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Sein Ziel: Deutschland zur wahren Größe führen. Seine Mittel: alles was dem Zweck dient. Sein Gegner: die Sondereinheit Themis. Sein Trick: Zerstörung von Innen. Das letzte Spiel hat begonnen - Endgame. Schachmatt. Endlich gibt es eine Zeugin, die bereit ist gegen Konstantin Wolff auszupacken. Die Ära des Meisters, der sich Jahrzehnte zwischen den Fronten der Spionagedienste, Diktatoren, Wirtschaft und Verbrecherkartelle bewegte, ist zu Ende. Zeit seinem Leben ein Ende zu setzen oder nicht? Misstrauisch erteilt Wahlstrom eigenmächtig dem Team von Pit den Auftrag, sich den Todesfall Wolff genauer anzusehen. Damit überschreitet er nicht nur seine Kompetenzen, sondern schaufelt sein eigenes Grab. Natasha und Pit geraten zwischen alle Fronten und wissen nicht mehr wem sie trauen können und wem nicht. Wie Spielfiguren werden sie auf dem Schachbrett der Macht hin und her geschoben. Ein Fall, der eigentlich keiner mehr sein sollte, stellt die Sondereinheit Themis vor eine innere Zerreißprobe. Endgame. Es ist erst zu Ende, wenn dem König kein Zug mehr bleibt.
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Deutsche Erstausgabe November 2021
Copyright © 2021 Kerstin Rachfahl, Hallenberg
Lektorat: Martina Takacs – dualect.de
Umschlaggestaltung: cover.artwize.de
Kerstin Rachfahl
Heiligenhaus 21
59969 Hallenberg
E-Mail: [email protected]
Webseite: www.kerstinrachfahl.de
Reihenfolge der Bücher zur Sondereinheit Themis:
Season 1:
Band 1 Auf Probe
Band 2 Der Terrorist
Band 3 Menschenhandel
Season 2:
Band 4 Die Spinne im Netz
Band 5 Hinter Gittern
Band 6 Endgame
Das Team der Sondereinheit Themis.
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Weitere Bücher zu den Nebenfiguren der Sondereinheit Themis:
»Hannas Wahrheit« und »Hannas Entscheidung« erzählen die Geschichte von Johanna Rosenbaum und Ben Wahlstrom.
In »Im Netz der NSA« erfährst du alles über die Hintergründe der Beziehung zwischen Tamara Baumann und Tobias Wagner (TJ).
In dem Kurzroman »Sonate ins Glück« stolpert Samuel Baumann über seine Emily.
In »Die Bundespräsidentin« ist das Team der Sondereinheit Themis 2 x im Einsatz.
Erstellt mit Vellum
Für meine Schwester Anke, ohne die dieses Buch niemals fertig geworden wäre.
1. Schachmatt Wolff
2. Eröffnung
3. Tatort Wolff
4. Bauernformation
5. Doppelangriff
6. Cassia, Königin des Schachs
7. Verstimmungen
8. Déjà-vu
9. Wieder im Einsatz
10. Bestandsaufnahme
11. Rochade
12. Recherche
13. Familienangelegenheiten
14. Russische Verteidigung
15. Bedenkzeit
16. Thesen
17. Gestellt
18. Major Wagner
19. Doppelangriff Springer
20. Mantrailing
21. Schach
22. Suche
23. Gerlings
24. Marie Ziegler
25. Unter Verdacht
26. Die Schlinge zieht sich zu
27. Die Uhr tickt
28. Eins und eins ergibt drei
29. Gamer
30. Bauer, Springer und Turm
31. Endgame
Epilog
Das Team und Familie Abel
Nachwort
Bücher von Kerstin Rachfahl
Über die Autorin
Konstantin legte den Telefonhörer auf und erhob sich aus seinem Sessel. Er ging ans Fenster und schaute hinaus in den Garten. Die Regenwolken verzogen sich, und Sonnenstrahlen brachen durch die düstere Wolkendecke. In den Blumenbeeten wetteiferten Herbstastern, Dahlien, Chrysanthemen, Fetthenne, das weiße Leinkraut und große Flächen von Erika um Aufmerksamkeit. Nicht mehr lange, und das Laub würde sich färben. Er liebte den Herbst, der mit einem letzten bunten Aufbäumen dem kommenden Winter die Stirn bot.
Er drehte sich um und zog eine Schublade auf. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Er ging durch den Flur zur Garderobe und zog seine dicke Jacke an, eine Mütze, einen Schal und Handschuhe aus Kalbsleder.
»Herr Wolff?«, sprach ihn Franz sichtlich irritiert an. Er hielt das Tablett mit seinem nachmittäglichen Kaffee und einem Stück Bienenstich in den Händen. Nicht den mit der Cremefüllung, sondern mit Vanillepudding.
»Es hat aufgehört zu regnen. Ich möchte gern auf der Terrasse Kaffee trinken.«
»Sehr wohl, Herr Wolff.«
Franz, der auf dem Weg zum Arbeitszimmer gewesen war, änderte die Richtung und ging ins Wohnzimmer. Auf dem langen Eichentisch, an dem Konstantins Eltern früher ihre berühmten abendlichen Matinees abgehalten hatten, stellte er das Tablett ab und öffnete die lange Schiebetür, die auf die halb überdachte Terrasse führte. Rasch holte er eine Sitzauflage aus der Box und stellte den Liegestuhl so, dass man von dort aus den herbstlich blühenden Garten betrachten konnte.
Konstantin setzte sich auf den Stuhl, und Franz eilte zurück, holte das Tablett und brachte eine Decke mit, die er ihm sorgsam über den Schoß breitete.
Mit der Gabel brach Konstantin sich das erste Stück vom Bienenstich ab. Die Kruste aus Mandeln und Honig gab nicht so leicht nach, und der Pudding quoll hervor. Der luftige Teig stand im Kontrast zu dem knackigen Belag, und der Pudding war die süße Ergänzung. Er liebte diesen Kuchen. Seine Mutter hatte ihn jeden Sonntag für die Familie gebacken, so wie sie sich um alles im Haushalt gekümmert, ihre Kinder umsorgt, das Haus sauber gehalten und jeden Abend eine warme Mahlzeit für ihren Mann auf den Tisch gebracht hatte. Egal, wann sein Vater nach Hause gekommen war, seine Mutter hatte auf ihn gewartet, manchmal in ein Buch vertieft, manchmal mit einer Handarbeit beschäftigt.
Er kratzte sorgfältig die letzten Krümel des Kuchens vom Teller und trank den letzten Schluck Kaffee. Nachdem er sowohl den Teller als auch die Tasse auf dem Tisch abgestellt hatte, griff er in seine Manteltasche, zog die Waffe heraus und legte sie in seinen Schoß. Er ließ zärtlich die Finger über den Lauf und die Sicherung und bis hoch zum Griffteil gleiten. Mit der rechten Hand umschloss er den Griff, den Zeigefinger ausgestreckt, den Daumen am Lauf. Mit der linken Hand holte er aus der anderen Manteltasche ein volles Magazin mit 0.22er-Patronen, schob es in den Magazinhalter und entsicherte die Glock G17, kontrollierte, ob die erste Patrone im Lauf steckte. Er lächelte, lehnte sich im Liegestuhl zurück und zog die Decke ein Stück weiter hoch. Die Wolkendecke brach auf, und die Strahlen der Sonne wärmten sein Gesicht.
Wenn sie geglaubt hatten, ihn derart leicht loswerden zu können, hatten sie sich geirrt. Er war der Kopf, der Stratege, derjenige, der in all den Jahren die wahre Arbeit im Hintergrund geleistet hatte. Er wusste, einer würde kommen, um sicherzustellen, dass er seinem Leben ein Ende setzte. Natürlich hätte er fliehen können, das wäre kein Problem gewesen. In ein Land ohne Auslieferungsabkommen mit Deutschland. Doch er hatte keine Lust, in seinem Alter noch mal von Neuem zu beginnen. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass er auch diese Identität eines Tages fallen lassen müsste. Verfluchte wissenschaftliche Methoden. Jetzt war es auch möglich, die DNA von Zwillingen durch ihre winzigen Unterschiede zu differenzieren. Dieser einzige Fehler in seinem Leben – als er bei einem notwendigen Mord die Sache selbst in die Hand genommen und dabei DNA-Spuren hinterlassen hatte. Nur darum war er gezwungen gewesen, Konstantin Wolff sterben zu lassen und nur noch als Eberhard Wolff in Berlin weiterzuleben. Er wusste, wer die Informationen an das BKA weitergegeben hatte. Der Verräter unter den Verrätern.
Er hatte geglaubt, der Feind seines Feindes zu sein. Eine Fehleinschätzung, die er zügig bereinigen würde.
Aber eins nach dem anderen. Zuerst musste er den Tag überleben. Danach brauchte er die Unterstützung von Nesterow, dem Einzigen, der die Macht und die Möglichkeit hatte, seinen Gegner im eigenen Haus auszuschalten. Nesterow, der alte Fuchs. Er hatte nicht nur verhindert, dass ihre Geschäftsbeziehung zu dem Unternehmen seines Schwiegersohns aufgeflogen war, sondern hatte auch noch einen Teil des Erpressungsmaterials vor den Behörden sichergestellt.
Aber wie? Das war die große Frage. Nun, er würde es herausfinden. Oder konnte es sein, dass Samuels in Wahrheit für ihn arbeitete? Nein.
Ein Hund bellte, und er wandte den Kopf zu der uralten Rhododendronhecke, die seinen Garten zum Wald hin abgrenzte. Immer diese Leute, die keine Ahnung von Hunden hatten, sie antiautoritär erzogen und sich dann wunderten, dass sie nicht gehorchten. Ständig passierte es, dass sich Hunde aus Jagdrassen auf sein Grundstück verirrten, weil Hase, Igel oder Reh in seinem Garten Ruhe vor den Freizeitsportlern suchte. Untypisch war es aber, dass kein Geschrei oder Pfiff ertönte. Stattdessen war es nun unheimlich still.
Ein Schäferhund brach durch das Gebüsch, ein wunderschönes Tier, athletisch gebaut, mit geradem Rücken, wachsamen, intelligenten Augen, die ihn fixierten. Er kam auf ihn zugetrottet und setzte sich drei Schritte entfernt von ihm hin.
»Na, du Hübscher?« Er beugte sich ein wenig vor und streckte die Hand aus.
Unbeweglich blieb der Hund sitzen, als hätte ihm jemand den Befehl dazu erteilt.
Er blinzelte, hob den Kopf, als er Geräusche hörte.
»Tut mir leid, dass wir Ihr Grundstück einfach von der Rückseite aus betreten, aber Sie verstehen sicher, dass wir nicht durch die Vordertür kommen konnten.«
Er lehnte sich wieder zurück. Interessanter Schachzug. Damit hatte er nicht gerechnet. Es schockte ihn tatsächlich, da immerhin er selbst über jedes einzelne Mitglied der Sondereinheit Themis ein ausführliches Dossier angelegt hatte.
Unfassbar.
Er fragte sich, wie es ihm gelungen sein mochte, ausgerechnet über Wahlstroms Kopf hinweg einen Maulwurf in die Einheit zu schmuggeln. Er selbst war daran gescheitert.
»Er hatte recht. Trotz Ihres Alters hängen Sie am Leben. Na ja, es ist immer gut, einen Plan B zu haben, nicht wahr? Ihre Worte.«
»Sie haben Alexander Egbert getötet.«
»Ja, und er war nicht der Einzige, der an diesem Tag sterben sollte.«
Er umschloss mit der Rechten den Griff der Waffe in seinem Schoß. Oder jedenfalls wollte er es. Es ging nicht. Seine Hände gehorchten ihm nicht mehr.
»Tetrodotoxin.«
»Wie?«
»Die Studie von MediCare für chronische Schmerzen. Viktor hat dafür gesorgt, dass Sie das Medikament erhalten, nicht das Placebo. Aber um ehrlich zu sein, ist es eine Spezialanfertigung, extra für Sie, mit schönen Grüßen von der Familie Gerling.«
Seine Waffe wurde ihm aus der Hand genommen.
»Wie praktisch – Handschuhe. Ich verstehe. Sie wollten Schmauchspuren vermeiden, die sich noch so unangenehm lange nachweisen lassen. Nun, einen Versuch ist es wert, denke ich. Vielleicht geht es ja als Suizid durch. Der Landesverräter, der seinem Leben lieber selbst ein Ende setzte, als sich den Anschuldigungen zu stellen.«
Panik stieg in ihm auf, und er verachtete sich selbst dafür. Er war von dem Menschen verraten worden, der ihn liebte. Er schloss die Augen. Es gab kein Entrinnen. Entweder nahm er das Geschenk eines schnellen Todes an oder er würde qualvoll verenden.
Was für eine Ironie.
Natasha streckte die Hand vor, um die Tür zu öffnen. Im selben Moment gab ihre Uhr einen Signalton ab. Sie hob den linken Arm und schaute auf die Kurznachricht, aber bevor sie sie lesen konnte, wurde sie am Oberarm gepackt und zurückgerissen. Sie verlor das Gleichgewicht, strauchelte und landete in Pits Armen. »Was zum Teufel ist in dich gefahren?«, schimpfte sie.
Beinahe gleichzeitig ertönte hinter der Tür, die sie hatte öffnen wollen, ein dumpfes Grollen, das von Smart mit aufgestellten Nackenhaaren und gefletschten Zähnen ebenso beantwortet wurde.
Pit schlang einen Arm um ihre Taille und grinste. »Ich wollte nur verhindern, dass Smart und Thor direkt wieder aneinandergeraten. Konnte ja nicht wissen, dass du nach deinem JVA-Aufenthalt so aus der Übung bist, dass du direkt umkippst und in meinen Armen landest.«
Sie blickte zur Tür. »Oh, Mist, das ist ja gar nicht mehr unser Büro.«
»Exakt.«
Sein Gesicht schwebte dicht vor ihrem. Sie hob die Brauen. »Du kannst mich wieder loslassen.«
»Kann ich?«, murmelte er und näherte sich ihr im selben Tempo, wie sie ihren Kopf zurückbog.
»Peter Abel«, mahnte sie und drückte ihre Handfläche gegen seine Brust.
Sein Grinsen wurde breiter, das Funkeln in seinen Augen gefährlicher.
»Hey, ihr zwei, wo bleibt ihr denn? Wir hatten Punkt neun Uhr gesagt, nicht fünf Minuten später.« Gabriella, die Arme vor der Brust verschränkt, betrachtete sie kopfschüttelnd. »Ehrlich, man sollte meinen, dass ihr dafür zu Hause genug Zeit habt. Keine Einsätze mehr, normaler Arbeitsalltag und pünktlich nach Hause kommen – da kann man sich doch glatt dran gewöhnen.«
Pit ließ Natasha los, und sie trat mit heißen Wangen ein Stück von ihrem Partner zurück. Sie fühlte sich wie ein ertappter Teenager. »Sorry, aber ich fürchte, ich kann nur den ersten Part des Trainings mitmachen, danach muss ich mich ausklinken. Freya hat heute einen Impftermin beim Tierarzt, und später wollte ich mit ihr zum Training zu Malte.«
Gabriella schnaubte. »Tierarzttermin? In echt, oder ist das dein verschlüsselter Code dafür, dass du jemanden um die Ecke zu bringen gedenkst?«
»Ha, ha, ha.«
Pit verpasste Gabriella eine Kopfnuss. »Nicht lustig, Santinos.«
»Kehlmann, Abel, Santions, in mein Büro. Und bringen sie Römer mit.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, machte Wahlstrom auf dem Absatz kehrt und ging in Richtung seines Büros vor.
»Na super, was ist dem denn für eine Laus über die Leber gelaufen?«, brummte Pit.
»Du meinst, außer dass wir jetzt Teil der operativen Einsatz- und Ermittlungsunterstützung des BKA sind? Er wird niemals den Job wechseln.« Es war seltsam, es laut auszusprechen. Natasha konnte sich Themis ohne Oberst Wahlstrom oder Major Wagner, ganz zu schweigen von ihren Kollegen im Team, die vom Militär kamen, nicht vorstellen.
»Geht ihr beide schon mal vor, ich bringe die Hunde ins Büro und hol Bodo.«
Natasha folgte zusammen mit Gabriella ihrem Chef. »Wann wollt ihr eigentlich zusammenziehen?«
»Keine Ahnung, was du meinst«, gab ihre Kollegin betont lässig zurück.
»Ehrlich, Gabriella, denkst du echt, wir sind alle blind und taub?«
»Nein, aber das heißt nicht, dass Bodo und ich zusammenziehen müssen.«
»Ah, verstehe, also ist Bodo trotz deines ganzen Geschwafels, dass du alt würdest und eine Familie haben möchtest und nur noch den richtigen Mann dazu brauchst, nur eine Zwischenlösung für dich.«
»Verdreh mir doch nicht das Wort im Mund. Es wäre das erste Mal, dass ich mit einem Mann zusammenziehe. Und Bodo ist so unglaublich ordentlich.«
»Du meinst penibel.«
»Nur weil jemand ordentlich ist, heißt das nicht, dass er pedantisch wäre.«
»Ich sagte penibel, nicht pedantisch.«
»Häh? Wo ist denn da der Unterschied?«
Sie hatten das Büro erreicht. Wahlstrom setzte sich gerade hinter seinen Schreibtisch und runzelte die Stirn, als er nur sie beide sah. »Wo sind Ihre Männer?«
Natasha blinzelte.
»Was denn, Kehlmann? Sie glauben wohl, Sie wären die Einzige mit Menschenkenntnis in dieser Einheit. Sondereinheit Themis – die Partnervermittlungsagentur für die, die’s extrem mögen, könnte man meinen.«
Während sie noch überlegte, ob der letzte Satz sarkastisch, humorvoll oder schicksalsergeben gemeint war, tauchte Pit mit Bodo im Schlepptau in der Tür auf.
»Schließen Sie die Tür.«
Da es im Büro keine vier Besucherstühle gab, blieben sie stehen.
»Gestern kam es zu einem Suizid.« Wahlstrom machte eine Pause und sah Natasha an. Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Puls. »Eberhard Wolff oder besser gesagt Konstantin Wolff hat sich am Nachmittag das Leben genommen.«
»Wie passend«, kommentierte Natasha.
Bodo und Gabriella drehten ihr den Kopf zu.
»Soll das heißen, es steht fest, dass der angebliche Zwillingsbruder von Konstantin Wolff, dieser Eberhard, gar nicht existierte?«, erkundigte sich Pit.
»Scheint, als könnte Ihre Partnerin den Mund nicht halten.«
»Könnte uns einer aufklären, worum es hier geht?«, mischte Gabriella sich ein. »Ich versteh nur Bahnhof.«
Wahlstrom konzentrierte sich auf ihre zwei Kollegen. »Konstantin Wolff, ein international agierender Waffenhändler und Verbrecher, hat seinen Tod vor zehn Jahren nur vorgetäuscht. Er hatte einen Zwillingsbruder, der hier in Berlin lebte und bis zu seiner Pensionierung an der Humboldt-Universität Geschichte lehrte. Er war als Gastdozent in vielen Ländern unterwegs. Die perfekte Tarnung, zumal sich Universitätsprofessoren nur selten selbst in ihren Vorlesungen aufhalten.«
»Und was hat das mit uns zu tun?«
Wahlstrom atmete tief durch. »Der Mann gehörte zu einem illustren Kreis um den Stiefvater meiner Verlobten – Armin Ziegler. Sie setzten Söldnertruppen ein, um ihre wirtschaftlichen Interessen auf dem afrikanischen Kontinent durchzusetzen, bestachen Regierungen, entführten Menschen, schreckten weder vor Folter noch Erpressung zurück. Damals gab es Themis noch nicht, doch Hartmann leitete ein kleines internationales Spezialkommando, zu dem auch ich gehörte. Wir kamen den kriminellen Organisationen in die Quere, wo wir konnten. Eine Spur führte uns zurück nach Deutschland. Mithilfe des BKA identifizierten wir die Köpfe der Organisation, verfolgten sie bis nach New York, wo das amerikanische Militär die Jacht von Wolff in die Luft sprengte, nachdem er einen von deren Hubschraubern abgeschossen hatte. Wir glaubten, dass alle, die sich auf der Jacht befunden hatten – und dazu gehörte Wolff –, umgekommen seien.«
»Verstehe. Das Ganze war nur ein geschickter Schachzug von ihm. Ganz schön gerissen, solange niemand auf die Idee kommt, dass es sich bei den angeblichen Zwillingsbrüdern um ein und dieselbe Person handelt. Woher können wir es mit Sicherheit wissen?«
»Hartmann wurde vom Chef des Bundesverfassungsschutzes darüber in Kenntnis gesetzt, der diese Information von den amerikanischen Behörden erhielt, nach dem digitalen Angriff auf deren Satelliten. Bei einem Mord an einem US-Senator vor knapp zehn Jahren blieben DNA-Spuren zurück, die das FBI letztlich zu Konstantin Wolff führten. Wir wussten das damals nicht, er hingegen schon. Deshalb der gefakte Tod. Der digitale Angriff auf die amerikanischen Militärsatelliten, die Aufdeckung von Angelika Winters’ neuer Identität und die Verhaftung des Hackers Viktor Samuels haben dazu geführt, dass die amerikanischen Behörden eins und eins zusammenzählten.«
»Könnte es nicht sein, dass er seinen Tod wieder vorgetäuscht hat und es gar nicht ist?«
»Eine der Fragen, Frau Kehlmann, die Sie mir beantworten sollen.«
»Mich würde interessieren, warum er sich mit viel Aufwand die zweite Identität aufbaut und dann seinem Leben selbst ein Ende setzt«, kam Pit Natashas nächster Frage zuvor. »Wie hat er sich umgebracht?«
Ein flüchtiges Lächeln erschien auf Wahlstroms Gesicht. »Und das wäre die zweite Frage. War es wirklich Suizid? Der Zeitpunkt war jedenfalls … nun ja, praktisch.« Wahlstroms Blick wanderte zu Natasha. »Nachdem Sie Angelika Winters davon überzeugen konnten, als Kronzeugin gegen Konstantin Wolff auszusagen, und die Staatsanwaltschaft Berlin einen Haftbefehl ausgestellt hat, ist der Mann jedenfalls nun tot.«
Gabriellas Augen weiteten sich. »Das war also der Grund, weshalb du hinter Gittern warst?«
»Wenn du so willst, ja.« Bisher hatte Natasha sich bezüglich der Einzelheiten ihrer Verhaftung auf Bitten ihrer Vorgesetzten bedeckt gehalten. »Scheint, als wäre die Frage, wer für dir Organisation wichtiger ist – Wolff, ein vierundsiebzigjähriger Mann, oder eine Frau von siebenundvierzig Jahren mit viel Erfahrung in der IT-Sicherheit –, damit geklärt. Wir lagen beide falsch.«
»Wir?«, hakte Wahlstrom nach.
»Hartmann und ich. Wir sprachen am Mittwoch darüber, beim Debriefing zu meinem Einsatz als verdeckte Ermittlerin im Auftrag von Bundespolizeipräsident Konz.« Sie sah Gabriella bedeutungsvoll an. »Letztlich war es Winters, die zweimal aus dem Nichts ein lukratives IT-Business aufgebaut hat, in dem richtig viel Geld reingewaschen werden konnte.«
»Und er dachte, Wolff wäre wichtiger?«
»Nein, jedoch wies er mich darauf hin, dass ich zuvor die Meinung geäußert hatte, Antifeminismus sei Teil der rechtsextremen Ideologie. In dem Fall hätte die Entscheidung für Wolff und gegen Winters fallen müssen. Es passt nicht.« Sie überlegte. Hatte Wolff die Aussicht, verhaftet zu werden und womöglich seinen restlichen Ruhestand im Gefängnis zu verbringen, zu dieser Tat getrieben?
»Kehlmann, sprechen Sie doch bitte Ihre Gedanken laut aus.«
»Na ja, Konz gab mir den Auftrag, Winters’ Vertrauen zu gewinnen, damit sie sich als Kronzeugin gegen den Drahtzieher der Cyberangriffe zur Verfügung stellt. Ich hatte explizit die Vorgabe, mit niemandem von Themis darüber zu reden, vor allem nicht mit Hartmann. Dann, als ich den mit Konz vereinbarten Code an die Justizvollzugsbeamten durchgab, weil Winters einen Deal eingehen wollte, taucht auf einmal Staatsanwalt Steigenberger in meiner Zelle auf, nicht Konz. Und statt dafür zu sorgen, dass ich entlassen werde, lässt er mich hängen. Wer weiß, wie es weitergegangen wäre, wenn Pit den Täter nicht dazu gebracht hätte, zu gestehen.«
»Steigenberger war in die Sache nicht eingeweiht«, fuhr Pit fort. »Er leitete die Ermittlungen gegen dich, deshalb zog Konz Hartmann hinzu. Es gab keine rechtskräftigen Beweise, dass du den Mord an Egbert begangen hättest. Als die beiden zu mir kamen, war unser Chef stinksauer.«
Wahlstrom schnalzte mit der Zunge. »Zu Recht. Er hätte uns darüber informieren müssen. Schließlich gehören Sie in erster Linie zu Themis und erst in zweiter zum BKA.«
»Er musste sicherstellen, dass niemand die Sache durchschaut«, verteidigte Natasha den Bundespolizeipräsidenten.
Pit und Wahlstrom schnaubten einvernehmlich.
»Mir gefällt dieser Staatsanwalt nicht«, murrte Gabriella. »Wusstest du, dass Steigenberger zur Parteispitze der PZD gehört? Das war auch der Grund, weshalb Bodo und ich dachten, der Mord an Egbert und deine Verhaftung seien ein weiterer Komplott gegen unsere Sondereinheit. Die Partei will uns loswerden.«
»Nein, das wusste ich nicht«, gab Natasha zu. »Aber mir ging der Gedanke in der Nacht in der Zelle durch den Kopf. Letztlich werden wir es nie wissen, denn mit einem geständigen Täter blieb Steigenberger keine andere Wahl, als mich freizulassen.«
Pit holte tief Luft. »Natasha wurde am Dienstagmorgen entlassen, das ist drei Tage her«, stellte er fest. »Wieso wurde erst jetzt ein Haftbefehl gegen Wolff ausgestellt?«
»Du weißt, wie die Abläufe sind, und aufgrund seines Alters bestand keine akute Fluchtgefahr«, antwortete Bodo.
Wahlstrom trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Keine Fluchtgefahr? Der Mann ist tot. Quasi zum zweiten Mal, wie ich betonen möchte.«
Gabriella rückte ein Stück näher zu ihrem Partner. »Winters hat es geschafft, zehn Jahre lang eine Lüge zu leben, und hat dafür ihr Aussehen operativ verändert. Wäre ich an der Stelle des Richters gewesen, ich hätte mir auch Zeit gelassen, die Informationen zu prüfen.«
Es entstand eine Pause, bevor Wahlstrom weitersprach. »Wie auch immer. Ich möchte, dass Sie sich die Sache näher anschauen. Hier ist die Adresse von Wolff. Der Fall wurde an das LKA Berlin übergeben, das auch die Verhaftung durchführen sollte.«
Natasha zog die Nase kraus. »Weiß das LKA Bescheid, das wir uns das anschauen?«
»Gehen Sie einfach mit Fingerspitzengefühl an die Sache heran. Wissen Sie noch, wie das geht, Kehlmann?«
Bevor sie antworten konnte, mischte Pit sich ein. »Mich würde eines interessieren. Wieso wir? Wenn man beim BKA denkt, dass an der Sache etwas faul ist, warum schickt der Bundespolizeipräsident nicht seine eigenen Leute?«
Wahlstrom lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Ganz einfach. Erstens sitzt Ihr Team auf der Reservebank und hat mehr als genug Zeit, während das BKA voll ausgelastet ist, und zweitens ist Kehlmann diejenige, die den Deal zwischen Winters und der Staatsanwaltschaft eingestielt hat. Sie wusste, dass Winters Wolff ans Messer liefern wollte.«
Natasha schwankte kurz, ob sie verärgert oder belustigt von seinem letzten Satz sein sollte, und entschied sich für Letzteres. »Verstehe, einmal schwarzes Schaf, immer schwarzes Schaf.«
Ein breites Grinsen erschien auf Wahlstroms Gesicht. »Das haben Sie gesagt. Am Montagmorgen möchte ich einen vollständigen Bericht von Ihnen haben.«
»Was mache ich jetzt mit meinem Termin beim Tierarzt?«, brummte Natasha.
Pit wandte sich den zwei Kollegen zu, die als einzige in dem Zehnpersonenbüro anwesend waren. »Chris, Kevin, könnt ihr mit Freya zum Tierarzt gehen und dafür sorgen, dass sie ihre Impfungen erhält?«
Chris hob den Blick von seiner Bastelei. »Klar, kein Thema, wenn es für Natasha in Ordnung ist.«
»Hey, und wer fragt mich?«, protestierte Kevin.
»Ich kann allein fahren, schließlich besteht unser Fuhrpark nur zum Teil aus Schaltwagen. War sowieso scharf darauf, unseren neuesten Zuwachs zu fahren.«
»Vergiss es, Partner, der Tesla ist eine Limousine. Da gibt es nur die Rückbank und einen Kofferraum.«
»Merde! Hatte mich schon voll auf eine Spritztour gefreut.«
»Du brauchst Kevins Unterstützung«, mischte sich Natasha ein. »Freya kann Tierärzte und Spritzen nicht leiden, egal wie sehr sie dich mag. Da spielt sie selbst bei mir verrückt.«
»Wie der Herr, so’s Gescherr«, murmelte Pit.
Natasha verpasste ihm einen Boxhieb auf den Arm.
Das Grinsen auf den Gesichtern der Jungs verbreiterte sich.
Pit rieb sich den Arm. »Also haben wir einen Deal?«
Kevin verschränkte die Arme vor der Brust. »Noch nicht. Was springt für uns raus?«
»Hm, lass mich überlegen.« Pit tippte sich mit dem Zeigefinger auf den Mund, als müsste er überlegen. »Dass ich Marla nicht verrate, dass du gesagt hast, es wäre dir lieber, wenn sie von der Sitte zu den Betrugsdelikten wechselt? Und Chris, du kannst dankbar sein, dass ich dich am Leben lasse, obwohl du meinst, dich mit meiner Schwester verabreden zu müssen. Ist die Diskussion damit beendet?«
Kevin sprang auf, schlug die Hacken zusammen und brachte die Handkante an die Stirn. »Aye, aye, Sir.«
»Nicht schlecht, Steuber, daran kann ich mich gewöhnen.«
Natasha zog Pit am Ärmel aus dem Büro, bevor die Flachserei ausarten konnte. Mit einem Handzeichen gab sie Smart den Befehl, ihnen zu folgen. Freya, von Chris am Halsband festgehalten, ließ ein herzerweichendes Winseln hören.
»Nein, Freya, bleib«, ordnete Natasha an und schloss rasch die Tür.
Die Adresse, die Wahlstrom ihnen gegeben hatte, führte sie direkt in das verkehrsberuhigte Klein-Glienicke, das, eingebettet in einen Wald, wie ein kleines Dorf wirkte, trotz der Nähe zu Potsdam. Sie hielten bei einem schlichten, ja unscheinbaren Einfamilienhaus, dem letzten in der Straße, das bis auf den Eingangsbereich direkt im Wald lag. Ein großzügiges Grundstück gehörte dazu, und direkt gegenüber erstreckte sich der Friedhof von Klein-Glienicke.
Drei Fahrzeuge parkten an der Straße plus das Sonderfahrzeug der Tatortgruppe vom LKA, Letzteres ein rollendes kriminaltechnisches Labor, ausgestattet mit der modernsten Technik, die sogar erste Vor-Ort-Analysen ermöglichte.
Sie hatte gedacht, dass bereits alle Arbeiten am Tatort abgeschlossen seien. Interessant. Sie parkten hinter dem Dienstwagen von Bodo und Gabriella. Die beiden stiegen mit einem breiten Grinsen aus. Klar, zumal die forensische Untersuchung des Tatorts noch im Gange war. Pit holte Smart aus dem Kofferraum. Natashas Blick fiel auf die Verpackung mit der Schutzkleidung in den Händen ihrer Kollegen.
»Oh, Mist«, fluchten sie und Pit gleichzeitig.
Bodo verdrehte die Augen. »War so was von klar, dass ihr das vergesst. Wartet kurz, wir haben in unserem Auto ein paar Sets.«
Sie blickte auf den Schäferhund. »Was machen wir mit Smart?«
»Das müsst ihr mit der Tatortgruppe klären. Ansonsten muss er wohl draußen bleiben.«
Gemeinsam mit ihren verpackten Sets, in denen sich Ganzkörperschutzanzug und Überzieher für die Schuhe befanden, traten sie zu der jungen Beamtin von der Streifenpolizei, die in der Einfahrt stand und ihr Kommen aufmerksam verfolgte.
Pit übernahm die Führung. »Kriminalhauptkommissar Abel.« Er zeigte der Frau seinen Dienstausweis. »Wir würden uns gern ein Bild von dem machen, was hier passiert ist.«
»Tut mir leid, Herr Abel, aber meine strikte Anweisung lautet, niemanden durchzulassen. Die Tatortgruppe ist mit ihrer Arbeit fast fertig. Sie können den Bericht, die Fotos und die Videodokumentation auf dem üblichen Weg einfordern.«
»Mit wem kann ich sprechen, damit wir den Tatort betreten dürfen?«
Natasha konnte sehen, wie die Polizeimeisterin, erkennbar an den zwei Sternen auf ihrer Schulterklappe, ihren Widerstand aufgab. Pit hatte diese natürliche Ausstrahlung als Autoritätsperson. Hinzu kam das spitzbübische Grinsen, dass seine Wirkung auf Frauen selten verfehlte.
Die Polizistin nahm ihr Funkgerät. »Kriminalkommissar Bekar, hier draußen stehen vier Leute vom BKA, die den Tatort besichtigen möchten.« Sie lauschte auf die Antwort.
»Bekar?«, kam es von Bodo.
Sein Einwurf wurde von der Beamtin ignoriert, die jetzt wieder ins Funkgerät sprach: »Das sagte ich ihnen bereits, aber es hätte ja sein können, dass Ihnen andere Informationen vorliegen.«
»Sagen Sie Ömer bitte, dass Bodo hier ist, der noch einen bei ihm gut hat.«
Ein abgrundtiefes Seufzen der Polizeimeisterin folgte. »Ja, tut mir leid, aber einer von den Leuten sagt, dass er Bodo heißt und noch einen bei Ihnen gut hat.« Irritiert betrachtete sie daraufhin das Funkgerät. Das Lachen war bis zu ihnen zu hören.
Keine fünf Minuten später stand eine komplett verhüllte Gestalt mit Schutzbrille und Handschuhen vor ihnen, ein Tablet in den Händen. »Hey, Bodo, hey Gabi. Was macht ihr hier? Ich dachte, ihr würdet nur zu Fällen hinzugezogen, bei denen es heiß hergeht. Also, raus damit, wer war unser Toter?«
»Das ist etwas komplizierter. Wäre es in Ordnung, wenn wir uns selbst kurz einen Überblick verschaffen? Wir sind auch top vorbereitet.« Bodo hielt die verpackte Schutzkleidung hoch.
»Kein Thema, wenn ich im Gegenzug Informationen erhalte.«
»Gilt das auch für den Hund?«
»Ist das der Wunderknabe eurer Einheit, der sogar Sprengstoff meldet, ohne ausdrücklichen Befehl, danach zu suchen?«
»Genau. Das ist unser Smart.«
»Dann hab ich nichts dagegen.«
Er schaute zu, wie sie in die Overalls schlüpften und sich die Hüllen über die Schuhe zogen. Gabriella reichte Natasha ein Gummiband, mit dem sie ihre kinnlangen Haare zu einem Pferdeschwanz band, bevor sie sich die Kapuze über den Kopf zog. Zuletzt zogen sie die Einmalhandschuhe über.
»Ihr kennt das Prozedere, also bleibt in der Spurengasse, nichts bewegen, nichts anfassen, nur Anschauen ist erlaubt.« Er blinzelte Gabriella zu, aber statt auf sein Flirten einzugehen, senkte sie den Kopf.
Sie folgten ihm über den leicht ansteigenden Weg der Einfahrt zu einer Garage. Die offene Haustür lag rechts davon. Am auffälligsten empfand Natasha die vielen Fenster an der Fassade, die eine offene, freundliche Atmosphäre suggerierten. Trotz der Nähe zur Autobahn A1 drangen die Geräusche vom Straßenverkehr nur gedämpft zu ihnen herüber.
Gabriella stieß ihr den Ellenbogen in die Seite. »Idyllisch, hm? So müsste man mit Kindern wohnen. Genug Platz zum Spielen. Sollte man sich merken.«
»Boah, bist du morbid. Der Mann liegt noch nicht mal unter der Erde, und du willst dir schon das Haus krallen.«
»So ist Ömer auch an sein Haus gekommen.«
»Er hat die Besitzer umgebracht?«
»Quatsch, aber das Haus war ein Tatort, und er hat es echt günstig bekommen, weil niemand sonst in ein Haus ziehen wollte, in dem ein Verbrechen verübt wurde.«
Ein akkurat geschnittener Rasen ohne Unkraut und eine schneeweiß blühende Hortensie bildeten den Blickfang im Vorgarten. Sie betraten das Haus.
Licht. Das war der erste Gedanke, der sich Natasha aufdrängte, kaum dass sie die Diele betreten hatten. Rechts führte eine offene Holztreppe nach oben in das Dachgeschoss und nach unten in den Keller. Durch das Fenster an der Stirnseite flutete das Sonnenlicht von Wolken gebrochen in den Eingangsbereich.
»Wir packen gerade alles zusammen«, erklärte Ömer, der vor ihnen herging, während sie ihm im Gänsemarsch folgten.
Natasha bildete das Schlusslicht.
»Wieso seid ihr überhaupt noch hier? Ich dachte, das wäre ein simpler Fall von Suizid?«, kam Bodo gleich zum Kern der Sache.
»Wieso interessiert ihr euch eigentlich für den Fall?«
»Weil der Mann lange Zeit ganz oben auf der Fahndungsliste stand und sich schon einmal erfolgreich einer Verhaftung entziehen konnte, indem er seinen Tod vortäuschte.«
»Da hast du doch schon deine Antwort. Warum sollten wir schlampiger arbeiten als ihr?«
Sie kamen in ein Wohnzimmer mit einer Schiebetür, die hinaus in den Garten führte. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin blieben alle stehen und ließen den Ort, an dem Wolff eines unnatürlichen Todes gestorben war, auf sich wirken. Gut ein Drittel des gepflasterten Bereichs wurde durch ein vorgezogenes Dach geschützt. Von dort beginnend hatte die Tatortgruppe ein feinmaschiges, weißes Netz gespannt, das um die gesamte Terrasse bis etwa drei Meter in den Garten reichte und wie ein Zelt mit Heringen im Boden verankert war. Auf diese Weise hielten sie die fliegenden Insekten vom Tatort fern.
Natasha betrachtete die leere Terrasse mit dem Blutmuster und den Kennzeichnungen der Spurensicherung. Ömer hob das Tablet, das er getragen hatte, und aktivierte die Anzeige. Er scrollte durch ein paar Bilder und reichte es Bodo. Natasha stellte sich hinter Bodo und blickte ihm über die Schulter. Die Fotos zeigten die Terrasse und darauf einen bequemen Liegestuhl, dessen Stoff sich an manchen Stellen mit Blut vollgesogen hatte. Darauf lag ordentlich gefaltet eine karierte Wolldecke in grün-braunen Tönen. Rechts vom Stuhl war ein kreisförmiges Muster von Blutspritzern wie von einem rostfarbenen Sprühregen, manche Tropfen größer als andere. Zwischendrin war das Muster verwischt. Links, seitlich vom Stuhl, stand ein Tisch, darauf ein Teller mit einer Gabel, daneben eine Tasse auf einem Unterteller, elfenbeinfarben mit einem Goldrand, aber nicht verspielt, sondern mit klaren Linien, vermutlich Geschirr von einer deutschen Porzellanmanufaktur. Eleganz, Wärme, Gewalt, ging es Natasha durch den Kopf.
Bodo reichte Ömer das Tablet zurück.
»Dein Eindruck?«
Bodo zögerte, bevor er die Frage beantwortete: »Kopfschuss. Die Waffe auf dem Boden. Keine Anzeichen eines Kampfes oder sonstige sichtbare Spuren, die auf die Anwesenheit einer fremden Person deuten würden, bis auf die Verwischungen im Blutmuster.«
»Der Hausangestellte. Er hat den Leichnam gefunden und den Notarzt gerufen.«
»Wieso den Notarzt?«
»Er sagte, er habe gehofft, dass man ihm noch helfen könne.«
»Wolff zeigte noch Lebenszeichen, als der Mann ihn fand?«
»Nein.«
Bodo schaute auf die Markierung, dort, wo die Waffe gelegen hatte. »Die Lage der Pistole passte?«
»Ja. Nur seine Fingerabdrücke und DNA darauf. Keine Schmauchspuren an seinen Händen oder Blutspritzer.«
»Moment, das ergibt aber keinen Sinn. Wenn er den Schuss ausgelöst hat, muss es Schmauchspuren und Blutspritzer geben.«
»Er trug Kalbslederhandschuhe. Wer bringt sich um und trägt dabei Handschuhe? Ich denke, das hat den Notarzt bewogen, die Polizei hinzuzuziehen. Er wollte sicherstellen, dass die Umstände auf Fremdeinwirkung hin untersucht werden. Die Staatsanwältin hat sich dem angeschlossen. Gegen Wolff liegt ein Haftbefehl vor.« Er deutete mit dem Kinn auf den Tatort. »Ihr könnt euch hier frei bewegen, mit dem Bereich sind wir fertig.« Ömer trat auf die Terrasse und begann, das Netz abzubauen.
Smart hob die Nase in die Luft. Er war sichtlich aufgeregt, bekam einen Kragen, knurrte und bellte.
Verblüfft sah Ömer ihn an. »Was hat er denn?«
»Stop, sit«, befahl Pit, was der Hund direkt befolgte, die Augen auf sein Herrchen gerichtet.
»Ein anderer Hund. Rüde.«
»Fehlt nur noch der Name.«
Pit ging auf den Spott des LKA-Beamten nicht ein.
Auch Bodo richtete seine Aufmerksamkeit auf Smart. »Das ist kein Scherz. Die beiden sind ein eingespieltes Team. Smart hat viele Talente, deshalb muss Pit anhand seiner Körpersprache und Lautgebung verstehen, was sein Hund ihm mitzuteilen versucht. Leider kann er ja nicht reden.«
Pit löste die Leine. »Search.« Smart rannte zu einer Stelle, die etwa drei Schritte vor der Markierung des Stuhls lag. Seine Nase bewegte sich in einem Zickzackkurs über den Boden, dann rannte er los, tauchte in den dichten Rhododendron ein und bellte kurz darauf dreimal scharf.
»Wollen wir doch mal sehen, was er gefunden hat.« Den Blick auf den Boden gerichtet ging Pit am Rhododendron auf alle viere und kroch mit Bedacht zu seinem Hund, dicht gefolgt von Ömer und Bodo.
Gabriella nahm derweil den Tatort von vorn in Augenschein. Natasha hingegen stellte sich unmittelbar hinter die Kennzeichnung des Liegestuhls. Sie blickte direkt auf das angelegte Blumenbeet, in dem die Herbstblumen um die Aufmerksamkeit des Betrachters zu wetteifern schienen. Gepflegte, sorgfältig arrangierte Blumenrabatten, abgeschnittene Stauden und freie Bereiche – der Garten bot für jede Jahreszeit etwas zum Entdecken. Ihrem Vater würde bei diesem Anblick das Hobbygärtnerherz aufgehen. Die Strukturen wirkten symmetrisch. So wie im Eingangsbereich war auch hier der Rasen kurz gemäht und gepflegt.
»Herr Wolff hat jeden Nachmittag einen Kaffee getrunken und ein Stück Bienenstich dazu gegessen – sofern es das Wetter zuließ, auf der Terrasse.«
Natasha drehte sich zu dem Mann um, der lautlos an der Schwelle der Terrassentür aufgetaucht war. Sein Augenmerk lag auf den Büschen, von wo die weißen Schutzanzüge hervorblitzten.
»Herr Bekar, was veranstalten Sie da im Rhododendron? Ist Ihnen klar, wie alt der Strauch ist und wie viel Mühe es kostet, ihn so dicht zu halten?«
Ömer tauchte aus dem Gebüsch auf. »Hier sind Abdrücke von Hundepfoten.«
Der Mann schnaubte. »Wie ich Ihnen und Ihren Kollegen bereits sagte, kommt es häufiger vor, dass sich Hunde beim Jagen in unseren Garten verirren. Daher auch die Hundehaare auf der Terrasse. Wie lange werden Sie noch brauchen?«
Ömers Ausdruck wurde ernst. »Wir packen bereits zusammen, Herr Schimmelpfennig. Allerdings werden wir uns den Garten nochmals vornehmen müssen.«
»Wer sind diese Leute hier?«
Ömer holte tief Luft, aber Natasha kam ihm zuvor. Sie schenkte dem Mann ein freundliches Lächeln. »Wir sind Kollegen von Herrn Bekar. Standen Sie im Dienst bei Herrn Wolff?«
Er erwiderte ihr Lächeln nicht. »Falls Sie etwas durch ihre Unachtsamkeit zerstören, werde ich es Ihnen in Rechnung stellen. Wenn Sie mich entschuldigen wollen. Es gibt eine Beerdigung zu organisieren.«
»Herr Wolff hatte weder eine Familie noch Verwandte?«
Der Mann hielt in der Bewegung inne und musterte sie, als wäre es eine Unverschämtheit, dass sie ihm eine Frage stellte. Smart kam aus dem Gebüsch herausgeschossen und setzte sich mit gesträubten Nackenhaaren neben sie.
Der Mann musterte den Hund aufmerksam. Sein Mund verzog sich zu einem feinen Lächeln. »Ein Deutscher Schäferhund. Ein schönes Tier.«
Pit trat zu ihnen. »Odin von Lichtenfels«, stellte er Smart mit seinem Stammbuchnamen vor. Das gesträubte Nackenfell des Hundes legte sich wieder. Mit gespitzten Ohren fixierte Smart den Mann, ein sicheres Zeichen dafür, dass sich seine Feindseligkeit ihnen gegenüber gelegt hatte. »Sie mögen Hunde?«
»Wenn sie erzogen sind, ja. Mein Vater züchtete Schäferhunde.«
»Diensthunde?«
»Die besten. Von Lichtenfels? Ist das der Zwinger von Herrn Balthaus?«
»Das ist richtig. Kennen Sie ihn?«
»Nicht persönlich, aber seinen Ruf. Ein guter Züchter.«
Natasha wagte einen weiteren Anlauf. »Herr Schimmelpfennig, haben Sie den Leichnam von Herrn Wolff entdeckt?«
»Herr Wolff lebte sehr zurückgezogen. Besuch kam nur selten. Also, ja, ich war es, der ihn fand und den Notruf absetzte.«
»Warum haben Sie nicht die Polizei angerufen?«
»Weshalb hätte ich das tun sollen? Die Waffe, das Blut, die Wunden am Kopf – es war offensichtlich, dass er sich das Leben genommen hatte. Manchmal überleben Menschen einen Kopfschuss, deshalb wählte ich die Nummer des Notrufs. Ich kann nicht verstehen, weshalb das ganze Trara hier veranstaltet wird.«
»Weil der Notarzt Zweifel hegte und die Polizei hinzuzog.«
Schimmelpfennig schnaubte. »Die werden auch immer jünger. Kein Wunder, dass es mit unserem Gesundheitssystem bergab geht. Ihm verdanke ich es, dass man mich verdächtigt hat, meinen eigenen Arbeitgeber umgebracht zu haben.«
»Und, haben Sie das?«
Die Antwort kam souverän und schnell. »Nein.« Herr Schimmelpfennig sah den LKA-Beamten an. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie das Haus verlassen und ich alles reinigen kann. Das Blut stinkt. Es zieht Ungeziefer an.«
»Sie sagten, Herr Wolff hätte jeden Nachmittag ein Stück Bienenstich gegessen und dazu einen Kaffee getrunken.« Natasha runzelte die Stirn, rief sich das Bild von dem ordentlich ineinander gestapelten Geschirr ins Gedächtnis. Die gefaltete Decke mit dem getrockneten Blut auf dem Liegestuhl. Sie wartete, ließ die Stille für sich arbeiten.
»Er liebte den Kuchen. Es war ein Rezept seiner Mutter. Eine Anforderung für die Anstellung war, dass ich ihn backen kann.« Sein Blick richtete sich in die Vergangenheit, seine Stimme bekam einen sanfteren Klang.
»Und sein bevorzugter Ort für den Nachmittagskaffee war die Terrasse?«
»Das hing vom Wetter ab. Gestern war ein schöner Tag. Ich denke, er wollte die letzten Sonnenstrahlen nutzen.«
»Es war ziemlich kalt, nicht ungefährlich für jemanden in seinem Alter. Fanden Sie das nicht ungewöhnlich?«
»Deshalb Jacke, Schal und Mütze. Abgesehen davon ist es nicht meine Aufgabe als Butler, die Entscheidungen meines Arbeitgebers infrage zu stellen.«
»Wussten Sie, dass er eine Waffe besaß?«
»Ja. Herr Wolff hatte einen Waffenschein. Sie können das gern überprüfen.«
»Wieso?«
»Was meinen Sie mit ›wieso‹?«
»Herr Wolff war doch Geschichtsprofessor. Ich finde es ungewöhnlich für einen deutschen Akademiker, eine Waffe zu besitzen.«
»Er wuchs in Amerika auf, da ist das nichts Ungewöhnliches.«
»Wo hat er Kaffee getrunken, wenn das Wetter es draußen nicht zuließ?«
»Im Kaminzimmer.«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns den Raum zu zeigen?«
Er schaute den LKA-Beamten an, runzelte die Stirn. »Der Bereich, in dem ich mich im Haus bewegen darf, wurde eingeschränkt.«
Bevor er seinem Ärger über die Tatortgruppe weiter Luft machen konnte, kam ihm Ömer zuvor. »Das ist in Ordnung. Wie gesagt, wir packen gerade zusammen.«
Ohne ein weiteres Wort drehte Herr Schimmelpfennig sich um und ging vor zum Wohnzimmer. Natasha und Pit folgten ihm, achteten jedoch darauf, sich innerhalb der Spurengasse zu bewegen. Sie gingen den Flur entlang bis zu einer Tür, die von innen geöffnet wurde, als sie sie eben erreichten. Die Beamten, die herauskamen – einer davon mit einer Kamera – nickten ihnen zu und gingen durch den Flur zum Hauseingang.
Sie traten ein. Alles in dem Raum schien sich an dem anthrazitfarbenen Specksteinofen von schlicht rechteckiger Form auszurichten, der an der längeren Wand stand. Vor dem Ofen befand sich ein gemütlicher Ledersessel mit einem Fußhocker davor und daneben ein Tisch, auf dem ein Buch mit einem abgegriffenen Umschlag lag. Die gegenüberliegende Wand wurde von einem Bücherregal beherrscht. An der Stirnseite reihten sich in einer Bar mehrere Flaschen teuren Whiskys, aber auch Scotch, Cognac, Wodka und Sherry, soweit Natasha die Bezeichnungen auf den Etiketten etwas sagten. Sie ging zu dem Tisch neben dem Ledersessel und nahm die in einen Ledereinband eingeschlagenen Bambusstreifenseiten mit chinesischen Schriftzeichen auf.
Kaum hatte sie das Buch in der Hand, stand Schimmelpfennig bereits neben ihr. »Geben Sie mir das.«
»Herr Wolff konnte Chinesisch?«
Er schnaubte. »Er war Professor für Geschichte an der Humboldt-Universität. Er beherrschte viele Sprachen.«
»Wie viele?«
»Keine Ahnung, sechs, sieben … vielleicht auch mehr. Geben Sie mir das Buch, es ist eine Originalausgabe.«
»Eine Originalausgabe von einem Buch aus der Zeit vor Christus?«
»Sie kennen das Buch?«
»Die Kunst des Krieges? Ja, und ich kann verstehen, dass er keine Übersetzung gelesen hat. Dabei geht vieles verloren.«
»Sie können Chinesisch?«
»Lesen ja, schreiben nein, und es ist nicht gerade eine Sprache, die ich gut beherrsche, muss ich gestehen, vor allem nicht das ursprüngliche Chinesisch.«
Vorsichtig, als hielte sie ein filigranes, zerbrechliches Glaskunstwerk in den Händen, überreichte sie Schimmelpfennig die Kostbarkeit. Er ging zum Bücherregal, zog eine Schublade darin auf, holte ein Wachstuch heraus und verpackte das Buch behutsam darin, bevor er es ablegte und die Schublade wieder zuschob. Natasha sah sich die Bücher in den Regalen genauer an. Es gab einige Antiquitäten darunter, viele davon zu den Kriegen der Geschichte von der Antike über das Mittelalter bis zur Neuzeit. Alte Atlanten mit historischen Karten. Das Heilige Römische Reich deutscher Nationen. Sie spürte die Nähe von Schimmelpfennig, der dicht bei ihr blieb. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Hier lagerte ein Vermögen.
»Wie lange haben Sie für Herrn Wolff gearbeitet?«
»Nächstes Jahr im Februar wären es zwölf Jahre gewesen.«
»Wussten Sie, dass er nicht der Mann war, der er zu sein vorgab, sondern ein gesuchter Verbrecher, der in der von ihm geschaffenen Identität seines Zwillingsbruders hier in Berlin lebte?«
Seine Haltung straffte sich. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Davon, dass Eberhard Wolff, der Geschichtsprofessor im Ruhestand, gar nicht existierte.«
»Natürlich existierte er. Ich weiß, dass er einen kriminellen Zwillingsbruder hatte, der vor etwa zehn Jahren ums Leben kam.«
»Sie kannten Konstantin Wolff?«
»Nein, die Brüder verkehrten und redeten nicht miteinander. Herr Wolff verabscheute die Tätigkeit seines Bruders als Waffenhändler.«
»Und doch besaß er selbst eine Waffe.«
»Das ist etwas vollkommen anderes.«
»Sie haben die Brüder also nie zusammen gesehen?«
»Nein.«
»Und kein einziger Anruf in all den Jahren?«
»Nein.« Er schnaubte und deutete auf die Regale. »Weshalb sollte jemand all diese Werke besitzen, all das Geld da hinein investieren, wenn es nicht seine Arbeit wäre?«
Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. »Bücher, mehr nicht.«
»Jedes einzelne davon hat er gelesen. Ganz abgesehen von seinen eigenen Veröffentlichungen.« Er deutete auf ein Regalfach ganz rechts in Augenhöhe, das sich durch die modernen Umschläge vom Rest abhob.
Sie trat näher heran, legte den Kopf schief, um die Titel zu lesen. Der Autor jedes einzelnen der sechs Bücher lautete ›Professor Eberhard Wolff‹.
Sie wandte sich wieder dem Butler zu. »Gibt es Fotoalben von Herrn Wolff aus seiner Kindheit?«
»Nein.«
»Bilder aus seiner Zeit als Professor? Ehemalige Kollegen oder Studenten, die ihn besuchten?«
»Besuche im Haus waren äußerst selten.«
»Bekam er Briefe oder Besuch von Verwandten?«
Schimmelpfennig schnalzte mit der Zunge. »Nein, was sollen all diese Fragen?«
»Ich sehe in diesem Raum und auch in allem, was ich bisher vom Haus gesehen habe, nichts Persönliches von Herrn Wolff. Noch nicht einmal eine Promotionsurkunde.«
»Herr Wolff war bei all seiner Intelligenz ein bescheidener Mensch, der seine Überlegenheit nicht zur Schau stellte.«
»Wer waren seine Besucher?«
»Das ist mir nicht bekannt. Sie stellten sich nicht vor.«
»Waren es Freunde? Kollegen? Geschäftspartner?«
»Als Butler stelle ich keine Fragen, sondern widme mich meinen Aufgaben. Doch jeder Besucher war kultiviert und hatte ausgezeichnete Manieren.«
»Waren es nur Männer oder auch Frauen?«
»Warum interessiert Sie das Leben von Herrn Wolff?«
»Was wäre, wenn sich herausstellte, dass der Notarzt recht hatte und Herr Wolff ermordet worden ist? Was, wenn es nur wie Suizid aussehen sollte und dies durch die Aufmerksamkeit des Arztes vereitelt worden wäre? Womöglich kennen Sie den Mörder?«
»Was wäre, wenn morgen die Welt unterginge?«
Sie lachte. »Touché.«
»Wo waren Sie, als Herr Wolff sich das Leben nahm?«, klinkte Pit sich in das Gespräch ein.
»Dort, wo ich jeden Donnerstag an meinem freien Nachmittag bin, bei meiner Mutter, die bei meiner Schwester lebt. Die Adresse liegt Ihren Kollegen vor.«
Sie wechselte einen Blick mit Pit. Er bestätigte ihre Einschätzung. Mehr würden sie von dem Butler vorerst nicht erfahren.
»Danke, dass Sie so nett waren, uns das Kaminzimmer zu zeigen. Wäre es in Ordnung, wenn ich mir eines der Bücher von Herrn Wolff für ein paar Tage borge?«
»Nein.«
Überrascht sah sie ihn an. Sie hatte nicht erwartet, dass er ihre Bitte ausschlagen würde. Ganz abgesehen von der Schnelligkeit, mit der das Nein erfolgte, und dem brüsken Ton.
Er wich ihrem Blick aus. »Der Nachlass. Ich möchte nicht, dass mir später vorgeworfen wird, ich hätte mich bereichert.«
Pit bemerkte, wie Natasha das Smartphone herauszog, und lenkte Schimmelpfennigs Aufmerksamkeit mit einer Frage auf sich. »Es gibt Angehörige?«
»Das weiß ich nicht, aber Herr Wolff war ein Mensch, der all seine Angelegenheiten sorgfältig regelte.« Er trat an die Tür, hielt sie auf. Die Geste war unmissverständlich.
Natasha schob rasch das Smartphone zurück in ihre Hosentasche. »Werden Sie hier wohnen bleiben?«
Er blickte hinaus in den Garten. Natasha sah die kurzen Fingernägel mit sauber geschrubbtem Nagelbett, dennoch waren die Spuren der Gartenarbeit sichtbar.
»Das weiß ich nicht.«
Sie zog eine Visitenkarte aus ihrer Jackentasche und reichte sie ihm. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt oder Sie einfach nur mit jemandem reden möchten, rufen Sie mich an, egal um welche Uhrzeit.«
Er reagierte nicht, nahm auch die Karte nicht entgegen. Natasha legte sie auf den Tisch neben dem Sessel und ging mit Pit zusammen hinaus.
Pit ließ Smart in seine Hundebox im Kofferraum springen. Bodo und Gabriella blieben bei Natasha stehen.
»Was schaust du dir Spannendes an?« Gabriella beugte sich über ihre Schulter, um einen Blick auf ihr Smartphone zu werfen.
»Lass mich überlegen.« Natasha runzelte die Stirn und strahlte sie dann an. »Hm, ein Regal voller Bücher – also nichts für dich.« Flink wich sie Gabriellas gezieltem Faustschlag auf ihren Oberarm aus, geriet dabei jedoch aus dem Gleichgewicht, und ihre Kollegin ebenso. Sie hielten sich aneinander fest und kicherten beide los.
»Okay, jetzt mal ernsthaft, Natasha, was sind das für Bücher?«
»Alles Bücher, die Professor Dr. Eberhard Wolff veröffentlicht hat. ›Das Scheitern des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nationen‹oder ›Das Heilige Römische Reich deutscher Nationen aus der heutigen Sicht betrachtet‹.« Sie tippte bereits den Titel des ersten Buches in die Suchmaschine ein.