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Beatrice stammt aus einer wohlhabenden Londoner Familie und heiratet den charmanten Baronet Sir Cyril Landerson. Doch in seinem Manor auf dem Land wird Beatrice Zeugin unheimlicher Spukerscheinungen und ihr Mann scheint mehr als ein Geheimnis zu hüten … Eine Gothic Novelle (Schauerliteratur), angesiedelt im viktorianischen England.
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Titelei
Inhaltswarnungen
Eine Playlist zu dieser Novelle
Teil 1 - Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Teil 2 - Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Epilog
Nachwort und Danksagung
Gothic Novels von Selina Schuster
Impressum
eine Gothic Novelle
von Amalia Zeichnerin
Inhaltswarnungen
Gaslighting, toxische Beziehung, Gewalt (wenig), Blut (wenig), alte Puppe, Clown, Alkohol, sexuelle Handlungen (aber keine expliziten Sexszenen). Alles Folgendes wird erwähnt, nicht gezeigt: Zwei verstorbene Angehörige, Unfall, plötzlicher Kindstod, tödliche Erkrankung, verstorbenes Haustier, ein Suizid, Giftschlange
Eine Playlist zu dieser Novelle
Mit Ambience und Musik für Schauergeschichten, in meinem YouTube-Kanal: https://bit.ly/gothic_novels_playlist
Kapitel 1
London, 1883
Es war ein angenehm warmer Abend im Mai und einige Vögel zwitscherten in den Bäumen ein heiteres Lied. Mein Bruder Albert und ich besuchten einen Jahrmarkt, der am südlichen Ende vom Hyde Park seine Zelte aufgeschlagen hatte. Die Dämmerung tauchte die bunt bemalten Buden, die Zelte und Stände in ein rötliches Licht. Eine leichte Brise strich über mein Gesicht und ich wischte mir eine verirrte Strähne meines dunkelbraunen Haars aus der Stirn.
An einem Stand hatten wir unser Glück versucht, mit kleinen Bällen auf farbenfrohe Schachteln aus Karton zu werfen. Ich war ein wenig treffsicherer als Albert, aber weder er noch ich hatten einen der Preise gewonnen.
Ein stark geschminkter Clown mit einer wirren Perücke und etwas abgerissener Kleidung lief herum. Mit seinen Späßen brachte er die anwesenden Kinder zum Lachen. Grinsend zwinkerte er mir zu und schnitt eine ulkige Grimasse, was mir ebenfalls ein Lächeln entlockte.
Etwas weiter hinten entdeckte ich ein violettes Zelt, das mit Sternen und Mondsicheln bemalt war. Auf dem hölzernen Schild am Eingang war zu lesen: »Lassen Sie sich die Karten legen, von der Wahrsagerin Ethel.«
Ich war fasziniert und deutete auf das Schild. »Oh bitte, Albert, lass uns das machen.«
Er gab ein »Hrrmpf« von sich. »Beatrice, das ist doch nichts als Humbug!«
»Mag sein«, ruderte ich zurück. Dann zwinkerte ich ihm verschmitzt zu. »Aber vielleicht ist es unterhaltsamer Humbug?«
»Ich lasse mir gewiss nicht die Zukunft weissagen. Niemand kann das«, beharrte er.
»Dann warte hier auf mich, ja?«
Er musterte mich einen Moment lang ungnädig. Dann schaute mein Bruder sich um und wies auf einen Stand, an dem man Bogenschießen konnte. Die runde Zielscheibe war blau-weiß-rot bemalt, ähnlich wie der Union Jack. »Ich gehe dorthin und werde auf dich warten«, erklärte Albert.
»Wie du magst«, erwiderte ich.
Er schlenderte davon. Einen Moment lang sah ich ihm nach, dann schob ich die Zeltplane vorm Eingang beiseite und trat ein. Mit einem Mal klopfte mein Herz schneller. Das musste meine Schüchternheit sein, die mir oft einen Strich durch die Rechnung machte, wenn ich mich auf fremde oder ungewohnte Situationen einließ.
»Guten Tag«, sagte ich in das Halbdunkel hinein, das mich erwartete.
In der Mitte des kleinen Zeltes befand sich ein runder Tisch, dazu drei Stühle mit verschnörkelt geschnitzten Armlehnen. Mehrere Kerzen, darunter auch einige in größeren Haltern, die auf dem Boden standen, sorgten für ein schummriges Licht. Auf dem Boden lagen mehrere kleinere Teppiche.
Eine ältere Frau, deren Haar schon teilweise grau war, blickte mir entgegen. Sie trug eine schwarze Haube. Ihr violettes Kleid entsprach nicht der neuesten Mode, sondern wirkte eher wie um 1860. Allerdings trug sie weder eine Tournüre noch einen Reifrock, was mich ein wenig irritierte.
»Guten Tag«, wünschte sie mir. »Ich bin Ethel, die Wahrsagerin. Sie möchten sich etwas weissagen lassen?« Ihre Stimme klang tief und ein wenig heiser.
Das bejahte ich und sie nannte mir ihren Preis. Der Spaß war mir die entsprechende Summe wert. »Das zahle ich gern.«
»Gut. Nehmen Sie bitte Platz.« Sie wies auf einen der Stühle und ich ließ mich dort nieder.
Sie griff nun zu einem samtenen Beutel und zog ein Kartendeck heraus, von dem ich nur die Rückseite sah: ein florales Muster in rot und grün.
»Haben Sie eine bestimmte Frage, über die Sie sich Klarheit verschaffen möchten?«
»Ich … ähm … also, ich frage mich, ob ich wohl bald einen Ehemann finden und ob ich ihn lieben werde.« Mir wurde ein wenig warm im Gesicht, das machte die Verlegenheit.
Ethel lächelte. »Diese Frage höre ich oft. Nun, lassen Sie uns sehen, was die Karten dazu sagen. Ich lege drei, diese werden Ihre Zukunft näher beleuchten.«
Mittlerweile raste mein Herz, ich war so aufgeregt! Schließlich war ich noch nie bei einer Wahrsagerin gewesen und nun ging es um eine ziemlich existenzielle Frage.
Ethel nahm das Kartendeck in beide Hände und schloss die Augen. Dann begann sie die Karten zu mischen. Schließlich öffnete sie die Augen wieder und breitete das gesamte Deck fächerförmig auf dem Tisch aus.
»Ziehen Sie nun bitte drei Karten«, wies sie mich an. »Überlegen Sie nicht lange, lassen Sie sich einfach von Ihrer Intuition leiten. Und dann legen Sie die Karten verdeckt nebeneinander.«
Ich betrachtete den Kartenfächer, dann zog ich nach und nach drei Karten heraus und legte diese auf den Tisch.
Ethel griff nach der ersten Karte und drehte sie um. Darauf war ein Mann mit einem Beutel zu sehen, im Schlepptau einen kleinen Hund. »Ah, der Narr. Die erste Karte des Tarots«, erklärte die Wahrsagerin. »Diese Karte ist meistens sehr positiv. Sie steht für Neugier und einen Neubeginn, vielleicht auch eine Reise. Der Narr zieht voller Vertrauen und Unbefangenheit hinaus in die Welt.« Sie sah mich nun direkt an. »Ich vermute, bei Ihnen wird sich in der nahen Zukunft etwas verändern. Seien Sie offen für das, was sich ergeben mag. Es gibt allerdings auch etwas Negatives bei dieser Karte: Der Narr ist mitunter zu naiv und gutgläubig, was ihm möglicherweise schaden könnte.«
»Ich verstehe.« Bei den Worten »naiv« und »gutgläubig« fühlte ich mich ein wenig ertappt, denn das traf in der Tat manchmal auf mich zu. Ich sah immer zuerst das Gute in den Menschen und vertraute auf ihren Charakter. Bisher war ich damit meistens gut gefahren …
Die Wahrsagerin drehte die zweite Karte um. Diese zeigte eine Art Engelsfigur im Himmel, hinter ihr die strahlende Sonne, sowie zwei nackte Figuren, eine Frau und einen Mann. Hinter der Frau schlängelte sich wie in der Bibel eine Schlange durch den Früchte tragenden Baum der Erkenntnis. Ob diese beiden Figuren Adam und Eva darstellen sollten?
»Die Liebenden«, erklärte Ethel. Sie lächelte. »Wie passend für Ihre Frage, junge Dame. Diese Karte erzählt von den Herausforderungen einer Partnerwahl – hier geht es wie der Name der Karte schon sagt, um eine Herzensentscheidung in Sachen Liebe. Ich schätze, Ihnen steht auch das Jawort und eine Hochzeit bevor.«
»Wie wundervoll!«, rief ich erfreut und die Wahrsagerin lachte leise.
»Sehen wir, was die dritte Karte beleuchtet …« Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, als sie die dritte Karte umdrehte. Darauf war eine Person in einem schwarzem Umhang abgebildet, die den Kopf hängen ließ. Vor ihr auf dem Boden lagen drei umgestoßene Kelche, zwei weitere standen aufrecht hinter ihr. »Oh … Dies ist die Fünf der Kelche. Ich möchte ganz offen zu Ihnen sein. Diese Karte spricht von tiefer Trauer und seelischem Schmerz, vielleicht verursacht durch eine Trennung oder einen Verlust. Sie kann auch für Schwermut stehen.«
»Das ist ja traurig.« Ich fühlte eine unbestimmte Angst in mir aufsteigen. Der Wahrsagerin war das wohl nicht entgangen, denn sie tätschelte beruhigend meine behandschuhte Hand. »Ich sage Ihnen etwas. Ziehen Sie noch zwei weitere Karten. Ohne weitere Kosten. Vielleicht können diese einen noch besseren Aufschluss über Ihre zukünftige Situation geben.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Ich zog wie vorgeschlagen noch zwei Karten und hoffte nun auf bessere Nachrichten. Die Wahrsagerin drehte beide um. Auf diesen Karten waren mehrere Schwerter abgebildet. Eine davon sah sehr beängstigend aus in meinen Augen, denn zehn Schwerter steckten im Leib eines blutüberströmten Mannes, der auf dem Boden lag. In Ethels Gesicht las ich Sorge.
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nichts Hoffnungsvolles dazu sagen, wenn ich ehrlich bin. Die Neun der Schwerter erzählt von schlaflosen Nächten und Albträumen, möglicherweise aufgrund von existenziellen Ängsten. Die andere Karte ist die Zehn der Schwerter. Sie kann auf eine Trennung hindeuten, dem sich Lösen aus einer quälenden Beziehung und oft ist das auch verbunden mit Selbstzweifeln.«
Ethel ergriff plötzlich meine Hand und sah mich eindringlich an. »Geben Sie bitte auf sich acht. Passen Sie auf, wem Sie Ihr Herz schenken. Seien Sie vorsichtig.«
Ich löste mich aus der Berührung, ihr harter Griff war mir unangenehm. »Danke. Das werde ich tun«, sagte ich, um sie abzuwimmeln. Vielleicht hatte mein Bruder recht? Vielleicht war Wahrsagerei einfach nur Humbug …
Kapitel 2
Ein schweres Sommergewitter braute sich über der Stadt zusammen. Grelle Blitze erhellten immer wieder die Straßen und bald prasselte Regen laut auf das Kutschendach. Wie Tränen rannen die Tropfen die Fensterscheiben herunter. Und das ausgerechnet an diesem Abend, an dem der letzte Ball der Londoner Saison stattfand! Ich machte mir Sorgen um mein Abendkleid aus malvenfarbener Seide und meine Frisur, die aufwändig hochgesteckt und mit frischen Blüten verziert war. Das Gewitter war unerwartet gekommen; weder ich noch mein Vater oder Bruder hatten einen Regenschirm dabei. Aber vielleicht ein Bediensteter der Familie Davenport, die heute eingeladen hatte?
Mein Vater strich sich über den grauen Schnauzbart und musterte mich aufmerksam. »Einen Penny für deine Gedanken, meine liebe Tochter.«
»Ich hoffe, ich komme halbwegs trocken ins Haus. Und ich bin ein wenig nervös, Vater.«
»Es ist doch nicht dein erster Ball, Bea«, warf Albert ein. Wie ich auch hatte er das dunkelbraune, fast schwarze Haar unserer Mutter geerbt, das sich in leichten Wellen an seinen Kopf schmiegte. Albert wollte sich eigentlich einen Bart stehen lassen, aber die Stoppeln wuchsen nur spärlich in seinem Gesicht. Wir beide hatten außerdem braune Augen, wie Mutter. Der Gedanke an sie stimmte mich traurig. Vor zwei Jahren war sie an einer schweren Lungenentzündung gestorben und ruhte seitdem auf dem Brompton Friedhof.
»Ja, das stimmt natürlich, aber du weißt doch, wie schüchtern ich gegenüber Fremden bin«, erinnerte ich meinen Bruder.
»Es ist wohl nicht unklug, gegenüber Fremden ein wenig Vorsicht walten zu lassen. Ich mag deine Zurückhaltung, Beatrice. Sie steht einer jungen Frau gut zu Gesicht«, befand mein Vater.
Meine Schüchternheit verhinderte allerdings auch seit Jahren, dass ich Freundinnen fand. Eine einzige liebe Freundin hatte ich in London gehabt, doch Theresa hatte im vergangenen Jahr geheiratet und lebte mittlerweile mit ihrem Mann in Manchester. Also blieb uns nichts weiter als eine Brieffreundschaft und ungefähr einmal im Jahr würden wir uns in London sehen. Allerdings war Theresa mittlerweile guter Hoffnung1und würde für einige Zeit gar nicht verreisen.
Natürlich sollte auch ich einen Ehemann finden, ich war schließlich längst im heiratsfähigen Alter. Allerdings hatte ich die zarte Konstitution meiner Mutter geerbt und die Londoner Saison der Bälle und Abendgesellschaften im letzten Jahr größtenteils bettlägerig verbracht.
In diesem Jahr dagegen hatte ich mir auf den Gesellschaften die Füße wundgetanzt. Aber bisher hatte kein Herr ein Interesse an mir gezeigt, das über ein, zwei Tänze und eine kurze Konversation hinausging. Und ich muss ehrlicherweise gestehen, dass auch mein Interesse an den Herren sich in Grenzen hielt. Aber vielleicht hatte auch meine Schüchternheit mir wieder einmal im Weg gestanden – wie schon so oft hatte ich kaum ein Wort herausgebracht, als die Männer, die ich kaum oder gar nicht kannte, sich mit mir unterhielten. Ich fragte mich, wie das wohl auf sie gewirkt hatte …
Mein Vater hatte mich bei einer Abendgesellschaft im April mit einem Witwer bekannt gemacht, der fast dreißig Jahre älter war als ich. In einer ruhigen Minute auf einem der Balkone des Anwesens hatte ich unserem Familienoberhaupt deutlich gemacht, dass ich auf gar keinen Fall einen Mann ehelichen würde, der mein Vater hätte sein können. Zum Glück hatte er diese Angelegenheit im Anschluss nicht weiter verfolgt – vielleicht war ihm dieser Witwer letztendlich auch ein wenig zu alt für seine Tochter gewesen.
Unsere Kutsche hielt. Mein Vater öffnete die Tür und reichte mir eine Hand. Die Tournüre war seit rund einem Jahr wieder in Mode, entsprechend trug ich ein Gestell unter den Röcken, das diese auf der Rückseite aufbauschte. Der Regen rauschte kalt herab und ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel, gefolgt von tiefem Donnergrollen.
Ein Bediensteter unseres Gastgebers kam mit einem großen schwarzen Regenschirm auf uns zu. »Guten Abend«, begrüßte uns der grauhaarige Mann. »Darf ich die Dame unter dem Regenschirm zum Haus geleiten?«
»Sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte mein Vater und nickte mir zu.
Gemeinsam mit dem Diener eilte ich zum Vordach des Anwesens, allerdings trat ich dabei in eine Pfütze und der Saum meines Kleides sog sich an einer Stelle voll. Auch das noch!
Ich war heilfroh, als ich endlich in der trockenen Eingangshalle stand. Dort befanden sich mehrere Leute, die ihre Hüte und Mäntel an weitere Bedienstete überreichten. Ich schloss mich dem an, mit dem leichten Cape, das ich über dem Abendkleid getragen hatte.
Hinter mir kamen mein Vater und Albert herein. Mein Bruder war verlobt, wie auch der Ring an seiner Hand zeigte. Doch seine zukünftige Gattin Catherine weilte zur Zeit auf dem Land bei ihren Eltern, da ihr Vater gesundheitlich angeschlagen war.
An diesem Abend war der Ballsaal der Davenports ein Meer aus bunten oder pastellfarbenen Abendkleidern, glänzenden Gläsern, dem Wedeln von Fächern und dem Schimmern von kostbarem Schmuck. Dazwischen mischte sich die dunklere Abendkleidung der anwesenden Herren. An den Rändern des Saales sorgten zahlreiche Kerzen in hohen Haltern für Licht, ebenso der Kronleuchter in der Mitte der Decke. Über uns befand sich eine Deckenmalerei, die in der schummrigen Beleuchtung nicht gut zu erkennen war. Ich hatte sie aber auch schon bei Tageslicht gesehen und Mr Davenport hatte sie mir erläutert: Sie stellte Szenen aus den römischen und griechischen antiken Mythologien dar. Das Haus der Davenports war im 18. Jahrhundert gebaut worden, im Stil des Rokoko. Das zeigte sich an den vielen Schnörkeln und Verzierungen an den Wänden und dem Stuck an der Decke, die weiß gestrichen war und über mit Blattgold verzierte Elemente verfügte. Ich konnte nicht umhin, diesen Glanz zu bewundern. Vielleicht würde das hier trotz meiner Schüchternheit ein angenehmer Abend werden?
Wenige Minuten später begrüßten wir gemeinsam unseren Gastgeber, Hieronymus Davenport. Wie meine eigene Familie zählten die Davenports zum gehobenen Bürgertum. Sie besaßen ein Stahlwerk, das reichlich Gewinn erbrachte, wie mein Vater zu berichten wusste. Auf ihren Gesellschaften gaben sich der ansässige Adel und das Bürgertum schon seit Jahren die Hand, denn Cressida Davenport war die Tochter eines Barons. Es ging das Gerücht, sie habe ihren Gatten aus Liebe geheiratet, was in Adelskreisen schon fast als Skandal galt. Zumindest hatte ich entsprechende Gerüchte gehört.
Die Gastgeberin war eine rundliche Frau mit rosigen Wangen und einer hochaufgebauschten Frisur, sodass ihr blondes Haar fast wie ein Heiligenschein wirkte, der über ihrem Gesicht thronte. Sie hatte ein paar liebreizende Worte für uns übrig und machte mir Komplimente zu dem Seidenkleid, das ich an diesem Abend trug. Ich fühlte eine verlegene Röte in meine Wangen steigen. Ihr Blick wanderte hinunter zu dem Wasserfleck am Saum des Kleides, aber sie sagte nichts dazu. Stattdessen bemerkte Lady Cressida mit einem Lachen: »Was für ein Wetter heute, nicht wahr? Es scheint, die Londoner Saison geht mit einem Paukenschlag zuende. Oder vielmehr, mit einem Donnerschlag.«
Wir lachten höflich über ihren Scherz. Mein Vater und Albert plauderten noch ein paar Minuten mit den Davenports, während ich nur zuhörte und vor lauter Verlegenheit so sehr lächelte, dass mir die Gesichtsmuskeln zu schmerzen begannen.
Ein Bediensteter mit einem Tablett voller Kristallgläser kam zu uns. Dankbar griff ich nach einem Glas Champagner und trank einen kleinen Schluck. Neidisch musterte ich einige Damen, die ungefähr in meinem Alter waren und sich ganz ungezwungen miteinander unterhielten. Eine von ihnen kicherte gerade wie über einen guten Scherz.
»Kommen Sie, Beatrice, ich mache Sie mit einigen Damen und Herren bekannt«, sagte Mrs Davenport und wandte sich mit einem fröhlichen Augenzwinkern an meinen Vater: »Wenn ich Ihre Tochter zu diesem Zwecke entführen darf?«
Er lachte ein weiteres Mal höflich. »Sie dürfen.«
Während die Gastgeberin mich nun mehreren Leuten vorstellte, füllte sich auch meine Tanzkarte. Ich war froh über Letztere, weil ich darauf die Namen der Herren, die mit mir an diesem Abend tanzen wollten, nachlesen konnte und sie mir nicht alle merken musste. Mrs Davenport machte mich auch mit drei Damen in meinem Alter bekannt und entschuldigte sich danach, weil sie einige neu eingetroffene Gäste begrüßen wollte. Es würde wohl noch ein wenig Zeit vergehen, bis das Kammerorchester, das sich in einer Ecke des Saales eingefunden hatte, zum Tanz aufspielen würde. Ich musterte die drei Damen. Ich hatte sie schon auf anderen Gesellschaften gesehen, aber wir hatten bisher nicht miteinander gesprochen.
»Sind Sie in den Regen gekommen?« Eine von ihnen deutete auf den Wasserfleck auf meinem Kleid. Am liebsten wäre ich im Boden versunken.
»Ach, Lizzy, du machst die Arme ja ganz verlegen«, wurde sie von einer ihrer Freundinnen gescholten.
In diesem Moment ertönte eine Stimme hinter uns. »Ah, Miss Beetham. Wie schön, Sie wiederzusehen.« Ich drehte mich um.
Vor mir stand ein Mann, der wohl nur einige Jahre älter war als ich. Er war ungefähr einen Kopf größer und trug keinen Bart. Ein schwacher, angenehmer Duft ging von ihm aus, der mich an einen Wald im Sommer erinnerte. Der Herr hatte leicht welliges, kastanienfarbenes Haar und meerblaue Augen. Als er mich anlächelte, war es um mich geschehen und mit einem Mal hoffte ich, er werde mich um einen der späteren Tänze bitten.
»Und wer ist dieses liebreizende Wesen?«, fragte er mit einem Blick auf mich. »Lady Agnes, seien Sie so gut und machen Sie uns bekannt, ja?«
Sie kicherte, als ob er etwas sehr Lustiges gesagt hätte. »Darf ich bekannt machen? Baronet Sir Cyril Landerson. Sir Cyril, das hier ist Beatrice Alston.«
Er griff nach meiner Hand und deutete einen galanten Handkuss an. »Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Darf ich fragen, sind Sie verwandt mit dem Unternehmer, Sebastian Alston?«
Ich spürte wieder einmal Wärme in meine Wangen steigen, bestimmt wurde ich knallrot. »Ja, ich bin seine Tochter«, brachte ich heraus.
»Ah, ich verstehe. Ich würde sehr gern mit Ihnen tanzen und ein wenig plaudern. Haben Sie noch einen Platz auf Ihrer Tanzkarte frei?«
»Ja«, hauchte ich und wunderte mich selbst darüber, warum meine Stimme auf einmal so hoch und dünn klang. Dieser Herr brachte mich durcheinander, aber warum eigentlich? Ich musste mich zwingen, den Blick von ihm abzuwenden, griff in meinem Pompadourbeutel und zog die Karte heraus, zusammen mit einem Stift.
Er nahm mir beides aus der Hand und trug seinen Namen bei einem Walzer ein. »Ich freue mich auf unseren Tanz«, sagte er mit einem weiteren Lächeln, das zum Dahinschmelzen war. »Aber entschuldigen Sie mich nun bitte, ich möchte gern einen Bekannten begrüßen.«
»Natürlich«, erwiderte ich und er ging. Ich sah ihm nach. Dann wandte ich mich an Lady Agnes. »Kennen Sie diesen Herrn näher?«
Die zweite Dame, eine zierliche Person mit rötlich-blondem Haar, ergriff das Wort. »Sir Cyril Landerson lebt ganz allein auf dem Landsitz seiner Familie, in Essex. Ich habe einmal gehört, er hatte ursprünglich einen Bruder, der ist allerdings im Kindesalter gestorben. Seine Eltern leben auch nicht mehr.«
»Oh, wie traurig«, warf ich ein.
»Ich bin mir sicher, dass er auf der Suche nach einer Ehefrau ist«, sagte Lady Agnes mit verschwörerischer Miene.
Das wäre meine nächste Frage gewesen … ich wunderte mich selbst immer noch darüber, dass mich sein freundliches Lächeln so sehr für ihn eingenommen hatte. Schließlich kannte ich ihn praktisch gar nicht. Was hatte dieser Mann an sich, das mir so reizvoll erschien? Und warum hatte ich es nicht längst bei einem der anderen Herren gefunden, die auf den bisherigen Gesellschaften dieser Saison mit mir getanzt hatten? All diese Gedanken behielt ich für lieber mich. Ich wollte den Damen keinen Anlass bieten, über mich zu tratschen.
Kurze Zeit später eröffnete Mr Davenport mit einer kleinen Rede den Ball. Ich machte mich auf die Suche nach meinem ersten Tanzpartner und fand ihn in einer Gruppe mehrerer Männer. Er roch durchdringend nach Zigarettenrauch und hatte sich offenbar reichlich Pomade oder etwas anderes ins Haar geschmiert, um seine Locken zu bändigen. Während des ersten Tanzes redete dieser Herr unentwegt auf mich ein. Was für eine Quasselstrippe! Ich kam kaum zu Wort. Ich war mir nicht sicher, ob er aus Unsicherheit oder Verlegenheit so viel redete, oder ob das einfach ein Wesenszug von ihm war. Jedenfalls war ich froh, als unser Tanz endete. »Darf ich Ihnen ein Getränk bringen, Miss Alston?«
Nicht auch das noch … »Vielen Dank. Entschuldigen Sie mich bitte, ich möchte mit meinem Vater sprechen.«
»Wie Sie wünschen.« Er sah ein wenig enttäuscht aus. Sollte er doch jemand anderen mit seinem Wortschwall überschütten.
Der nächste Tanz folgte nach einer kleinen Pause – eine Quadrille. Hierfür stellten die Anwesenden sich paarweise in Reihen auf, um mehrere feststehende Tanzfiguren zu bilden, einige davon mit Drehungen und Platzwechseln. Mal bildeten wir Damen und die Herren getrennt voneinander eigene Reihen, dann vermischten sie sich wieder. Meinem zweiten Tanzpartner war ich bereits auf einigen Gesellschaften begegnet. Eigentlich machte er auf mich einen sympathischen Eindruck, allerdings nuschelte er stark und war oft nicht gut zu verstehen. Ich hatte mich nie getraut, das anzusprechen, es wäre wohl auch unhöflich gewesen. Die Quadrille erforderte unsere gesamte Aufmerksamkeit. Viel zu leicht konnte es passieren, dass man eine der Tanzfiguren versäumte, wenn man nicht aufpasste, und dann die anderen Tanzenden durcheinander brachte. Für ein Gespräch war angesichts dieser Umstände kein Platz und mir war das ganz recht, weil ich diesen Herrn mit seiner nuschelnden Sprechweise ohnehin nicht gut verstehen konnte.
In der nun folgenden kleinen Pause trank ich ein Glas Wein. Weitere Tänze folgten nach und nach. Unwillkürlich verglich ich meine Partner mit dem Baronet, der mir eben vorgestellt worden war. Er hatte etwas an sich, das ihnen fehlte, aber ich konnte nicht den Finger darauf legen, was es war. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass ich es kaum erwarten konnte, mit ihm zu tanzen.
Endlich, fast eine Stunde später, war es Zeit für unseren gemeinsamen Walzer und ich hoffte auf eine interessante Unterhaltung. Sir Cyril Landerson führte mich mit geschmeidigen Bewegungen auf die Tanzfläche und deutete eine galante Verneigung an, ehe wir zu tanzen begannen. In seinem Gesicht lag erneut dieses bezaubernde Lächeln, das mich so in seinen Bann geschlagen hatte. Seine Hand in meiner fühlte sich sehr angenehm an, selbst durch den Handschuh konnte ich die Wärme spüren, die von ihm ausging. Er war ein ausgezeichneter Tänzer, seine Bewegungen genau im Dreivierteltakt des Walzers. Die Nähe zu ihm ließ mich ein wenig verlegen werden – eine Verlegenheit, die ich bei den anderen Männern nicht verspürt hatte.
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und fragte: »Ich habe Sie auf keiner der bisherigen Gesellschaften dieser Saison gesehen, wie kommt das? Wenn ich fragen darf?«
Er nickte mir zu. »Sie dürfen. Ich hatte leider einen Reitunfall und habe mir das Bein gebrochen.«
»Oh …«, erwiderte ich überrascht.
»Ja, ich konnte wochenlang nur an Krücken gehen.«
»Sie Armer«, entfuhr es mir, was er mit einem Lachen quittierte.
»Aber nun ist der Bruch gut verheilt und mein Arzt hat mir erlaubt, wieder zu tanzen«, sagte er fröhlich. »Ich musste auch einige Besorgungen hier in der Stadt erledigen und da dachte ich mir, nehme ich doch wenigstens den letzten Ball der Saison mit. Aber nun haben wir so lange von mir geredet. Ich möchte gern mehr über Sie erfahren. Sicherlich sind Sie längst verlobt? Ist Ihr Verlobter auch hier?«
Ich fühlte, dass ich wieder einmal rot wurde. »Nein, ich bin es nicht.«
»Erstaunlich …«, erwiderte er. »Und wie geht es Ihrer Familie? Läuft das Unternehmen gut?«
»Oh ja, das ist in der Tat so.« Mein Vater besaß zwei Webereien in London, die er von seinem Vater geerbt hatte. »Und meinen Familienmitgliedern geht es ebenfalls gut. Mein Bruder ist auch hier, aber seine Verlobte ist zurzeit bei ihren Eltern auf dem Land.« Das Ableben meiner Mutter erwähnte ich lieber nicht. Es hätte mich nur wieder traurig gemacht, wenn mir dieser Herr kondoliert hätte.
»Das freut mich für Sie«, sagte er, sprach aber nicht von seiner eigenen Familie. Ich erinnerte mich an das, was eine der Damen erwähnt hatte: Dass seine Eltern und sein Bruder verstorben seien. Vielleicht wollte er auch nicht daran erinnert werden?
Als nächstes sprachen wir ein wenig über Musik und die schönen Künste. Er vertraute mir an, dass er gern Romane lese und Gedichte schreibe. »Es ist nur Gelegenheitslyrik, keine große Kunst. Aber ich habe Freude daran, meine Gefühle mit Reimen und schönen Worten auszudrücken.«
Das nahm mich noch mehr für ihn ein. »Wie schön! Ich für meinen Teil spiele gern Klavier«, vertraute ich ihm an. »Es hilft mir, meinen Emotionen nachzuspüren und sie auszudrücken.«
»Wunderbar! Zu Hause habe ich auch ein Klavier. Oder vielmehr, einen Flügel. Haben Sie einen Lieblingskomponisten?«
Wir sprachen nun ein wenig über die Werke von Johann Sebastian Bach, Frédéric Chopin, Clara Schumann, Ludwig van Beethoven, Georg Friedrich Händel und noch einigen anderen.
»Ich liebe die Mondscheinsonate von Beethoven sehr. Sie ist auf angenehme Weise schwermütig, finde ich«, sagte er mit schwärmerischer Miene.
»Ja, das ist ein sehr schönes Werk«, stimmte ich zu.
Ich war angetan davon, dass Sir Cyril all diese Komponisten nicht nur kannte, sondern auch gezielt etwas zu einzelnen ihrer Werke sagen konnte. Die Herren, mit den ich bisher in dieser Saison getanzt und gesprochen hatte, verfolgten alle Beschäftigungen, mit denen ich wenig anfangen konnte: Die Fuchsjagd. Besuche in ihrem Gentlemens Club. Kartenspiele und Billard. Schützenfeste. Angelausflüge. Lange Wanderungen. Zum ersten Mal sprach ich mit einem Herrn, der sich ebenso wie ich für die schönen Künste begeisterte. Ob er wohl auch romantische Gedichte schrieb? Das wagte ich nicht zu fragen. »Sie sagten vorhin, Sie lesen gern. Besitzen Sie denn einige Romane?«, erkundigte ich mich stattdessen.
Er lachte auf. »Einige? Das wäre untertrieben. Im Haus meiner Familie haben wir ein eigenes Bibliothekszimmer.«
»Ach, wie schön«, platzte ich heraus und er lächelte mich wieder an.
Wir wirbelten weiter im Kreis zu den Walzerklängen des Kammerorchesters, vorbei an anderen Paaren. Ein Kaleidoskop aus Kerzenschein, glitzerndem Schmuck und den schimmernden Stoffen der Abendkleider rauschte um uns herum, aber ich ahnte anhand der Klänge, dass sich der Walzer seinem Ende näherte. Zu schade, ich hätte mich gern noch länger mit dem Baronet unterhalten.
»Darf ich ganz offen sein, Miss Alston?«, riss mich Sir Cyril aus meinen Gedanken.
Überrascht sah ich ihn an. Was würde er mir nun sagen? Unsicher nickte ich.
»Ich weiß, wir kennen uns erst einige Minuten lang, aber wenn Sie es mir erlauben, würde ich Ihnen gern schreiben. Ich …« Er räusperte sich. »Ich würde Ihnen gern den Hof machen, aber gewisse Dinge verlangen meine Anwesenheit auf dem Landsitz meiner Familie. Deshalb dachte ich mir, vielleicht könnten wir einige Briefe austauschen und vielleicht darf ich Sie später einmal hier in der Stadt besuchen?«
Ich war sprachlos und sah ihn an, ohne ein Wort herauszubringen.
»Ach, meine liebe Miss Alston, ich fürchte, ich habe Sie verschreckt. Verzeihen Sie mir, das lag nicht in meiner Absicht.«
Ich schluckte. Biss mir auf die Unterlippe, eine Angewohnheit von mir, wenn ich nicht weiterwusste. Er blickte mich abwartend an. Ich sah weder Unmut noch Ungeduld in seiner Miene.
Da räusperte ich mich ebenfalls und nahm all meinen Mut zusammen. »Sie haben mich keineswegs verschreckt. Ich würde sehr gern einen Brief von Ihnen erhalten, Sir Cyril. Nach dem Walzer kann ich Ihnen eine Visitenkarte geben.«
Er strahlte mich an und mir wurde ganz warm ums Herz. »Wunderbar! Ich freue mich. Herzlichen Dank.«
»Ich habe auch zu danken«, erwiderte ich heiter.
Das Orchester beendete den Walzer. »Bitte folgen Sie mir, Sir Cyril«, bat ich ihn. Ich ging zu einem der Stühle am Rand des Geschehens, auf dem ich meinen Fächer und den Pompadourbeutel deponiert hatte.
Als ich dem Baronet meine Visitenkarte überreichte, berührten sich unsere Finger kurz. Die Berührung, so flüchtig sie auch war, durchfuhr mich wie ein kleiner Blitzstrahl. Sir Cyril strahlte mich an. »Lassen Sie uns noch ein wenig plaudern, bis Sie Ihren nächsten Tanzpartner suchen müssen, was halten Sie davon?«, schlug er vor.
»Sehr gern«, erwiderte ich und hoffte, er werde nun ein wenig mehr von sich erzählen.
Stattdessen sagte er: »Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn wir uns bald wiedersehen. Wie schade, dass die Saison nun vorbei ist.«
Die Saison folgte dem Rhythmus der Parlamentssitzungen: Sie begann Ende Oktober mit der Eröffnung der neuen Sitzungsperiode und endete Anfang Juli mit der Sommerpause. Sir Cyril hatte offenbar einen Teil dieser Zeit mit seinem gebrochenen Bein zu kämpfen gehabt.
»Vielleicht … könnte ich Sie auf Ihrem Landsitz besuchen?«, wagte ich mich vor. »Mein Bruder könnte mich begleiten.« Ich hatte keine Ahnung, ob mein Vater einem solchen Ausflug zustimmen würde, aber fragen kostete ja nichts.
»Nein«, erwiderte mein Gegenüber ohne Zögern. »Das ist leider nicht möglich – das Haus wird gerade renoviert und ich möchte Ihnen den Baulärm und andere Umstände auf keinen Fall zumuten.«
»Oh, ach so. Das ist bedauerlich. Aber wenn das so ist, freue ich mich umso mehr auf Ihre Briefe.«
»Und ich mich auf Ihre. Miss Alston, wie wäre es, Sie machen mich mit Ihrem Vater und Bruder bekannt, ehe der nächste Tanz beginnt?«
Das entsprach nicht ganz der Etikette, aber in diesem Fall war es in der Tat leichter, wenn ich die Herren miteinander bekannt machte. »Sehr gern«, erwiderte ich.
Während er mir folgte, machte ich mich auf die Suche nach meinen Angehörigen. Ich fand sie am anderen Ende des Ballsaals, vertieft ins Gespräch mit einer älteren Dame. Sie sahen mir und dem Adligen neugierig entgegen und ich begrüßte die Gräfin, ein Urgestein der Londoner Gesellschaft, die uns vermutlich alle überleben würde.
Sie erwiderte den Gruß herzlich, klappte ihren Fächer zu und sagte: »Ah, kennen Sie sich bereits? Oder darf ich vorstellen?«
»Ich bitte darum«, erwiderte Sir Cyril.
Die Gräfin stellte ihn nun meinen beiden Verwandten vor.
»Erfreut, Sie kennenzulernen«, erwiderte mein Vater daraufhin.
Der junge Adlige setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Ich habe Ihre Tochter darum gebeten, ihr Briefe schreiben zu dürfen. Und ich würde sie gern einmal besuchen, wenn ich wieder in London bin.«
Mein Vater wirkte erfreut. »Ist das auch dein Wunsch, Beatrice?«
Ich nickte nur, das Herz voll von all den wundersamen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben mochten.
»Dann schreiben Sie ihr gern und lassen Sie uns wissen, wenn Sie wieder nach London kommen. Sie sind uns willkommen, Sir Cyril.«
Mir fiel auf, dass Albert den Adligen ein wenig argwöhnisch musterte.
»Wunderbar! Ich freue mich sehr.« Sir Cyril sah von meinem Vater zu mir. »Ich werde Ihnen bald schreiben, liebe Miss Alston. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich glaube, der nächste Tanz wird bald beginnen.«
Wir verabschiedeten uns voneinander. Ich gab ihm nicht die Hand, denn ich war unverheiratet. Stattdessen verbeugte er sich kurz und ich knickste. Ich sah ihm nach, bis er in der Menge der Anwesenden verschwunden war.
»Kennst du Sir Cyril, Albert?«, fragte ich meinen Bruder.
»Nein, aber er macht auf mich einen aalglatten Eindruck.