. „Und dann habe ich das Ganze noch ein bisschen … aufpoliert sozusagen.”

Esteban lachte. „Das habe ich gemerkt. Ach, ich bin echt froh, dass wir beide improvisieren durften. Ich fand das viel leichter.”

„Ich hatte das Gefühl, du warst weniger angespannt.”„Ja, ich konnte mich viel mehr gehen lassen. Zumindest, nachdem ich es geschafft habe, auszublenden, wer uns da alles anstarrt.”

„Zu Hause starrt uns niemand an …”, sagte Oliver.

„Du bringst mich auf ganz und gar unanständige Ideen”, erwiderte Esteban mit einem Schmunzeln.

„Das war Sinn und Zweck der Sache”, erwiderte sein Freund und schenkte ihm ein zweideutiges Lächeln. Esteban war froh, dass er nicht selbst fuhr, denn allein dieser Gesichtsausdruck lenkte ihn ganz schön ab.

Zu Hause machten sie sich erst einmal gemeinsam daran, das Abendessen zuzubereiten, einen überbackenen Auflauf. Allerdings legten sie dabei immer wieder Pausen ein, um sich zu küssen, zu streicheln oder weitere zweideutige Bemerkungen zu machen.

„Bist du dir sicher, dass du diesen Auflauf machen möchtest? Oder magst du vielleicht vorher noch ganz andere Dinge mit mir machen?”, raunte ihm Oliver ins Ohr.

Esteban machte sich lachend los. „Ich hab schon seit über einer Stunde einen Mordshunger. Wir haben doch heute nichts mehr vor, und später ist auch noch Zeit.”

„Ja, auch wieder wahr.” Oliver drückte ihm einen Kuss in den Nacken und seufzte theatralisch. Dann werde ich mich mal in Geduld üben.”

Der Auflauf entpuppte sich allerdings einige Zeit später als so gehaltvoll, dass Esteban sich nach einer üppigen Portion den Bauch hielt. „Oh, Mann … Ich glaube, ich kann mich heute Abend nur noch rollend fortbewegen.”

Oliver stöhnte leise. „Geht mir ähnlich. Ich fühle mich, als ob ich Backsteine im Bauch hätte.” Dann lachte er. „Soviel zu den weiteren Plänen des Abends.”

„Tut mir echt leid. Ich hab dieses Rezept echt unterschätzt.”

Oliver winkte ab. „Ist nicht schlimm. Hey, stell dir mal die Schlagzeile vor: Zwei Männer völlig ausgeknockt nach Auflauf.”

Esteban gab ein kicherndes Geräusch von sich.

„Morgen ist auch noch ein Tag”, sagte sein Freund.„Aber dann wäre ich für was Leichteres zum Essen.”

„Geht mir auch so”, erwiderte Esteban. „Vielleicht ist es auch besser, wenn wir den heutigen Abend einfach ganz gemütlich ausklingen lassen.”

„Wie meinst du das?”

„Na ja, ich meine, wir haben heute fast den ganzen Tag mit dem Dreh dieser Sexszene verbracht. Ich stehe auch nicht gern stundenlang fast nackt vor meinen Kollegen herum.”Oliver nickte ihm zu. „Stimmt auch wieder.”

Später saßen sie nebeneinander auf dem Sofa im Wohnzimmer und sahen sich eine Folge von Doctor Who an. Esteban hatte es früher nie gesehen, aber für Oliver war es eine Kultserie, die er mit Unterbrechungen schon seit seiner Kindheit geschaut hatte. Anfangs hatte Esteban es ihm zuliebe mit geschaut, aber mittlerweile fand er ebenfalls Gefallen an den schrägen Abenteuern des außerirdischen Zeitreisenden vom Planeten Gallifrey.

Ein wunderbar warmes Gefühl von Geborgenheit breitete sich in seinem Inneren aus, während er den Kopf an Olivers Schulter lehnte und dieser einen Arm um ihn legte. Klar, der Sex mit seinem Freund war heißer, aber es gab ja noch andere Formen, Zuneigung und Verbundenheit auszudrücken. Wie das hier: Gemeinsam eine Serie zu sehen, während sie sich auf dem Sofa aneinander kuschelten. Natürlich war das nicht spektakulär, aber es verstärkte das Gefühl, dass dies hier sein Zuhause war. Einfach Olivers Nähe zu fühlen war in diesem Moment genug und Esteban hätte es nicht anders haben wollen.

 

Oliver

 

Über die Weihnachtsfeiertage hatten sie frei, die Dreharbeiten zu Love one way or another pausierten so lange. Oliver war das mehr als recht, denn so hatte er die Einladung seiner Patchwork-Familie annehmen können: Alison, die Mutter seines Sohnes Stephen und ihr Lebensgefährte Philip, hatten Esteban und ihn für den 25. Dezember zu sich eingeladen.

Nun stand er bei ihnen in der Küche und half dabei, das Essen vorzubereiten, während Esteban mit Stephen eine Runde League of Legends auf dem Computer spielte – ein Hobby, das sie beide gemeinsam hatten.

„Ich bin froh, dass Stephen mal nicht allein am Computer hängt”, sagte Philip, der sich über die Augen wischte, während er Zwiebeln hackte.

„Ja, die beiden haben echt Spaß dran”, erwiderte Oliver. „Esteban bekommt immer leuchtende Augen, wenn er von diesem Fantasy-Spiel erzählt. Manchmal spielt er das auch zu Hause, aber nicht so oft.”

Eine Ahnung von Zimt und Pfeffer hing in der warmen Luft. Das Röstaromas des Bratens, der im Ofen garte, ließ Oliver das Wasser im Mund zusammenlaufen. Alison rührte die Zutaten für ein Dessert zusammen.

„Danke noch mal für die Einladung”, sagte er zu ihr.

„Aber gern doch. Ihr gehört schließlich mit zur Familie.”

Diese Worte rührten Oliver. „Danke, das ist wirklich lieb.” Er dachte daran zurück, wie er im vergangenen Jahr ganz unerwartet erfahren hatte, dass Stephen sein Sohn war. Einige Zeit später waren Esteban und er selbst ein Paar geworden. Und so war er innerhalb von wenigen Monaten nicht nur Teil einer Beziehung, sondern auch einer Patchworkfamilie geworden. All das hätte er mittlerweile gegen nichts auf der Welt eintauschen mögen.

Später saßen sie alle gemeinsam an dem großen Esstisch, während die Stereoanlage Weihnachtssongs zum Besten gab, von alten Klassikern aus den Fünfzigern bis hin zu ganz aktuellen Stücken. Oliver streichelte Estebans Hand einen Moment lang, was sein Freund mit einem Lächeln erwiderte.

Stephen, der einen modischen Undercut trug, häufte sich eine große Portion auf. Angesichts seiner schlaksigen Figur fragte sich Oliver insgeheim, wie sein Sohn es schaffte, so viel zu essen und trotzdem so schlank zu bleiben. Seit er selbst vor fünf Jahren die Dreißig erreicht hatte, musste er sehr auf sein Gewicht achten. Dass er regelmäßig joggte, half dabei sehr. Vertraute Klänge rissen ihn aus seinen Gedanken – Last christmas von Wham.

Stephen, der neben ihm saß, zuckte zusammen. Dann ballte er eine Faust und riss sie in die Höhe. „Yeah, gewonnen!”

Philip sah ihn überrascht an. „Hä, was ist los?”

„Das ist das Spiel Whamageddon. Ich hab’s geschafft, vom ersten bis zum vierundzwanzigsten Dezember diesen Song nicht zu hören. Heute ist das erste Mal.”

„Wer hat sich das denn ausgedacht, irgendwelche Kids an eurer Schule?”, fragte Oliver.

„Nee, das gibt’s schon länger. Keine Ahnung, wer das erfunden hat.”

Oliver zuckte mit den Schultern. „Muss an mir vorbeigegangen sein. Aber ich bin ja auch nicht bei Facebook, Instagram und so weiter aktiv.”

„Macht ja nichts”, wandte sich Stephen an ihn. „Und wie ist das bei euch – seid ihr gewhamt worden oder habt ihr es auch geschafft?”

„Keine Ahnung, ich hab nicht so drauf geachtet”, sagte Esteban.

„Musst du nächstes Jahr mal machen, okay? Und dann erzählen wir uns Weihnachten, ob einer von uns gewonnen hat”, sagte Stephen grinsend.

„Erinner mich dran, ja?”

„Aber klar”, sagte Stephen. „Ich wette, ich gewinne.”

„Du bist zu jung zum Wetten”, wandte Philip ein.

„Ich will ja nicht um Geld wetten”, entgegnete Stephen und schaufelte sich eine weitere Portion Braten und Gemüse auf den Teller.

Kurz darauf erzählte Alison von der Weihnachtsfeier an der Schule, an der sie als Lehrerin arbeitete. „Wir hatten mal wieder das reinste Chaos vorher und jede Menge Stress. Unser Direktor ist ein Perfektionist und es sollte alles genau so ablaufen, wie er sich das vorgestellt hat. Dann sind allerdings zwei Lehrer wegen Krankheit ausgefallen und die anderen haben sich nicht gerade darum gerissen, die anfallende Arbeit mit zu übernehmen. Und bei der traditionellen Theateraufführung gab es einen Stromausfall, weil eine Sicherung durchgebrannt war. Stellt euch das mal vor: Ein singender Engel-Chor, der plötzlich im Dunkeln steht. Von wegen das Licht von Bethlehem und so … Na ja, die Kinder haben das Beste draus gemacht und tapfer weiter gesungen.”

Oliver setzte eine verschwörerische Miene auf. „Apropos Theateraufführung – ich erzähl euch jetzt mal was im Vertrauen, aber ihr müsst mir versprechen, es nicht weiterzuerzählen.”

„Geht klar. Schieß los”, verlangte Stephen.

„Bei meiner allerersten Theateraufführung habe ich kläglich versagt …”

„Wie das denn?”, erkundigte sich Alison.

„Ich war fünf Jahre alt und sollte eine Figur aus Wind in den Weiden darstellen. Es war nur eine Nebenfigur, der Dachs, das weiß ich noch, denn ich hatte ein Kostüm mit schwarzem und weißem Fell, das hatte mir meine Mutter extra genäht. Ich glaube, die Theateraufführung war eine stark gekürzte Fassung. Aber egal, jedenfalls … wir haben das alles rauf und runter geprobt, es war die Weihnachtsvorführung der Vorschule. Also nicht vor der ganzen Schule, nur für uns, unsere Geschwister und Eltern. Aber wir waren trotzdem auf der großen Bühne in der Aula. Bei den Proben hab ich das auch gut hinbekommen, aber dann bei der Aufführung … ” Oliver legte eine Kunstpause ein, um die Spannung zu steigern.

„Jetzt sag schon, was ist passiert?”, wollte Stephen wissen.

„Ich habe keinen Ton rausgebracht. Nicht einen einzigen. Ein ganz schlimmer Fall von Lampenfieber, würde ich sagen. Ich stand einfach nur da und hab all die Eltern und Geschwisterkinder angestarrt, die zu uns heraufsahen.”

„Oh weia. Und was haben die anderen dann gemacht?”

„Das muss echt skurril ausgesehen haben. Die Kinder, die den Maulwurf und die Ratte gespielt haben, haben einfach weiter im Text gemacht, so als würde ich auch mitmachen. Aber meine Reaktionen, meine Antworten fehlten natürlich. Ich stand einfach nur da wie gelähmt. Irgendwann hab ich es nicht mehr ausgehalten und bin von der Bühne gerannt. Das Schlimmste, was ein Schauspieler tun kann. Danach war ich ein heulendes Elend, ich hab geflennt, bis meine Mutter mich getröstet hat.”

Alison lachte. „Also, ich würde sagen, wenn dein Weg als Schauspieler so losging, hast du seitdem eine beachtliche Karriere gemacht.”

Bei dem Wort Karriere musste er noch an etwas ganz Anderes denken.

---ENDE DER LESEPROBE---