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Nina hat in Hamburg ihren Job verloren und sich von ihrem Freund getrennt, da bekommt sie von ihrer Tante Hilde das Angebot, vorübergehend in deren Laden mit Café auf der Ostseeinsel Fehmarn zu arbeiten. Nina ergreift diese Chance gern. Doch bei Hilde hat sich Benjamin aus Berlin einquartiert, der gerade auf der Insel Urlaub macht. Nina und er kommen sich nach einiger Zeit näher, aber sie möchte sich eigentlich gar nicht auf eine neue Beziehung einlassen. Doch der Sommer auf Fehmarn hat einen ganz eigenen Zauber ...
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Titelei
Klappentext
Playlist zum Roman
Vorbemerkung
Inhaltswarnungen
Kapitel 1 – Nina
Kapitel 2 – Nina
Kapitel 3 – Benjamin
Kapitel 4 – Nina
Kapitel 5 – Benjamin
Kapitel 6 – Nina
Kapitel 7 – Benjamin
Kapitel 8 – Nina
Kapitel 9 – Benjamin
Kapitel 10 – Nina
Kapitel 11 – Benjamin
Kapitel 12 – Nina
Kapitel 13 – Nina
Kapitel 14 – Benjamin
Kapitel 15 – Nina
Kapitel 16 – Benjamin
Kapitel 17 – Nina
Epilog – Benjamin
Danksagung
Impressum
Liebeswirren und Sommerwind
Amalia Zeichnerin
Roman
Klappentext
Nina hat in Hamburg ihren Job verloren und sich von ihrem Freund getrennt, da bekommt sie von ihrer Tante Hilde das Angebot, vorübergehend in deren Laden mit Café auf der Ostseeinsel Fehmarn zu arbeiten. Nina ergreift diese Chance gern. Doch bei Hilde hat sich Benjamin aus Berlin einquartiert, der gerade auf der Insel Urlaub macht. Nina und er kommen sich nach einiger Zeit näher, aber sie möchte sich eigentlich gar nicht auf eine neue Beziehung einlassen. Doch der Sommer auf Fehmarn hat einen ganz eigenen Zauber ...
Playlist zum Roman
An Land – Element of Crime
Nacht – Kettcar
Jetzt ist Sommer – Wise Guys
Fehmarn – DreiklangzeltSommermorgen – Reinhard MeyMusik sein – Wincent Weiss
Auf anderen Wegen – Andreas Bourani
Diese Stadt ist einsam ohne dich – Johannes Oerding
Crying in the Rain – a-ha
Liebe ist alles – Rosenstolz
Sommerregen – Raum27
Wenn jetzt Sommer wär – Pohlmann
Irgendwo auf der Welt gibts ein kleines bisschen Glück – Comedian Harmonists
Liebeslied – Frida Gold & Cassandra Steen,
Schönherz & Fleer
Link zur Playlist auf Spotify:
https://bit.ly/playlist_liebesroman
Vorbemerkung
Wer sich auf Fehmarn auskennt, wird bemerken, dass es dort kein Seedorf gibt, diesen Ort habe ich frei erfunden und zwischen den Dörfern Westermarkelsdorf und Altenteil im Westen der Insel angesiedelt. Der Laden Seestern, die Kneipe Treibgut, der Club Eddys (in Hamburg) sowie die Kneipe Paule (in Berlin)sind ebenfalls meiner Fantasie entsprungen. Alle anderen in diesem Roman genannten Ortschaften gibt es wirklich auf der Insel, ebenso das Restaurant Niobe, die Buchhandlung Niederlechner und auch den Jadeschnitzer in Westermarkelsdorf.
Inhaltswarnungen
Spinne, Alkohol, Blut (wenig), sexuelle Handlungen, aber keine expliziten Sexszenen, Sommergewitter, sexuelle Belästigung (erwähnt), Vorurteile gegen bisexuelle Menschen
Kapitel 1 – Nina
Montag, 18. Juni
Mein Leben war der reinste Scherbenhaufen. An diesem Abend lag ich auf dem Sofa und betrachtete apathisch die dünne Staubschicht auf dem Wohnzimmertisch. Seit Tagen konnte ich mich nicht aufraffen, die Wohnung zu putzen, während draußen die Sonne vom Himmel lachte. Das angenehm-warme Sommerwetter bildete einen scharfen Kontrast zu meiner Stimmung, ebenso wie das fröhliche Vogelgezwitscher, das bis spätabends durchs offene Fenster drang. Am liebsten hätte ich mich in einer kühlen, dunklen Ecke verkrochen, aber das Einzige, was dem in meiner Wohnung in Hamburg-Wandsbek nahekam, war mein Kühlschrank. Eine Pappschachtel mit den Resten einer Pizza lag auf dem Tisch, daneben stand noch die Bierflasche von gestern Abend und verströmte einen schalen säuerlichen Geruch.
Vor einigen Monaten hatte ich mich von meinem Freund – bzw. nun mein Exfreund – getrennt. Simon hatte gefleht und gebettelt. Er würde sich bessern. Er würde sich Hilfe suchen, vielleicht eine Selbsthilfegruppe. Er würde nicht mehr, er wollte nicht mehr, er versprach mir hoch und heilig … am Ende hatte ich ihm kein Wort mehr geglaubt. Zu oft hatten wir uns schon gestritten, ohne dass eine Besserung in Sicht war. Liebe war gut und schön, aber manchmal war sie einfach nicht genug. Das hatte ich endlich eingesehen. Seitdem hatte ich Simon nicht mehr gesehen, auch nicht mehr mit ihm gesprochen. Auf Facebook und Instagram hatte ich ihn blockiert. Unsere Freundeskreise hatten sich nicht überschnitten, das machte die Trennung ein bisschen einfacher. Aber ich vermisste ihn. Vermisste seine guten Seiten, seinen Humor. Unsere gemeinsamen Ausflüge. Und noch so einiges mehr.
Am liebsten hätte ich mein Leben mit mittlerweile 28 Jahren kräftig durchgeschüttelt oder auf den Kopf gestellt, um zu sehen, ob nicht doch etwas Besseres herausfallen würde. Eigentlich hatte ich einen langgehegten Traum: Einen eigenen Laden eröffnen. Aber dazu fehlten mir die Mittel und Möglichkeiten. Außerdem waren die Mietpreise in Hamburg astronomisch, vor allem für Gewerbeflächen.
Mit einem Finger fuhr ich über den Staub auf dem Tisch. Nach der Trennung von Simon hatte ich mich in die Arbeit gestürzt. In der Advents- und Weihnachtssaison hatten wir alle Hände voll zu tun gehabt. Kein Wunder, Deko- und Geschenkartikel sowie stylische Haushaltswaren kamen immer gut an. Das Unternehmen hatte einige Filialen in Hamburg und Schleswig-Holstein gehabt. Wenige Monate später kam das überraschende Aus: Sie hatten Insolvenz angemeldet und mussten sämtliche Filialen schließen. Offenbar lag es nicht daran, dass die Geschäfte zu wenig Umsatz machten, sondern dass die Geschäftsführung und das Management schlecht gewirtschaftet hatten. Aber das ganze Ausmaß, was da schiefgelaufen war, war mir nicht bekannt und ehrlich gesagt, interessierte es mich auch nicht weiter.
Also war ich nicht nur wieder Single, sondern auch noch arbeitslos. Seitdem war ich beim Jobcenter als arbeitssuchend gemeldet und dazu verdonnert worden, monatlich zehn oder mehr Bewerbungen zu schreiben. Ich hatte auch schon ein, zwei Vorstellungsgespräche gehabt, aber daraus war nichts geworden. Ob die Leute aus den Personalabteilungen mir meine gedrückte Stimmung anmerkten, die ich hinter einem falschen Lächeln und reichlich Make-up zu verbergen versuchte? Ich war auch zum Friseur gegangen, hatte meinem hellbraunem Haar einen schicken asymmetrischen Pixie Cut gegönnt. Ich brauchte einfach etwas Neues ... Ich bereute diese Frisur nicht, sie stand mir gut. Aber sie brachte mir nicht den erhofften Elan. Stattdessen war ich seit Tagen niedergeschlagen und hätte mich am liebsten einfach nur im Bett verkrochen.
Meine beste Freundin Yvonne hatte schon mehrfach versucht, mich zu Partys oder in Clubs zu schleifen – um mich von meinem Kummer abzulenken, wie sie sagte. Aber mir war einfach überhaupt nicht nach Ausflügen ins Nachtleben, auf die Reeperbahn, ins Schanzenviertel oder sonst wo hin.
Mein Handy klingelte und ich erkannte die Nummer meiner Tante Hilde, die sich dem Rentenalter näherte. Mein erster Impuls war nicht ranzugehen. Aber vielleicht war es etwas Dringendes?
Ich nahm den Anruf entgegen.
»Hallo, Nina. Wie gehts dir?«, erklang die fröhliche Stimme meiner Tante.
»Moin, Hilde. Frag lieber nicht. Ich bin immer noch auf Jobsuche.«
»Genau deshalb rufe ich an«, erwiderte sie.
»Wie meinst du das?«
»Wahrscheinlich bin ich die einzige Inselbewohnerin, die sich am Strand ein Bein brechen kann. Es war ein Sturz und es ist ein komplizierter Bruch. Mir hätte ja eigentlich ein Gips gereicht, die übertreiben hier alle ein bisschen. Na ja, jedenfalls bin ich noch im Krankenhaus in Oldenburg, aber in ein paar Tagen kann ich wohl wieder nach Hause. Aber nun brauche ich eine Vertretung für den Laden. Wäre das nicht was für dich? Für circa acht Wochen, eventuell auch etwas länger. Ich zahle dir natürlich ein Gehalt. Dann kannst du das auch beim Jobcenter angeben.«
Hilde betrieb einen kleinen Laden in einem Dorf im Westen der Ostseeinsel Fehmarn – mit Souvenirs, regionalem Kunsthandwerk, Spezialitäten aus der Gegend, darunter Honig und Marmelade. Im Laden gab es auch einen kleinen Café-Bereich, eine Bekannte von ihr versorgte Hilde regelmäßig mit Kuchen und Torten. Ich kannte den Laden recht gut von meinen Besuchen auf Fehmarn und wusste, dass dort in der Hochsaison der metaphorische Bär steppte.
Ich zögerte. Mein letzter Job war ziemlich stressig gewesen und ich war gerade ziemlich deprimiert … eigentlich hätte ich diese Zwangspause ganz gut brauchen können. Andererseits –
»Bist du noch dran, Nina?«, riss mich Hilde aus meinen Überlegungen.
»Ja.«
»Natürlich kannst du in der Zeit bei mir wohnen. Im Haus gibt es ja zwei Gästezimmer.«
Hilde und ihre Familie hatten früher alle zusammen in dem alten Backsteinhaus gewohnt, das sich in der Nähe des Ladens und Cafés befand. Ihre Tochter war schon vor Jahren ausgezogen. Sie wohnte mit ihrer Familie in Lübeck und arbeitete dort auch. Hildes Sohn hatte mittlerweile seinen Lebensmittelpunkt in Bremen. Und vor vier Jahren war mein Onkel gestorben.
Ich überlegte fieberhaft. Ein Sommerjob auf Fehmarn? Das war sicherlich nicht das Schlechteste. Und ich würde mich nicht irgendwo einmieten müssen. Außerdem war es ja nur vorübergehend … »Okay, ich mach's. Aber ich muss hier erst noch einiges klären, mit dem Jobcenter und so.«
»Ja, natürlich, das verstehe ich. Was meinst du, wie lange wirst du brauchen?«
»Ein paar Tage bestimmt. Vielleicht eine Woche.«
»Alles klar.«
Wir plauderten noch einen Moment miteinander und meine Tante erzählte mir einige Einzelheiten über ihr Geschäft. Danach verabschiedeten wir uns.
Endlich hatte ich einen Grund, mich wieder aufzuraffen! Also runter vom Sofa. Ich suchte nach meinem aktuellen Notizbuch und fand es in einer Schublade meines Schreibtischs. Den Rest des Abends verbrachte ich damit zu planen und schrieb mir eine To-do-Liste. Ich musste unbedingt mit meinem Sachbearbeiter vom Jobcenter sprechen. Und mit meiner Krankenkasse. Weitere Gedanken tobten mir durch Kopf. Was sollte ich einpacken für meine Zeit auf Fehmarn? Und wo war eigentlich mein Badeanzug? Sollte ich meine Wohnung untervermieten, während ich weg war? Der Wohnungsmarkt in Hamburg war heiß umkämpft und es gab sicherlich auch Leute, die froh waren, wenn sie für einige Wochen irgendwo übergangsweise unterkamen, bis sie etwas Festes fanden.
Ich überlegte hin und her. Aber nein, eine Untervermietung kam nicht in Frage. Meine Wohnung war voll gestellt mit meinem persönlichen Zeugs und ich wollte das alles nicht in den Keller räumen. Außerdem hätte ich für eine Untervermietung auch eine Genehmigung von meiner Wohnungsgenossenschaft gebraucht.
Die Aussicht, in wenigen Tagen nach Fehmarn aufzubrechen, bescherte mir einen unerwarteten Arbeitsanfall. Wie gut! Das musste ich unbedingt ausnutzen, also putzte ich noch eine ganze Weile die Wohnung.
Gegen 21 Uhr erreichte mich ein weiterer Anruf, von Yvonne.
»Hallo, Nina. Na, freust du dich auch schon so auf das Konzert in zwei Wochen?«
Verdammt, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Wir hatten uns für das Konzert von Kettcar verabredet und sie hatte dafür Tickets besorgt.
»Es tut mir leid, aber ich kann nicht«, antwortete ich zerknirscht.
»Warum das denn?« Yvonne klang genervt.
Ich erzählte ihr von dem Telefonat mit meiner Tante.
»Oh, ich verstehe. Aber sag mal, kannst du nicht für einen Tag nach Hamburg kommen? Für das Konzert?«
»Ich glaube eher nicht. Das ist ja an einem Mittwoch und ich muss dienstags und mittwochs arbeiten. Selbst, wenn ich den Laden rechtzeitig schließen könnte, dauert die Fahrt zu lang, das sind zweieinhalb bis drei Stunden. Oder noch länger, falls es einen Stau gibt.«
»Ach, Mensch … das ist sehr schade.«
»Ja, finde ich auch«, gab ich zu. »Es tut mir leid.«
»Dann höre ich mich mal um, ob jemand anderes mitkommen möchte«, erwiderte sie.
»Ja, mach das.«
»Wie lange machst du denn den Job auf Fehmarn?«
»So ca. acht Wochen. Vielleicht auch ein bisschen länger.«
»Na, hoffentlich wird dir da nicht langweilig. Da ist ja nicht viel mit Nachtleben und so, nicht wahr?«
Ich lachte. »Nicht jeder ist so ein Partytier wie du.«
»Aber du gehst doch auch ganz gerne aus.«
Ja, so war es bisher eigentlich gewesen. Vor meiner Trennung von Simon. »Zurzeit eher nicht so und das weißt du auch.«
»Ach, das wird schon wieder. Wenn du wieder zurück bist von deinem Job auf Fehmarn, vermisst du es bestimmt schon, mit mir um die Häuser zu ziehen.«
Da war ich mir nicht so sicher, aber das sagte ich nicht laut. »Mal sehen …«
Wir sprachen noch eine Weile miteinander und sie wünschte mir alles Gute für diesen Übergangsjob. Nachdem ich aufgelegt hatte, nahm ich mir das schmutzige Geschirr in der Küche vor, das sich schon seit drei Tagen neben der Spüle stapelte. Während ich spülte, ging ich weiter im Kopf durch, was ich alles bedenken musste.
Kapitel 2 – NinaMittwoch, 27. Juni
Rund eine Woche später machte ich mich mit meinem vollgepackten Honda Civic auf den Weg nach Fehmarn. Vorsichtshalber hatte ich nicht nur leichte Sommerkleidung, sondern auch ein, zwei Pullover und eine Strickjacke für kühlere Tage eingepackt.
In den vergangenen Tagen hatte ich alles Organisatorische mit dem Jobcenter und meiner Krankenkasse geklärt. Das hatte einiges an Zeit gekostet. Aber glücklicherweise legte mir mein Sachbearbeiter vom Jobcenter keine Steine in den Weg, sondern schien froh zu sein, dass ich zumindest vorübergehend einen Job hatte und somit aus der Arbeitslosenstatistik für einige Wochen herausfiel.
Es war warm im Auto, deshalb öffnete ich eines der Fenster. Mittlerweile hatte ich die Ostsee schon fast erreicht. Der Fahrtwind sorgte für ein bisschen Abkühlung. Mein Kleinwagen rauschte vorbei an flachen Feldern und Knicks, den Bepflanzungen an den Feldrändern. Als ich einen kurzen Blick nach links warf, entdeckte ich mehrere Rehe. Die Rapsblüte war mittlerweile schon vorbei, sonst wäre wohl der süße Blütenduft zu mir herübergeweht. Dazwischen gab es auch immer mal wieder Weideland. Auf der Straße war einiges los, aber zum Glück nicht so viel, dass es einen Stau gegeben hätte. Im Radio erklang der Verkehrsfunk und der Wetterbericht von RSH, Radio Schleswig-Holstein. »In der kommenden Nacht ist mit orkanartigen Sturmböen zu rechnen«, erklärte die Sprecherin.
Ach, du Schande … das fängt ja gut an. Der Klimawandel lässt grüßen.
Schließlich kam die Fehmarnsundbrücke mit ihren hohen Bögen in Sicht und wenig später überquerte ich sie. Es war für mich immer wieder ein besonderes Gefühl, links und rechts nur noch Wasser und die Küstenlinien zu sehen. Die Einheimischen witzelten gern, dass man an dieser Stelle den Kontinent verließ oder dorthin fuhr. Einige Segler waren im Sund unterwegs, die weißen Segel der Boote leuchteten in der Sonne, unter ihnen glitzerndes Wasser.
Hinter der Brücke bog ich ab in die nordwestliche Richtung. Hinter Landkirchen tuckerte ein Traktor mit einem breiten Anhänger über die Landstraße. Da uns mehrere Autos entgegenkamen, war es nicht möglich, ihn zu überholen. Ach ja, so war das hier auf dem Land, da brachte man besser ein bisschen Zeit mit.
Schließlich erreichte ich Seedorf, das sich direkt an der Küste befand. Der kleine Ort lag zwischen den Dörfern Westermarkelsdorf und Altenteil. Er verfügte über einen Zugang zum Strand und einen kleinen Campingplatz. Einige der Einheimischen boten außerdem Ferienwohnungen an und es gab hier auch zwei Bauernhöfe. Hildes Laden war der einzige im Dorf.
Ich parkte das Auto vor dem Haus, in dem meine Tante lebte. Dunkelrote Kletterrosen wuchsen links und rechts neben der blau lackierten Haustür und ein bemaltes Holzschild trug in verschnörkelter Schrift ihren Nachnamen, Thomsen.
Ich klingelte. Wenige Minuten später öffnete Hilde die Tür, mit zwei Krücken ausgerüstet. Ihr Hund Tessa sprang mir fröhlich kläffend entgegen.
Hilde lächelte. »Hallo, Nina. Ich würde dich gern umarmen, aber dann falle ich wohl um.« Mit dem Kopf wies sie auf die Krücken.
Ich winkte ab. »Schon gut. Schön, dich zu sehen, Hilde.« Ich umarmte sie.
Danach beugte ich mich zu Tessa herab und streichelte sie, eine Promenadenmischung mit goldbraunem Fell. Ich deutete auf meinen Wagen. »Ich hole mal mein Gepäck.«
»Ja, ist gut. Ich setze Kaffee auf. Der Kuchen ist auch schon fertig. Du kannst dein Gepäck in das Gästezimmer im Erdgeschoss bringen.«
»Das ist super, danke« Nach der langen Fahrt war ich hungrig. Das Auspacken im Gästezimmer konnte ich nach dem Kaffeetrinken erledigen.
Hilde trat nun mit ihren Krücken den Weg in die Küche an. Tessa folgte ihr schwanzwedelnd.
Ich brachte das Gepäck nach drinnen. Das Gästezimmer war früher eines der beiden Kinderzimmer gewesen. Davon war mittlerweile aber nichts mehr zu merken, der Raum war neu tapeziert und sämtliche Kindersachen weggeräumt worden.
Ein Schreibtisch und ein Stuhl, eine Kommode und ein Kleiderschrank bildeten neben dem Bett das Mobiliar. Mit all diesen Möbeln wirkte das Zimmer insgesamt recht klein. Für ein paar Wochen wird es schon gehen, redete ich mir gut zu.
Ein Weberknecht krabbelte über den Teppich vor mir. Ich unterdrückte einen erschrockenen Schrei. Spinnen und ich würden in diesem Leben keine Freunde mehr werden. Aber hier im Haus gab es sicherlich eine Menge davon. Ob es in Hildes Laden auch so war? Vermutlich … allerdings gab es auch in der Großstadt reichlich Spinnen, musste ich einräumen. Der Weberknecht tat mir den Gefallen, in Richtung Tür zu krabbeln, vielleicht wollte er sein Glück im Flur versuchen. Ich schaute an die Decke. Dort hingen mehrere Spinnweben, die teilweise mit Staubflusen verklebt waren. Auch das noch! Nachher würde ich Hilde um einen Staubwedel bitten und die Spinnweben beseitigen.
Kurz darauf saßen wir auf der Terrasse hinter dem Haus, tranken Kaffee und aßen den selbstgebackenen Apfelkuchen. Genießerisch verzog ich das Gesicht. »Der ist köstlich, Hilde.«
»Ich würde dir das Rezept verraten, aber du hast es ja nicht so mit Backen, nicht wahr?«
Ich seufzte. »Das stimmt«. Meine Versuche zu backen, endeten meistens damit, dass die Brot- oder Kuchenteige nicht aufgingen, egal, wie viel Hefe oder Backpulver ich hinzufügte. Ich hatte einfach kein Glück damit. Oder aber die Kuchen wurden zu trocken, zu bröselig oder zu matschig. Das reinste Trauerspiel! Bei einem Kuchen hatte ich mal Zucker und Salz verwechselt und das Ergebnis war völlig ungenießbar gewesen.
Ich deutete auf ihren Gips. »Was sagen die Ärzte, wie lange musst du den noch tragen?«
»Circa sechs Wochen. Und dann Physiotherapie.«
Mitfühlend blickte ich sie an. »Hast du denn Schmerzen?«
Sie machte eine wegwerfende Geste. »Es geht so. Dr. Linde hat mir Schmerzmittel verschrieben.«
»Und wie machst du das mit Tessa? Das Gassigehen?«
»Das hat Heinz in den letzten Tagen übernommen.«
Heinz war ein Rentner hier aus dem Ort, ich kannte ihn flüchtig von früheren Besuchen bei meiner Tante.
Hilde blickte mich an. »Aber ich würde mich freuen, wenn du das nun machst. Zweimal täglich, jeweils eine Stunde lang. Und natürlich kannst du mit Tessa auch zum Strand gehen.«
»Ja, klar. Gar kein Problem.« Ich lachte auf. »Das kommt mir gerade recht, dann habe ich jeden Tag noch ein bisschen Bewegung als Ausgleich zur Arbeit.«
»Super.« Sie rührte in ihrer Kaffeetasse. »Ich möchte dir später den Laden zeigen.«
»Gern, dann kannst du mich einarbeiten.«
Entsprechend gingen wir nach dem Kaffeetrinken durchs Dorf, hinüber zu dem zweistöckigen Haus, in dessen Erdgeschoss der Laden und das kleine Café untergebracht waren.
Hilde gab mir den Schlüssel dafür und ich schloss auf, während sie, auf ihre Krücken gestützt, wartete. Tessa hatten wir mitgenommen. Sie bellte, als ich die Tür öffnete.
Der Laden wirkte durch die großen Fenster und die cremefarbenen Wände hell und freundlich. An den Wänden hingen farbenfrohe Fotografien, mit Motiven von der Insel. Die Stühle und Tische im Café waren in bunten Pastelltönen gestrichen.
Die nächste Stunde verbrachten wir damit, dass mir Hilde die verschiedenen Waren erklärte. »Hier sind die Regale für das Kunsthandwerk. Frau Lorenz, das ist eine Töpferin aus Heiligenhafen, war gerade erst da, sie hat ihre neuen Töpferwaren hergebracht.«
Bewundernd strich ich über die bunt glasierten Becher, die im Regal standen. »Die sind sehr schön.«
Hilde lächelte. »Ja, Frau Lorenz versteht ihr Handwerk.«
Danach sprachen wir über die Kasse und das Kartengerät. Beides war mir aus meiner bisherigen Arbeit vertraut, denn dort hatten wir auch diese Geräte gehabt.
»Was den Café-Bereich betrifft, jede Woche kommt Else her und bringt Kuchen, Kekse und Torten her. Sie war früher als Bäckerin tätig und ist nun Rentnerin. Das Gebäck ist für sie ein Zuverdienst. Du musst dich also nur um die Getränke kümmern. Schau, hier sind die Vorräte …«
Sie führte mich in den Vorratsraum und zeigte mir dort alles, darunter auch Schachteln mit verschiedenen Teesorten und den Kaffee für den Vollautomaten. »Mit dem Automat kannst du verschiedene Kaffeegetränke zaubern. Soll ich dir zeigen, wie er funktioniert?«
»Ja, das wäre gut.«
Die Bedienung war recht einfach, wie ich schnell merkte, als Hilde sie mir erklärte. Damit würde ich wohl keine Probleme haben.
»Die Milch ist dort.« Hilde deutete auf einen großen Kühlschrank. »Ich bekomme öfter mal Anfragen, ob wir auch vegane Milch haben, deshalb habe ich auch Haferdrink und Mandeldrink im Angebot. Das kostet aber 30 Cent extra, weil diese Drinks teurer sind. Das steht auch auf der Getränkekarte.«
»Alles klar.«
Wir sprachen weiter über die vielen Einzelheiten, die es zu beachten galt und ich prägte mir alles ein. Auf mich kam eine Menge Arbeit zu. Nicht nur der Laden und das Café, sondern auch die Reinigung der Räumlichkeiten und das tägliche Gassigehen mit Tessa. Immerhin musste ich für das Café nicht selbst backen. Das wäre die reinste Katastrophe geworden.
Später ging ich mit Tessa zum Strand hinunter. Der Wind zerrte mir an den Haaren und an meiner Sommerjacke. Ein durchdringender Geruch nach Salz und Algen stieg vom Meer auf. Der Strand war teilweise sandig, teilweise steinig und kleine Kiesel rutschten unter meinen Füßen hin und her, während ich an anderen Stellen bei jedem Schritt in den Sand einsackte. Tessa bellte und zerrte an ihrer Leine. Am Ufer ertönte das Auf und Ab der rauschenden Wellen, ein angenehm beruhigendes Geräusch. Einige Leute waren am Strand, aber ich bemerkte keine bekannten Gesichter.
Ich näherte mich einem Surfer in einem blau-schwarzen Neoprenanzug, der sich gerade kniend über sein Brett gebeugt hatte, das am Ufer lag. Tessa strebte auf ihn zu. Was sollte das denn nun?
Der Mann blickte ihr entgegen. Sie sprang ihm förmlich entgegen und schlabberte ihm das Gesicht ab. Er lachte auf und rief: »Hallo, Tessa!«
Dann blickte er mich an. Ich schätzte ihn auf Anfang oder Mitte Dreißig, also ein paar Jahre älter, als ich es war. Sein Gesicht war von dunkelbraunem, leicht welligem Haar umrahmt, seine Augen hatten dieselbe Farbe. Ein unregelmäßiger Dreitagebart zierte die untere Hälfte seines Gesichts und er hatte ein kleines Muttermal mitten auf der Nase.
Ach, du Schande. Sein Gesicht erinnerte mich an Bernd. Das war ein Azubi gewesen, mit dem ich während meiner Ausbildung zu tun gehabt hatte. Bernd hatte sich gegenüber den weiblichen Azubis übergriffig verhalten. Sexistische Sprüche und Grabschen waren seine »Spezialität« gewesen. Ich erinnerte mich noch heute mit Schaudern an den Tag, als er mir an den Hintern gefasst hatte. Erst als sich mehrere Frauen über ihn beschwert hatten, auch in der Berufsschule, hatte es Konsequenzen für ihn gegeben. Die Ausbildung durfte dieser Mistkerl dennoch weiter machen, aber die meisten hielten sich so fern von ihm wie möglich.
Aber das hier war nicht Bernd. Er sah ihm nur sehr ähnlich. »Woher kennen Sie den Hund?«, wollte ich von ihm wissen.
»Das ist doch der Hund von Hilde Thomsen.«
»Ja …«, erwiderte ich abwartend.
Er streichelte Tessa über den Kopf, dann richtete er sich auf. »Ich mache regelmäßig Urlaub hier, ich mag die Insel. Ich war schon öfter zu Gast in Hildes Café, daher kennen wir uns.«
Er war mit Hilde per du und nannte sie beim Vornamen? Das schafften nicht viele Leute, schätzte ich, mal abgesehen von denen, die im Dorf wohnten und noch zwei, drei aus der Umgebung.
»Und Sie sind?«, fragte er mich mit einem offenen, freundlichen Blick.
Nach kurzem Zögern antwortete ich: »Ich bin Hildes Nichte. Bin gerade zu Besuch bei ihr.« Mehr brauchte er nicht wissen. Beziehungsweise wenn er im Café aufschlug, würde ich ihm erzählen, dass sich Hilde das Bein gebrochen hatte und ich für ein paar Wochen in ihrem Laden aushalf.
»Dann richten Sie ihr gern einen Gruß von Benjamin Schwarz aus. Ich komme demnächst mal ins Café.«
»Ja, ist gut«, erwiderte ich. »Schönen Urlaub Ihnen. Haben Sie von der Sturmwarnung gehört?« Ich hielt an dem Siezen fest, schließlich kannten wir uns nicht näher.
»Ja. Ich hoffe, das wird nicht so heftig. Ich zelte hier auf dem Campingplatz.«
Fast wäre mir ein »Na, dann viel Glück« herausgerutscht, aber das hätte wohl gehässig geklungen, deshalb verkniff ich es mir.
Ich verabschiedete mich von ihm und er wandte sich wieder seinem Brett zu.
Auf meinem Rückweg sah ich ihn mit geschmeidigen Bewegungen über die Wellen gleiten. Das Segel seines Surfbretts war in Blau- und Grüntönen gehalten. Das wäre nichts für mich, ging es mir durch den Kopf. Ich ging zwar gern schwimmen, auch in der Ostsee, aber ich konnte mir absolut nicht vorstellen, auf einem wackligen Brett unberechenbaren Wellen gegenüberzustehen, dem Wind ausgeliefert.
Als ich zu Hilde heimkehrte, fragte sie mich in der Küche: »Na, hast du jemand getroffen, den du kennst?«
»Nein, aber ich soll dich von einem Benjamin Schwarz grüßen. Ein Surfer.«
Sie lächelte erfreut. »Ah, ist er also auch wieder auf der Insel. Wenn er hier Urlaub macht, kommt er öfter ins Café. Er hat ein Faible für Kuchen. Und Kaffee. Und er hat mich mal beraten, das war sehr nett.«
Überrascht blickte ich sie an. »Wie meinst du das? Wobei hat er dich beraten?«
»Er arbeitet als Grafikdesigner und hat mir im letzten Sommer Tipps zu unserer Speisekarte gegeben. Er sagte, sie wäre wohl übersichtlicher, wenn ich nicht so viele verschiedene Schriften verwenden würde. Also habe ich mich noch mal drangesetzt und ich finde, Benjamin hatte recht. Die neue Speisekarte sieht auf jeden Fall besser aus. Schau sie dir morgen mal an, wenn du magst.«
»Ja, das mache ich gern. Hattest du ihn denn um Rat gebeten, oder hat er das von sich aus angesprochen?«
»Er hat davon angefangen. Aber das hat mir nichts ausgemacht und es war ja auch hilfreich.«
Das fand ich nicht gerade sympathisch. Einfach Leuten, die man kaum kannte, ungebetene Ratschläge zu geben? Ich hätte ihm das vermutlich übel genommen.
»Ich kümmere mich um das Abendessen, wenn du magst«, schlug ich Hilde vor.
»Ach was, das können wir beide machen«, widersprach sie mir. »Ich setze mich hier an den Tisch und schnipple das Gemüse. Und du kannst schon mal den Reis aufsetzen.«
Ich folgte ihrem Vorschlag. Draußen rüttelte der Wind an den alten Fensterläden.
»Na, das wird wohl was geben heute Nacht.« Hilde runzelte die Stirn. »Stellst du bitte später noch die Gartenstühle in die Garage? Ich habe Angst, dass sie sonst wegwehen.«
»Klar, das mache ich nach dem Essen.« Hildes Gartenstühle waren aus relativ leichtem Kunststoff gefertigt und ich konnte ihre Sorge verstehen.
In dieser Nacht heulte der Wind mit voller Wucht rund ums Haus. Ha, da hatte ich auf das ruhige Landleben gehofft und nun konnte ich angesichts des Lärms nicht einschlafen. Was für eine Ironie! An Ohropax hatte ich auch nicht gedacht. Verdammt. Schließlich riss ich zwei Stücke von einem Taschentuch ab, zerknüllte es und stopfte mir das in die Ohren. Das half immerhin ein bisschen, aber ich wälzte mich noch lange hin und her, bis ich in den Schlaf fiel.
Kapitel 3 – Benjamin
Donnerstag, 28. Juni
Ich hatte mich sehr auf meinen Urlaub auf Fehmarn gefreut. Einfach mal ausspannen, raus aus Berlin, dem Stadttrubel entfliehen. Und auch eine Pause von meiner WG. Ich mochte meine zwei Mitbewohner ja gern, aber manchmal ging mir das beengte Zusammenleben auf den Geist, zumal ich auch zu Hause arbeitete, als selbständiger Grafikdesigner.
Das hier war mein erster Urlaub, seit meiner Trennung im vergangenen Jahr. Aber warum musste es ausgerechnet kurz, nachdem ich auf die Insel gefahren war, einen Sturm geben? Nun lag ich im Zelt, eingemummelt in meinen warmen Schlafsack. Aber an der Außenplane zerrte der Wind. Ich verfluchte den sandigen Boden, in den ich die Heringe geschlagen hatte. Hoffentlich würden sie dem Sturm standhalten! Draußen heulten die Böen über den Campingplatz. Eigentlich hatte ich nichts gegen einen kräftigen Wind, im Gegenteil. Er war mir beim Surfen mehr als willkommen. Aber nachts im Zelt?
Irgendwann driftete ich trotz allem in einen Halbschlaf ab und selbst das Grollen des Windes klang mir leiser in den Ohren …
Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als ich aus dem Schlaf hochschreckte. Himmel, wie kalt das war! Ich lag im Schlafsack, unter mir das aufblasbare Kissen. Abrupt richtete ich mich auf. Die Zeltplane war verschwunden – nur die Bodenplane lag noch auf dem sandigen Boden und auch daran zerrte der Wind. Scheiße, wie war das möglich? Ich blinzelte in das rötliche Licht der Morgendämmerung und wand mich aus meinem Schlafsack.
Schlaftrunken richtete ich mich auf und zog meine Windjacke an. Danach suchte ich die Umgebung ab. Die Heringe befanden sich nicht mehr dort, wo ich sie eingeschlagen hatte, sie lagen verstreut herum. Was für ein Mist!
Erst mehrere Minuten später entdeckte ich die Zeltplane – oder vielmehr das, was davon übrig geblieben war. So eine verdammte … Aber fluchen half mir nun auch nicht weiter. Die Zeltplane klemmte völlig zerrissen in einem dornigen Gebüsch. Als ich versuchte, sie daraus zu befreien, stachen mir einige Dornen in die Hand. »Au!« Die kleinen Verletzungen begannen zu bluten. Auch das noch. Nach und nach konnte ich die Plane schließlich doch noch aus dem Gebüsch ziehen. Aber sie war nicht mehr zu retten, die Risse waren so krass, dass sie mit nichts zu flicken waren. Na, der Urlaub fing ja gut an!
Es half alles nichts, ich würde mir ein neues Zelt kaufen müssen. Oder schauen, ob irgendwo zufälligerweise eine Ferienwohnung frei sei. Aber das hielt ich für wenig wahrscheinlich – schließlich hatte die Sommersaison längst begonnen und die Insel war voller Touristen. Bestimmt waren die Ferienwohnungen schon alle ausgebucht. Außerdem war mir Camping lieber und es war auch günstiger.
Ich stopfte mir die zerrissene Plane unter den Arm und stapfte missmutig zurück zu den Überresten meiner Schlafstätte. Ich schaute auf meine Uhr. Kurz nach fünf. Vielleicht konnte ich doch noch ein bisschen schlafen? Und danach würde ich am Handy nach freien Ferienwohnungen schauen.
Aber rund eine halbe Stunde später wälzte ich mich im Schlafsack hin und her. Von wegen Schlafen, daran war gar nicht mehr zu denken. Mir war kalt, ich hatte Durst und es wurde schnell immer heller. Ich griff in meine Vorratskiste und zog eine Dose mit Eiskaffee hervor. Ein heißer Kaffee wäre mir lieber gewesen, aber das musste warten.
Ich griff nach meinem Handy und suchte nach einer Übersichtsseite mit Ferienwohnungen hier auf der Insel. Ich schaute dabei auch auf die kleinen Stichverletzungen meiner Hand. Sie schmerzten noch immer leicht, bluteten aber nicht mehr. Schluckweise trank ich den Eiskaffee. Ich fand eine Tourismus-Seite, auf der ich nach Ferienwohnungen schauen konnte. Zehn Minuten später hatte ich ein Hotelzimmer in Burgtiefe gefunden, in einer Ferienanlage, außerdem eine Ferienwohnung in Meeschendorf, im Südosten der Insel. Letztere war mir allerdings zu teuer, verglichen mit dem Campingplatz. Der Preis vom Hotelzimmer war okay, aber ich sträubte mich dagegen, in einem Hotel abzusteigen, zumal ich den Strand hier im Westen lieber mochte als den stark frequentierten Südstrand am anderen Ende der Insel. Ansonsten fand ich nur noch einige größere Ferienwohnungen, die frei waren, für vier oder mehr Personen. Aber das kam für mich nicht in Frage. Wahrscheinlich war es besser, wenn ich mir einfach ein neues Zelt kaufte? Das konnte ich dann auch gleich im nächsten Campingurlaub wieder verwenden, also würde ich mehr davon haben.
Der Eiskaffee half zwar gegen meinen Durst, aber angesichts der morgendlichen Kälte tat er mir nicht gerade gut. Mein Schlafsack war zwar auch für kühlere Temperaturen ausgelegt, aber durch die fehlende Zeltplane war es dann doch ziemlich kühl.
Da ich die Überreste vom Zelt ohnehin abbrechen musste, zog ich mich an und räumte alles zusammen. Nach und nach brachte ich die Sachen zum Auto und verstaute sie im Kofferraum. Mein Fahrrad hatte ich an einem Fahrradständer befestigt, da war es erst mal sicher. Aber das Surfbrett hievte ich lieber wieder auf den Dachgepäckträger meines Autos und befestigte es dort. Bei einem Campingurlaub mit Zelt war der Platz begrenzt, deshalb hatte ich mir über die Jahre angewöhnt, nicht meinen halben Hausstand mitzuschleppen.
Plötzlich musste ich an meinen letzten Urlaub hier denken, gemeinsam mit Dennis. Wir hatten uns vorab in die Haare gekriegt, weil er recht viel hatte mitnehmen wollen. Glücklicherweise hatte ich ihm das ausreden können. Wir hatten eine gute Zeit hier verbracht. Der Gedanke an ihn machte mich wieder mal traurig. Aber ich vermisste nicht ihn im Speziellen, er hatte mir zu sehr weh getan. Ich vermisste es, in einer Beziehung zu sein und mit einer anderen Person mein Leben zu teilen.
Aber ich haderte mit mir selbst. Meine Mitbewohner lagen mir schon in den Ohren, dass ich doch mal wieder Leute daten sollte. Oder auf gut Glück ausgehen sollte, um neue Menschen kennenzulernen. In Berlin mangelte es ja nicht an Möglichkeiten im Nachtleben. Aber mir war nicht danach. Noch nicht. Vielleicht lag es daran, dass mich Dennis so verletzt hatte. Früher hatte ich zwei, drei One-Night-Stands gehabt. Es war okay gewesen, aber nicht so ganz meins. Darauf wollte ich lieber verzichten. Mir reichten schon die One-Night-Stands von meinem Mitbewohner Mats. Er schleppte häufiger mal Frauen ab, verbrachte lautstark die Nacht mit ihnen und am nächsten Morgen kam es dann zu verlegenen Begegnungen in der Küche. In solchen Momenten wünschte ich mir wieder mal, allein zu wohnen. Wenn nur die Mieten in Berlin nicht so teuer wären.
Ich schaute auf meinem Handy, ob es in der Nähe Geschäfte gab, die Zelte verkauften. In der Stadt Burg wurde ich nicht fündig, dafür aber auf dem Festland, in Heiligenhafen und Oldenburg gab entsprechende Läden. Ich entschied mich für Heiligenhafen. Um die Zeit zu überbrücken, bis die Geschäfte öffneten, zog ich mir meine Sportschuhe an und ging eine Runde durch Seedorf joggen.
Zu meiner Überraschung entdeckte ich Hilde Thomsen am offenen Fenster in ihrem Haus, einen Becher in der Hand. Ich hielt an. Ich kannte die ältere Dame von früheren Besuchen hier in Seedorf. Sie betrieb einen Laden mit einem Café, in dem ich öfter Kaffee und Kuchen genossen hatte.
Ich blieb an ihrem Vorgarten stehen. »Guten Morgen, Frau Thomsen.«
»Oh, hallo, Benjamin. Meine Nichte hat mir Ihre Grüße ausgerichtet. Machen Sie wieder Urlaub hier?«
»Ja, auf dem Campingplatz. Aber wissen Sie, ich hatte leider Pech wegen des Sturms.« Ich schilderte ihr meine Misere und dass ich mir nun ein neues Zelt kaufen musste.