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"Nein, ist es nicht. In jedem Songtext steckt etwas von euch allen. Jeder Beat gab euch den Takt, und jede Note untermalte, was ihr füreinander wart. Du hast deine Musik verloren, als du die beiden aus deinem Leben verbannt hast. ..." Die querschnittsgelähmte Anina hat es geschafft. Sie spielt die erste Geige im renommierten London Philharmonie Orchester, sie hat eine Gastprofessur an der Royal Academy of Music und ist mit dem berühmten Dirigenten Sir Gregory Brandon verlobt. Auf den ersten Blick scheint ihr Leben perfekt zu sein, doch tief in ihrem Inneren sehnt sie sich nach der unbeschwerten und leidenschaftlichen jungen Frau zurück, die sie einst war. Als Anina Gregory mit einer anderen Geigerin erwischt, bricht ihre Welt zusammen. Zutiefst verletzt flüchtet sie in das vertraute Nest ihrer Eltern, um Trost zu finden. Dort begegnet ihr unerwartet Liam, ihre große Liebe aus vergangenen Tagen. Die Begegnung mit Liam weckt in ihr vergessene Gefühle und lässt sie zweifeln. Doch Anina weiß, dass es nicht der Rollstuhl ist, der sie von Liam und ihren einstigen Freundinnen trennt, sondern ihr eigenes Schweigen. Vor einer weiteren Kreuzung in ihrem Leben stehend, muss Anina eine entscheidende Frage beantworten: Kann sie Gregory seinen Seitensprung verzeihen und ihre Zukunft mit ihm akzeptieren? Oder findet sie den Mut, ihr Schweigen zu brechen und sich selbst sowie allen anderen eine zweite Chance zu geben? Anina my music ist eine ergreifende Liebesgeschichte über den Kampf einer außergewöhnlichen Frau, ihre Vergangenheit loszulassen und ihre wahre Stimme wiederzufinden. Inmitten von Musik, Leidenschaft und innerer Stärke entfaltet sich Aninas emotionale Reise, die den Leser mitreißt und zum Nachdenken über die Bedeutung von Vergebung, Selbstfindung und dem Mut, das Schweigen zu brechen, angeregt.
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WINTERGRÜN BAND 3
Deutsche Erstausgabe Dezember 2023
Copyright © 2023 Kerstin Rachfahl, Hallenberg
Lektorat, Korrektorat: Martina Takacs, dualect.de
Buchcover: Florin Sayer-Gabor - 100covers4you.com
Bilder: Adobe Stock von Artsiom P
Sensitiv Reading erfolgte durch J.K.
Die Liedtexte entstanden in Zusammenarbeit mit der KI Claude und ChatGBT
Kerstin Rachfahl
Heiligenhaus 21
59969 Hallenberg
E-Mail: [email protected]
Webseite: www.kerstinrachfahl.de
Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
1. Nächtliche Begegnung
2. Liam
3. Zu Hause
4. Werkstatt
5. Edith
6. Matinee
7. Gespräche
8. Eine Massage
9. Konfrontation
10. Besuch
11. Pflasterarbeiten
12. Eine Freundin
13. Wieder zu Hause
14. Eine Wohnung
15. Das Anwesen
16. Wohin?
17. Familienbande
18. Ein Anruf
19. Wiedersehen
20. Pläne
21. Geständnisse
22. Zweifel
23. Abschied
24. Neubeginn
Epilog
Nachwort
Bücher von Kerstin Rachfahl
Mit der rechten Hand führte Anina eine Vollbremsung aus. Die elektronischen Sicherheitssysteme reagierten. Sie kannte das Gefühl, nichts mehr tun zu können, außer dem Unvermeidbaren ins Auge zu sehen. Das Auto schlingerte, als erst das rechte Vorderrad, dann das Hinterrad in die vom Regen aufgeweichte Erde des Seitenstreifens geriet, dann schrubbte es am Leitpfosten entlang. Sie sah den Baumstamm auf sich zukommen. Ich will nicht sterben, schoss es ihr durch den Kopf. Krampfhaft hielt sie das Lenkrad umfasst, wartete darauf, dass der Wagen endlich zum Halten kam. Die Landstraße war schmal, ohne Kennzeichnung in der Mitte, und führte durch dichte Bewaldung. Sie hätte die normale Strecke nehmen und nicht bei der Schreinerei vorbeifahren sollen, hätte dem Reh nicht ausweichen dürfen. Frieda. Der Mann, um den sie den Arm gelegt hatte. Der Hund. Elias. Gott, bitte gib mir noch eine Chance, es wiedergutzumachen.
Es dauerte, bis Anina begriff, dass das Auto stand. Sie blinzelte. Direkt vor der Schnauze ihres Leprechaun ragte der Baumstamm in die Höhe. Sie löste die Hände vom Lenkrad. Am ganzen Leib zitternd lehnte sie sich langsam zurück, atmete ein paar Mal tief ein und aus – und schrie auf, als an ihre Scheibe geklopft wurde.
»Anina? Alles in Ordnung mit dir?«
Sie bewegte sich nicht und starrte nur durch das Fenster auf ein menschliches Gesicht, ohne einzelne Details wahrzunehmen. Alles wirkte verschwommen, aber sie kannte die Stimme. Das war schlicht unmöglich.
»Anina? Ich mache jetzt die Tür auf.«
Sie rührte sich nicht. Ihr war eiskalt. Aber wenn sie tot war, wieso war ihr kalt und wieso hob und senkte sich ihre Brust? Ihr Herz raste. Die Tür wurde geöffnet. Komisch. Normalerweise ließ sich die Tür nur öffnen, wenn sie die Parkfunktion eingestellt hatte. Das Fahrzeug stand. Sie grinste, brach dann in hysterisches Lachen aus, das in Schluchzen überging. Liam öffnete die Tür, griff über sie hinweg, um den Gurt zu lösen, ging in die Hocke und zog sie behutsam in seine Arme. Sie lehnte die Wange an seine Brust und schloss die Augen. Für einen Moment schmolz die Zeit zusammen. Sie war wieder achtzehn und bis über beide Ohren in den Leadsänger der Band LBMG verliebt. Die Wärme seines Körpers, der gleiche Takt seines Herzens und derselbe Geruch. Wie konnte es sein, dass sich nach all den Jahren nichts verändert hatte? Er strich ihr sanft mit der Hand über den Rücken. Die Kälte wich ein Stück weit aus ihrem Körper. Ihr Blut fing an, schneller zu zirkulieren.
»Bist du verletzt?«
Schlagartig kam Anina wieder in der Realität an. Sie hob den Kopf, lehnte sich zurück und presste ihm die Hände gegen die Brust, damit er sie aus seiner Umarmung ließ. Zögernd kam er ihrer Forderung nach. Sie wischte sich mit dem Handrücken über das vom Heulen feuchte Gesicht und strich sich die Haare zurück. Entschlossen drückte sie den Rücken durch.
»Nein.«
Liam hockte weiterhin vor der offenen Autotür. »Ich dachte …« Er brach den Satz ab, ließ den Blick zu dem Baum wandern. Sie folgte seinem Blick.
»Ja. Ich auch.«
»Wieso hast du gebremst?«
»Ein Reh.«
Erst langsam nahm Anina wahr, dass ihr Fahrzeug seitlich gekippt im Graben lag. Der Bildschirm funktionierte. Das Hindernis vor ihr wurde mit einem roten Bogen gekennzeichnet, der anzeigte, dass sie zu nah aufgefahren war.
»Ich rufe die Rettung an.«
»Nein.«
»Anina, du hast einen Schock und womöglich Verletzungen, die du nicht wahrnimmst.«
»Mir geht es gut.«
Liam schnaubte.
»Ehrlich.«
Sie drehte sich in ihrem Sitz um. Der Rollstuhl stand fest, genauso wie ihr Rucksack und die Violine. Igor. Sie streckte sich, bis sie mit der Hand den Violinkasten erreichte, und zog ihn zu sich auf den Schoß. Sie öffnete den Verschluss. Erleichtert stieß sie die angehaltene Luft aus, strich sanft über den Korpus. Erst dann schloss sie den Kasten wieder und stellte ihn zurück an seinen Platz. Der nächste Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Die Unfallstelle musste abgesichert werden. Das Warndreieck lag eingepackt im Kofferraum. Doch wie sollte sie drankommen? Selbst wenn die Hebevorrichtung für den Rollstuhl in der Schräglage des Fahrzeugs funktionierte, würde sie den Wechsel vom Fahrersitz auf den Stuhl nicht schaffen.
»Vergiss es. Du kannst nicht mit dem Auto aus dem Graben fahren. Es muss abgeschleppt werden.«
Liam erhob sich und lief in die Richtung, aus der sie gekommen war. Panik stieg in ihr auf. Sie konnte nichts machen. Sie war vollkommen hilflos. Als sie sich in ihrem Sitz umdrehte, bemerkte sie erst die Scheinwerfer und die Warnblinklichter an dem anderen Auto, mit dem Liam gefahren sein musste. Es dauerte, dann tauchte er wieder an ihrer Seite auf und ging erneut in die Hocke.
»Ich habe den Pannendienst angerufen. Sie können erst in zwei Stunden jemanden schicken, der dich aus dem Graben zieht.«
»In zwei Stunden?«
Er zog eine Grimasse. »Heute scheint einiges los zu sein. Ich habe versucht, es dringlich zu machen. Ich kann den Notruf der Polizei …«
»Nein. Ich warte.«
»Du kannst nicht zwei Stunden in deinem Auto auf den Pannendienst warten.«
»Natürlich kann ich das.« Sie drückte auf einen Knopf und aktivierte ihr eigenes Warnlicht. »Im Kofferraum ist die rote Tasche mit dem Warndreieck. Bitte stell es auf, und dann kannst du fahren.«
Er starrte sie an. »Das ist nicht dein Ernst.«
Sie richtete sich ein Stück höher in ihrem Sitz auf. »Doch. Ist es.«
»Einen Teufel werde ich tun, dich mitten auf einer einsamen Landstraße, die durch den Wald führt, in der Dunkelheit allein zu lassen.«
»Mir geht es gut und ich sitze in meinem Auto im Warmen.«
»Oh ja, das sehe ich.«
Entschlossen schob er ihr seinen rechten Arm hinter den Nacken und den linken unter ihre Knie, wobei sie Letzteres nicht spürte, nur sah. Sie bekam Panik.
»Was hast du vor?«
»Wonach sieht es aus? Leg deine Arme um meinen Hals.«
»Nein. Du hebst mich nicht aus dem Auto.«
Er hob sie an, und sie legte ihm rasch die Arme um den Nacken.
»Lass mich verdammt noch mal runter.«
Ohne ihre Worte zu beachten, trug er sie zu seinem Auto und setzte sie achtsam auf dem Beifahrersitz ab. Kaum saß sie sicher, ließ sie seinen Nacken los und verpasste ihm eine Ohrfeige. Er besaß die Frechheit, zu grinsen, und sie verstand genau weshalb. Auf seiner Wange zeichnete sich der rote Abdruck ihrer Hand ab. Ihre Handinnenfläche brannte von dem Schlag. Er war schlau genug, sein Gesicht aus ihrer Reichweite zu bringen.
»Weißt du, die letzte Frau, die mir eine Ohrfeige verpasst hat, wurde vom Richter zur Ableistung von Sozialstunden verurteilt.«
»Und der letzte Mann, der glaubte, er könne mich gegen seinen Willen in ein Auto verfrachten, landete im Knast.«
Er hob überrascht die Augenbrauen. »Ehrlich?«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg. Erst jetzt nahm sie wahr, dass sie in einem Tesla saß. Ein Model Y, das auf ihrem Model 3 basierte, mit dem Unterschied, dass es die SUV-Variante war.
»Du fährst einen Tesla?«
»Nein. Das ist Sanders Auto.«
»Sander?«
»Der Mann, der dich gegrüßt hat, als du vor der Einfahrt zur Schreinerei standest.«
Der Mann, um den Frieda ihren Arm gelegt hatte. Nicht Liam, sondern Sander.
»Du bist mir nachgefahren.«
»Ich dachte erst, es wäre ein Hirngespinst, dich in diesem Auto sitzen zu sehen.«
»Du hast mich erkannt?«
»Ich würde dich immer und überall erkennen.«
Sie blickte in seine whiskeyfarbenen Augen. Seine dunkelblonden, gewellten Haare trug er länger als bei seinem letzten Auftritt.
Er sprach zuerst.
»Ich dachte, du wärst meinetwegen gekommen.«
»Deinetwegen?«
»Okay. Bevor wir das Gespräch fortsetzen – wohin soll ich dich fahren?«
»Mich fahren?«
»Du kannst keine zwei Stunden in deinem Auto sitzen und auf den Abschleppdienst warten. Es herrschen gerade mal sieben Grad draußen.«
»Ich weiß.«
Sie schaute auf die offene Tür, vor der er weiterhin stehen blieb. Er verstand den Wink, schloss die Beifahrertür, ging hinüber und öffnete die Fahrertür mithilfe einer Karte, die ähnlich aussah wie eine Kreditkarte, nur dass sie schwarz war und das Tesla-Zeichen in Silber aufgeprägt hatte. In ihrem Portemonnaie steckte die gleiche Karte für ihr Fahrzeug. Normalerweise fuhr sie mit der App auf ihrem Handy, die wie ein digitaler Schlüssel funktionierte.
Er setzte sich und schlug die Tür zu.
»Also, wohin soll ich dich fahren?«
»Nirgendwohin. Ich warte auf den Abschleppdienst.«
»Wie gesagt, das dauert zwei Stunden, und ob dein Auto dann noch fahrtüchtig ist, ist eine andere Frage.«
Anina betrachtete ihren Leprechaun, der aussah, als hätte er keinen einzigen Kratzer abbekommen. Nun ja, sie sah nur den Kofferraum und die linke Seite, da die rechte im Graben hing. Abgesehen davon hatte sie den Leitpfosten erwischt.
»Mist. Du musst schnell meinen Rucksack und Igor da rausholen. Mist, Mist, Mist! Ich hoffe, es hat sich noch nicht verschlossen.«
»Und wenn, dann öffnest du es wieder.«
»Ach ja? Und wie, bitte schön, wenn mein Smartphone und die Schlüsselkarte im Rucksack stecken?«
Liam sprang aus dem Auto und rannte hinüber. Zum Glück ließ der Wagen sich öffnen. Er kam zurück und verstaute ihre Sachen hinter seinem Sitz.
»Wie bekomme ich deinen Rollstuhl aus der Hebevorrichtung?«
»Ich bleibe hier. Du kannst mich entweder zurück zu meinem Auto bringen oder du wartest mit mir zusammen auf den Abschleppdienst. Deine Entscheidung.«
Er drehte sich in seinem Sitz halb zu ihr, verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete sie. Anina drückte auf das Klimasymbol auf dem Bildschirm auf ihrer Seite und aktivierte die Sitzheizung auf dem aufgeklappten Symbol.
»Fährst du häufiger bei Frieda vorbei?«
»Ich lebe in London.«
»Ich weiß, und du bist mit diesem Stardirigenten verlobt. Wie heißt er noch gleich? Sir Gregory Bradford?«
Sie warf ihm einen raschen Seitenblick zu. Liam sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Woher weißt du …« Sie brach ab. Vor ihren Augen sah sie wieder Francine, die Beine um Gregorys Hüften geschlungen, den Oberkörper an der Wand, während ihr Verlobter in sie hineinstieß. Die ekstatischen Schreie. Wie sie ihre Hände in seine Haare gewühlt hatte und ihn auf Französisch anspornte. Erst war Anina im Schock bei dem Anblick erstarrt. Leise hatte sie den Rollstuhl gewendet, um unbemerkt aus dem Zimmer zu flüchten, und war mit dem einen Rad am Türrahmen hängen geblieben.
»Anina? Ist alles in Ordnung mit dir? Ist dir schlecht? Hast du Schmerzen? Du bist käseweiß im Gesicht.« Seine Hand näherte sich ihrer Schulter.
Sie wich zurück, warf ihm einen wütenden Blick zu.
»Mir geht es gut.«
»Es ist wegen ihm, oder? Der Typ ist ein echtes Arschloch.«
»Ach ja? Und das weißt du woher?«
»Von meiner Stiefmutter. Sie kennt jemanden, der jemanden kennt, mit deren Tochter er eine Affäre hatte. Kurz nachdem er sich mit dir verlobt hat.«
Sie sah nach vorn durch die Windschutzscheibe zu ihrem Tesla, dem sie den Namen Leprechaun gegeben hatte. Den Namen eines irischen Kobolds.
»Jemand, der jemanden kennt, dessen Tochter …«
Sie hielt inne. Die ganze Welt wusste es. Die Presse, die sozialen Medien, sie alle würden die Story aufgreifen, und wieder einmal wäre sie das arme Opfer.
Sie schob das Kinn vor. »Ich weiß, dass er Affären hat.«
»Du weißt es?«
»Ja.«
»Seit wann?«
»Das ist eine Sache zwischen mir und Gregory.«
»Bist du völlig übergeschnappt?«
»Wir führen eine offene Beziehung.«
»Offen? Für wen? Du bist echt eine miserable Lügnerin. Anina, du bist ein Ausnahmetalent.«
Sie schnaubte.
Er ignorierte ihre Reaktion und fuhr fort. »Du hast es nicht nötig, um Almosen zu betteln. Die ganze Welt liegt dir zu Füßen.«
»Mir zu Füßen? Du meinst vor den Rollen? Weißt du, wie viele Behinderte in einem Symphonieorchester spielen?«
»Du bist nicht die einzige.«
»Mag sein, doch du kannst sie an einer Hand abzählen.«
»Dann pfeif auf die erste Geige.«
»Und auf meinen Lehrstuhl bei der Royal Academy of Music?«
»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«
»Sir Gregory Bradford ist einer der vier Vice Presidents des Governing Bodys.«
»Komm nach Hause.«
»Weshalb sollte ich?«
»Für dich. Für Wintergrün. Für Jasmin und Frieda. Für eure Fans.«
»Es gibt kein Wintergrün mehr. Unsere Band brach an dem Tag auseinander, an dem du in unser Leben getreten bist.«
»Ich?«
Sie wandte sich ihm zu. Er sah ernsthaft überrascht aus. Seine Augen leuchteten in der Dämmerung wie die einer Katze. Die dichten, dicken Augenbrauen waren eine Spur dunkler als seine Haare. Der Dreitagebart verlieh ihm etwas Verwegenes. Früher hatte er sich immer glatt rasiert. Die hohe Stirn mit den Geheimratsecken ließ sein Gesicht länger wirken. War das der Grund, weshalb er sich für den kurzen Bart entschieden hatte?
Sie konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. »Du. Du bist mit Jasmin ins Bett gestiegen. Du hast mich glauben lassen, ich würde dir etwas bedeuten, und dann hast du mit Frieda geschlafen.«
»Dich liebe ich.«
»Wieso hast du dann mit Frieda geschlafen?«
Er senkte den Blick, fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Es dauerte, bis er den Kopf wieder hob. Er sah ihr direkt in die Augen.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es keine Bedeutung hatte, weder für sie noch für mich.«
»Keine Bedeutung? Elias ist dein Sohn, und das hat keine Bedeutung für dich?«
»Du weißt, dass Elias … Seit wann weißt du es?«
»Sie hat es mir damals auf der Rückfahrt im Auto an den Kopf geworfen. Was glaubst du, weshalb sie in der Nacht sterben wollte? Weil sie zu feige war, die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen. Ich hasse sie für das, was sie mir angetan hat.«
»Und deshalb fährst du an der Schreinerei vorbei?«
Sie schwieg, blickte wieder durch die Windschutzscheibe auf ihr Auto. Warum nur hatte sie diesen Weg genommen? Sie hörte, wie Liam neben ihr tief durchatmete.
»Ich wusste bis vor Kurzem nicht, dass ich der Vater ihres Sohnes bin.«
Sie schnaubte.
»Ehrlich. Hätte ich es gewusst …«
»Hättest du ihr Elias weggenommen?«
»Nein.«
Mit einem Ruck wandte sie sich ihm zu.
»Du hättest nur eins und eins zusammenzählen müssen. So schwer ist das nicht.«
»Als ob ich der Einzige gewesen wäre, der mit ihr geschlafen hat.«
»Du gottverdammter Mistkerl. Was bildest du dir ein? Frieda ist nie mit jemandem einfach so ins Bett gestiegen. Für sie war das keine Art der Entspannung wie für Jasmin. Sie hätte niemals mit dir geschlafen, wenn sie nicht etwas für dich empfunden hätte.«
»Du begreifst es bis heute nicht, oder? Bei der ganzen Aktion ging es nie um mich. Es ging ihr ganz allein um dich und die Rolle, die sie in deinem Leben spielte. Sie war eifersüchtig auf mich, auf das, was uns miteinander verband. Sie wollte einen Keil zwischen uns treiben, und das ist ihr gelungen.«
»Nein. Sie hatte Angst, dass ich deinetwegen die Band verlasse. Sie hat dir nicht über den Weg getraut. Sie war der Meinung, dass Jasy für dich nur ein Mittel zum Zweck war, dein Trittbrett zum Erfolg, und dass deine Gefühle für mich nicht echt waren. Ich wollte ihr nicht glauben. Ich dachte, das zwischen uns wäre …«
Anina schüttelte den Kopf, wütend, dass es selbst nach all den Jahren so weh tat. Sie kämpfte mit den Tränen. Sie hatte sich geschworen, nie wieder auch nur eine einzige Träne über den One-Night-Stand von Frieda und Liam zu vergeuden.
»Du bist die Frau, die ich liebe. Die Frau, die ich immer lieben werde. Wie viel du mir bedeutest, ist mir erst bewusst geworden, als ich dich verloren hatte.«
»Spar dir deinen kitschigen Songtext für deine weiblichen Fans auf, die du zu deinen Liebessongs auf die Bühne holst. Du kannst froh sein, dass du nur eine Ohrfeige von Jasy verpasst bekommen hast und dich bisher niemand angezeigt hat. Was man nicht alles für den Erfolg und Ruhm tut. Ist dir klar, was du damit emotional bei den jungen Mädchen anrichten kannst?«
»Das war nicht meine Idee, sondern die meiner PR-Managerin.«
»Verstehe, und du hast dich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Ganz zu schweigen von all den Affären, die du die letzten Jahre hattest. Alicia, Vanessa, Lana, Bailey, Tamia, Susan, Chloe, Raven und jetzt Carla? Die kleine Schwester von Jasy? Wie alt ist sie? Siebzehn, oder ist sie schon achtzehn?«
Er starrte sie an. In seinem Gesicht arbeitete es. Langsam zogen sich seine Lippen zu einem angedeuteten Lächeln auseinander. Die süßen Grübchen erschienen in seinen Wangen.
»Du hast mich nie aus den Augen verloren.«
Ohne nachzudenken öffnete sie die Tür, und erst im letzten Moment fiel ihr ein, dass sie nicht aus dem Auto flüchten konnte. Sie atmete heftig. Die Tür schloss sich wieder wie von Geisterhand. Er hatte das Symbol auf dem Touchscreen berührt.
»Ich war auf drei von deinen Konzerten«, sagte er. »Es war gar nicht leicht, dort unerkannt reinzukommen. Das eine Mal habe ich mich als Frau getarnt. Ich saß in der dritten Reihe, direkt in deiner Blickrichtung.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte aus der Windschutzscheibe. Wie lange noch, bis dieser verfluchte Abschleppdienst kam? Sein Telefon klingelte. Erschrocken zuckte sie zusammen. Liam nahm das Gespräch über die Freisprechanlage an.
»Hi, Sander.«
»Ist was passiert?«
»Wie kommst du darauf?«
»Mein Auto steht seit einer knappen Stunde auf einer Landstraße mitten im Wald. Deshalb.«
Liam sah zu ihr rüber. Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Ich muss nachdenken.«
»Und das kannst du nicht im Schuppen?«
»Erzähl mir nicht, dass du noch nach Hause fahren wolltest.«
»Frieda macht sich Sorgen, und Jasy und dein Bruder auch.«
»Die beiden sind da?«
»Spieleabend? Vergessen? Du sagtest, du machst nur eine kurze Tour, um den Kopf freizubekommen. Also ist alles in Ordnung bei dir?«
»Ja, und ich bin clean.«
»Weshalb stehst du dann seit einer Stunde im Wald?«
»Noch mal. Ich muss nachdenken.«
»Okay, ich setze mich jetzt in Friedas alte Karre und komme zu dir.«
»Nein. Nicht.«
»Liam, es ist mir scheißegal, was du …«
»Ich bin nicht allein.«
Stille am anderen Ende.
»Hast du den Anruf auf der Freisprechanlage angenommen?«
»Ja.«
Anina hörte über die Lautsprecher, wie sich auf der Gegenseite die erste Tür öffnete und schloss, dann die nächste. Derweil nahm Liam sein Smartphone von der Ablage, entsperrte es mit seinem Gesicht und nahm das Gespräch von der Freisprechanlage zurück auf sein Telefon.
»Ja«, beantwortete er die Frage von der anderen Seite, die Anina jetzt nicht mehr hörte.
»Sie hatte eine Panne mit dem Auto, und wir warten auf den Abschleppdienst.« – »Nein. Fangt ohne mich an. Ich weiß nicht, wie lange es noch dauert.« – »Keine Sorge, deinem Baby passiert schon nichts.«
Er legte auf. Anina sah die gemütliche Holzküche mit dem großen Esstisch vor sich. Wie oft sie dort mit den anderen beiden gesessen hatte, bei Chicken Nuggets oder Schnitzel mit Pommes, Ketchup und Mayo. So was gab es in ihrem Elternhaus nie. Genauso wenig wie Spaghetti Bolognese oder Heidelbeerpfannkuchen mit Ahornsirup. Scheinwerfer leuchteten von hinten ins Auto. Erschrocken duckte sich Anina, aber es war nur der Abschleppwagen, der früher als angekündigt gekommen war.
Liam parkte Sanders Auto neben dem Transporter der Schreinerei. Es war cool gewesen zu sehen, wie der Abschleppdienst Aninas Tesla aus dem Graben gezogen hatte. Das Fahrzeug hatte ein paar Kratzer und eine Delle auf der rechten Seite abbekommen, mehr nicht. Ohne Probleme war sie eingestiegen und weitergefahren. Selbst wenn das Auto vor dem Baum gelandet wäre, wäre Anina unbeschadet geblieben. Diesmal. Er dachte zurück an den Tag vor acht Jahren. Über die Nachrichten hatte er von dem Unfall der Bandmitglieder von Wintergrün erfahren. Die Bilder des zerknautschten Passats vor dem Baum, der sich regelrecht um den Stamm gewickelt hatte. Die aufgehebelten Türen, der winzige Raum, der der Beifahrerin geblieben war. Sein stilles Gebet, dass Jasy oder Frieda dort gesessen hatte, und nicht Anina.
Wie er sich die Finger wund telefoniert hatte, um herauszufinden, in welches Krankenhaus die drei gebracht worden waren. Wie er erfahren hatte, dass man Anina aufgrund ihrer schweren Verletzungen im Lendenwirbelbereich direkt per Hubschrauber in eine Spezialklinik geflogen hatte. Ihre Eltern hielten sie abgeschottet von der Öffentlichkeit, und niemand erfuhr, was genau vorgefallen war. Erst das Gerichtsverfahren gegen Frieda, bei dem die Familie Lambrecht als Nebenklägerin auftrat, brachte Licht ins Dunkel. Anina hatte den Unfall überlebt, würde jedoch für den Rest ihres Lebens querschnittsgelähmt sein.
Am Ende war er bei seinem Vater zu Kreuze gekrochen, um mit seiner Hilfe herauszufinden, in welcher Klinik Anina untergebracht war. Zweimal hatte er gelogen, geschmeichelt, bis er jemanden vom Pflegepersonal erweicht hatte, der ihn in ihr Zimmer ließ. Der zarte, zerbrechliche Körper in dem Krankenhausbett, an all die Apparate angeschlossen, ihr goldenes Haar, das seinen Glanz verloren zu haben schien. Bei seinem nächsten Besuch war sie wach gewesen. Sie hatte geweint. Er hatte ihr zugehört, froh, ihre Stimme zu hören, und ohne zu begreifen, was ihr Angst einjagte. Dann war sie verschwunden.
Erneut brauchte er die Unterstützung seines Vaters, um herauszufinden, in welche Rehaklinik man sie gebracht hatte. Er erinnerte sich, wie er sie im Park der Klinik an einem See im Rollstuhl sitzend angetroffen hatte. Der erste Schock, der dann in Dankbarkeit umgeschlagen war, dass sie lebte. Zumindest körperlich. Damals hatte er sich geschworen, seine beginnende Karriere als Leadsänger an den Nagel zu hängen und nur für sie dazu sein. Der Besuch endete in einer unschönen Konfrontation mit Herrn Lambrecht. Am nächsten Tag kam der Brief vom Anwalt mit der Unterlassungserklärung. Er ignorierte ihn. Stattdessen fuhr er direkt zur Rehaklinik, wo man ihm mitteilte, dass Frau Lambrecht nicht mehr da sei. Damit endete ihre Spur. Anina war verschwunden. Er gab auf und kehrte in die Band zurück. Es dauerte fünf Jahre, bevor er sie bei einem Auftritt der Berliner Philharmoniker wiedersah, abgeschottet von privaten Sicherheitsleuten, ohne eine Chance, von Angesicht zu Angesicht mit ihr reden zu können – über das, was damals passiert war, und seine Version der Geschichte.
Er fuhr sich mit beiden Händen in die Haare und riss daran. Stöhnend schlug er mit dem Kopf gegen die Kopfstütze. Nach all den Jahren bekam er vom Schicksal die Chance, mit Anina zu reden, und was machte er? Er vermasselte es. Gründlich. All die Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, für den Moment, wenn sie sich eines Tages begegnen würden. Weg. Sie war in seinen Armen so leicht gewesen. Wie sie darauf bestanden hatte, dass er ihren Rollstuhl aus dem Auto holte, kaum dass es wieder sicher auf der Straße stand. Die Hebevorrichtung für den Stuhl hatte einwandfrei funktioniert. Weder er noch der Mann vom Abschleppdienst hatten ihr helfen dürfen. Geschickt hatte sie sich vom Beifahrersitz in den Rollstuhl gehievt, war zu ihrem Auto zurückgekehrt und allein eingestiegen. Und dann hatte er idiotischerweise vergessen, sich ihre Handynummer geben zu lassen.
Stöhnend verbarg er das Gesicht in seinen Händen. Was für ein Idiot er war.
Die Haustür ging auf. Für einen Moment befürchtete Liam, dass alle vier aus dem Haus kommen würden, doch es war nur Damian. Liam stieg aus dem Auto. Sein älterer Bruder blieb vor ihm stehen und schob die Hände in die Hosentaschen.
»Du siehst scheiße aus.«
»Danke.«
»War es ein schlimmer Unfall?«
»Nein.«
»Niemand verletzt?«
»Nein, und die Fahrerin konnte nach Hause weiterfahren, nachdem der Abschleppdienst ihr Fahrzeug aus dem Graben geholt hatte.«
»Wow. Da hat jemand echt Glück gehabt.«
Liam betrachtete schweigend seinen älteren Bruder, der ein Stück kleiner als er war, dafür breiter am Oberkörper und muskulöser. Das war keineswegs seinem Beruf als Physiotherapeut geschuldet, sondern der Tatsache, dass er ein Sportfanatiker war und in Sander einen Seelenverwandten gefunden hatte.
»Soll ich den anderen sagen, dass du dich für heute ausklinkst?«
Kurz überlegte Liam, das Angebot anzunehmen, aber jetzt allein im Schuppen zu sein, dem einstigen Probenraum von Wintergrün, mit all den Erinnerungen, war eine beschissene Idee. In der Suchtklinik hatte er gelernt, dass solche Situationen wie heute die Gefahr bargen, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen.
»Wer gewinnt gerade?«
Damian grinste. »Wer wohl?«
Liam erwiderte sein Grinsen. »Elias. Und Jasy ärgert sich schwarz.«
»Sie ist mit den Gedanken ständig woanders. Vermutlich bastelt sie an einem neuen Song. In der Hinsicht seid ihr euch ähnlich.«
»Es ist eine Schande, dass sie nicht mehr auf der Bühne steht.«
»Carla ist ununterbrochen an ihr dran, dass sie wieder auftreten soll. Allein.«
»Das wird sie nicht. Komisch, dass mir das erst heute bewusst geworden ist. Etwas hat die drei zusammengeschweißt, und obwohl sie scheinbar in den letzten acht Jahren alle ihr eigenes Leben gelebt haben, verbindet sie das heute noch miteinander.«
»Wintergrün war mehr als eine Band. Wintergrün war ihre Freundschaft, ihre Musik, ihre Texte, ihre Welt.«
Liam musterte Damian. »Du hast Angst, sie zu verlieren.«
»Ja.«
»Ohne Anina existiert Wintergrün nicht.«
»Deshalb bleibt die Sehnsucht in ihr, und wie soll man gegen ein Gespenst der Vergangenheit antreten?«
»Indem man es akzeptiert, und der Spruch stammt nicht von mir, sondern von dir.«
Gemeinsam schlugen sie den Weg in die Küche ein, wo Jasy, Sander, Frieda und Elias um den Küchentisch saßen. Soeben haute sein Sohn mit Schwung auf die Glocke – das Signal, dass er fünf gleiche Früchte auf den Kartenstapeln gezählt hatte, die vor allen Spielern aufgedeckt lagen. Jasy verzog das Gesicht und schob ihm ihre letzten Karten zu. Frieda hatte keine Karten mehr und schied damit aus dem Spiel aus. Nur vor Sander lag noch ein Haufen.
Sander verschränkte die Hände miteinander, streckte die Arme in die Luft und ließ den Kopf kreisen. »So, mein Freund, dann wollen wir mal sehen, wer von uns der schnellere Rechner ist.«
Elias, mit hektischen Flecken auf den Wangen, deckte die erste Karte auf.
»Was ist mit meinem Kartenstapel passiert?«
Jasy grinste und zuckte mit den Achseln. »Verspielt.«
»Ich war wie lange genau draußen?« Damian sah mit gespielter Entrüstung auf seine Uhr. »Fünf Minuten.«
Frieda betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Du hast jetzt nicht ernsthaft die Zeit gestoppt, oder?«
Sie alle zuckten zusammen, als diesmal Sander auf die Glocke haute.
Frieda schüttelte den Kopf. »Manchmal frage ich mich echt, wer von euch beiden das Kind ist.«
Liam lag, die Arme unter dem Kopf verschränkt, auf der Schlafcouch und starrte an die Decke. Er hatte angeboten, die Küche nach dem Spieleabend aufzuräumen, war aber von Frieda und Sander rausgescheucht worden. Ständig lief vor seinen Augen die Begegnung mit Anina ab. Der kurze Bob verlieh ihrem Gesicht schärfere Konturen, was sie erwachsener wirken ließ. Nein, korrigierte er sich, sie war ja erwachsen. Wie souverän sie mit ihrer Behinderung umging. Er versuchte sich vorzustellen, wie es für ihn wäre, im Rollstuhl zu sitzen. Furchtbar. Immer auf andere angewiesen … Sie hatte allein im Auto gesessen. Er runzelte die Stirn, weil es ihm erst jetzt in den Sinn kam. Unmöglich, dass sie von England nach Deutschland mit dem Auto gefahren war. Oder? Wie bewerkstelligte sie den Toilettengang, wenn sie reiste? Er dachte an ihre Konzerte, die er besucht hatte. Die Kleider, die sie getragen hatte. Es war gar nicht aufgefallen, dass sie keine Kontrolle über die Bewegung ihrer Beine hatte. Den einen Fuß aufgesetzt, den anderen elegant dahinter gekreuzt, hatte sie kerzengerade auf dem Stuhl gesessen. Kein Unterschied zu allen anderen Musikern im Orchester.
Was, wenn der Unfall nicht passiert wäre? Würde sie dann auch in einem Symphonieorchester spielen? Liam drehte sich auf die Seite und starrte direkt auf die Metallplatte im Holzrahmen, die Sander, damals Fanboy von Wintergrün, für die Band angefertigt hatte. Bei der Radierung hatte er Frieda hinter dem Schlagzeug in den feinsten Details ausgearbeitet. Jasy stand frontal, die Gitarre an der Schulter hängend, da und packte mit beiden Händen das Mikrofon. Anina hingegen war nur in Konturen angedeutet, beinahe wie nicht von dieser Welt. Er hatte Sander gefragt, weshalb er die Mädels so unterschiedlich verewigt hatte, und er hatte nur mit den Schultern gezuckt. Für Liam hatte er die jeweilige Rolle der Mädchen in der Band perfekt getroffen. Frieda, die den Takt angab, Jasy, die fest zupackte und die Aufmerksamkeit auf sich zog. Anina hingegen hielt sich mit ihrer Violine im Hintergrund.
Es hatte ihn geärgert, dass sie nie im Vordergrund stand. Seiner Ansicht nach steckte in ihr das größte Talent von den dreien. Doch im Rampenlicht hatten die anderen beiden gestanden. Was hatte sie zu ihm gesagt? Es sei seine Schuld gewesen, dass sie auseinandergebrochen waren? Nein, auf keinen Fall. Er hatte Anina den Rücken gestärkt. Klar, dass Jasmin und Frieda das nicht gepasst hatte. Sie hätten nicht mehr im Mittelpunkt gestanden. Aber Anina gebührte die Anerkennung und Wertschätzung der Öffentlichkeit, die ihr die beiden anderen in seinen Augen verweigerten.
Er hatte nie gewollt, dass Wintergrün auseinanderfiel, geschweige denn, dass sie sich gegenseitig verletzten. Wo lag das verdammte Problem? Sie hätten nur offen und ehrlich miteinander reden müssen, was sie ohnehin ständig taten, oder etwa nicht? Er drehte sich wieder auf den Rücken und stopfte sich das Kissen unter den Kopf. Die drei waren nicht nur eine Band gewesen. Er dachte an die Freundschaftsbänder, die Anina auf den langen Fahrten geknüpft hatte, in den Farben Rot, Braun und Grün. Rot stand für ihre Liebe, Braun für den Dreck, aus dem sie gewachsen waren, und Grün für das Leben, das auf der Erde wuchs. Genauso repräsentierten die Farben die Rolle der einzelnen Mädchen in der Band. Rot, das war Anina, die alle mit ihrer Liebe und Zuneigung überschüttete. Braun war Jasmin, die schon immer gern in der Erde gewühlt hatte und etwas zum Wachsen brachte. Grün war Frieda, die aus irgendeinem ihm unerfindlichen Grund am liebsten jeden Baum umarmt hätte, der auf ihrem Weg stand. Es war ein Symbol für die Wurzeln, die ihr ohne Mutter und Vater fehlten. Sie hatte ein neues Leben geboren. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. Ein Kind, das seinen Samen trug. Er drehte sich zurück auf die Seite und betrachtete die Bühne im Probenraum. Der Mond hing voll und rund am Abendhimmel, und seine Strahlen ließen die Konturen der Instrumente, die dort standen, erahnen. Alles war ordentlich verhüllt. Die Mikrofone, das Schlagzeug, das Keyboard, der Hocker und das Mischpult mit dem Drehstuhl davor.
Er, Georg, Malik und Bo hatten nie ein solches Verhältnis zueinander gehabt wie die Mädchen. Was daran lag, dass sie von Lehmann zusammengebracht worden waren – ein Kunstobjekt aus einem Wettbewerb heraus. Der Mythos, dass an dem Abend in der Kultkneipe I love music der Leadsänger ausgefallen und er spontan eingesprungen sei, war erstunken und erlogen. In Wahrheit hatte ihr Manager die Leadsängerin rausgekickt und ihn stattdessen eingestellt. Er wusste nicht mal mehr ihren Namen, geschweige denn, was aus ihr geworden war.
An dem besagten Abend war in der Kneipe ein richtiges Bühnenstück inszeniert worden, das bis heute zum Flair von LBMG – später Stardust – beitrug. Er hatte mit Damian in der Kneipe gesessen, die Band war auf die Bühne getreten, und dann tauchte die Leadsängerin nicht auf. Georg hatte theatralisch ins Mikro gerufen, ob jemand ihren Part übernehmen könnte, und Liam war aufgestanden.
Er hatte keinen von den Jungs vorher gekannt. Erst mit dem Einstieg in die Band hatte sich langsam eine Art von Freundschaft entwickelt. Malik und Bo hatten davor zusammen in einer Boygroup gespielt, die Lehmann gemanagt hatte. Georg war ein Indie-Musiker gewesen, der sich mit seinen Coversongs eine große Community aufgebaut hatte. Aus diesem Grund stand es seiner Ansicht nach ihm zu, die Truppe anzuführen. Liam hatte nie die Absicht gehabt, ihn vom Sockel zu stoßen. Ihm hatte es gereicht, auf der Bühne zu stehen, zu singen und Gitarre zu spielen. Georg, das instrumentale Multitalent in der Truppe, war der Wortführer gewesen, der das Rampenlicht suchte. Letzteres hatte Liam ihm Stück für Stück genommen, weil er bei den Fans mit seiner schmelzenden Stimme, seiner unkomplizierten, nahbaren Art besser ankam. Es war ihm nie schwergefallen, mit dem Publikum zu flirten, und die weiblichen Fans liebten seine Grübchen. Liam verzog das Gesicht. Er hasste seine Grübchen, die in der Presse zu seinem Markenzeichen hochstilisiert worden waren. Statt der nette Junge von nebenan zu sein, wäre er gern der Rocker gewesen, so wie Opa Drechsler. Der Bad Boy. Er seufzte und drehte sich auf die andere Seite.
Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie es begonnen hatte. Das Ringen miteinander. Die Eifersüchteleien: wer häufiger Fragen bei den Interviews beantwortete, wer länger im Fokus der Kameras stand, wer auf den Fotos in der Presse abgebildet war, über wen in der Presse mehr geschrieben wurde. Hatte Georg oder Bo angefangen, eine Strichliste zu führen? Georg. Bo hatte ein Programm codiert, dass statistisch auswertete, wessen Name häufiger genannt wurde. Malik zog sich mehr und mehr von ihnen zurück. Er dröhnte sich zu, feierte Partys und tauchte zu den Proben und Soundchecks entweder verkatert oder gar nicht mehr auf. Bo hielt sich für das verkannte Musikgenie, das ohne zu üben alle Songs draufhatte, weil er zuvor ja bei einer berühmten Band gespielt hatte – wie er nicht müde wurde zu behaupten. Liams größte Schwäche war sein Perfektionismus, und der hatte ihn am Ende zu Fall gebracht. Wenn Leute sich die Zeit nahmen, sie live zu sehen, sich die Karten kauften und oft weite Strecken dafür fuhren, dann hatten sie es verdammt noch mal verdient, dass jeder von ihnen sein Bestes gab.
Er stierte auf die Schattenmalerei des Mondes an der Wand. Es war nicht allein Anina, der er den Rücken hatte stärken wollen, sondern auch sich selbst. Ihre Duldsamkeit deckte sich mit seinem fehlenden Mut, den Mund aufzumachen und seinen Bandmitgliedern die Meinung zu sagen. Der Wunsch, dass die anderen Anina sehen und ihr die Anerkennung zuteilwerden lassen sollten, die ihr zustand, war seiner Sehnsucht entsprungen, endlich von seinem Vater gesehen zu werden. Alles kaputt.
Er drehte sich wieder zurück, zog das Kissen unter seinem Kopf hervor und legte es auf sein Gesicht. Er hatte nicht nur ihre Karriere zerstört, sondern auch seine eigene. Was für ein Idiot er war.
Mit Tempo fünfzig schlich Anina über die Straße. Sie behielt den Waldrand rechts und links im Auge. Ihre Hände umkrampften das Lenkrad. Sie schwitzte. Erleichtert atmete sie auf, als sie endlich über die Kiesauffahrt zu den Garagen fuhr. Mit der Fernsteuerung öffnete sie das Garagentor. Ihr Parkplatz war frei. Anfangs hatte Louis, der von ihrem Vater neu eingestellte Butler, sie gefahren und ihr mit dem Rollstuhl geholfen. Es hatte sie viel Kraft gekostet, und sie hatte sogar damit gedroht, auszuziehen, bis ihr Vater sich bereit erklärt hatte, die Garage und das Haus umzubauen, damit sie ihre Selbstständigkeit zurückgewinnen konnte. Nun rühmte er sich dafür gegenüber seinen Freunden und vergaß nie, die Summe zu nennen, die das alles verschlungen hatte. Dabei unterschlug er gern, dass neben der Pflegeversicherung, die einen Zuschuss gewährte, sie selbst einen Großteil der Kosten übernommen hatte.
Sie fuhr Leprechaun auf seinen Platz und lehnte sich erleichtert im Sitz zurück. Die Anspannung wich aus ihrem Körper. Sie fing an zu zittern. Es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Ihr Blick fiel in den Rückspiegel.