3,99 €
Als sie sich das erste Mal begegnen, sind sie Feinde: die Fotografin Hanna Rosenbaum und Major Ben Wahlstrom, Soldat einer deutschen militärischen Spezialeinheit. Hanna versucht, die Menschen zu beschützen, die sie liebt, Ben hingegen will die Wahrheit hinter einem Anschlag auf ein afrikanisches Dorf aufdecken, um die Verantwortlichen ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Hanna gibt Ben für eine einzige Nacht Einblick in ihre Seele, die sie so lange verschlossen hielt, und muss am nächsten Morgen feststellen, dass er ihr Vertrauen missbraucht. Gibt es immer nur eine Wahrheit? Und wenn ja – was ist, wenn diese Wahrheit bedeutet, einen Menschen zu verlieren, der aus tiefstem Herzen etwas Gutes erreichen wollte, aber dafür einen Weg wählt, der Leben kostet?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Deutsche Erstauflage März 2013
Copyright© 2013 Kerstin Rachfahl, 59969 Hallenberg
Lektorat Werner Irro: wortinstitut.de
Überarbeitung: Martina Takacs
Covergestaltung: Georg Lechner
Titelbild: © Maksym Topchii – 123rf.com
Kerstin Rachfahl
Heiligenhaus 21
59969 Hallenberg
Autorenblog: www.kerstinrachfahl.de
E-Mail: [email protected]
Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
1. Afrika
2. Befragung
3. Hanna
4. Nacht
5. Deutschland
6. Familie
7. Nairobi
8. Major Wahlstrom
9. Begegnung
10. Recherche
11. Vergangenheit
12. Adrenalin
13. Veranstaltung
14. Gefühle
15. Eindringling
16. Freundschaft
17. Kriminell
18. Eskalation
19. Wille
20. Flucht
21. Beichte
22. Verrat
Nachwort
Bücher von Kerstin Rachfahl
Über die Autorin
Für Rossi
»Es gibt Schönheit mitten im Leiden, Freude in der Trauer, Hoffnung in der Verzweiflung und neues Leben sogar im Tod.«
Nigerianische Lebensweisheit
Tagelang war der Regen ausgeblieben. Staub hüllte den Jeep ein, drang durch jede Ritze in das Innere des Fahrzeugs. Wie ein feiner Film legte er sich auf die Menschen und gab allen das gleiche gelbliche Aussehen. Hanna Rosenbaum konnte den Staub sogar auf ihren Zähnen spüren. Vor einer ganzen Weile schon hatte sie aufgehört, den Mund mit Wasser aus zu spülen. Es war zwecklos, nach ein paar Minuten fühlte sich alles genauso trocken an wie zuvor. Selbst das Tuch über Nase und Mund nützte nichts. Besorgt dachte sie an ihre teure Kameraausrüstung.
Sie sah nach vorn. Ochuko Mutai fuhr konzentriert in einem gleichmäßigen Tempo. Wie Ochuko Mutai durch den Staub hindurch überhaupt die Straße sehen konnte, war ihr schleierhaft. Sie drehte sich zu ihrem Reisegefährten Harald Winter um, der leise vor sich hin schimpfend versuchte, die Kappe seiner Wasserflasche zu öffnen. Harald hatte ihr vor zwei Stunden den Platz neben dem Fahrer überlassen, sicher, weil er hoffte, dass es im hinteren Teil des Wagens etwas weniger staubte.
Winter fluchte, als das Auto anhielt.
»Was ist los?«, fragte er den Fahrer auf Englisch.
Hanna hörte die Gereiztheit in seiner Stimme. Nach zwei Wochen unterwegs mit Zelt, schlafen auf dem Boden und über dem Feuer aufgewärmtem Essen, sehnte er sich nach einem weichen Bett, so gut kannte sie ihn schon von ihren früheren Reisen.
Sie griff ihre Kamera, stieg aus dem Fahrzeug und begann, Fotos von der Landschaft zu machen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich Ochuko Mutai zu Winter umdrehte.
»Ich würde gerne bei meiner Schwester vorbeischauen. Ihr Dorf ist nicht weit von hier entfernt, und von dort ist es nur noch eine Stunde bis zum Flughafen von Zaria. Wir wären in jedem Fall rechtzeitig da.«
Hanna schaute von ihrem Objektiv auf. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie wusste, Harry würde einwilligen. Sie beide mochten den schweigsamen Ochuko, der zu einem ihrer Lieblingsmotive geworden war.
Sie waren für National Geographic in Nigeria unterwegs. Harald Winter schrieb eine Reportage über die Umweltschäden durch Erdölförderung im Nigerdelta und Hanna Rosenbaum war für die Fotos zuständig.
Hanna sah in allem, was sie umgab, die Schönheit der Schöpfung. Was sie in der Natur berührte, versuchte sie in ihren Fotos einzufangen.
Die Reise war für alle anstrengend gewesen, und eine kurze Pause, dachte Hanna, würde allen guttun. Außerdem war sie neugierig auf die Schwester von Ochuko Mutai. In seiner unvergleichlich indirekten Art hatte er Hanna einiges über sie erzählt, voller Liebe und Respekt in seinen Worten. Bis zu ihrem Rückflug nach Nairobi, von wo sie in zwei Tagen die Rückreise nach Deutschland antreten würden, war noch genügend Zeit für den kleinen Abstecher.
»Hanna, wir fahren weiter!«
Hanna lag flach auf dem Boden, um eine bessere Perspektive auf den Käfer zu haben, den sie entdeckt hatte.
In Harrys Stimme lag eine Spur von Ekel. Hanna musste grinsen. Als sie ihm vorher das Foto einer monströsen Spinne, gezeigt hatte, die sie am Tag zuvor in ihrem Lager fotografiert hatte, war er kreidebleich geworden.
Sie stand auf, klopfte sich den Staub aus den Klamotten, obwohl das völlig vergeblich war, und stieg zu den Männern ins Fahrzeug. Ochuko Mutai grinste, was Hanna zum Anlass nahm, ein weiteres Foto von ihm zu schießen.
»Ich frage mich, wen du mit deiner Fotografiererei nervst, wenn du wieder zu Hause bist«, brummte Harald.
»Dich«, antwortete sie und schoss ein Foto von ihm.
»Sag mal, Ochuko«, wandte sich Hanna an den Fahrer, »warum hast du gerade über mich gelacht?«
»Weil ich noch keine Frau kennengelernt habe, die jede Gelegenheit nutzt, um sich im Dreck zu wälzen, und das für die ekeligsten Geschöpfe auf dieser Erde.«
Sie lachten alle. Als Beschreibung von Hannas Tätigkeit in den letzten Wochen war das ziemlich zutreffend. Vor vier Jahren war sie das erste Mal mit Harald Winter zusammen unterwegs gewesen. Ein Fotoreporter war erkrankt, und die Agentur hatte Hanna kurzfristig für einen Auftrag über den Ganges angefragt. Das war ihre Chance gewesen, in die Liga der professionellen Fotoreporter einzusteigen.
Damals war sie vierundzwanzig und ein vollkommen unbeschriebenes Blatt. Harald Winter hatte sich maßlos aufgeregt, als er sie in Indien an die Seite gestellt bekam. Hanna erinnerte sich noch genau an seinen Wutanfall und seinen umgehenden Anruf bei der Agentur. Sie war ganz ruhig geblieben und hatte abgewartet, bis er einsah, dass es keine andere Möglichkeit gab. Missmutig schimpfte er über sie als Frischling und beklagte sich, dass er mit einer Frau dem Lauf des Ganges in die Berge folgen sollte. Wenn Hanna glaube, dass er ihre Kameraausrüstung tragen würde, dann habe sie sich geschnitten.
Belustigt war Hanna ihm gefolgt. Nicht sie war es, die nach dem vierten Tag über die Strapazen klagte. Ihr war kein Fußmarsch zu weit, sie kletterte jeden Baum hoch, wenn es dort eine bessere Perspektive für ein Foto gab.
Ihre Ausrüstung gab Hanna niemals aus der Hand. Sie packte ihren Rucksack immer mit denselben Utensilien, lediglich die Stoffe änderten sich je nach Klimazone. Eine Hose, ein zweites Oberteil, sechs Unterhosen, drei BHs, drei Paar Socken, Zahnbürste, Zahnpasta, Seife, Shampoo und Hygieneartikel. An der einen Seite ihres Rucksacks war eine Halterung mit Schutzhülle für ihr größtes Objektiv. Auf der anderen Seite gab es eine Halterung für das Stativ. Um die Taille trug sie einen Gurt, in dem sich ein weiteres Objektiv befand, ein Tuch, ein Schweizer Offiziersmesser, ein Jagdmesser, Batterien sowie in verschiedenen kleinen Taschen, nach einem bestimmten Farbencode sortiert, die Speicherkarten für die Kamera. Hanna konnte mit verbundenen Augen einen Objektiv- und Chipkartenwechsel vornehmen, noch dazu in der Geschwindigkeit, wie Profis in Thrillern die Magazine ihrer Waffen wechselten.
Schon bald waren Winters Bedenken verschwunden. Nachdem er ihre ersten Fotos zu Gesicht bekommen hatte, hatten sie sich zu Begeisterung gewandelt. Sein Artikel mit Hannas Fotos trieb die Auflagenhöhe der Zeitschrift nach oben.
Hanna Rosenbaum wurde in der Szene schnell bekannt und eine begehrte Partnerin für den Fotopart. Ihr Blick für die Seele eines Landes und noch mehr für die Menschen darin war unbestechlich. Schon häufig war Hanna das Staunen in Winters Gesicht aufgefallen, wenn sie ihm Fotos von ihren gemeinsamen Unternehmungen zeigte. Sie wusste, dass er sich fragte, wieso er nicht sah, was ihre Bilder ihm klar offenbarten. Manchmal machte sie sich einen Spaß daraus und brachte ihn völlig aus der Fassung, wenn sie durch digitale Nachbearbeitung besondere Merkmale in den Bildern hervorhob.
Es war Hannas einzigartiger Blick durch das Objektiv, der ihn zu ganzen Geschichten inspirieren konnte. Letztes Jahr war Harald Winter auf der ersten Ausstellung ihrer Fotos in einer Berliner Kunstgalerie gewesen. Die Ausstellung stand unter dem Motto: Menschen dieser Erde. Die Fotos zeigten Menschen aus verschiedenen Ländern in unterschiedlichen Lebenssituationen. Es war ihr perfekt gelungen, die Gesichter und ihre Wesenszüge festzuhalten, und die Fotos berührten Winter tief. Viele von den Bildern waren bei ihren gemeinsamen Aufträgen entstanden: die Mutter, die ihr Kind tröstete, das gestürzt war, peruanische Frauen, die sich, in bunte Trachten gewickelt, lachend etwas erzählten. Ein Massai, der konzentriert in die Ferne blickte oder buddhistische Mönche in tiefer Meditation, sodass Stille und Ruhe förmlich greifbar waren.
Hanna wusste, seit Harald Winter mit ihr für Reportagen unterwegs war, gewann sein Stil an Klarheit und Kraft. Nun wagte er sich sogar an sein erstes Buch, das aus der Reportage über den Ganges hervorging.
Sie waren ein gutes Team, Hanna Rosenbaum reiste gerne mit Harald Winter. Er hätte ihr Vater sein können. Nie versuchte er mit ihr zu flirten oder gar mehr. Er erzählte ihr gerne und viel von seinem Leben, hatte vieles gesehen und über noch mehr geschrieben.
Manchmal dachte Hanna, es gäbe nichts, was er nicht wüsste.
Kurze Zeit später saßen alle drei mit Ochuko Mutais Schwester sowie mit zehn Kindern an einem Tisch und aßen Moi-Moi, die traditionelle afrikanische Speise aus in einem Fladen gebackenen Bohnen mit Eiern einer willkommenen Abwechslung nach dem einseitigen Essen der letzten Wochen. Ochuko erzählte den anderen von ihrer Reise, und obwohl Hanna und Winter die Sprache nicht verstanden, erkannten sie an seinen Gesten recht gut, wovon gerade die Rede war: mal von Harald Winter, der ständig in sein Buch kritzelte, mal von Hanna Rosenbaum, die Fotos machte. Hanna beobachtete die Geschwister, und wie ungezwungen sie miteinander umgingen. Rukia Mutai schien jünger zu sein als ihr Bruder Ochuko. Ihr Blick war wachsam und ernst, um ihren Mund war ein trauriger Zug, und in ihrem Lachen lag immer auch Vorsicht.
An der Art, wie Rukia mit den Kindern umging, war Hanna ziemlich schnell klar geworden, dass keines davon ihr eigenes war. Sie fragte sich, weshalb jemand zehn Kinder betreute. Eine weitere Sache fiel ihr auf: Obwohl das Dorf fernab jeder größeren Stadt lag, waren die hygienischen Bedingungen ausgezeichnet. Es gab eine Wasserpumpe im Haus und Strom, die Kinder waren sauber und ordentlich gekleidet, ihre Fingernägel geschnitten, die Haare kurz oder geflochten. Der Staub, wie er ihre Reisegruppe den ganzen Tag verfolgt hatte, war aus dem kleinen Haus verbannt.
Harald Winter hatte sein Notizbuch aus seinem Rucksack herausgezogen und zu schreiben begonnen, während sich das Gespräch zwischen Ochuko und seiner Schwester einem neuen Thema zuwandte.
Die Stimmen der beiden wurden leiser. Ihr Blick streifte immer wieder Hanna, die still aß. Schon bei der Begrüßung war ihr aufgefallen, wie Rukia Mutai sie mit großen Augen betrachtete und ihren Bruder etwas fragte. Ochuko hatte ihr ebenfalls einen Blick zugeworfen, die Stirn gerunzelt und seiner Schwester dann ihren Namen genannt. Hanna wurde das Gefühl nicht los, dass sie in irgendeiner Form der Gegenstand des leise geführten Gesprächs zwischen den beiden war. Sie fühlte sich wie eine Lauscherin, obwohl sie kein Wort verstand.
Andere scheue Blicke streiften die weißen Besucher. Als Hanna Grimassen zog, kicherten die Kinder hinter vorgehaltener Hand. Sie waren wirklich gut erzogen.
Hanna wusste nicht, was sie an den Kindern irritierte. Nachdenklich holte sie ihre Kamera heraus. So rückte sie jeder Frage in ihrem Leben auf den Pelz, mit der Distanziertheit durch das Objektiv ihres Fotoapparats nahm sie Abstand und richtete den Fokus auf den Wesenskern des Motivs, egal ob es eine Landschaft, Tiere oder Menschen waren.
Sie begann, Bilder von den schokoladenbraunen Augen der Kinder zu machen, die neugierig auf ihre Kamera gerichtet waren. Sie stand auf und bat die Kinder, ihr nach draußen zu folgen. Fragende Blicke gingen zu Rukia Mutai, und als sie nickte, kamen die Kinder hinter Hanna hergelaufen. Der Reiz des Neuen hielt aber nicht lange an, und bald waren alle in ihre Spiele vertieft. Nur ein Junge beobachtete sie neugierig, als sie weiter Bilder machte.
Auf dem Display des Fotoapparates zeigte Hanna ihm die Fotos. Dann fragte sie ihn in Zeichensprache, ob er es selbst probieren wollte. Der Junge nickte. Sie erklärte ihm die Kamera und stellte sich als Motiv zur Verfügung, was sie normalerweise nie tat. Sie hasste es, sich selbst auf Bildern zu sehen. Es war ein Gefühl von Schutzlosigkeit und Nacktheit, das sie dabei überfiel, als würde jemand ihren Panzer durchdringen.
Als der Junge einige Bilder gemacht hatte, nahm Hanna ihre Kamera zurück. Auf dem Display zeigte sie ihm seine Bilder. Er besaß ein natürliches Gespür für die Proportionen eines Porträts. Sie streckte ihre Hand aus, und gemeinsam gingen sie ein Stück hinter das Haus. Verblüfft hielt sie inne, als sie den ordentlich angelegten Garten sah.
Der Junge grinste und führte sie zu einem kleinen Beet mit Bohnen, zeigte auf sich, dann auf die Bohnen. Hanna verstand. Aufmerksam betrachtete sie die Pflanzen und fand eine kleine Raupe. Sie hob die Kamera ans Auge, fokussierte das kleine Tier und drückte ab. Als Nächstes gab sie dem Jungen die Kamera und deutete auf die Raupe.
Der Junge nickte eifrig und begann zu knipsen.
Indem sie ihre Bilder verglichen, verstand der Junge, was er anders machen musste, um bestimmte Effekte zu erzielen. Er lernte schnell.
Gemeinsam machten sie sich auf die Jagd nach anderen Motiven. Durch das Objektiv entstand eine neue Welt vor ihren Augen, der Garten wurde zu einem Abenteuer voller kleiner Wunder. Dann nahmen sie sich die Hütte von außen vor, fanden Ritzen, Holzstrukturen und Farbschattierungen. Als sie gerade ein Foto von der Haustür machten, wurde der Junge von den anderen Kindern gerufen. Sein Blick wanderte zwischen seiner neuen Freundin und den Kindern hin und her, Hanna lächelte, nahm ihm die Kamera ab und jagte ihn zu seinen Spielkameraden.
Sie machte noch ein paar Fotos von den spielenden Kindern, und plötzlich verstand sie, was sie an den Kindern irritierte. Es waren keine unschuldigen Kinderaugen, die sie durch ihr Objektiv sah. Mit einem tiefen Ernst, einer Weisheit und Traurigkeit blickten sie ihr aus den Bildern entgegen. Hanna kannte diesen Verlust von Unschuld in den Augen eines Kindes. Genauso erkannte sie den Schmerz in ihrem Lächeln.
Harald Winter kam mit Ochuko Mutai aus dem Haus und mahnte zum Aufbruch.
Sie verabschiedeten sich von seiner Schwester, Hanna strich dem Jungen über seinen Lockenkopf und unterdrückte das Bedürfnis, ihn in die Arme zu schließen. Sie selbst hätte es nicht gemocht, wenn jemand Fremdes so etwas tat. Sie wollte die Würde des Kindes respektieren.
Gemeinsam gingen sie zum Wagen zurück, der ein Stück abseits des Dorfes an einer Wegkreuzung in den Büschen stand, die Männer beide mit ihren Rucksäcken, während Hanna ihren großen Rucksack im Wagen gelassen hatte.
Hanna drehte sich um.
Der kleine Junge sah ihr nach. Sie hob die Hand und winkte ihm. Es war mehr ein Reflex, der sie die Kamera hochnehmen ließ. Sie betätigte den Auslöser, lächelte, als sie das Grinsen des Jungen ganz nahe vor ihren Augen sah. Durch das Objektiv nahm sie eine Bewegung hinter den Häusern wahr, die rechts von dem Jungen lagen.
Dann ging alles sehr schnell. Männer in Tarnkleidung brachen aus den Büschen und hinter den Häusern hervor. Entsetzte Schreie drangen an ihr Ohr. Hanna erstarrte, versuchte zu begreifen, was gerade geschah, fühlte, wie jemand an ihrem Hemd zerrte, verlor ihren Halt. Erst, als sie sich hinter dem Wagen befanden, ließ Harald Winter sie los.
»Oh Gott, wir müssen hier weg«, keuchte er. »Wo, verdammt noch mal, ist Ochuko?«
Während Winter zur Beifahrertür des Wagens robbte, linste Hanna hinter dem Hinterrad zum Dorf hinüber. Schüsse knallten, Kinder, Frauen und Männer brachen getroffen zusammen. Mit zitternden Fingern nahm sie die Kamera, ging in das Menü und wählte den Mehrfachauslöser. Als sie den Kopf hob, sah sie, wie sich Ochuko Mutai geduckt in den Büschen zum Dorf vorarbeitete. Hastig setzte sie sich in Bewegung. Es gab nur noch einen Gedanken für sie: die Kinder. Sie musste die Kinder retten.
Sie folgte Ochuko, der bereits den Rand des Dorfs erreicht hatte, und ignorierte die verhaltenen Rufe von Harald Winter, zum Auto zurückzukommen. Ochuko Mutai versuchte, seine Schwester mit einer Handbewegung zu stoppen, als diese völlig verängstigt aus dem Haus kam. Zu spät. Ein einzelner Schuss war zu hören, und mit einem staunenden Blick brach sie zusammen. Hanna beschleunigte ihr Tempo, als sie sah, wie der kleine Junge, mit dem sie fotografiert hatte, in die Schusslinie der Angreifer geriet, gleichzeitig drückte sie den Auslöser auf ihrer Kamera.
Jemand stoppte ihren Lauf, riss sie nieder.
Sie wand sich in dem Griff und wehrte sich, dann war sie wieder frei. Sie rappelte sich auf, doch es war zu spät. Der Junge lag bereits am Boden.
Hanna spürte ein Brennen in den Augen, ohnmächtig fühlte sie sich niedergedrückt. Voller Zorn hob sie die einzige Waffe, die sie besaß, ans Auge. Sie nahm ihr Ziel ins Visier und fotografierte. Schwenkte nach rechts, schwenkte nach links, während die Kamera in einem Staccato ein Bild nach dem anderen schoss. Durch das Objektiv sah sie, wie sich die Waffe eines Angreifers auf sie richtete. Dem Tod ins Auge blickend, ließ Hanna den Finger auf dem Auslöser, der in Bruchteilen von Sekunden ein Bild nach dem anderen machte. Sie hörte Schüsse und wartete darauf, dass die Kugel in ihren Körper eindrang, doch stattdessen brach der Mann in ihrem Objektiv zusammen. Bevor ihr Verstand die Information verarbeiten konnte, wurde sie zu Boden gerissen. Staub wirbelte um sie herum auf, der Luftwirbel eines Hubschraubers drückte sie zu Boden. Eine Explosion ertönte, und eine Hitzewelle schwappte über sie hinweg. Man zerrte an ihren Beinen und zog sie aus der Gefahrenzone. Erneut wehrte sie sich, dann traf sie etwas am Kopf und sie verlor das Bewusstsein.
Major Ben Wahlstrom betrachtete die Satellitenbilder vor sich auf dem Tisch. Eindeutig war zu erkennen, wie sich eine militärische Einheit auf ein Gebiet zu bewegte, das sich nahe einer großen Erdölförderanlage befand.
Als sechstgrößter Erdölproduzent stand Nigeria im Blickpunkt der internationalen Staatengemeinschaft. Trotz demokratischer Strukturen litt Nigeria unter wirtschaftlicher Korruption und militanten Gruppierungen.
Auch in Deutschland gab es ein reges wirtschaftliches Interesse an Nigeria. Zwar war kein offizielles Truppenkontingent des deutschen Militärs im Land, doch im Hauptquartier der UN in Nairobi befand sich ein deutsches Sonderkommando, das bei Bedarf in verschiedenen Regionen Afrikas eingesetzt werden konnte.
Das, was diesmal an Truppenbewegungen erkennbar war, glich keiner der üblichen militanten Aktionen, wie sie sonst bei Angriffen auf Pipelines aussahen. Das Ganze wirkte gut geplant und durchorganisiert.
Major Wahlstrom runzelte die Stirn. Die Geheimdienstunterlagen zeigten derzeit kein besonderes Gefährdungspotenzial auf, es war in letzter Zeit sogar recht ruhig in dem Land gewesen.
Leutnant Dirk Richter betrat den Raum.
»In dem gefährdeten Gebiet befindet sich eine deutsche Reisegruppe«, berichtete er. »Zwei Journalisten des National Geographic sind dort mit einem nigerianischen Führer unterwegs. In der Region gibt es drei Unterstützungsprojekte eines deutschen Pharmakonzerns und eine Forschungseinrichtung zu den gängigsten Krankheiten in Afrika.«
»Die Journalisten sind aus Deutschland?«
»Jawohl, Major Wahlstrom.«
»Also gut, dann stellen sie mir eine abhörsichere Leitung zu dem Verbindungsoffizier des nigerianischen Militärs her. Mal sehen, ob sie sich das vor Ort genauer anschauen können.«
Die Vibrationen des Hubschraubers weckten Hanna. Harald Winter hatte den Arm um sie gelegt und hielt sie fest. Über ihren Ohren befand sich ein Lärmschutz.
Hanna starrte Winter fragend an, der traurig den Kopf schüttelte. Mehr brauchte sie nicht zu wissen, Ochuko Mutai, seine Schwester und der Junge waren tot. Sie schloss die Augen und fragte sich, warum sie dieses Inferno überlebt hatte.
Harald Winter zog seinen Arm zurück, nachdem er sich versichert hatte, dass es Hanna einigermaßen gut ging.
Hanna tastete vorsichtig ihren Kopf ab und fühlte eine Beule rechts an ihrem Hinterkopf, die verflucht wehtat. Ihre Haare waren verklebt, aber als sie ihre Finger betrachtete, konnte sie daran kein Blut feststellen.
Der Lärm im Hubschrauber machte jede Unterhaltung unmöglich. Die Männer im Hubschrauber waren militärisch gekleidet, trugen Helme und Waffen. Die Soldaten waren alles Einheimische gewesen. Hanna sah ihre Kamera an. Das Objektiv war kaputt. Ob der Rest noch funktionierte, konnte sie nicht beurteilen.
Einem Impuls folgend, sah sie sich kurz im Hubschrauber um. Niemand schenkte ihr besondere Beachtung. Geschickt holte sie den Speicherchip vom Vortag aus ihrem Hüftgürtel und tauschte ihn gegen den in der Kamera aus, aber statt den benutzten aktuellen Speicherchip zu den anderen in ihren Taillengurt zu packen, drehte sie sich seitlich weg, beugte sich nach unten und verstaute den Chip in ihrem BH unter der linken Brust. Es war ein Instinkt, etwas, das sie nicht hätte erklären können. Die Bilder waren eine Gefahr, das war klar, niemand durfte sie in die Hände bekommen. Erst einmal musste sie selbst wissen und verstehen, was passiert war.
Sie sah Ochuko Mutai vor sich, seine Schwester, den Angreifer und den kleinen Jungen. Hanna schluckte, verscheuchte die Bilder und verdrängte all ihre Gefühle. Sie konnte es sich nicht leisten, schwach zu sein. Sie hatte es sich noch nie leisten können.
Kurze Zeit später landeten sie auf einem militärischen Stützpunkt unweit von Zaria im Nordwesten Nigerias.
Hanna überließ Harald Winter das Reden. Er war geschickt darin, immer ruhig und gelassen, nie wirkte er bedrohlich. Er erklärte dem Offizier, dass sie Journalisten seien, zeigte seine Papiere sowie die Genehmigung der nigerianischen Behörden. Dann erzählte er, warum sie in dem Dorf gewesen waren und was sie gesehen hatten. Das war der gefährlichste Teil, denn wer wollte schon ausländische Journalisten als Augenzeugen für einen militärischen Konflikt haben. Hanna hoffte nur, dass Harry überzeugend genug über ihrer beider Interesse an der Natur berichtet hatte.
Winter vermied jede Frage an den Offizier. Hanna hätte es brennend interessiert, wieso dieser Überfall auf das Dorf geschehen war und warum das Militär so schnell da gewesen war. Wie viele Kinder, Frauen und Männer waren gestorben? Sie biss die Zähne zusammen und schwieg. Solche Fragen zu stellen, konnte gefährlich sein. Erstaunlicherweise interessierte sich niemand für ihre Kamera oder ihre Fotos.
Schließlich war das Verhör beendet, und sie wurden zum Flughafen gebracht. Sie kümmerten sich beide nicht um die Blicke, die ihnen die Menschen zuwarfen. Erst im Flugzeug nach Nairobi atmeten sie beide auf.
Hanna starrte aus dem Fenster. Ihr kam alles unwirklich vor, als wäre sie gefangen in einem Albtraum. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an.
Die Stewardess kam und verlor schlagartig ihr Lächeln. Stattdessen starrte sie Hanna besorgt an.
»Geht es Ihnen gut oder brauchen Sie einen Arzt?«
Hanna drehte ihr Gesicht von der Frau weg.
»Ihr geht es gut, danke. Haben Sie einen Whiskey?«, beruhigte Harald Winter die Stewardess.
Zögernd nickte sie. »Möchten Sie auch etwas trinken?«, wandte sich die Frau erneut an Hanna.
Harald sah Hanna fragend an, doch die schüttelte den Kopf. Sie hatte keinen Durst, keinen Hunger, überhaupt keine Bedürfnisse. Vergessen, nicht nachdenken, das war alles, was sie wollte und worauf sie sich zu konzentrieren versuchte.
Angestrengt starrte sie aus dem Fenster, um Einzelheiten von der Landschaft unter ihnen zu entdecken. Die Augen zu schließen traute sie sich nicht.
Die kleine Maschine landete auf einem Flughafen außerhalb von Nairobi, der sowohl vom Militär als auch für den Tourismus genutzt wurde. Schon von Weitem sah man fünf Soldaten – keine einheimischen, sondern weiße.
Der Blick des einen schweifte über die Passagiere des eben gelandeten Flugzeugs. Sein Blick blieb an Hanna hängen.
Hannas Magen krampfte sich zusammen.
Ein kurzer Wortwechsel mit dem Sicherheitsdienst des Flughafens, und dann kamen die Soldaten zielstrebig auf sie zu. Es gab keinen Zweifel, weshalb sie hier waren.
»Verdammt«, stöhnte Winter neben ihr, »das wäre auch zu einfach gewesen.«
»Harald Winter und Hanna Rosenbaum?«
Der Soldat, dessen Blick durch die Ankunftshalle geschweift war, sprach sie in perfektem Deutsch an.
Winter nickte stumm. Hanna presste die Lippen zusammen und musterte die Soldaten, die vor ihnen standen, einen nach dem anderen. Einer von ihnen war eine Frau, die ihr freundlich zulächelte. Doch in Hanna hallten noch die Schüsse von dem Überfall nach, und wenn die Frau auch lächelte, war sie genauso bewaffnet wie ihre Kameraden.
»Mein Name ist Major Wahlstrom.«
Der Mann, der das Wort an sie gerichtet hatte, zeigte auf die Soldatin: »Leutnant Brunner, Leutnant Richter, Oberleutnant Mader und Oberleutnant Schulte.«
Jeder der Genannten straffte sich bei der Nennung seines Namens. Fehlte nur noch, dass sie salutierten.
»Wir sind vom nigerianischen Militär informiert worden, dass Sie bei einem Überfall auf ein Dorf dabei waren.« Sein Blick ging kurz über Hanna und Winter. »Es tut mir leid, doch wir müssen Sie bitten, uns Bericht zu erstatten.«
Winter räusperte sich. »Gehören Sie zum deutschen Militär?«
»Ja, im Einsatz für die UN.«
»Hören Sie, ich habe bereits alles dem nigerianischen Militär berichtet, was wir gesehen haben. Wir waren wirklich nur rein zufällig an diesem Ort.«
Winter wurde von Wahlstrom unterbrochen.
»Das können Sie uns gleich in aller Ruhe in unseren Räumlichkeiten erklären.« Sein Blick schweifte kurz über die Ankunftshalle und blieb an dem Sicherheitsdienst hängen. »Dies ist nicht der richtige Ort dafür.«
Harald Winter seufzte. Hanna griff zu ihrer Kamera, bis ihr wieder einfiel, dass sie kaputt war. Sie strich kurz darüber.
»Können wir vielleicht erst in unser Hotel? Wir sind seit zwei Wochen unterwegs, dann der Überfall ... Ich würde gerne kurz duschen«, wandte Winter ein.
Er sah wirklich mitgenommen aus.
Bedauernd schüttelte Major Wahlstrom den Kopf.
»Unsere Basis liegt auf der Strecke. Ich verspreche Ihnen, dass es nicht lange dauern wird.« Er warf einen Blick auf Hanna, die immer noch schweigend neben Winter stand.
»Sie haben eine Kopfverletzung, Frau Rosenbaum, wurde sie behandelt?«
Hannas Hand ging zu der Beule an ihrem Kopf, und ihre Finger tasteten die Erhebung ab. Sie zuckte zusammen, als ein Schmerz sie durchfuhr.
Harry sah sie besorgt an. »Tut es weh? Ist dir schlecht?«
Sie nahm ihre Hand herunter und schüttelte den Kopf.
»Darf ich mal sehen?«, hakte der Major nach.
Sie zuckte zurück, als er neben sie trat.
Er lächelte beruhigend. »Ich werde Ihnen nicht wehtun, ich muss nur wissen, ob Sie einen Arzt benötigen.«
Hanna sah ihn mit schmalen Augen schweigend an.
Er wandte sich mit einem fragenden Blick an Harry. »Ist Frau Rosenbaum taubstumm?«
»Nein, ist sie nicht. Hanna?« Harald Winter zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. Mit einem stummen Blick erklärte er ihr, dass es besser wäre, nicht zickig zu sein.
Widerwillig gab sie nach, stellte sich neben den Mann und drehte den Kopf, damit er ihre Verletzung betrachten konnte. Im Gegensatz zu ihrem Reisegefährten, der einen halben Kopf kleiner als sie war, überragte Major Wahlstrom sie. Das passierte Hanna mit ihren eins zweiundachtzig selten.
Er schob mit den Fingern vorsichtig ihre Haare beiseite. Sie biss die Zähne zusammen, die Berührung verursachte ihr Schmerzen. Er betrachtet die Beule.
»Ich denke, unser Arzt sollte sich das besser ansehen. Leutnant Brunner, rufen Sie bitte Dr. Wilson an, er soll kommen.«
Winter und Hanna folgten den Soldaten, es blieb ihnen gar nichts anderes übrig. Leutnant Richter hatte sich erboten, Harald Winters Rucksack zu nehmen, was dieser mit einem Kopfschütteln ablehnte. Der Rucksack, Hannas Kamera und der Gurt waren alles, was ihnen geblieben war.
Keinesfalls würden sie diesen Männern oder der Frau irgendetwas von sich anvertrauen, darin waren sich beide einig.
Vor dem Gebäude stand ein großer, dunkler Geländewagen. Die Frau öffnete Hanna die hintere Tür und bedeutete ihr einzusteigen. Winter setzte sich mit den beiden Soldaten in die mittlere Reihe. Oberleutnant Schulte übernahm das Steuer, auf dem Beifahrersitz nahm Major Wahlstrom Platz.
»Wieso hat das nigerianische Militär Sie informiert?«, fragte Winter den Major.
»Wir arbeiten eng mit den militärischen Einheiten in den Ländern zusammen. Sobald ausländische Personen, insbesondere Touristen, von Konflikten betroffen sind, ist es das normale Prozedere, dass wir informiert werden.«
»Konflikte«, brummelte Hanna leise, »ich nenne das Morde.«
Leutnant Brunner warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Sie haben ganz schön was abbekommen.«
»Die Beule ist nicht schlimm.«
»Ich meinte eher den Rest.«
Grinsend deutete die Soldatin mit dem Kopf zum Rückspiegel des Fahrers. Als Hanna hineinsah, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Ihr Gesicht war dreckverschmiert, an ihrer Wange zog sich ein blutiger Kratzer entlang und ihr Kinn war aufgeschürft. Ihre Kleidung sah nicht viel besser aus, merkte sie, als sie an sich herunterschaute. Auf ihrer Hose entdeckte sie neben dem dunklen Dreck noch den Staub, der von ihrer Fotoaktion, bevor sie in das Dorf abgebogen waren, stammte. Sie tippte mit dem Finger darauf und schluckte. Ein kleiner Umweg reichte, wenn das Schicksal es so wollte.
Schnell wandte sie den Blick von der Hose und starrte durch das getönte Fenster nach draußen. Im Wagen war es angenehm kühl, von der Hitze des späten Nachmittags war nichts zu spüren.
Der Wagen bremste vor einem mehrstöckigen Gebäude ab. Harald Winter wartete, bis Hanna ausgestiegen war. Sie sah seinem Gesicht an, dass er sich Sorgen machte. Beim Gehen flüsterte er ihr schnell ins Ohr, sie solle sich kooperativ verhalten.
Das Gebäude war schlicht und funktional eingerichtet. Nachdem sie die Sicherheitskontrolle am Empfang passiert hatten, fuhren sie mit dem Fahrstuhl in die dritte Etage. Dort traten sie in einen Gang, der hell ausgeleuchtet war. Hannas Blicke wanderten fast automatisch zu den Überwachungskameras in den Ecken. Einer der Soldaten öffnete eine Tür auf der rechten Seite. Gemeinsam traten sie in das Zimmer.
Den größten Teil des Raums nahm ein Schreibtisch ein, auf dem zwei Bildschirme standen. Dahinter war ein bequemer Drehstuhl, davor drei Besucherstühle. Ein großes Fenster ließ Sonne ins Zimmer. In dem Raum befand sich keine Überwachungskamera.
Winter und Hanna blieben mitten im Raum stehen, Oberleutnant Marder stellte sich zwischen Fenster und Schreibtisch. Leutnant Richter hielt sich nahe der Tür auf, Leutnant Brunner stellte sich zu Hanna.
»Leutnant Brunner, begleiten Sie Frau Rosenbaum zu Dr. Wilson.«
Major Wahlstrom wandte sich an Hanna. »Ich nehme an, Sie verstehen Englisch? Unser Arzt ist nämlich ein Einheimischer.«
Sie verzog keine Miene, und Winter warf ihr den nächsten mahnenden Blick zu. »Ja, Hanna versteht Deutsch und Englisch. Sie redet nur nicht so gerne.«
»Dann werde ich das Gespräch wohl am besten mit Ihnen führen«, wandte sich der Mann mit einem freundlichen Lachen an Harald Winter.
Misstrauisch musterte Hanna ihn. Er war ihr einen deutlichen Tick zu freundlich.
»Sie können die Kamera und den Gurt hier lassen.« Der Major deutete auf ihren Taillengurt.
Hanna versteifte sich. »Nein.«
Das freundliche Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Mannes. »Wir brauchen Ihre Papiere.«
Sie holte ihren Ausweis hervor, den sie immer in ihrem Gurt trug, genauso wie ihre Kreditkarte und ein wenig Bargeld in Scheinen. Sie reichte dem Major den Ausweis. Der schlug ihn auf, und seine Augen wanderten über die vielen Eintragungen, Stempel und Visa aus allen möglichen Ländern.
Stirnrunzelnd verglich er das Passbild mit der Person. Den wenigsten Menschen fielen die Unterschiede auf. In jedem Fall brauchte sie dringend einen neuen Reisepass. Hanna versuchte, ihre Gesichtszüge weicher wirken zu lassen.
Schließlich gab er ihr den Ausweis zurück. »Also gut, Frau Rosenbaum. Eine meiner Aufgaben besteht darin, die Aufnahmen in Ihrer Kamera zu prüfen. Meine Kollegen in Nigeria waren da etwas nachlässig. Das nigerianische Militär möchte sichergehen, dass Sie keine Bilder haben, die ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten, wenn sie veröffentlicht werden. Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, dass dies hier eine Situation ist, für die wir Fingerspitzengefühl benötigen.«
»Nein.«
Stille breitete sich in dem Raum aus. Hanna verschränkte die Arme vor der Brust.
»Hanna, bitte«, mahnte Winter und bekam einen dankbaren Blick des Anführers dafür.
Der Mann räusperte sich. »Frau Rosenbaum, ich verspreche Ihnen, dass Sie Ihr Eigentum zurückerhalten, sobald wir alles gesichtet haben, und zwar rechtzeitig vor Ihrem Abflug morgen.«
»Na, da haben Sie sich was vorgenommen«, brummte Winter, »Hanna macht täglich Hunderte von Fotos.«
»Ich denke, es reicht, wenn wir die von heute sichten.« Er öffnete seine Hand. »Geben Sie mir einfach die Kamera.«
»Nein.«
Sie maßen sich mit Blicken. Die Atmosphäre in dem Raum veränderte sich. Jetzt mischte sich Leutnant Brunner in das Gespräch ein, mit einem freundlichen Lächeln auf ihrem Gesicht wandte sie sich Hanna zu.
»Frau Rosenbaum, ich weiß, das war heute ziemlich viel Stress für Sie, und wie ich hörte, ist Ihr Fahrer bei dem Überfall ums Leben gekommen. Das ist sicherlich nicht leicht für Sie. Kooperieren Sie mit uns, dann können Sie ganz schnell zurück ins Hotel.«
Hannas Anspannung wich, die Frau war ziemlich gut. Mit ihrer ruhigen Ausstrahlung und dem offenen, hübschen Gesicht wirkte sie längst nicht so bedrohlich auf sie wie ihre Kollegen. Was sie sagte, klang vernünftig. Aber Hanna gehörte nicht zu den Menschen, die vernünftig waren. Sie handelte immer instinktiv und aus dem Bauch heraus. Sie hatte die Bilder gemacht, weil es nichts anderes gab, was sie sonst hätte tun können. Es war ihre Hilflosigkeit gewesen, doch mit den Fotos trug sie jetzt eine Verantwortung, die sie nicht leichtfertig abgeben würde.
»Wie ist Ihr Vorname?«
»Celine«, antwortete die Soldatin mit einem entwaffnenden Lächeln.
»Sie haben recht, Celine, es war ein Scheißtag, und ich möchte in mein Hotel. Aber meine Fotos gehören mir, und ich werde Ihnen ganz bestimmt nicht meine Arbeit der letzten Wochen aushändigen und riskieren, dass sie unsachgemäß verwendet werden.«
Das war die längste Rede von Hanna Rosenbaum seit Wochen.
Obwohl sie Major Wahlstrom genau im Auge behielt, sah sie keine Geste, die sie auf einen Angriff vorbereitet hätte. Leutnant Richter und Leutnant Brunner packten Hanna, während der Soldat am Fenster Harald Winter blockierte, der ihr zu Hilfe eilen wollte. Sie spannte ihre Muskeln an.
»Hanna, nicht!«, erklang die scharfe Stimme von Harald Winter. »Verdammt, lassen Sie mich los«, bellte er als Nächstes den Soldaten an.
Alles blieb ruhig, niemand rührte sich und weder Leutnant Brunner noch Leutnant Richter lockerten ihren Griff.
Trotz unbändiger Wut hörte Hanna auf, sich zu wehren. Stattdessen versuchte sie den Major, der auf sie zu kam, mit ihrem Blick einzuschüchtern. Das misslang ihr. Der Mann zog die Kamera über ihren Kopf, löste geschickt ihren Hüftgürtel und nahm beides mit zum Schreibtisch.
»Am besten begleiten sie beide Frau Rosenbaum zu Dr. Wilson.«
»Sie können mich wieder loslassen«, fauchte sie die beiden Soldaten an. Der Major nickte kurz, dann erst ließen der Mann und die Frau sie los.
»Hanna, bleib bitte ruhig und vernünftig«, bat Harald Winter. »Die Leute hier machen einfach nur ihren Job. Kein Grund für dich, feindselig zu sein oder deine Wut über das, was geschehen ist, an ihnen auszulassen.«
Hanna biss die Zähne zusammen. Sie nickte Harald zu. Mit einem letzten vernichtenden Blick auf den Major, der sie nicht mehr beachtete, folgte sie Leutnant Brunner, die vorausgegangen war, während Leutnant Richter das Schlusslicht bildete.
Im Arztzimmer wartete eine Schwester, die Hanna einen kleinen Raum zeigte, wo sie sich von dem gröbsten Dreck säubern konnte. Seit dem Überfall war es das erste Mal, dass Hanna ganz für sich allein war. Sie wusch sich das Gesicht und die Hände, eine braunschwarze Brühe floss in das Waschbecken. Solange ihr Tränen aus den Augen liefen, schöpfte sie immer wieder Wasser in ihre Hände und befeuchtete damit ihr Gesicht. Sie hasste es, sich hilflos zu fühlen, und sie hasste es, wenn sie ihre Gefühle nicht unter Kontrolle behielt. Sie durfte sich keine Schwäche erlauben, durfte das, was passiert war, nicht näher an sich heranlassen. Das Gesicht des Jungen schob sich in ihre Gedanken. Sein Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte. Sie hatte ihn nicht retten können. Weder ihn noch Ochuko Mutai, seine Schwester oder die anderen Kinder. Hanna biss sich in den Handballen. Der körperliche Schmerz half ihr, den seelischen zu verdrängen.
Äußerlich wieder ruhig ging sie in den Raum zu der Schwester zurück, wo sich auch die beiden Soldaten befanden. Leutnant Brunner musterte sie aufmerksam, während Hanna es vermied, sie anzusehen. Die Schwester desinfizierte den Schnitt auf ihrer Wange und versorgte auch ihre Schürfwunde am Kinn.
Dr. Wilson war ein älterer Mann mit grauen Locken und Brille. Er tastete zuerst Hannas Kopf ab, dann leuchtete er in ihre Augen. Zuletzt prüfte er ihre Reflexe.
»You feel sick?«
»No.«
»Did you pass out?«
»Yes.«
»How long?«
Sie zuckte mit den Achseln und verzog das Gesicht. Was für eine dämliche Frage.
»Where does the injury come from?«
»I have no eyes in my back.«
Er sah sie durch seine Brillengläser an. »No reason to be snotty, young woman. I want to help you, not to hurt you. Was the other German with you when you were injured?«
»Yes.«
Er sah auffordernd Leutnant Brunner an, die sich mit einem Seufzer auf den Weg machte. Kurze Zeit später tauchte Harald Winter auf, der sich zwischenzeitlich ebenfalls gewaschen hatte.
»Did you see what happened to this young woman?«
»Yes.« Winter sah kurz Hanna Rosenbaum an, senkte dann den Blick und sagte, an den Arzt gewandt: »It was me, I did this to her.«
Hanna und der Arzt starrten ihn überrascht an.
»Tut mir leid, Hanna. Ich kam einfach nicht gegen dich an. Du wolltest dich wie eine Wahnsinnige in das Inferno werfen. Ich nahm den nächstbesten Gegenstand, der mir unter die Finger kam, und schlug damit auf deinen verfluchten Dickschädel.«
Nachdem Leutnant Brunner übersetzt hatte, fing sich der Arzt als Erster wieder. »With what did you hit her?«
»With a stone.«
Er nickte. »You’re lucky that it wasn’t a spiky one.« Verlegen wich Harald Winter Hannas Blick aus.
»How long was she fainted?«
»It think about two or three minutes.«
»Okay, in this case I want to make a radiograph.«
»You can do a radiograph here?” Staunen klang aus Haralds Stimme.
Statt zu antworten warf ihm der Arzt einen scharfen Blick zu.
»Excuse me, but this building doesn’t look like a hospital«, entschuldigte sich Winter bei dem Arzt.
»I don’t know how it is in your country, but we have mobile X-ray apparatus here.«
»Sorry again, I didn’t want to hurt your feelings. You know how long this will take?«, fragte Harald Winter.
»Geh ruhig, wenn dich der Typ lässt«, antwortete Hanna auf Deutsch.
Winter sah sie zweifelnd an. »Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, dich hier alleine zu lassen.«
»Ich kann selbst auf mich aufpassen.«
»So wie vorhin?«
Hanna warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Bisher hat mir hier noch niemand einen Stein an den Kopf gehauen.«
Harald Winter hob die Hände. »Es tut mir leid, ehrlich.«
Hanna schwieg.
»Ich habe dir damit möglicherweise das Leben gerettet.«
»Vielleicht.«
Winter seufzte, dann gab er sich geschlagen. »Also gut. Ich habe den ganzen Vorfall bereits mit Major Wahlstrom durchgesprochen. Es kann sein, dass er deine Version auch noch hören möchte.«
»Und meine Fotos?«
Harald zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, sie haben deinen Gurt mitgenommen.«
Hanna warf ihm einen eindringlichen Blick zu. Sie fragte sich, ob er etwas von den Fotos erzählt hatte, die sie während des Überfalls gemacht hatte. War es ihm überhaupt aufgefallen, schließlich hatte er sich die ganze Zeit hinter ihr befunden?
»Have you finished your discussion? I have more patients who need my help much more than this young woman.«
Dr. Wilson war ungeduldig. Hanna folgte dem Arzt in den Nebenraum, in dem sie sich schon vorher aufgehalten hatte.
Nachdem der Arzt die Röntgenaufnahmen sorgfältig studiert hatte, schien er zufrieden zu sein. Er gab Hanna Tabletten für die Kopfschmerzen, dann erklärte er ihr die Symptome, auf die sie achten sollte. Möglicherweise würden weitere Untersuchungen notwendig sein. Genauso machte er sie darauf aufmerksam, dass Fliegen in ihrem Fall ein Risiko darstellen könnte. Hanna hörte zu und nickte an den Stellen, wo der Arzt eine Antwort brauchte.
Vor der Tür wartete Leutnant Brunner auf sie. Sonst war niemand mehr zu sehen.
»Ein Wagen steht für Sie bereit, der Sie ins Hotel bringt.«
»Nein, danke. Ich möchte zu dem Mistkerl, der meine Fotos hat.«
Die Soldatin grinste breit. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie so etwas in der Art sagen würden. Dann werde ich Sie mal hinbringen.«
Sie gingen wieder in den dritten Stock zurück. Leutnant Brunner klopfte an der Tür und hielt Hanna zurück, bis sie das »Komm rein« ihres Vorgesetzten hörte.
Major Wahlstrom saß am Schreibtisch vor den Computern. Jacke und Waffen hatte er abgelegt. Hannas Kamera und auch ihr Gürtel befanden sich nicht mehr im Raum. Sein Blick ruhte konzentriert auf den Bildschirmen.
Er hob kurz den Kopf und sah Hanna mit schmalen Augen an, bevor sein Blick zu Leutnant Brunner wanderte.
»Frau Rosenbaum möchte erst ins Hotel, wenn sie ihre Sachen wieder zurückhat.«
Sein Blick schien sich in ihre Augen zu bohren. Eine unangenehme Stille breitete sich im Raum aus, doch er schien zu spüren, dass er Hanna Rosenbaum nicht durch sein Schweigen verunsichern konnte.
»Nun, dann werden Sie sich wohl noch ein wenig gedulden müssen. Es sei denn, Sie möchten das Ganze beschleunigen, und sagen uns, welcher Speicherchip die Bilder von heute beinhaltet.«
»Der in der Kamera«, log Hanna, ohne rot zu werden.
Der Major lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander.
»Darauf waren Landschaftsbilder, Bilder von Herrn Winter, von Ihrem Fahrer, eine Spinne, Gräser, ein Lagerfeuer, Sonnenuntergänge – davon alleine fast fünfzig Stück – und alle mit dem Datum von gestern.«
Sie schwieg.
»Leutnant Brunner, bringen Sie Frau Rosenbaum nach Q2 und geben Sie ihr etwas zu trinken und zu essen.«
Er wandte sich wieder dem Computer zu.
Für einen Moment war Hanna versucht, quer durch den Raum zu hechten und dem Major an die Gurgel zu springen, aber sie beherrschte sich.
Der Raum Q2 befand sich am Ende des Gangs. Ohne Fenster, nur mit einem Tisch und einem Stuhl ausgestattet, war er eindeutig für Verhöre gedacht, was auch die Spiegelwand an der anderen Seite deutlich machte. Alles wie in einem schlechten Krimi.
»Soll das ein Witz sein?« Hanna drehte sich zu Leutnant Brunner um.
Die zuckte mit den Achseln. »Major Wahlstrom macht selten Witze. Ich denke, es ist seine Art, Ihnen zu sagen, dass Sie es im Hotel bequemer hätten. Der Wagen steht Ihnen noch zur Verfügung, falls Sie doch möchten?«
Hanna schloss die Augen und überlegte. Der Speicherchip im BH brannte auf ihrer Haut. Was wäre sicherer: hier zu bleiben und auf unschuldig zu tun, oder im Hotel zu versuchen, den Speicherchip zu verstecken? Doch irgendwie spürte sie, dass Leutnant Brunner sie nicht im Hotel allein lassen würde, solange ihr Vorgesetzter nicht hatte, wonach er suchte. Sie entschied sich für die Unschuldsnummer und verschränkte die Arme, um ihren Ärger zu verdeutlichen.
»Nein, danke. Ich warte, bis ich meine Kamera und die Fotos zurückbekomme.«
Die Tür fiel ins Schloss, sie war allein. Es war ein mulmiges Gefühl, denn es weckte Erinnerungen an etwas, das sie vergessen wollte. Sicherheitshalber ging Hanna zur Tür und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Erleichtert stellte sie fest, dass sie offen war.
Zehn Minuten später kam die Soldatin mit einer Flasche Wasser sowie zwei Sandwiches und einer Zeitung zurück. Sie legte alles auf den Tisch.
»Gibt es hier eine Toilette?«
»Klar.«
Die Toilette war sauber und wies sogar Hygieneartikel für Frauen auf. Gemeinsam gingen sie zurück.
»Wenn Sie noch etwas brauchen, klopfen Sie einfach an die Scheibe.« Leutnant Brunner zwinkerte ihr zu, bevor sie Hanna wieder allein ließ. Hanna unterdrückte das kindische Bedürfnis, ihr die Zunge herauszustrecken.
Sie aß die Brote, trank das Wasser und vertiefte sich in die Zeitung. Irgendwann verlor sie das Zeitgefühl.
»Die letzten Fotos sind von gestern.«
»Und der Chip in der Kamera?« Major Wahlstrom fragte noch einmal nach, obwohl er und der Techniker das bereits am Anfang geklärt hatten.
»Das waren die Fotos von gestern, der Rest ist alles älter oder es sind leere Chips.«
»Kann es sein, dass sie heute nicht fotografiert hat?«
»Unwahrscheinlich, es gibt nicht einen Tag von ihrer Tour, wo sie keine Fotos geschossen hat.«
Major Wahlstrom legte den Hörer auf. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Er wählte eine Nummer.
»Oberst Hartmann, hier Major Wahlstrom. Ich brauche Ihre Freigabe zum Verhör der Fotografin.«
»Wo sind Sie?«
»Q2.«
»Ich komme. Machen Sie die Unterlagen fertig.«
Oberleutnant Schulte, der während der letzten drei Stunden die Aufgabe gehabt hatte, Hanna Rosenbaum zu beobachten, schüttelte leicht den Kopf. Dem Major war es egal, dass sein rangniederer Offizier eine andere Meinung als er vertrat.
Zehn Minuten später trat Oberst Karl Hartmann in den Überwachungsraum für Q2. Er trug Hemd, Anzug und Krawatte, als hätte er einen Bürojob in irgendeinem Unternehmen. Manchmal dachte Major Wahlstrom, dass sich Oberst Hartmann an der Normalität seiner Klamotten festhielt. Seine Karriere hatte ihn erst spät zum Militär geführt. Das kam in ihrer Einheit häufiger vor. Sie alle waren Experten, und jeder besaß seine speziellen Fähigkeiten. Oberst Hartmann war ein ausgezeichneter Analytiker, der sich hervorragend in Wirtschaftsfragen auskannte. Wahlstrom wusste, dass sein Vorgesetzter noch eine fundierte Zusatzausbildung beim BKA erhalten hatte – Spezialgebiet Wirtschaftskriminalität. Das hatte ihm beim Militär einen besonderen Status eingebracht, denn er konnte wie ein Unternehmer in Kosten-Nutzen-Relationen denken, langfristig und auf die Zukunft ausgerichtet. Er arbeitete gerne unter dem Kommando von Oberst Hartmann, weil er ihm das Gefühl gab, einen wertvollen Beitrag für die Stabilität des Landes zu leisten.
Major Wahlstrom schob seinem Vorgesetzten die Dokumente zu. Er hatte bereits alle Daten von Hanna Rosenbaum, deren Vorname eigentlich Johanna lautete, aus ihren Ausweispapieren in die vorgesehenen Felder eingetragen. Es fehlte lediglich die Unterschrift auf dem Formular ‚Freigabe der Befragung einer Zivilistin aufgrund einer militärischen Notwendigkeit‘. Statt wie üblich die Daten kurz zu überfliegen, um dann auf der letzten Seite seine Unterschrift darunterzusetzen, verharrte Oberst Hartmann und starrte auf die erste Seite.
»Johanna Rosenbaum? Geboren am 11.05.1980 in Berlin.« Er hob den Kopf und sah seinen Untergebenen an.
Dieser nahm Haltung an. »Korrekt, Oberst Hartmann.«
»Wo ist sie?«
»Im Verhörraum.«
Der Oberst erhob sich und stellte sich an die Scheibe, um in den Raum zu sehen. Major Wahlstrom versuchte, sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen.
»Bericht.«
»Hanna Rosenbaum und Harald Winter hielten sich mit ihrem Fahrer Ochuko Mutai in dem besagten Dorf in Nigeria auf, das heute überfallen wurde. Wir vermuten, dass es sich bei der Einheit um bezahlte Söldner handelt. Als das nigerianische Militär bei dem Dorf eintraf, waren bis auf wenige Ausnahmen alle Bewohner bereits tot. Die Angreifer reagierten diszipliniert auf das Eingreifen des Militärs und ordneten den sofortigen Rückzug an. Wir wissen nicht genau, wie viele Männer es waren. Drei haben die Nigerianer erwischt.«
Mit einem Ruck drehte sich der Oberst um. »Wie konnte der Rest entkommen?«
Der Major zuckte mit den Achseln. »Wie gesagt, sie waren verdammt gut ausgerüstet.«
»Weiter.«
»Der Fahrer kam ums Leben, Hanna Rosenbaum und Harald Winter gehören zu den wenigen Überlebenden. Wir haben die beiden am Flughafen empfangen. Da Frau Rosenbaum Fotoreporterin ist, hofften wir darauf, dass sie vielleicht Fotos von dem Angriff gemacht hat.«
»Wieso ein Verhör?«
»Sie rückt die Fotos nicht raus.«
»Wenn sie überhaupt welche hat«, brummte Oberleutnant Mark Schulte.
Major Wahlstrom warf ihm einen scharfen Blick zu. Sein Gefühl sagte ihm, dass die Frau etwas vor ihnen verbarg. Er hatte gelernt, seiner Intuition zu vertrauen.
»Was hat sie bisher gemacht?«, wandte sich Oberst Hartmann an Oberleutnant Schulte.
»Sie hat gegessen, getrunken, gelesen, und sie war noch zweimal auf der Toilette.«
»Sonst nichts?«
»Nein, sie hockt völlig bewegungslos da, läuft nicht herum, hat nicht an die Scheibe geklopft, gar nichts. Wenn Sie mich fragen, hat die Frau ein absolut reines Gewissen.«
»Oder sie spielt uns das alles nur vor«, erwiderte Major Wahlstrom.
»Sie denken wirklich, dass sie noch einen Chip hat?« Die Ironie in Oberleutnant Schultes Stimme war nicht zu überhören. »Vielleicht hat sie einfach keine Fotos gemacht.«
»Was ist mit den anderen Speicherkarten, haben Sie alle überprüft?«
»Paul Gerlach hat nicht jedes Bild geprüft, dafür liegt zu viel Material vor, aber Frau Rosenbaum geht sehr systematisch mit ihren Speicherkarten um. Alle haben eine Farbmarkierung und beinhalten jeweils nur die Fotos von einem Tag, soweit wir ihr System entschlüsselt haben. Die Bilder sind alle älteren Datums. Es sind je drei Karten für Freitag, Samstag, Montag, Dienstag und Mittwoch da, aber nur zwei von Donnerstag. Und der Überfall war heute, am Donnerstag«, erklärte der Major.
Oberst Hartmann runzelte die Stirn und drehte sich zum Fenster. In den letzten Monaten war es in Nigeria wieder häufiger zu Unruhen gekommen. Es wurde Zeit, dass sie ein Zeichen setzten. Wenn das Risiko, erwischt zu werden, stieg, stiegen auch die Kosten für die Söldner. Ohne Söldner keine militärischen Spielchen, dann blieben Korruption oder Verhandlungen übrig. Das war für die politische Stabilität des Landes nicht besonders hilfreich, aber wenigstens kamen dann keine Menschen zu Tode.
»Kennen Sie Johanna Rosenbaum?« Die Frage rutschte Major Wahlstrom heraus.
Abrupt drehte sich der Oberst um, ging zum Schreibtisch und setzte seine Unterschrift unter die Papiere.
»Sie haben freie Bahn, Major Wahlstrom. Oberleutnant Schulte, schalten Sie die Überwachungskameras aus.«
Oberleutnant Schulte hob kurz die Augenbrauen, dann führte er den Befehl seines Vorgesetzten aus.
Sie bewegten sich häufig an der Grenze zwischen legalem und illegalem Vorgehen. Wahlstrom hatte nicht vor, diese Grenze zu überschreiten. Er war sicher, dass die Frau mit entsprechendem Druck einlenken würde. Er verließ den Überwachungsraum und betrat den Raum Q2. Ein leises Summen bestätigte ihm, dass Schulte die Tür verriegelte.
Hanna sah, wie das rote Licht an der Kamera erlosch. Kein gutes Zeichen. Sie schluckte. Immerhin wusste Harry, wo sie war, und er hatte bestimmt bereits im Hotel ihre Auftraggeber informiert. Hoffentlich. Ihr Kopf drehte sich zur Tür.
Major Wahlstrom kam herein. Er trug ein T-Shirt, und Hannas Augen wanderten automatisch zu seinen Armmuskeln, seinem flachen Bauch. Sein Gang war federnd, sein Blick lag konzentriert auf ihr, sein Lächeln war verschwunden. Sie spannte unmerklich den Körper an, es war wichtig, ruhig zu bleiben. Er war nicht zufrieden mit dem bisherigen Ergebnis, er hatte sich von der Fotosuche etwas anderes erhofft, das konnte sie seinem Gesicht ansehen. Aber niemand, außer vielleicht Harry, wusste, dass sie Fotos von dem Überfall gemacht hatte. Es waren nur Vermutungen, er konnte es nicht wissen. Ob Harry etwas gesagt hatte? Nein, das hätte er sie wissen lassen. Es lag also bei ihr, den Vermutungen den Boden zu entziehen.
Die Lippen des Majors verzogen sich zu einem Lächeln, doch es war kein echtes Lächeln, eher ein halbherziges Zähnefletschen. Er setzte sich auf den Tisch dicht vor sie.
Hannas Herz klopfte ihr bis zum Hals. Für eine Unterhaltung war ihr das viel zu dicht. Es schien ihm darauf anzukommen, ihr Angst einzujagen, was ihm gelang. Sie beschloss, nicht abzuwarten, bis er die erste Frage stellte. Sie stand auf, wodurch sie auf ihn herabsah; gleichzeitig brachte sie so ein wenig Abstand zwischen sie beide.
»Und? Sind Sie fertig mit Ihrer Dia-Show? Kann ich endlich gehen?« Sie gab ihrer Stimme einen gelangweilten, ungeduldigen Ton und sah ihm direkt in die Augen. Unschuldige Menschen scheuten den Augenkontakt nicht.
»Nicht ganz. Setzen Sie sich.« Seine Stimme, ruhig und gelassen, brachte sie aus dem Konzept. Seine körperlichen und sprachlichen Signale passten nicht zueinander. Hanna blieb stehen, verschränkte die Arme vor der Brust. Auf keinen Fall in die Defensive gehen.
Langsam richtete er sich auf. Die Art, wie er sich vor ihr aufbaute, wirkte äußerst bedrohlich. Das waren keine Muskeln aus einem Fitnessstudio, die sie sah, sondern ein kampferprobter Körper. Wäre die Kamera nicht ausgeschaltet gewesen, hätte sie sich defensiver verhalten. In ihr arbeitete es fieberhaft. Durften deutsche Soldaten bei einem Verhör von deutschen Staatsbürgern Gewalt anwenden? Wenn sie ihr etwas antaten, mussten sie mit einer Anklage rechnen. Nein, das Ausschalten der Überwachungskamera war nur ein weiterer Schachzug gewesen, um sie zu verunsichern. Ihre Kamera und der Gurt waren zwar nicht ohne Zwang, aber auch nicht gewaltsam entwendet worden.
Hanna versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Sie würde den Chip nicht freiwillig herausrücken.
»Was wollen Sie?«, brach sie das Schweigen und wich noch ein Stück zurück.
»Ich denke, das wissen Sie ziemlich genau.«
»Sie haben alles.«
»Das stimmt.« Er schwieg und beobachtete sie.
Hanna entschied sich fürs Abwarten. Sein Blick schweifte langsam über ihren Körper. Sie atmete ruhig weiter, versuchte, sich nicht von ihm verunsichern zu lassen. Sein Blick blieb an ihren Schuhen hängen.
»Wo haben Sie ihn versteckt?«
»Was versteckt?«
»Den Chip.«
»Sie haben alle.«
Nichts warnte sie vor seinem Angriff, obwohl sie glaubte, ihn genau im Auge behalten zu haben. Wie machte er das bloß? Ihr Blick war durch das Objektiv geschult, normalerweise konnte sie Bruchteile, bevor etwas passierte, es vorausahnen. Genau deshalb gelangen ihr so außergewöhnliche Fotos.
Jetzt lag sie schon auf dem Boden, bevor sie seine Attacke überhaupt realisiert hatte. Ein roter Blitz zuckte durch ihren Kopf, für einen Moment war ihr schwarz vor Augen. Sie keuchte auf, fixierte mit entsetzten Augen den Mann über sich.
Er hatte ihre Hände auf den Boden gedrückt, sein Oberkörper war dicht über ihrem und ließ ihr keinen Raum. Ihre Hüfte steckte wie in einem Schraubstock zwischen seinen Knien fest, mit seinen Füßen hielt er ihre Beine zu Boden.
Er gab ihr Zeit, sich ihrer Lage bewusst zu werden. Sie atmete gezielt gegen ihre Angst und lockerte die Körperanspannung, ganz entgegen ihrem Bedürfnis, mit aller Kraft gegen den Mann auf sich anzukämpfen. Insgeheim hoffte sie, er würde seine Haltung ebenfalls lockern, was nicht der Fall war. Sie konzentrierte sich wieder auf ihren Atem. Sie war vollkommen bewegungsunfähig.
»Wo ist der Chip?«, fragte er leise.
Statt ihm zu antworten, funkelte sie ihn böse an.
Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Entweder Sie geben ihn mir, oder ich suche danach. Was ist Ihnen lieber?«
Hanna schwieg und schluckte alle Verwünschungen, die ihr durch den Kopf schossen, hinunter. Er umschloss ihre Hände jetzt nur mit einer Hand, sodass er seine zweite Hand freibekam. Langsam begann die Hand an ihrem Körper hinunterzugleiten. Da war es um ihre Selbstbeherrschung geschehen.
Ihre heftige Gegenwehr überraschte ihn.
Sie gewann ein wenig Spielraum, drehte sich zur Seite, nur um gleich darauf wieder auf dem Rücken zu landen.
»Hoppla, was war das?« Er fletschte die Zähne, diesmal amüsiert.
»Arschloch«, fauchte sie ihn an.
»Bezeichne mich, wie du willst. Du hast keine Wahl, gib mir den Chip.«
»Ich zeige Sie an wegen Nötigung.« Eine gefährliche Aussage, die ihr da über die Lippen rutschte, wie ihr sofort darauf klar wurde.
»Das kannst du gerne machen.«
Er sagte das völlig emotionslos, was Hanna erschreckte. In ihren Gedanken sah sie auf einmal Geheimorganisationen vor sich, die Menschen folterten und verschwinden ließen.
»Aber pass auf, Hanna, ich bin heute mal nett«, duzte er sie weiter. Ein plumper Versuch, Vertrauen aufzubauen. »Ich gebe dir deine rechte Hand frei, und du darfst den Chip selber herausholen. Was meinst du?«
Sie biss die Zähne zusammen. Sie konnte nicht klar denken. Er fixierte ihre Hände erneut.
»Stopp«, keuchte sie.
Er musterte sie aus schmalen Augen. Langsam gab er ihre rechte Hand frei.
Ihr Fausthieb traf ihn direkt unter das Kinn. Diesmal lag der Überraschungsmoment auf Hannas Seite.