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Der Schauspieler Leo beginnt einen Job als Kleindarsteller in dem historischen Themenpark „Regency Park” und lässt sich auf die Ära von Jane Austen ein … und auf Ashley, dier historische Kostüme schneidert. Im Park geschehen seltsame Dinge, auch während einer historischen Modenschau, bei der Leo als Model für Ashley einspringt. Zwischen siem und Leo funkt es, aber mehrere Probleme stehen den beiden im Weg. Ein Queer Romance Roman, angesiedelt im amerikanischen Connecticut, mit einem cis Mann und einer nichtbinären Person als Hauptfiguren. In diesem Roman ist Konsens sexy und es gibt nur wenig (Beziehungs-)Drama.
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Titelei
Playlist zum Roman
Anmerkung der Autorin
Hinweis zu Inhaltswarnungen
Inhaltswarnungen zu diesem Roman
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Nachwort und Danksagung
Impressum
Amalia Zeichnerin
Playlist zum Roman
The Police – Every Breath You Take
Robbie Williams – Supreme
Ed Sheeran – Shape Of You
Justin Timberlake – Can't Stop The Feeling!
Sam Smith – How Do You Sleep?
Demi Lovato – I Love Me
Sugababes – Ugly
Skylar Kergil – Tell Me A Story
Worriers – Chasing
Troye Sivan ft. Ariana Grande – Dance To This
The Chicks – Cowboy Take Me Away
2 Cellos – Thunderstruck (ACDC Cover)
Hamilton (Das Musical) – Helpless
Alanis Morisette – Ironic
Rent (Das Musical) – Seasons of Love
Doris Day – Perhaps, Perhaps, Perhaps
Die Playlist auf YouTube:
https://bit.ly/RegencyPark_Playlist
Anmerkung der Autorin
Ashley ist nichtbinär und benutzt das Neopronomen »sier«, mit einer entsprechenden Deklination. Dies ist keine Erfindung von mir. »Sier« wird von manchen nichtbinären Menschen genutzt und es gibt auch noch andere Neopronomen.
Inhaltswarnungen/Content Notes zu diesem Roman
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Inhaltswarnungen/Content Notes
zu diesem Roman
Stalking, Hausbrand, Nichtbinärfeindlichkeit (wenig), drei explizite Sexszenen, Misgendering (in einer einzelnen Szene)
Kapitel 1
Montag, 15. Mai 2017
Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein arbeitsloser Schauspieler nichts dringender braucht als einen Job. So ging es auch mir. Und weil ich nicht mehr ewig in New York kellnern wollte, saß ich nun hier, im Büro des Freizeitparks Regency Park, der sich in Connecticut befand. Meine Hände fühlten sich klamm an und mir trommelte das Herz viel zu laut in der Brust. Prüfungssituationen waren jedes Mal wie ein Tanz auf dem Drahtseil für mich, und von diesem Vorstellungsgespräch hing eine Menge ab.
Ich war in London aufgewachsen, hatte dort auch eine Schauspielschule besucht. Im Anschluss war ich nach New York gezogen – die doppelte Staatsbürgerschaft machte es möglich. Im Big Apple hatte ich als Schauspieler Karriere machen wollen, am liebsten am Broadway. Aber nach zwei Jahren Klinkenputzen hatte ich kaum Jobs ergattert, nur kleinste Rollen mit wenigen Sätzen. Ich hatte schon überlegt, ob ich mein Glück nicht lieber in Hollywood versuchen sollte, ein langgehegter Traum von mir. Oder vielleicht in London, aber ich hatte bisher nicht den Antrieb gefunden, ein weiteres Mal umzuziehen. Außerdem hatte ich schon immer Probleme gehabt, mich bei weitreichenden Dingen zu entscheiden. Ich hatte auch versucht, in einer Agentur unterzukommen, aber das schien nur über Beziehungen zu funktionieren – es gab zu viele aufstrebende Schauspielende, aber zu wenig Agenturen, um alle diese Leute aufzunehmen.
Das Büro des Parkmanagers sah aus wie die Kulisse eines britischen Landsitz-Krimis mit Retro-Flair: Viel dunkles Holz, alte Lampen und einige Landschaftsgemälde an den Wänden. Was tat ich hier bloß?! So hatte ich mir meine Karriere nicht vorgestellt. Andererseits, als Übergangsjob war es vielleicht nicht verkehrt …
Mr Nash, ein kräftiger Mann von Mitte fünfzig, dessen Haar graumeliert und ein wenig schütter war, sah mich aufmerksam an. »Leo, wie vertraut sind Sie mit den Werken von Jane Austen?«
Ich richtete mich in meinem Stuhl auf. »Ich habe alle gelesen. Ein, zwei in der Schule und den Rest so. Bis auf ihre unvollendeten Werke.«
Mr Nash lächelte. Ich entspannte mich ein wenig.
»Sie sind Engländer? Ihr Akzent …«
»Mein Vater stammt aus England, meine Mutter ist Amerikanerin.«
»Ah, ich verstehe. Ich habe in Ihrem Lebenslauf auch gelesen, dass Sie in London aufgewachsen sind. Das dürfte eine Bereicherung für Ihre Tätigkeit hier werden. Wie viel wissen Sie über unseren Regency Park, Leo?«
»Ich war noch nicht als Besucher hier«, gab ich zu. »Aber ich habe mir Ihre Angebote angesehen, auf der Webseite. Man kann hier historische Tänze lernen, es gibt Lesungen mit Romanen aus der Regency-Ära, Ausritte, Picknicks, Bootsfahrten, kreative Workshops, eine historische Ausstellung und einen Kunsthandwerkermarkt.«
»Und wo sehen Sie Ihre Stärken in Bezug auf all das? Wo könnten Sie sich am besten einbringen?«
»Ich habe eine Zeitlang einen Kurs für historische Tänze besucht. Ich kann rudern, das wäre vielleicht etwas für die Bootsfahrten? Reiten kann ich auch, allerdings bin ich ein wenig eingerostet. Aber das verlernt man ja nicht.«
»Das hört sich gut an. Und wie ist es mit historisch angehauchter Konversation?«
Ich lächelte und deutete eine theatralische Verneigung an, so gut das im Sitzen eben ging. »Nun, werter Herr, ich sehe mich durchaus in der Lage, hier im Park gepflegt zu parlieren, wenn das erwünscht ist. Es wäre mir ein formidables Vergnügen.«
»Es ist nicht nur erwünscht, es ist eine zwingende Voraussetzung. Die Leute, die den Park besuchen, sollen ganz immersiv in die Regency-Ära eintauchen können. Das geht natürlich besonders gut, wenn unsere Belegschaft sich entsprechend ausdrückt. Ähnlich wie die Handeltreibenden auf den Renaissance-Märkten, nur eben in einer anderen Epoche.«
»Das ist gar kein Problem«, versicherte ich rasch.
»Hervorragend.« Er blickte mich noch einmal prüfend an, dann lächelte er. »Wann können Sie anfangen, Leo?«
Wow. Überrumpelt betrachtete ich ihn. »Ähm … nächste Woche? Am Montag?«
»Bestens. Ihr Vertrag ist zunächst für ein halbes Jahr befristet.«
Ich hatte nichts anderes erwartet und nickte ihm zu. »Das ist mir recht, danke.«
Mr Nash drückte auf einen Knopf seines Telefons. »Sally, zeigen Sie Leo bitte die Unterkünfte und geben Sie ihm die Vertragsunterlagen für die Kleindarstellenden.«
Eine rotblonde Dame, die ich bereits beim Hereinkommen gesehen hatte und deren Gesicht voller Sommersprossen war, kam herein. Sie nickte ihrem Vorgesetzten zu. »Sehr gern.« Sally drehte sich zu mir. »Folgen Sie mir bitte.«
Ich verabschiedete mich mit einem breiten Lächeln von Mr Nash, ehe ich sie nach draußen begleitete.
Sally drückte mir eine Mappe in die Hand. »Hier sind die Vertragsunterlagen. Bringen Sie sich selbst und diese unterzeichnet mit, wenn Sie am Montag anfangen, Leo. Sie können sie aber auch heute schon durchlesen und unterschreiben, wenn Sie möchten. Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Haus, das Gelände und die Unterkünfte.«
Das Büro des Parkmanagers befand sich in einem großen Gebäude, dessen Einrichtung alten englischen Herrenhäusern nachempfunden worden war, mit dunkler Holzvertäfelung in den Fluren und alten Landschaftsgemälden, die in vergoldeten Rahmen hingen. Dazwischen das Geweih eines Hirsches und ein Wandteppich in gedeckten Farben, der florale Muster und Vögel zeigte. In einer Nische stand sogar eine alte Ritterrüstung, die offensichtlich regelmäßig auf Hochglanz poliert wurde, denn das Metall schimmerte. Eine altmodische Lampe mit einem reichlich verzierten Glasgehäuse stand auf dem Schreibtisch der Assistentin.
»Dieses Gebäude gehörte früher einem Millionär, der ein Faible für Geschichte hatte«, erklärte Sally und machte eine weitschweifende Geste, die das gesamte Haus zu umfassen schien. »Ein Exzentriker, dem nichts zu teuer war. Mr Nash hat es ihm abgekauft und zu einem Hotel umgestaltet. Hier kommt die Kundschaft unter – bis auf die Tagesgäste, die keine Übernachtungen buchen. Das Hotel verfügt auch über einen großen Ballsaal, darin finden die Kurse für historisches Tanzen statt und wir veranstalten auch Bälle. Sie werden dort ebenfalls eingesetzt werden.«
Sie zeigte mir den genannten Saal. Dieser wirkte wie aus einer Jane-Austen-Verfilmung entsprungen: wieder die obligatorische Holzvertäfelung, darüber eine gemusterte Bordüre an den Wänden und schließlich eine mit Blumenranken geschmückte pastellblaue Tapete, die von hohen Säulenattrappen unterbrochen wurde. Letztere ragten ein Stück weit aus der Wand heraus und waren zum Teil vergoldet. Ein gewaltiger Kronleuchter hing in der Mitte des Saales, an einer Decke, die über reichlich dekorativen Stuck verfügte.
Ich wusste nicht so recht, was ich von all diesem Prunk halten sollte, auf jeden Fall machte er einiges her. Kurz darauf zeigte mir Sally die Parkanlagen, darin befand sich eine Ansammlung schwatzender, fröhlicher Menschen, die umherschlenderten, dazwischen auch einige in historischen Kostümen. Aus der Ferne war schwer zu sagen, ob sie hier arbeiteten, oder ob es Gäste waren, die einfach gern ihre Outfits spazieren führten. Ich blickte auf ein Meer aus bunten, in geometrischen Formen angelegten Blumenbeeten, schattenspendenden Bäumen, sogar einen Irrgarten aus in Form geschnittenen Hecken gab es hier und in einiger Entfernung leicht hügelige Wiesen. Das Wiehern eines Pferdes und Hufgeklapper erklang in der Nähe, kurz darauf fuhr eine offene Kutsche voller Menschen an uns vorbei. Auf den Wiesen hatten sich Leute in kleinen Gruppen zu einem Picknick eingefunden, bunte Decken wechselten sich ab mit dem Grün des Rasens.
Sally und ich legten einen längeren Fußmarsch quer über das Gelände hin und kamen schließlich bei einem dreistöckigen grauen Gebäude an, bei dem der Zugang durch einen Zaun mit Tür versperrt war. »Nur für Personal« war in historisierend verschnörkelter Schrift auf einem Schild zu lesen, das an der Tür hing.
Sally zog einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche und schloss auf. »Sie erhalten später auch einen Schlüssel«, wandte sie sich an mich.
Das Gebäude war innen so schlicht wie außen – die Wand im Flur war in einem schmutzigen Beige gestrichen, am Treppengeländer blätterte die weiße Farbe vom Holz und es roch durchdringend nach irgendeinem Reinigungsmittel. »Wir hatten hier kürzlich den Kammerjäger zu Gast, aber er hat die Plage beseitigen können.«
Eine Frau in einem langen, pastellvioletten Kleid mit Empire-Taille kam uns entgegen. »Hallo, Sally«, grüßte sie kurz, sah mich einen Moment lang neugierig an und ging nach draußen.
»Eine der Kleindarstellerinnen. Sie werden sie alle noch kennenlernen.«
Ich folgte Sally die Treppe hinauf, bis in den dritten Stock. Dort öffnete sie eine Tür mit den Worten »Das hier ist Ihr Quartier.«
Ach du Schande … Hatte ich das laut gedacht, oder gesagt? Das Zimmer war erschreckend klein und durch die Möbel darin – Bett, Kleiderschrank, Tisch, Stuhl und ein winziger Nachttisch – wirkte es sehr vollgestellt. Ein paar Tage, und mir würde hier die sprichwörtliche Decke auf den Kopf fallen!
Ich fühlte mich in meine Backpackerzeiten versetzt, als ich in winzigen Hostelzimmern in Europa übernachtet hatte. Selbst mein mickriges Ein-Zimmer-Appartement in New York war größer. Allerdings würde ich hier keine Miete zahlen müssen, das war auf jeden Fall ein Vorteil.
Ich musste eine reichlich betretene Miene gemacht haben, denn Sally sagte nun mit einem herzlichen Lächeln: »Ich weiß, es ist nicht groß. Aber wir haben unten im Erdgeschoss eine nette Lounge für die Kleindarstellenden und im Hinterhof gibt es einen schönen Garten mit Liegestühlen. Sie können dort in Ihrer Freizeit auch grillen.«
»Das würde ich auch noch gern sehen.«
Sally nickte. »Aber gern.«
Die Lounge, die sie mir zeigte, erinnerte mich wieder an manche Hostels in Europa – bei den Möbeln war nichts mit Retro-Chic, eher ein buntes Sammelsurium, einiges davon sicherlich aus dem bekannten schwedischen Möbelhaus. Das gab es bestimmt auch in Hartford, der Hauptstadt Connecticuts, die von hier circa eine Stunde mit dem Auto entfernt war. An der Wand hingen verschiedene Plakate, eines mit einem großen bunten Blumenstrauß, darunter ein Zitat, das ich aber auf die Entfernung hin nicht lesen konnte.
»Schön«, erwiderte ich aus reiner Höflichkeit. Es ist ja nur für ein paar Monate, beschwichtigte ich mich selbst. Ein Übergangsjob, bis mir klar wurde, wie ich weiter vorgehen wollte. Ich träumte immer noch von einer Karriere in Hollywood. Oder wenigstens in New York.
Im Garten standen mehrere Liegestühle und ein großer Grill, außerdem befand sich etwas weiter hinten eine Tischtennisplatte. Ich hatte kein Tischtennis mehr gespielt, seit ich auf der Schule gewesen war … nicht der schlechteste Zeitvertreib.
»Wir überweisen Ihnen Geld, damit Sie sich zwei Garnituren Regency-Kleidung kaufen können«, erklärte Sally mir. »Ashley Nagorski aus Hartford hat viele unserer Kostüme geschneidert. Sie können sich natürlich auch in New York ausstatten lassen, nur achten Sie bitte auf die historische Authentizität der Schnitte. Sie werden auch passende Schuhe brauchen, am besten kniehohe Stiefel. Die sind für Herren nicht ganz leicht zu finden, aber ich kann Ihnen einen guten Onlineshop dafür nennen. Außerdem ein paar Reitstiefel, am besten hochwertige. Die halten länger und sind bequemer. Ach ja, auf jeden Fall sollten Sie sich auch ein Paar schlichte schwarze Schuhe ohne Schnürung besorgen.«
»In Ordnung.« Ich merkte mir die von ihr genannten Einzelheiten. Klar, ich hatte schon historische Rollen im Theater gespielt und so manchen Kostümfilm gesehen – aber die Herrenmode des 19. Jahrhunderts war mir nicht mit allen Einzelheiten vertraut. Ich hatte auch keine Ahnung, wo ich in New York eine Schneiderei finden würde, die sich auf historische Authentizität spezialisiert hatte. Vielleicht war es tatsächlich besser, mich an die von Sally genannte Person in Hartford zu wenden.
Ich betrachtete die Mappe in meiner Hand und fasste einen Entschluss. »Ich würde den Vertrag gern lesen und dann unterschreiben. Darf ich mich dafür in die Lounge setzen?«
Sie schenkte mir ein erfreutes Lächeln. »Sehr gern. Bringen Sie ihn mir dann bitte ins Büro, wenn Sie fertig sind.«
Ich nickte ihr zu. »Das mache ich.«
Ich ging in die Lounge hinüber und studierte den Vertrag. Darin fand ich keine Klauseln, die meinen Argwohn erregt hätten. Es gab die üblichen Verschwiegenheitsvereinbarungen und es wurde im Detail aufgelistet, dass ich hier freie Kost und Logis hatte. Auch die Kosten für meine historische Arbeitskleidung waren vertraglich gesichert. Gut so. Unter meinen Verpflichtungen war unter anderem zu finden, dass ich keine Liebeleien mit Leuten aus der Belegschaft oder Gästen des Parks anfangen durfte. Das hatte ich sowieso nicht vor, also würde es mir nicht schwerfallen, darauf zu verzichten. Ich zog einen Kugelschreiber aus meiner Umhängetasche und unterzeichnete.
Gerade als ich den Raum verlassen wollte, trat ein hochgewachsener Mann in einem Regency-Outfit ein, der ein Handy am Ohr hatte. Er warf mir einen fragenden Blick zu, telefonierte aber weiter.
Ich brachte den Vertrag zurück ins Büro und lächelte Sally gewinnend an. »Ich habe ihn unterschrieben.«
»Wunderbar. Herzlich willkommen in unserer kleinen Regency-Familie«, sagte sie fröhlich.
»Sagen Sie, diese Person in Hartford, die historische Kostüme schneidert – können Sie mir die Adresse nennen?«
Sie reichte mir eine Visitenkarte. »Hier finden Sie sien. Ach, übrigens, Ashley arbeitet auf Rechnung. Sie müssen also nicht sofort bezahlen. Und hier ist eine Karte des Onlineshops für Stiefel.«
Ich dankte ihr, verabschiedete mich und verließ das Gebäude. Ein Blick auf die Visitenkarte – »Ashley Nagorski, Gewandmeister*in«, dazu eine Adresse, Telefonnummer und E-Mail.
Ich musste ohnehin zurück nach Hartford, weil ich mir dort einen Wagen für die Fahrt hierher gemietet hatte. Ich sah auf mein Handy. Gegen 17 Uhr würde ich in Hartford ankommen, die Fahrt dauerte rund eine Stunde. Also konnte ich auf dem Rückweg auch Ashley Nagorski aufsuchen – lieber gleich alles abhaken, was sich erledigen ließ.
Ich stellte das Navi des Autos auf die von Sally genannte Adresse ein. Auf der Fahrt sang ich laut einige Lieder mit, die im Radio liefen. Darunter war auch das dynamische Can't stop the feeling! von Justin Timberlake, zu dem ich im vergangenen Jahr mal in einem Club getanzt hatte. Ich sang Tenor und auch die höheren Töne in diesem Song bereiteten mir keine Schwierigkeiten. Schade eigentlich, ich kam viel zu selten zum Singen, dabei hatte ich in der Schauspielschule auch Musical-Gesang gelernt. Die grüne Frühlingslandschaft zog an mir vorbei, als ich den langen Veterans of Foreign Wars Highway entlangbrauste. Ich hatte ein gutes Gefühl bei diesem Job. Und es würde ja nicht für ewig sein …
Hartford war mit seiner Bevölkerung von rund 125000 Leuten eine Kleinstadt, verglichen mit New York. Hier gab es mehrere moderne Hochhäuser im Zentrum, aber auch viele ältere Häuser, deren Architektur aus dem 19. Jahrhundert stammen mochte. Ich sah auf die Visitenkarte – die Adresse lag im Stadtbezirk Sheldon/Charter Oak.
Wenige Minuten später parkte ich vor dem vierstöckigen historischen Wohnhaus, dessen Tudor-Revival-Architektur sich an der Renaissance orientierte, aber sicherlich erst Ende des 19. Jahrhunderts gebaut worden war: zweigeteilte Bogenfenster, angedeutete Säulen und dekorative, plastisch hervortretende Steinfriese, die sich waagerecht durch die Fassade zogen. Da hatte sich Ashley Nagorski ja ein passendes Domizil für die Tätigkeit mit historischem Schwerpunkt gesucht …
Ich klingelte an der kobaltblauen Tür. Ein Summton erklang und kurz darauf stand ich im Flur des Hauses, der über eine dekorative Tapete in Grün-Blau mit floralen Mustern verfügte. Im ersten Stock klingelte ich ein weiteres Mal und musste nicht lange warten, bis mir geöffnet wurde. Ashley Nagorski war etwas kleiner als ich. Dunkelbraune Augen mit langen Wimpern blickten mir aus einem Gesicht mit einigen Sommersprossen entgegen, umrahmt von kurzem braunem Haar, das leicht wellig war.
»Hallo«, begann ich. »Entschuldigen Sie, dass ich hier so unangemeldet reinplatze. Ich bin neu bei den Kleindarstellenden im Regency Parkundich komme gerade von dort. Sie sind mir empfohlen worden.«
Ashley Nagorski runzelte die Stirn. »Guten Abend. Ich habe eigentlich schon Feierabend …«
»Ich wohne nicht hier in der Gegend, ich bin aus New York angereist. Könnten Sie vielleicht eine Ausnahme machen?«
Mein Gegenüber musterte mich einen Moment lang mit kritischer Miene. »In Ordnung. Fangen wir doch noch einmal von vorn an. Ich bin Ashley Nagorski und mein Pronomen ist sier.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Leo Sanders.« Ich stockte kurz, ehe ich fortfuhr: »Mein Pronomen ist er.«
Ashley sah mich nun etwas freundlicher an und machte ein einladende Geste. »Kommen Sie herein, Leo.«
Sier hatte eine angenehm warme und eher tiefe Stimme. Ich folgte siem in die Wohnung. An der Wand im Flur hingen einige Fotodrucke – Modelle mit historischen Kostümen, außerdem historische Modezeichnungen. Dazwischen auch ein großer weißer Rahmen im Shabby-Chic-Stil, mit mehreren Fotos, die Ashley und andere Leute zeigten, vielleicht aus dem Freundeskreis, oder Verwandschaft?
Ashley führte mich in ein Arbeitszimmer. Hier lagerten verschiedene Stoffe im Regal, eine Nähmaschine stand auf einem Tisch, daneben Schnittmuster, einige Borten, ein Nadelkissen lag bereit und auf einem Wandregal sah ich mehrere Bücher, die sich wohl ebenfalls mit der Mode und Schneiderkunst beschäftigten.
»Ich habe schon mehrfach Leute aus dem Regency Park eingekleidet«, erklärte sier. »Das Ganze würde nun so laufen, ich zeige Ihnen einige Stoffe und die Schnittmuster und nehme Maß. Bis wann brauchen Sie die Kleidung?«
»Montag.«
»Welchen Montag?«
»Den kommenden.«
Ashley verzog den Mund. »Oh, das wird knapp. Aber ich sehe zu, dass ich das hinbekomme. Bis dahin wird aber nur eine Garnitur fertig, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Die zweite können Sie später abholen, das wird die Abendgarderobe.«
Puh, das war eine Erleichterung! Ich würde meinen neuen Job nicht in Jeans und Shirt antreten müssen – vermutlich wäre das zugleich mein letzter Arbeitstag gewesen.
»Vielen Dank!«
Sier lächelte höflich. »Das ist schon in Ordnung. Ich habe am Wochenende nichts vor und kann ein paar Überstunden einlegen. Sie haben Glück, ich habe gerade die Kapazitäten frei, mich direkt um Ihren Auftrag zu kümmern.«
In der folgenden Stunde wies mich Ashley in die Geheimnisse der Regency-Bekleidung für Gentlemen ein.
»Die Anzüge jener Zeit gehen zurück auf Beau Brummel. Er war modisch betrachtet ein großes Vorbild in der britischen Gesellschaft der Regency-Ära. Brummel hat den Uniform-Chic salonfähig gemacht, könnte man sagen.«
Sier blätterte eine Mappe auf und deutete auf eine gezeichnete Abbildung mit historischer Mode.»Sehen Sie hier – bei Bällen und anderen Festlichkeiten trugen die Herren Kniebundhosen über weißen Kniestrümpfen.«
Ashley blätterte weiter und zeigte mir die Abbildung einer Weste mit Vorder- und Rückseite. »Die Weite der Weste, wurde hinten im unteren Rücken mit einer Schnürung angepasst. Vorne wurde sie ein- oder zweireihig geknöpft.«
»Eine einreihige Knöpfung wäre mir lieber.«
Ashley nickte. »Sehr gern.«
Das Bild verriet, dass die Weste vorn bis zur Taille reichte. Der stehende Kragen umrahmte den weißen Hemdkragen.
»Passend dazu würde ich dann auch den Gehrock einreihig knöpfen, den Sie dann draußen tragen«, erklärte sier mit einem Lächeln.
»Ja, das wäre mir recht.«
»Gut.« Ashley sah mich direkt an, musterte mich von oben bis unten. Ob sier in Gedanken bereits Maß nahm? »Ich schneidere Ihnen vier Hemden, zwei Hosen, zwei Westen, zwei Gehröcke, außerdem bekommen Sie von mir eine Krawatte. Helle Kniestrümpfe und Schuhe müssten Sie sich selbst besorgen.«
»Ja, Sally hat mir einen Onlineshop für Stiefel genannt.«
»Das ist gut. Was die Farben angeht, damals waren dunkle gedeckte Töne für die Oberbekleidung modisch. Sie haben die Wahl, was ist Ihnen am liebsten für die Gehröcke und die Westen? Schwarz, Dunkelblau, Braun, Grau oder ein dunkles Grün?« Sier griff nach einem Album, blätterte darin und deutete auf einige Stoffmuster.
»Vielleicht einen Gehrock in Schwarz und einen in Dunkelblau?«
Sier lächelte anerkennend. »Gute Wahl, damit können Sie nichts falsch machen. Wenn Sie mir Ihre E-Mail-Adresse verraten, kann ich Ihnen einen Link zu einem Videotutorial senden, mit dem Sie lernen können, wie man damals Krawattenknoten gebunden hat. Das ist nicht so ganz einfach, aber das Tutorial ist gut. Die Krawatten sind übrigens weiß und eher mit einem Schal zu vergleichen. Und die Knoten sitzen recht fest am Hals. Das ist erst mal unbequem, aber Sie werden sich mit der Zeit daran gewöhnen.« Sier sah mich direkt an. »Kommen wir zu den Hemden, die nähe ich aus Leinen. Wundern Sie sich nicht, die sind recht lang und werden in die Hose gesteckt. Die Kragen sind abnehmbar und werden gestärkt, das müssen Sie auch regelmäßig tun. Fragen Sie am besten die anderen Kleindarstellenden, die kennen sich damit aus.«
Ashley ging zum Regal und zog einen Kragen aus einer Schachtel. Sier legte ihn sich um. Das Ding stand steif wie ein Brett nach oben. Sier lächelte. »Die werden gern ›Vatermörder‹ genannt. Aber es sieht gut aus und Sie kennen ja das Sprichwort – wer schön sein will, muss leiden.«
Verdammt, warum hatte ich mich bloß auf diesen Job eingelassen!? Ich hatte die Konsequenzen nicht vollständig bedacht. So ein Kostüm wäre nicht weiter wild, war mein Gedanke gewesen. Aber Tag für Tag darin herumzulaufen? Von morgens bis abends? Warum hatte ich diesen Vertrag bloß schon unterschrieben?
Sier nahm bei mir Maß. Ashleys Eau de Toilette, das ich nun deutlich roch, erinnerte mich schlagartig an meinen Exfreund, der es auch getragen hatte: CK One, ein Unisex-Parfüm.
Oh Mann, auch das noch! Ich zog unwillkürlich den Bauch ein und hielt die Luft an, als sier mich mit dem Maßband dort berührte. »Aber nicht doch. Bauch raus bitte, ich muss schon den genauen Umfang wissen.«
»Entschuldigung.« Ich atmete aus und sier umschlang meinen Bauch mit dem Maßband. Die Berührung elektrisierte mich und ich zuckte zusammen. Himmel, ich war echt schon zu lange Single und nichts mehr gewohnt! Um das zu überspielen, sagte ich: »Ähm … ich bin kitzlig.«
»Schon fertig. Jetzt die Schultern …«
Kurz darauf war Ashley fertig mit dem Maßnehmen, notierte sich alles und zeigte mir weitere Abbildungen. »Sehen Sie mal hier. Die Hosen reichten in der Regency-Ära bis zur Taille und waren praktisch immer hell. Das ist ein wenig unpraktisch, aber sie betonen damit die Beine. Der Hosenlatz ist vorn beidseitig geknöpft.«
»Oh, das ist aber kompliziert. Können Sie da nicht einen verdeckten Reißverschluss einnähen?«
Ashley sah mich an, als ob ich erzählt hätte, dass die Erde eine Scheibe sei. »Auf gar keinen Fall.«
»Schon gut«, ruderte ich zurück. »Es war nur eine Idee.«
Nach rund einer Stunde schwirrte mir der Kopf angesichts all der Details, die mir Ashley über die Regency-Mode erzählt hatte. Blieb zu hoffen, dass ich einigermaßen mit der unbequemen Kleidung zurechtkommen würde. Himmel, es gab noch so viel zu tun bis Montag!
Kapitel 2
Montag, 15. Mai 2017
Ich schloss die Tür hinter Leo Sanders. Er war mir auf Anhieb sympathisch gewesen und sah ziemlich schnuckelig aus. Seine eher stoppelig kurze Frisur entsprach nicht ganz der Regency-Mode, aber er konnte sich das dunkle Haar ja noch wachsen lassen. Die Regency-Herren hatten das Haar gern so getragen, dass es wie vom Wind zerzaust aussah und das ging natürlich nicht, wenn es raspelkurz war. Den Drei-Tage-Bart würde er sich auch abrasieren müssen, das passte nicht zur Ära.
Ob er wohl in einer Beziehung war? Wenn, nun eher eine Fernbeziehung? Ach, was waren das nur für Gedanken? Kaum kam ein attraktiver Mann um die Ecke … ich war einfach schon zu lange unfreiwillig Single. Meine letzte Beziehung lag fast drei Jahre zurück. Tim war an die Westküste gezogen, er hatte dort das Haus seiner Großeltern geerbt und noch dazu einen guten Job gefunden. Wir waren freundschaftlich auseinander gegangen, denn uns beiden war klar, dass wir nicht für eine Fernbeziehung gemacht waren. Hin und wieder textete er mir und ich erzählte ihm von meinem Alltag.
Eine Zeitlang hatte ich das Single-Dasein genossen, aber mittlerweile trieb mich die Sehnsucht um. Deshalb hatte ich wieder angefangen, mich mit Leuten zu verabreden und war wieder in einem Dating-Portal angemeldet. Ich seufzte. Ich sollte mir Leo aus dem Kopf schlagen. Ich hatte schon genug Probleme mit diesem verdammten Stalker. »Stalker« war vielleicht ein bisschen viel, aber wie sonst sollte ich einen Typen bezeichnen, der mich einfach nicht in Ruhe lassen wollte? Jared und ich hatten vor kurzem ein einziges Date gehabt. Es hatte mir nicht gefallen. Ich hatte versucht, ihm zu erklären, was nichtbinär sein bedeutet. Ich war offensichtlich die erste nichtbinäre Person, die ihm je begegnet war.
***
Das Restaurant bot alles, was man sich von einem romantischen Date erhoffen konnte: Schmeichelndes Kerzenlicht, ruhigen Jazz, der im Hintergrund spielte, hervorragendes Essen und guten Wein. Bis eben hatte ich das Date sehr genossen und gerade hatte ich noch einmal erwähnt, dass ich nichtbinär war. Denn auf die Erwähnung meines Pronomens zu Beginn unseres Gesprächs war Jared nicht weiter eingegangen.
Er trank einen Schluck und musterte mich nachdenklich. »Nichtbinär? Das verstehe ich nicht so ganz. Kannst du mir das bitte erklären?«
Ich unterdrückte ein Seufzen, ehe ich ihm antwortete. Wieder mal durfte ich den Erklärbär spielen und das war mir unangenehm. »Ich bin weder ein Mann, noch eine Frau. Ich bin genderqueer. Nichtbinär.« Ich nannte Jared noch einmal, wie schon zur Begrüßung, mein Pronomen.
Jared schüttelte ungläubig den Kopf. »Na ja, das kennt doch jeder – so eine innerliche feminine oder maskuline Seite. Dafür muss man doch keine eigene Bezeichnung nehmen.«
»Aber das ist es nicht. Es ist mehr als eine innere Seite. Es ist meine Identität«, betonte ich.
Das konnte oder wollte er nicht stehenlassen und diskutierte weiter mit mir darüber.In meinem Inneren begann es zu brodeln. Himmel, wie ich solche Gespräche hasste! Es war nicht das erste Mal, dass mir andere Leute meine Identität absprachen, aber es wurde jedes verfluchte Mal ein bisschen schmerzhafter. Nachdem ich meinen Wein viel zu schnell ausgetrunken hatte, stand ich auf und suchte demonstrativ die Herrentoilette auf, die in seinem Blickfeld lag. Eine Unisextoilette wäre mir lieber gewesen, aber das gab es in diesem Restaurant nicht. Andererseits konnte es sich gelegentlich für mich richtig schön empowernd anfühlen, eine Herrentoilette zu betreten ...
In dem hellen Raum, in dem gerade keine Leute außer mir waren, sah ich einen Moment lang in den Spiegel und redete mir im Stillen gut zu. Es ist okay, dieses Date abzubrechen. Wirklich. Das fehlte gerade noch, dass ich mir ein schlechtes Gewissen einredete, wenn ich diesen Typ sitzenließ.
Und das tat ich dann auch. Zunächst kehrte ich an unseren Tisch zurück. »Hör mal, ich glaube nicht, dass das mit uns beiden funktionieren wird. Ich werde jetzt meinen Drink bezahlen und gehen. Ich wünsche dir einen schönen Abend.«
Jared blickte mich verdattert an. »Aber … wir haben uns doch noch gar nicht richtig kennengelernt!«
»Tut mir leid«, erwiderte ich. Eines von der Sorte »Sorry, not sorry.«
Es war nicht das erste Date, das ich abbrach. Dieser ganze Dating-Zirkus war manchmal echt schwierig und anstrengend für mich. Auf der anderen Seite wollte ich nicht bis an mein Lebensende Single bleiben und irgendwie musste ich ja mal Leute kennenlernen. Das Date mit Jared hätte ich mir allerdings sparen können. Ich hatte keine Lust, meine Zeit mit Leuten zu verschwenden, die meine Identität komplett in Frage stellten oder nicht verstehen wollten – nicht einmal, wenn ich sie ihnen erklärte. Ich hatte keine Lust auf eine weitere Diskussion und sagte kühl: »Leb wohl, Jared.«
Mit diesen Worten ließ ich ihn sitzen. Ich holte meine Jacke von der Garderobe, ohne mich noch einmal nach ihm umzusehen und ging zur Theke, um zu bezahlen. Zum Glück kam Jared mir nicht hinterher, das hätte mir gerade noch gefehlt!
Doch das war nicht das Ende dieses hässlichen Liedes. Am nächsten Tag sandte Jared mir eine Textnachricht: Hi, Ashley.Wollen wir es nicht noch einmal versuchen? Ich würde dich wirklich sehr gern besser kennenlernen. Ich mag dich.
Ich antwortete ihm knapp: Kein Interesse. Alles Gute.
Aber das finde ich nicht fair, schrieb er mir zurück. Wenn wir uns erst einmal besser kennen, wirst du merken, was du an mir hast. Wir müssen ja nicht gleich miteinander ins Bett gehen, wenn du das nicht willst.
Also darum ging es ihm wohl: Er rechnete sich Chancen aus, mich flachzulegen.
Welchen Teil von Nein hast du nicht verstanden?, schrieb ich. Leb wohl.
Danach blockierte ich ihn.
Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass ich danach nie wieder von Jared hören würde. Aber zwei Tage später lieferte mir ein Mitarbeiter eines Blumenladens einen voluminösen und durchaus eleganten Blumenstrauß an die Haustür. Zartrosa Rosen, einige Lilien und Gardenien, eine wunderbare Duftmischung. Verwirrt griff ich nach der Karte. Im ersten Moment dachte ich, der Blumenstrauß sei ein Dankeschön vom Regency Park, wegen all der Kostüme, die ich in letzter Zeit für die Mitarbeitenden angefertigt hatte. Weit gefehlt. Auf der Karte befand sich eine Nachricht von Jared.
»Liebe Ashley«, ich zuckte zusammen bei diesem Misgendering, »Ich lade dich hiermit zu einem zweiten Date ein. Gib mir bitte eine Chance. Schreib mir gern, wann und wo wir uns treffen sollen.«
Darunter stand seine E-Mail-Adresse und seine Mobilfunknummer. Verdammt, ich hatte einen Stalker am Hals!
***
Der Blumenstrauß mit der Karte war am vergangenen Samstag geliefert worden und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Allmählich fragte ich mich auch, ob es Jared überhaupt um mich als Person ging oder ob er die »Schmach« nicht ertragen konnte, von jemandem abgewiesen worden zu sein.
Ich ging noch einmal im Geiste durch, wie es mit uns angefangen hatte. Über eine Dating-App, mit Textnachrichten. Da hatte ich bereits erwähnt, dass ich nichtbinär sei, aber er hatte nur mit einem schlichten »Okay« geantwortet und war nicht weiter darauf eingegangen. Unser Textverlauf war von seiner Seite aus freundlich und charmant gewesen. Hin und wieder hatte er mir eine Frage gestellt, aber nichts zu Persönliches. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass er ein Stalker war. Oder vielleicht hatte ich die entsprechenden Anzeichen einfach nicht wahrgenommen, weil ich mich damit nicht auskannte? Himmel, ich wurde nicht schlau aus dieser ganzen Angelegenheit … Und woher hatte er überhaupt meine Adresse? Shit! Warum hatte ich bloß erwähnt, dass ich selbständig tätig war und historische Kostüme schneiderte? So viele wie mich gab es nicht in Hartford; natürlich war ich über meinen Namen und meine Webseite leicht zu finden. So ein Mist, jetzt wusste der Kerl also auch noch, wo ich wohnte! Was sollte ich bloß tun?
Ich drehte das Radio aus, dort lief gerade Every Breath You Take von The Police. Der Songtext erinnerte mich direkt wieder an diesen elenden Stalker.
Ich rief meine beste Freundin Debby an. Bei ihr konnte ich mich immer ausheulen und sie akzeptierte mich genau so, wie ich war. Außerdem kannten wir uns schon seit der Vorschule.
»Hey, Debby.«
»Hallo, Ash. Na, was gibts? Alles klar bei dir?«
Ich erzählte ihr von dem Blumenstrauß. Von dem misslungenen Date hatte ich ihr schon berichtet. »Ich habe echt Angst, dass dieser Kerl hier auftauchen könnte.«
»Traust du ihm das zu?« Debby klang besorgt.
»Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn ja kaum. Aber das ist doch echt Mist, was der veranstaltet! Ich meine, ich hab ihm mehrmals deutlich signalisiert, dass ich kein Interesse an ihm habe. Was meinst du, soll ich ihm noch einmal schreiben und ihm erklären, dass er damit aufhören soll?«
»Gute Frage. Wenn du nicht reagierst, könnte er das in den falschen Hals kriegen. Aber das könnte auch passieren, wenn du ihm antwortest. Wow, ich möchte manchmal echt wissen, was in solchen Köpfen vor sich geht.«
»Hmm. Vielleicht hat er zu viele Filme gesehen, in denen es um die Eroberung eines Herzens geht und in denen es als romantisch dargestellt wird, wenn der Protagonist seinem Love Interest nachstellt und nicht lockerlässt?«
Debby antwortete nicht sofort. »Hmm … könnte sein. Gibt schließlich einen ganzen Haufen davon. Warte mal, mir fällt gerade ein, auf cbsnews.com habe ich neulich etwas über Stalking gelesen und wie man damit umgehen sollte. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde dazu geraten, den Stalker zu ignorieren und keinerlei Kontakt mit ihm herzustellen. Aber es stand noch mehr darin. Soll ich dir mal den Link senden?«
»Ja, mach das bitte. Und wie gehts dir so?«
Debby erzählte mir von ihrer Tochter und einigem Chaos, das sie auf der Arbeit erlebt hatte. Später, als wir unser Gespräch beendet hatten, las ich mir den Artikel durch, dessen Link Debby mir geschickt hatte. Sie hatte es richtig in Erinnerung gehabt: Den Stalker ignorieren und jeglichen Kontakt vermeiden. Außerdem sollte man Textverläufe, Briefe oder andere Dinge dokumentieren, als mögliche Beweismittel für die Polizei. Ich zog die Karte vom Blumenstrauß wieder aus dem Papierkorb. Zwar hatte ich Jared blockiert, hatte aber noch Zugriff auf unseren Messenger-Austausch und machte davon Screenshots. Vorsichtshalber machte ich auch ein Foto von dem Blumenstrauß. Der Artikel riet zu Wachsamkeit. In meiner Wohnung gab es keine Videoverbindung bei der Gegensprechanlage. Aber ich schätzte, dass ich Jared an der Stimme erkennen könnte. Hoffentlich. Der Artikel riet auch dazu, dass man Leuten, die einem wichtig waren, von dem Stalker erzählte. Debby wusste ja nun Bescheid.
Aber all das half mir nicht, die nagende Furcht zu vertreiben, die sich bleischwer über meinen Magen gesenkt hatte. Was für eine Scheiße! Meine einzige Hoffnung war, dass Jared nicht auf die Idee kam, persönlich herzukommen. Vielleicht würde er mich endlich in Ruhe lassen, wenn ich nicht weiter auf ihn einging?
Meine Kalender-App auf dem Handy piepte. Himmel, schon 18 Uhr! Um 19 Uhr hatte ich ein weiteres Date. Eigentlich hatte ich nach der ganzen Sache mit Jared keine Lust mehr darauf, wieder jemanden kennenzulernen, aber Danh und ich hatten uns schon vor zwei Wochen für den heutigen Abend verabredet und ich wollte ihn nicht versetzen. Zumal er einen sympathischen Eindruck auf mich gemacht hatte. Aber das hatte Jared auch … puh, ich war hin- und hergerissen.
Wir trafen uns in der Red Rock Tavern in der Capitol Avenue. Die gab es schon seit Anfang der 1930er und sie hatte ein rustikal-gemütliches Ambiente – mit Wänden, die halb mit hellem Holz vertäfelt waren, während der Rest aus Backsteinen bestand. Ich sah mich um.
»Hi, Ashley«, rief mir jemand entgegen. Ein strahlendes Lächeln, das mir bekannt vorkam. Danh sah ziemlich genauso aus wie auf seinem Profilbild in dem Dating-Portal. Er war mit Sicherheit einen Kopf größer als ich, hatte schwarzes Haar und ein Muttermal auf der linken Wange.
»Hallo, Danh.« Ich setzte mich ihm gegenüber. »Wartest du schon lange?«
Er schüttelte den Kopf. »Schön, dich zu sehen.«
Ich lächelte. »Dito.« Dann wusste ich erst mal nicht weiter. Wir hatten uns über das Datingportal schon über alles Mögliche ausgetauscht und ich rief mir ins Gedächtnis, was ich über ihn wusste. Danhs Eltern stammten aus Vietnam. Er arbeitete in der IT-Abteilung eines großen Versicherungsunternehmens, von denen es in Hartford ziemlich viele gab. Er hatte einen älteren Bruder, der eine Familie gegründet hatte. Außerdem ging Danh gern Bouldern, eine Sportart, mit der ich gar nichts anfangen konnte, und er spielte gern mit Freunden Poker. Letzteres war schon eher nach meinem Geschmack, aber ich spielte nicht gern um Geld, dafür war es bei mir zu knapp. Außerdem hatte er mal erwähnt, dass er polyam sei, aber gerade Single. Wir machten ein bisschen Smalltalk, sprachen über das Wetter, die Speisekarte, bestellten eine Flasche Wein, die wir uns teilen wollten. Danh lächelte mich gewinnend an. Seine tiefe und zugleich weiche Stimme machte auf mich einen einschmeichelnden Eindruck. Vielleicht hatte ich endlich mal Glück in Beziehungsdingen? Aber das mit der Polyamorie ließ mir keine Ruhe.
»Sag mal, du hast ja am Anfang mal erwähnt, dass du polyam bist und zurzeit Single …«
»Ja, das war vor drei Wochen noch so. Letzte Woche hatte ich ein Date mit Matt und wir sehen uns nächste Woche wieder. Ich habe ein gutes Gefühl bei ihm. Daraus könnte was werden.«
Soviel zu meinem Glück in Beziehungsdingen … Ich musste etwas klarstellen, aber ich wusste nicht, wie ich ihm das sagen sollte. Stattdessen griff ich zur Speisekarte, obwohl wir schon das Essen bestellt hatten. Aber ich konnte die Buchstaben nicht zu sinnvollen Worten zusammensetzen, weil in meinem Inneren die Enttäuschung brodelte.
Danh blickte mich fragend an. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, also, weißt du … für mich ist das nichts. Ich weiß, dass Polyamorie auf gegenseitiger Einvernehmlichkeit aller Beteiligten basiert, dass alle offen und ehrlich ihre Bedürfnisse kommunizieren und dass da Lügen, Betrug, Seitensprünge et cetera keinen Platz haben. Das finde ich klasse, aber ich muss dir auch ganz ehrlich sagen: Ich kann es mir nicht vorstellen, Teil eines, ähm, wie nennt man das? Ein Teil eines polyamoren Beziehungsgeflechts zu sein. Ich respektiere natürlich, dass du so leben magst, aber ich persönlich kann das nicht.«
Danh biss sich auf die Lippe. »Ich dachte, du wärst offen für so etwas, ich hatte es ja gleich am Anfang erwähnt.«
»Das war mein Fehler – ich hätte gleich zu Beginn genauer nachfragen müssen. Tut mir leid, dass ich falsche Hoffnungen in dir geweckt habe.«
Danh sah mich ernst an. »Okay. Hör mal … das hier wäre ja nun der typische Zeitpunkt, an dem viele Leute ein Date abbrechen würden.« Er lächelte einen Moment lang traurig und lachte auf. »Ich hab das echt schon erlebt, wegen der Polyamorie. Aber wir haben schon unser Essen bestellt und ich habe einen Bärenhunger. Wenn du magst, essen wir noch zusammen. Einfach so. Nicht als Date. Was hältst du davon?«
Das klang nicht schlecht in meinen Ohren. Wenn ich Danh einfach als einen Bekannten betrachtete, mit dem ich mich zum Essen verabredet hatte – warum nicht? Außerdem freute ich mich auf den Wrap, den ich bestellt hatte. »Ist gut. Ich ignoriere dann auch mal das romantische Kerzenlicht«, erwiderte ich mit einem Kichern.
Danh lachte ein weiteres Mal. »Erzähl doch mal, was waren denn so deine krassesten Dates? Wenn ich fragen darf?«
»Oh, das letzte liegt noch gar nicht so lange zurück.« Ich erzählte ihm von meinem Stalker.
Danh hörte mir mit ernster Miene zu. »Ach du Schande!«, rief er schließlich. »Mensch, das tut mir echt leid für dich. Vielleicht solltest du zur Polizei gehen? Wenn der Kerl dich nicht in Ruhe lässt, meine ich.«
»Das habe ich auch schon überlegt.