Imperfectly Perfect Amelia - Kerstin Rachfahl - E-Book

Imperfectly Perfect Amelia E-Book

Kerstin Rachfahl

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Beschreibung

„Amelia, du wirst niemals wissen, wer du wirklich bist, wenn du immer nur versuchst, der Mensch zu sein, den andere in dir sehen.“ Liebe ist für die sechzehnjährige Amelia ein Fremdwort. Nie weiß sie, was der nächste Tag ihr bringt. Mit Essen schafft sie sich kleine Glücksinseln in ihrem Alltag, und lässt niemanden an sich heran – bis zu dem Tag, an dem Daniel in ihr Leben tritt. Mit unwiderstehlicher Hartnäckigkeit versucht er, Amelia aus ihrem Schneckenhaus herauszulocken. Doch statt seine Liebe anzunehmen, sieht sie nur das, was sie beide trennt. Bedeutet wahre Liebe nicht, den Menschen loszulassen, damit er glücklich sein kann? Zutiefst verletzt von Amelias Zurückweisung, bricht Daniel jeden Kontakt mit ihr ab. Zehn Jahre später hat Amelia sich in ihrem Leben gemütlich eingerichtet. Ihr Motto: Wer nichts wagt, kann nichts verlieren. Theo, ihr neuer Chef, erkennt ihr Potenzial und ist nicht bereit, es brachliegen zu lassen. Er macht es sich zur Aufgabe, die wahre Amelia zum Vorschein zu bringen. Langsam beginnt in ihr eine Veränderung. Doch ist die wahre Amelia, wirklich die Frau, die Theo in ihr sieht?

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Imperfectly Perfect Amelia

KERSTIN RACHFAHL

IMPRESSUM

Deutsche Erstausgabe April 2022

Copyright © 2022 Kerstin Rachfahl, Hallenberg

Lektorat, Korrektorat: Sarina Stützer, sarina-stuetzer.de

Schlusskorrektur: Carla Mönig, carlamoenig.de

Buchcover: Florin Sayer-Gabor, 100Cover4you.com

Bilder: Adobe Stock von Pattadis

Kerstin Rachfahl

Heiligenhaus 21

59969 Hallenberg

E-Mail: [email protected]

Webseite: www.kerstinrachfahl.de

Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

KAPITEL1

Jugend – Daniel

Mit aller Kraft stemmte Daniel sich gegen die Feuerschutztür, die auf das Dach hinausführte. Es war strengstens untersagt, das Hochhausdach zu betreten, und es überraschte ihn, dass ausgerechnet Amelia diesen Punkt der Hausordnung verletzte. Eine eisige Bö trieb ihm die Tränen in die Augen. Er zog seine Mütze tiefer und war froh, dass er den daunengefütterten Parka angezogen hatte. Suchend sah er sich um. Auslasse für den Kamin, das Technikhaus für den Aufzug, eine Betonfläche mit Rissen und Stufen, aber keine Amelia. Vorsichtig bewegte er sich über die Unebenheiten, darauf konzentriert, nicht zu stolpern. Zwar war es nicht das höchste Hochhaus der Welt, doch ein Sturz aus dem zehnten Stock – oder dem elften, wenn er das Dach mitzählte – würde locker reichen, um seinem Leben ein Ende zu bereiten.

Als er Amelia entdeckte, setzte für einen Augenblick sein Herzschlag aus. Sie saß auf dem erhöhten Rand, der das Dach umgab. Ihre Beine baumelten über dem Abgrund, neben ihr standen eine Thermoskanne und eine Box. Er griff nach seinem Smartphone und kämpfte mit der Entscheidung, ob er die Polizei oder den Rettungsdienst rufen sollte. In dem Moment wandte Amelia sich zu ihm um. Ihr Blick wanderte von seinem Gesicht zu dem Smartphone in seiner Hand – das neueste Modell, eine Bestechung seiner Eltern, nachdem er sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte, ausgerechnet in Seattle, bei seiner siebenundsechzigjährigen Nan seine letzten drei Jahre Highschool zu verbringen. Trotz ihres Alters war sie fit wie ein Turnschuh, und beim Joggen musste er sich anstrengen, mit ihr mitzuhalten. Dennoch wäre er lieber mit seiner sechs Jahre jüngeren Schwester Claire in Neu-Delhi geblieben, der neuen Einsatzstelle seines Vaters als Botschafter der USA.

»Steck das Teil weg. Würde ich hier ein Picknick veranstalten, wenn ich vorhätte, mich von der Kante zu stürzen?«

Nicht ihre Worte, sondern der belustigte Tonfall in ihrer Stimme überzeugte ihn davon, dass sie wirklich nicht vorhatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Er steckte das Smartphone in seine Jackentasche und zog den Reißverschluss zu.

»Ist es okay, wenn ich mich zu dir hocke?«

»Ich beiße nicht.«

Er ging zu ihr und starrte in den Abgrund. War er von allen guten Geistern verlassen? Es kostete ihn Überwindung, sich auf die niedrige Mauer zu setzen und die Beine über den Rand zu schieben, um sie wie Amelia in der Luft baumeln zu lassen. Dabei pulsierte reines Adrenalin in ihm, doch nach einer Weile legte sich seine Angst. Er grinste.

Sie nahm die Box, die mit bunten Zuckerherzen dekorierte Schokomuffins enthielt, und hielt sie ihm unter die Nase. »Möchtest du einen?«

Er pickte sich einen Muffin heraus und biss ein Stück ab. »Mhm, lecker, schmeckt anders als die von der Bäckerei.«

»Sind ja auch selbst gebacken mit echtem Kakao und Schokoladenstückchen.«

Sie nahm sich ebenfalls einen heraus. Schweigend vertilgten sie das Gebäck.

Er schob sich den letzten Bissen in den Mund. »Nan hat recht. Du kannst super backen. Stimmt es auch, dass du kochst?«

Sie zog ihre Hand, die über einem weiteren Muffin schwebte, ohne das Gebäckstück zurück und schob sie in ihre Jackentasche. Ihr Blick driftete in die Ferne. Fuck, jetzt war er hergekommen, um sich zu entschuldigen, und stattdessen rührte er an einen weiteren wunden Punkt. Krampfhaft suchte er nach einem neuen Thema. Normalerweise fiel ihm Small Talk mit wildfremden Menschen, selbst aus anderen Kulturkreisen, leicht.

»Das liegt daran, dass meine Mom weder kochen noch backen kann, geschweige denn für irgendetwas sonst im Haushalt zu gebrauchen ist. Kate hat es mir beigebracht. Deine Nan ist echt cool und fit.«

Er grinste. »Das kannst du laut sagen. Gestern, beim Laufen im Park, dachte ich, ich breche zusammen. Sie hat sich über mich lustig gemacht. Mann, die Frau, hat es echt drauf. Hoffentlich bin ich in dem Alter noch so fit wie sie.«

Die untergehende Sonne brachte Amelias dunkelroten Lockenkopf zum Leuchten. Es waren keine Korkenzieherlöckchen, sondern weiche Wellen, die ihr bis über die Schultern reichten und ihr von einer roten Wollmütze aus dem Gesicht gehalten wurden, trotz des eisigen Windes, der hier oben wehte. Ein intensiver Blick aus schokoladenbraunen Augen wanderte von seinem Kopf über seinen Körper, runter zu den Turnschuhen, bevor er wieder in seinem Gesicht landete.

»Ich denke, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du hast die perfekten Gene dafür.«

»Du siehst großartig aus«, platzte es aus ihm heraus.

Sie stutzte und brach in Lachen aus. Sie prustete los, sodass er einen Moment lang befürchtete, sie würde das Gleichgewicht verlieren. Sich die Tränen von der Wange wischend, drehte sie sich um und rutschte von der Mauer auf den Betonboden. Mit brennenden Wangen folgte er ihrem Beispiel. Mann, was war nur los mit ihm? Seine Freunde auf der internationalen Schule hatten ihn um seine Schlagfertigkeit beneidet, und bei Amelia benahm er sich wie der letzte Trottel.

»Bist du mir deshalb hier hoch gefolgt? Dachtest du, ich würde vor Kummer vergehen, und hattest Angst, ich würde mich vom Dach stürzen?«

»Darf ich noch einen?«, fragte er, einer direkten Antwort ausweichend.

»Klar.« Sie holte die Box und die Thermoskanne von der Mauer.

»Was ist in der Kanne?«

»Kakao, aber nicht dieses fertige Zeugs. Den mache ich auch selbst. Ich würde dir ja einen Schluck anbieten, aber ich hab nur den Deckel zum Trinken.«

»Das macht mir nichts.«

Sie sah ihn todernst an. »Aber mir.«

Keinen Atemzug später bekam sie einen weiteren Lachanfall. Sie fing sich und hielt ihm mit einem breiten Grinsen die Thermoskanne hin.

»Ehrlich, dafür, dass du heute den coolen Macker raushängen lassen hast, lässt du dich ganz schön leicht verunsichern.«

Er goss etwas von dem verführerisch duftenden Getränk in den Deckel. Dampf stieg auf. Er pustete, nippte daran. Süß, schokoladig mit einer Spur Zimt und Kurkuma, so wie der Kakao in Indien zubereitet wurde. Würzig und heiß. »Es tut mir leid, dass ich dich hängen lassen hab.«

»Das braucht es nicht.«

»Doch. Seit meine Eltern mich hier abgeliefert haben, warst du nur nett zu mir. Du hast mir gezeigt, dass deine Stadt auch etwas zu bieten hat, ganz anders, als ich mir dieses dunkle, regnerische Loch am Rande von Kanada vorgestellt habe.«

»Lass das nicht die Fans der Seattle Seahawks hören. Wir mögen nicht so viel Sonne haben wie die Kalifornier, doch was den Football betrifft, spielen wir ganz oben in der Liga.«

»Das war ebenfalls ein guter Tipp. Dass ich mich statt für Basketball für das Footballteam bewerbe, damit ich schneller Anschluss finde, super genial.« Zur Bestätigung hob er den Daumen in die Luft. »Deine Hinweise zu den Lehrern, vor wem ich mich in Acht nehmen muss, passten auch zu hundert Prozent. Hut ab vor deiner Menschenkenntnis. Diese Mathelehrerin Ms Whittaker. Ein totaler Nerd, kann dich nie direkt ansehen, doch es stimmt, sie ist voll hilfsbereit. Sie hat mir gesagt, ich soll mir aus dem D in der Mathearbeit nichts machen, das läge nur an den unterschiedlichen Lehrplänen der International School zur Highschool hier. Sie hat mir eine Liste gegeben, was ich alles nachholen soll.«

Amelia lächelte. In ihren runden Wangen wurden zwei Grübchen sichtbar. »Mein Angebot steht. Wenn du Probleme hast, in Mathe den Anschluss zu finden, kann ich dir helfen. Sie ist super, doch das Erklären fällt ihr echt schwer. Ich glaube, sie denkt, Mathe wäre so simpel und logisch, dass jeder es verstehen müsste.«

»Sie sagte, du bist ihre beste Schülerin.«

Amelia zuckte mit den Achseln. »Das sagt sie von jedem, der nett zu ihr ist und sich nicht über sie lustig macht.«

»Ich habe mitbekommen, wie sie mir dir gesprochen hat und sagte, dass du es dir mit dem College noch mal überlegen sollst.«

Amelia baute derart schnell eine Mauer auf, dass er sich auf die Zunge biss. Verdammt. Es war leicht, über ein Studium zu reden, wenn die Eltern Geld genug besaßen. Bei ihr hingegen sah die Sache anders aus. Er hatte, ohne dass seine Nan nur ein Wort darüber verlor, rasch begriffen, dass Amelias Mutter eine Alkoholikerin war. Er hatte keine Ahnung, ob sie einer Arbeit nachging. Klar, die Geldmittel bei den Turners waren knapp. Seine Nan ließ sich von Amelia die Fenster putzen, weil sie es selbst angeblich nicht mehr schaffte. Purer Blödsinn. Es war ihre Art, dem Nachbarskind Geld zukommen zu lassen, ohne dem Mädchen das Gefühl zu geben, dass es Almosen waren.

Wenn er mitbekam, wie vertraut die beiden miteinander umgingen, kam Eifersucht in ihm hoch. Schließlich war er das Enkelkind, nicht sie. Aber bisher hatte er nur selten Zeit mit seiner Nan verbracht und schon gar nicht bei ihr gelebt. Amelia hingegen war Kate von Geburt an vertraut. Seine Nan hatte die hochschwangere Nachbarin ins Krankenhaus gefahren und war bei ihr geblieben, bis das kleine Mädchen das Licht der Welt erblickt hatte.

»Wirst du in die Mannschaft aufgenommen?«, fragte Amelia und wechselte das Thema.

»Ja. Football ist zwar nicht so mein Ding, aber offensichtlich konnte ich sie mit meiner schnellen Reaktion und den Sprinterqualitäten überzeugen.«

»Damit brauchst du dir keine Gedanken mehr darüber zu machen, Anschluss zu finden.«

Er schwieg, trank den restlichen Kakao, der inzwischen kalt geworden war. »Irgendwie komisch die Vorstellung, dass du einen Teil deiner Mitschüler kennst, seit du in den Kindergarten gegangen bist.«

»Tja, ich bin halt nie so wie du in der Weltgeschichte herumgekommen.«

»Warst du überhaupt schon mal in einem anderen Land?«

»Nein.«

»An der Ostküste?«

»Nein.«

»Mittlerer Westen? Die Südstaaten? Die Rocky Mountains?«

»Wozu? Immerhin steht der Mount Olympus hier, ganz zu schweigen von unserem Vulkan Mount St. Helens.«

Er nahm sich einen weiteren Muffin, deren Zahl auf fünf geschrumpft war.

»Darf ich dich was fragen, ohne dass du sauer auf mich bist?«, wagte er sich vor.

Sie schüttelte genervt den Kopf. »Noch mal: Ich bin nicht sauer auf dich. Du bist neu, du kennst keinen der anderen. Anfangs warst du der coole Neue, der Exot wegen des Jobs deines Vaters. Ich meine, wer ist sechzehn und hat schon in fünf Ländern gelebt? Du weißt, wie das mit den Gruppen in der Highschool ist. Gib dich mit mir ab, sei nett zu mir, und du gehörst schneller zu den Außenseitern, als du blinzeln kannst. Ich komme mit den Hänseleien klar. Ich kenne es nicht anders und ich kann damit umgehen. Hey, noch zwei Jahre und die Highschool ist Geschichte.« Sie grinste. »Und jetzt, wo du Teil des Footballteams bist? Du gehörst jetzt zur obersten Liga. Ehe du dich versiehst, bist du der Schwarm aller Mädchen. Okay, hinter Sean, Enedin und Dick, aber immerhin, Platz vier ist auch nicht schlecht.«

»Es war gemein, und du bist keine fette Sau.«

Ihre Gesichtszüge froren ein. Er schlug sich mit der Hand vor dem Mund. »Shit. Jetzt habe ich dir wehgetan. Das wollte ich nicht.«

»Ist egal.«

Es war ihr nicht egal. Ihre Stimme zitterte und er sah, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie legte den Kopf in den Nacken, um zu verhindern, dass er es sah.

»Nein«, fuhr er entschlossen fort, das zu sagen, weshalb er aufs Dach gekommen war. »Es ist nicht egal. Wenn jemand behauptet, er wäre dein Freund, dann ist es nicht okay, so was zu dir zu sagen. Genauso wenig war es von mir in Ordnung, so zu tun, als wäre es nur ein Scherz. Ich hätte ihm sagen sollen, dass er sich wie ein Arsch verhält.«

»Enedin war halt sauer. Er schwärmt für Lucy, seit ihr in der Mittelschule der Busen gewachsen ist. Er konnte nicht gegen dich schießen, also hat er gegen mich geschossen.«

»Ich weiß, dass er mir eins auswischen wollte, und das ist das Allerschlimmste daran. Er ist ein Feigling.«

Sie verzog die Mundwinkel. »Und ihm fehlt die Menschenkenntnis. Wir sind nur Nachbarn, wohnen in einem Haus. Weshalb sollte es dich treffen, wenn er mich hänselt? Darüber hat er nicht nachgedacht, selber schuld.«

»Da liegst du falsch. Er hat mich härter getroffen, als wenn er mir eine verpasst hätte. Schau nicht so blöd aus der Wäsche, Amelia. Du hast nicht ehrlich geglaubt, dass es mir egal ist, wie er dich behandelt?« Er grinste. »Schlagfertig bist du. ›Besser eine fette Sau als ein Idiot.‹ Plus dein Abgang: Den Kopf erhoben, die Haltung straff bist du davonstolziert und hast es dir nicht anmerken lassen, wie sehr er dich mit seinen Worten verletzt hat. Das ist echte Stärke.«

Ihr Gesicht verschwand bis zur Nasenspitze in dem roten Wollschal. Die Freundin seiner Nan hatte ihn Amelia zu Weihnachten geschenkt, genauso wie die knallrote, gestrickte Schlägerkappe. Statt dass sich der rote Farbton der Mütze mit dem ihres Haars biss, betonte er das vergnügte Leuchten in ihren schokoladenbraunen Augen. Die zweigeteilte Nase, die vielen Sommersprossen, alles passte zu Amelia.

Zaghaft hob er die Hand und näherte sie dem lockigen Haar. Er nahm eine Strähne, ließ sie durch seine Finger gleiten. Seidig weich. Genau so, wie es aussah. Er legte seine Hand über ihre von der vielen Hausarbeit raue. Die kurz geknabberten Fingernägel waren das einzige Anzeichen dafür, dass es unter der ruppigen Außenschale einen weichen, sensiblen Kern gab.

»Amelia Turner, möchtest du meine Freundin sein?«

Ihr Mund klappte auf, klappte wieder zu. Die Bewegung wiederholte sich mehrmals. Er grinste. Es war das erste Mal, dass er sie sprachlos erlebte, seit sie ihm im zweiten Stock des Hausflurs begegnet war. Er die Treppe rauf in den Vierten, sie die Treppe runter ins Erdgeschoss.

Sie lachte verunsichert. Er blieb ernst, sah ihr tief in die Augen. Sie verstummte.

»Wie meinst du das?« Ihre Stimme war nur ein Hauch.

Statt ihr zu antworten, beugte er sich vor, verharrte. Sie schielte, weil sie seinen Mund im Blick behielt. Er gab ihr Zeit, wartete auf ein Zeichen von ihr. Sie bewegte sich keinen Millimeter. Langsam näherte er sich ihrem Mund. Spürte die Wärme, die von ihrem Gesicht ausstrahlte. Sein Herz schlug wild. Dann berührten sich ihre Lippen. Weich und nachgiebig. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er ein Mädchen küsste.

KAPITEL2

Tiefschlag

Amelia setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch ihres Chefs. Mr Clark atmete tief durch und sah sie ernst an. Bevor er das Wort ergriff, kam sie ihm rasch zuvor.

»Mr Clark, wirklich, Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen. Mir war von Anfang an klar, dass mir die Qualifikation für den Job fehlt.«

»Sie fehlt ihnen nicht, aber dass Sie das sagen, ist typisch für Sie.«

Amelia zuckte vor dem zornigen Ausdruck im Gesicht ihres Chefs zurück. Sie senkte den Kopf, rutschte auf ihrem Stuhl nach hinten.

»Ich bin nicht wütend auf Sie, Ms Turner. Ich bin wütend auf mich.«

»Sie ärgern sich, dass Sie mich der Geschäftsführung vorgeschlagen haben?«

»Nein, Himmelherrgott noch mal! Müssen Sie ständig Ihr Licht unter den Scheffel stellen?«

Sie sah ihn an. Er lehnte sich zurück und breitete die Arme aus. »Sie waren es, die die Prozesse in unserer Abteilung nach und nach digitalisiert hat. Nur so waren wir in der Lage, die neuen gesetzlichen Anforderungen und den damit verbundenen Mehraufwand ohne eine personelle Aufstockung der Abteilung zu bewältigen. Sie haben die Statistiken für das Marketing und den Vertrieb programmiert, damit die Abteilungen die Effektivität ihrer Maßnahmen prüfen können. Nur dass jeder im Management glaubt, das alles wäre auf meinem Mist gewachsen. Egal, was ich sage.« Er senkte die Arme wieder.

»Weil es der Wahrheit entspricht«, füllte Amelia zögerlich die Stille. Durch sein Schweigen ermutigt fuhr sie fort. »Ich meine, klar kamen die Ideen von mir, doch Sie waren es, der sie am Ende umgesetzt hat. Für mich ging es nur um die Prozesse selbst. Sie stellten die Kennzahlen für die Analysen auf, argumentierten vor den Verantwortlichen und stellten sich vor mich, wenn etwas nicht auf Anhieb funktionierte.«

Sie lächelte in Gedanken an den Umstellungsprozess in dem Unternehmen, den sie seit zwei Jahren begleitete. Die Widerstände der Mitarbeiter, die durchgearbeiteten Nächte und Wochenenden. Mr Clark beugte sich vor, faltete die Hände und legte sie auf den Schreibtisch.

»Nein, Ms Turner. Sie waren der Kopf hinter all dem. Nur sieht das niemand. Wissen Sie, was hinter dieser Unsichtbarkeit steckt?«

Verwirrt sah sie ihn an. Seine Lippen zusammengepresst, die dichten Augenbrauen zusammengezogen, seine Hände, die zitterten. Seine Empörung hing greifbar in der Luft. Ihre Zunge glitt über ihre trockenen Lippen. Innerlich wappnete sie sich für das, was er sagen würde.

Im letzten Jahr war sie mehr und mehr in die Rolle seiner Assistentin gerutscht. Sie bereitete die Präsentationen und Dokumente für die quartalsmäßige Berichterstattung der Geschäftsführung vor. Ebenso wie den einmal im Jahr erscheinenden Geschäftsbericht für die Aktionäre. Sie liebte es, die Zahlen, Daten und Fakten aus allen Abteilungen zu sammeln, sie aufzubereiten und den Zusammenhang dahinter zu erkennen. Wenn sie ein Unternehmen mit einem Körper verglich, dann war in ihren Augen die Finanzabteilung das Herz, das es am Leben hielt. Klar, Jenny, ihre Freundin aus der Marketingabteilung, würde heftig protestieren, genauso wie Michael, der Administrator für die IT-Infrastruktur bei EatForLife.

Ihr Chef fixierte sie weiterhin. Sie zögerte, senkte den Blick.

»Mir fehlt die Führungserfahrung?«

Eine energische, wegwerfende Handbewegung. »Die kommt mit dem Job, jeder fängt irgendwann damit an. Nein. Sie sind eine Frau und dick.«

Wie eine Faust trafen seine Worte sie in den Magen. Sie krümmte sich, Magensäure kroch ihren Hals empor.

»Ms Turner, es tut mir leid. Sie wissen, dass ich Sie schätze, und dass Ihr Geschlecht und Ihre Figur für mich keine Rolle spielen. Für mich zählt nur Ihre Kompetenz. Sie besitzen ein feines Gespür für Zahlen und sind in der Lage, komplizierte Sachverhalte anderen verständlich zu erklären. Ziehen Sie Ihre Konsequenz aus der Entscheidung.«

»Konsequenz?« Sie blinzelte, um die roten Flecken in ihrem Sichtfeld wegzubekommen.

»Ms Turner? Geht es Ihnen gut? Ms Turner?« Mr Clark sprang auf und eilte um seinen Schreibtisch zu ihr.

»Wasser«, krächzte sie.

Hastig verließ er das Büro. Atme, hörte sie Daniels Stimme. Bis drei zählen ein, bis fünf zählen aus. Sie schloss die Augen, stellte sich sein schiefes Grinsen vor und die Sommersprossen auf seiner Stupsnase. Lass es los, Amelia. Bewusst nahm sie wahr, wie ihre Hände auf den Armlehnen lagen. Die weiche Sitzfläche des Stuhls unter ihrem Hintern, ihre Füße in den bequemen Sneakern auf dem Boden. Die Endlosschleife der harschen Worte ihres Chefs in ihren Gedanken verblasste. Sie kam zurück ins Hier und Jetzt. Sie hörte die Tür, öffnete ihre Augen. Zögernd hielt Mr Clark ihr ein Glas Wasser hin. Sie zwang sich zu einem Lächeln, nahm das Glas entgegen und trank schlückchenweise. Statt hinter seinem Schreibtisch zu verschwinden, zog ihr Chef sich einen Stuhl von dem runden Besprechungstisch heran.

»Es lag nicht in meiner Absicht, Sie zu verletzen. Ich schätze Sie und ihre Arbeit. Hätte ich es sonst in Erwägung gezogen, Sie als meine Nachfolgerin vorzuschlagen?«

»Sie sprachen von Konsequenzen.«

Er beugte sich in seinem Stuhl ein Stück weit vor. »Kämpfen Sie. Zeigen Sie denen da oben, was in Ihnen steckt.«

Sie stieß ein kurzes freudloses Lachen aus. »Wie?«

»Dicke Menschen gelten als faul, undiszipliniert, zügellos und blöd. Wir beide wissen, dass das totaler Quatsch ist. Was andere über Sie denken, darauf haben Sie keinen Einfluss. Aber wie Sie über sich selbst denken, das können Sie ändern. Verstehen Sie, was ich meine?«

Amelia nickte langsam. Wieder einmal erfüllte sie nicht die Erwartungen, die jemand in sie setzte.

»Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden, Ms Turner?«

Fieberhaft überlegte sie, ob das eine Fangfrage war. Welche Antwort erwartete er diesmal von ihr?

»Es gibt kein Richtig oder Falsch auf die Frage.«

»Ich liebe meine Arbeit und Sie werden mir unglaublich fehlen, Mr Clark.«

Er stieß die Luft aus und richtete sich auf. »Danke, das ist sehr nett von Ihnen. Wie weit sind Sie mit dem Quartalsbericht?«

An dem Tisch links neben dem Eingangsbereich der Kantine war nur ihr Platz noch frei.

»Sorry Leute, musste noch die Diagramme optisch ansprechender gestalten. Als ob das etwas an ihrer Aussage ändern würde.«

Enedin sah sie erwartungsvoll an. »Und wie ist das erste Quartal gelaufen?«

Beinahe unisono antworteten die anderen am Tisch: »Das darf ich nicht sagen, ihr erfahrt es früh genug.«

Amelia verzog die Lippen, stach mit der Gabel in ihre Nudeln und drehte sie auf.

»Echt Amy, irgendwann sprengst du deine Waage, wenn du weiter diese Kohlenhydrate in dich reinstopfst.«

Sie ignorierte Enedins schroffe Worte. Alles andere würde nur zu einem Streit führen, bei dem sie den Kürzeren zog. Ausgerechnet Enedin war vor drei Jahren wieder in ihrem Leben aufgetaucht. Er arbeitete im Vertrieb und betreute die Großkunden. Ihr Versuch, ihn auf Distanz zu halten, scheiterte in dem Moment, als er über Jenny stolperte. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick, und Amelia war der perfekte Einstieg, um Teil der Gruppe zu werden. »Kumpels seit Kindertagen«, ha, ha. Sie brachte es nicht fertig, ihn auflaufen zu lassen, und daher saß er jeden Mittag bei ihnen am Tisch und versuchte hartnäckig, ihre Freundin für sich zu gewinnen.

»Und? Wirst du die Nachfolgerin von Mr Clark, wenn er in den Ruhestand geht?«, lenkte Jenny hastig das Gespräch auf ein anderes Thema. Ohne zu wissen, dass sie Amelia damit einen weiteren Tiefschlag verpasste.

»Nein – und bevor ihr fragt: Ich war eh nicht scharf darauf, den Job zu übernehmen.«

»Das ist doch gequirlte Scheiße«, erklärte Fred, der wie Michael in der IT arbeitete. »Du wolltest den Job und du hättest ihn auch verdient. Du machst dich nur wieder winzig klein, damit du niemandem auf die Füße trittst.«

»Winzig klein, bei dem Gewicht? Abgesehen davon wäre der Fuß, auf den sie tritt, danach Matsche. Au, verflucht Michael, das tat weh!« Enedin rieb sich die Rippen, wo ihm sein Sitznachbar einen derben Stoß mit dem Ellenbogen verpasst hatte. Amelia fixierte ihn, rollte eine extra große Nudelportion auf ihrer Gabel auf und schob sie sich demonstrativ in den Mund.

»Ehrlich Amy, Fred hat recht, du hättest es wirklich verdient. Ich meine, wer außer dir kann mir sagen, ob die aktuelle Social-Media-Kampagne für unseren Fitnessriegel den erhofften Erfolg bringt?«

Fred, der den Mund voll hatte, hob die Hand. Jenny grinste. »Okay, außer dir, der die statistischen Auswertungen der Klicks vornimmt. Aber das heißt ja nicht, dass die Leute wirklich in den Laden gehen und den Riegel kaufen.«

Enedin richtete sich ein Stück auf. »Aber ich kann es dir sagen. Die Freshmarkt-Lebensmittelkette hat ihre Bestellungen für den Fitnessriegel gegenüber dem letzten Quartal um zehn Prozent erhöht.«

Amelia hielt sich aus der nachfolgenden Diskussion raus. Sie aß ihre Spaghetti Bolognese auf und schob einen Schokoriegel nach. Die zwei anderen hatte sie in ihre Tasche gepackt, genauso wie die Zitronenlimonade mit dem extra Vitamin C. In ihren Augen zeugte es von Loyalität, die Produkte des eigenen Unternehmens zu konsumieren, und es sicherte den Arbeitsplatz.

Normalerweise hätte sie sich rege an dem Gespräch beteiligt, doch heute war ihr nicht danach zumute. Wenn sie nach Hause kam, würde sie sich einen leckeren Kakao zubereiten und Brownies backen. Genau, und dann würde sie sich fünf weitere Folgen der neuen britischen Krimiserie ansehen. Sie liebte den zugeknöpften Kommissar, der mit stiller Intelligenz einen Fall löste, anstatt mit lautem Machogehabe. Der perfekte Abschluss für einen verkorksten Tag.

Jenny legte ihr den Arm um die Schultern. Überrascht sah Amelia auf und stellte fest, dass die anderen aufgestanden waren und sie allein am Tisch saßen.

»Weißt du was? Wir gehen heute Abend zusammen eine Runde laufen. Da kannst du deinen ganzen Frust über unsere dämliche Geschäftsleitung loswerden.«

»Bist du wahnsinnig geworden? Nein danke. Außerdem …«

»Stopp, mir kannst du nichts vormachen. Du bist völlig zu Recht verletzt und enttäuscht. Mr Clark hat dich als Nachfolgerin vorgeschlagen, weil er dachte, dass du die geeignete Person dafür bist.«

»Weißt du, was er sagte, weshalb sein Vorschlag abgelehnt wurde?«

»Weil du eine Frau bist?«

»Und weil ich fett bin.«

Jenny zog den Arm weg und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Das hat er zu dir gesagt?«

»Ja. Von Enedin bin ich dämliche Sprüche gewohnt, aber von ihm? Ach, verflucht.« Amelia schob das Tablett mit den leeren Tellern von sich. Wieso war sie nicht in der Lage, beim Essen diszipliniert zu sein? Enedin hatte es geschafft. »Am schlimmsten war es zu sehen, wie enttäuscht er von mir ist.«

»Er enttäuscht von dir? Schwachsinn, wie kannst du nur so was denken? Ich glaube, er ist sauer, dass sein Vorschlag erst gar nicht in Erwägung gezogen wurde. Am Ende geht es um die Beziehungen, die du hast, den Abschluss von einer Eliteuniversität und dein Aussehen. Aber nur weil jemand super in seinem Studium ist, heißt das noch lange nicht, dass er es in der Praxis umsetzen kann.«

»Wovon sprichst du?«

»Na von diesem Theo Cordani, der am nächsten Montag anfängt und der Nachfolger von Mr Clark wird. Ich meine, der Typ ist dein Jahrgang und kann gerade mal vier Jahre an Berufserfahrung vorweisen. Mag ja sein, dass sich ein internationales Consulting-Unternehmen gut im Lebenslauf macht, aber die sehen ein Unternehmen nur in Zahlen und übersehen die Menschen, die dahinterstecken. Abgesehen davon hat er null Ahnung von der Lebensmittelbranche. Sein Schwerpunkt liegt bei Start-ups im Technologie-Umfeld.«

»Von wem sprichst du? Was hat dieser Theo Co…dingsbums mit all dem zu tun?«

»Hast du überhaupt etwas von unserem Gespräch am Tisch mitbekommen oder hast du dich komplett in dein Schneckenhaus zurückgezogen?« Jenny legte ihr die Hand auf den Arm. »Hey, pass auf, spätestens beim nächsten Quartalsbericht blamiert sich dieser Cordani und dann schlägt deine Stunde. Du kennst jede Abteilung, jeden Prozess und weißt genau, worauf es bei EatForLife ankommt, damit wir auf dem Markt erfolgreich sind. Der Typ kann gegen dich nicht anstinken.«

»Woher wisst ihr, dass dieser Typ der Nachfolger von Mr Clark werden soll?«

»Michael hat sich vorhin verplappert. Er wusste seit Dienstag, dass du den Posten nicht bekommst. Mr Harrison hat ihn aufgefordert, für diesen Cordani einen Benutzer anzulegen, mit allen Rechten, die auch Mr Clark hat.«

»Am Dienstag?« Amelia runzelte die Stirn. »Aber das Gespräch der Geschäftsführung über seinen Nachfolger fand doch erst am Mittwochnachmittag statt.«

»Eine Farce, und du darfst Michael nicht böse sein, dass er es dir nicht gesagt hat.«

»Bin ich nicht.« Sie verzog für Jenny ihren Mund zu einem Lächeln. »Ich weiß schließlich selbst, dass manche Sachen vertraulich bleiben müssen. Er hat ihn unter die Lupe genommen?«

»Ja, so, wie sich das für einen guten Freund ziemt. Hätte er etwas gefunden, hätte er es Crissy in der Personalabteilung stecken können. Aber der Typ ist sauber. Prädikatsexamen an der Johns Hopkins University in Boston. Du weißt, dort studiert der amerikanische Geldadel. Kein Wunder, dass er direkt bei der Consulting-Firma unterkam.«

»Mann, das Getratsche in unserem Unternehmen ist schlimmer als in einem Dorf.« Sie sah auf ihre Uhr. »Mist, ich muss, sonst schaffe ich es nicht mehr mit der Überarbeitung der Auswertung.«

KAPITEL3

Kate

Amelia schloss die Wohnungstür auf, stellte die Einkaufstasche auf den Boden und lehnte sich gegen die Tür. Zu Hause. Ihr Reich. Ihre Höhle. Sie sackte zusammen und ihr Hals verengte sich. Entschlossen richtete sie sich wieder auf. Sie zog den Mantel aus, hängte ihren Schlüssel an das Brett neben der Tür und stellte ihre Sneaker ins Schuhregal.

»Heute werde ich mich mal so richtig verwöhnen«, sagte sie laut. Sie betrat die Küche und breitete ihre Einkäufe auf der Küchenablage aus. »Was haben wir denn Schönes hier? Geräucherter Biolachs aus der Zucht, dazu gibt es eine Meerrettich-Sahnesoße. Selbstverständlich selbst zubereitet, nicht dieser fertig gemixte Quatsch, bei dem kein Mensch weiß, welche Chemie da verarbeitet wurde. Ein gemischter Blattsalat mit Honig-Senf-Dressing plus warmes Ciabatta mit Kräuterbutter. Oh, und zum Nachtisch Brownies.«

War sie eben nicht zur Leiterin der Finanzabteilung befördert worden. Na und? Ihr Leben war perfekt, so wie es war. Was brauchte sie mehr? Nichts. Sie liebte ihre kleine Wohnung mit dem winzigen Balkon. Die zwei Zimmer reichten ihr vollkommen aus. Sie hatte eine nette Nachbarin.

Amelia lächelte. Kate war mehr als nur eine Nachbarin, sie war ihr Fels in der Brandung. Ihr Rettungsring, wenn sie zu ertrinken drohte.

Nein. Sie liebte ihr Leben so, wie es war. Wer wenig besaß, brauchte keine Angst zu haben, es zu verlieren.

Sie zog ihre Bürokleidung aus und hängte sie zum Lüften auf. Dann schwang sie sich in ihre Wohlfühlsachen: eine bequeme Stretchhose und ein weites T-Shirt. Bereit fürs Backen.

Sie rührte den Teig für die Brownies an, schmolz die 70-prozentige Zartbitterschokolade im Wasserbad und fügte neben reinem Kakao auch Kakaonibs hinzu. Dann stellte sie den Timer für den Backofen und wandte sich der Meerrettich-Sahnesoße zu. Fertig. Die nächste Aufgabe war das Putzen des Salats. Das Klingeln an der Wohnungstür ließ sie innehalten. Um die Zeit klingelte selten jemand bei ihr. Beunruhigt von der Unterbrechung ihrer Abendroutine sah sie durch den Türspion. Sie öffnete die Tür.

»Kate, alles in Ordnung bei dir?«

Schnuppernd hob ihre Nachbarin die Nase in die Luft. »Brownies? Was ist passiert?«

»Nichts.«

Amelia schob sich ihre Haare hinters Ohr. An dem Blick aus Kates klaren blauen Augen erkannte sie, dass diese begriff, dass das »Nichts« nicht nichts war.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte Kate. »Heute ist ein Familienmeeting, doch irgendwie funktioniert es nicht. Keine Ahnung, diese Technik treibt mich in den Wahnsinn. Warum kann das Zeug nicht einfach so bleiben, wie es ist? Ständig wird etwas geändert.«

»Immerhin gehörst du zu denjenigen, die einen Internetzugang hatten, bevor die meisten Leute wussten, was das ist, ganz zu schweigen von deinem Computer: das Neueste vom Neuesten, besser als meiner auf der Arbeit.«

»Nun, du weißt, woran das liegt. Wie sonst sollte ich mich gleichzeitig mit Nicole und Dylan in Paris, Daniel in New York und Claire in Berkeley treffen? Ich weiß, du wolltest es dir gemütlich machen …«

»Kein Problem. Ich helfe dir gern. Lass mich nur kurz schauen, wie lange die Brownies brauchen. Ich hasse es, wenn sie innen ganz trocken sind.«

Sie betrat die Küche, wo im selben Augenblick der Timer signalisierte, dass der Backvorgang beendet war. Amelia holte die Brownies aus dem Backofen. Sie dufteten köstlich.

»Möchtest du auch einen? Sie sind noch ganz warm.«

»Aber wirklich nur ein winziges Stückchen zum Probieren.«

Amelia balancierte die zwei Teller auf einem Arm, schnappte sich ihren Schlüssel und folgte Kate, die in die Wohnung direkt gegenüber vorging. Sie bog mit ihr in das Gästezimmer ab, das mit keiner Spur verriet, dass dort einmal ein Jugendlicher drei Jahre seines Lebens verbracht hatte. Die Poster waren verschwunden, genauso wie das Bett, der Kleiderschrank, und auch sein Geruch hing nicht mehr in der Luft. Die Wände waren in einem Taubengrau gestrichen. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob das vor dem Einzug von Daniels Schwester Claire passiert war oder erst nach deren Auszug. Die Ausziehcouch in einem mintfarbenen Ton passte zu den leichten Vorhängen und dem schmalen weißen Schrank.

Es kam nur selten vor, dass jemand von der Familie dort übernachtete. Kates Tochter Nicole und ihr Mann Dylan schliefen im Lotte Hotel mit Blick auf die Puget-Sound-Bucht, die sich bis zum kanadischen Vancouver zog. Ihr letzter Besuch lag einige Jahre zurück. Claires Highschool-Abschlussfeier. Amelia hatte sich an dem Wochenende in ihrer Wohnung eingeigelt.

Meistens war es Kate, die in regelmäßigen Abständen für ein paar Wochen zu ihrer Tochter oder den Enkelkindern flog. Einzig Daniels Schreibtisch erinnerte an die Zeit, in der er das Zimmer bewohnt hatte. Kate überließ ihr den Bürostuhl und zog sich einen Stuhl heran.

Amelia aktivierte den Computer, der sich schlafen gelegt hatte. »Ist dein Passwort noch dasselbe?«

»Ja, und du brauchst nicht zu meckern. Immerhin klebt es nicht mehr unter der Tastatur.«

Amelia schüttelte nur leicht den Kopf, enthielt sich aber eines Kommentars. »Okay«, murmelte sie und klickte sich durch die Programme. Sie installierte zwei Updates, kontrollierte die Verbindung und aktivierte den Link zu dem Meeting. Ein Fenster öffnete sich mit dem Hinweis, dass sie sich im Warteraum aufhielt und der Moderator sie in Kürze einlassen würde.

»Na also, jetzt müsste es funktionieren.«

Sie erhob sich, wechselte den Platz mit Kate und sah zu, wie ihre Nachbarin den Ton testete und die Kamera auf dem Monitor neu ausrichtete. Amelia schob sich ein Stück von dem warmen Brownie in den Mund. Kurz schloss sie die Augen, als der zart schmelzende, bittere Geschmack sich auf ihrer Zunge ausbreitete. Kates Teller war leer. Sie lächelte. Niemand schaffte es, nach nur einem Stückchen von ihren Brownies aufzuhören.

Leise trat sie den Rückzug an. Aus dem Augenwinkel sah sie auf dem Bildschirm die Bilder von drei weiteren Orten auftauchen. Zwei mit einem Paar und einer mit Kates Enkeltochter Claire, die an der University of California in Berkeley studierte. Kates konzentrierter Gesichtsausdruck verwandelte sich in Freude. Familie, egal wie klein und wie weit weg, schaffte diese Art der Transformation. Aus einem trüben, einsamen Tag wurde ein warmer, freudiger durch Menschen, die sich liebten.

Neid kroch in Amelia hoch und sie hasste sich dafür. Ein letzter Blick zu den winzigen Bildern auf dem Monitor. Sie blieb abrupt stehen, gefangen von der Frau mit den brünetten Haaren und einem länglichen Gesicht, das durch den gestuften Schnitt runder wirkte. Eine feine Nase, akkurat geschwungene Augenbrauen, dichte Wimpern und ein voller, herzchenförmiger Mund, der mit einem dezenten Lachsrosa in Szene gesetzt war. Alicia, Daniels Freundin seit sechs Monaten, einer Woche und drei Tagen. Sie hatte den Arm um seine Taille geschlungen und ihre Wange lag auf seiner Schulter.

Amelia hörte nicht, worüber gesprochen wurde. Das war nicht notwendig, sie verstand es ohne ein Wort. Der Diamantring an Alicias Ringfinger verdeckte kurz die Personen in diesem Fenster. Nicoles Mund bildete ein rundes O. Dylan lachte und zog seine Frau in die Arme. Claire war aufgesprungen und tanzte in ihrem Zimmer.

Daniel hatte sich mit Alicia verlobt.

Zurück in ihrer Küche, bereitete Amelia ihr Abendessen vor. Sie dekorierte den Lachs mit Petersilie, streute Blütenblätter über den Blattsalat, schüttete Gingerale in ein hohes Glas mit Eiswürfeln und trug das Tablett in ihr Wohnzimmer. Der perfekte Abend, um gemütlich auf der Couch ihre Krimiserie anzuschauen.

Einen Fuß auf dem Stuhl, ihr Kinn auf dem Knie, sortierte Amelia ihre Handkarten. Heute spielte sie mit Brenda, die ihre lila gefärbten Haare in einer frechen Kurzhaarfrisur trug – laut ihrem Coiffeur der neueste Schrei. Oh ja, in Brendas Augen war das ein himmelweiter Unterschied zu einer Friseurin. Beide Dienstleistungen trafen bei Amelia auf völliges Unverständnis. Sie gab nie Geld für ihre Haare aus. Wenn sie mal wieder zu lang wurden, schnitt sie sie ein Stück kürzer. Basta. In ihren Augen sparte sie damit ein Vermögen. Andererseits gab Brenda die Frisur einen frechen Touch und sie sah keinen Tag älter als fünfundfünfzig aus. Sie trug hippe Kleidung wie Amelias Kolleginnen, die den Modetrends folgten. Kein Wunder, Brenda gehörte schließlich eine der angesagten Boutiquen in der Innenstadt. Aber nicht nur dort. Mit ihrem geschäftlichen Weitblick hatte sie, statt über das moderne Einkaufszentrum im Randbezirk zu klagen, eine zweite Filiale eröffnet. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters arbeitete sie jeden Tag für ein paar Stunden abwechselnd in ihren Boutiquen, damit sie ein Gespür für den Trend in der Mode behielt. Den Einkauf, den Besuch bei den Haus- und internationalen Modemessen ließ sie sich nicht nehmen.

Die vierte in der Canasta-Runde war Edith, ehemalige Krankenschwester, Mutter von drei erwachsenen Kindern, Großmutter und seit einer Ewigkeit mit ihrem Mann verheiratet. Im Gegensatz zu dem von Brenda verwendeten Signalrot waren Ediths Lippen dezent in einem Apricot-Farbton geschminkt. Die grauen Haare hatte sie zu einer Banane-Frisur hochgesteckt, sodass ihre langen Rubinohrringe immer wieder das Licht einfingen.

Amelia hatte den Rotwein, einen Merlot, rechtzeitig geöffnet und atmen lassen. Jeder ihre Gäste hatte ein Glas vor sich stehen. Sie hingegen trank ihr übliches Gingerale mit Eiswürfeln. Von den Salzstangen, Rauchmandeln, gesalzenen Cashewnüssen und Crackern bediente nur sie sich. Für sie gehörte salzige Knabberei zu den Canasta-Abenden dazu. Amelia zog eine Karte vom Stapel.

»Und?«, fragte Brenda und betrachtete mit gerunzelter Stirn ihre Handkarten. »Dürfen wir dir gratulieren?«

»Keine Geheimcodes«, mahnte Kate.

Pikiert hob Brenda die fein gezupfte Augenbraue. »Unterstellst du mir gerade, ich würde mogeln?«

Edith schob eine Karte an eine andere Position. »Unterstellen? Du mogelst immer, meine Liebe, weil du es nicht leiden kannst, wenn du verlierst.«

»Zwischen geschicktem Spielen, Ahnen, was deine Partnerin auf der Hand hält, und Mogeln gibt es einen himmelweiten Unterschied. Ich habe jedenfalls nie jahrelang mit einem Kartendeck gespielt, bei dem ein Drittel der Karten durch Zeichen auf der Rückseite markiert waren, wie es unsere liebe Kate getan hat. Bis Amelia dem mit neuen Spielkarten ein Ende setzte.«

»Die Markierungen kamen durch das viele Spielen, nicht weil ich mir damit einen Vorteil verschaffen wollte.« Kate, die an der Reihe war, legte eine Meldung mit drei Fünfern, was exakt dem Mindestpunktewert für die Eröffnung entsprach, solange zu Beginn des Spiels noch niemand Punkte hatte.

»Also.« Brenda sah Amelia auffordernd an. Diese spielte drei Damen aus. Ihre Spielpartnerin grinste zufrieden. »Hast du nun den Job bekommen oder nicht?«

»Nein. Die Geschäftsleitung hat sich entschieden, die Position extern zu besetzen.«

»Hast du gekündigt?«

Amelia hielt ihre Karten fester. Ziehen Sie Ihre Konsequenzen aus der Entscheidung, hallten Mr Clarks Worte in ihrem Kopf. »Nein. Ich werde keinen gut bezahlten Job kündigen, nur weil ich bei einer Beförderung übergangen wurde.«

»Sag mal, Mädchen, hast du überhaupt kein Rückgrat? Du arbeitest wie eine Besessene, machst ohne Ende Überstunden, lässt deinen Urlaub verfallen, bist nie krank, bringst Schwung in den Laden und lässt es dir gefallen, dass man dich übergeht?«

»Mir fehlt die Führungserfahrung.«

»Kokolores. Ohne deine Analyse menschlichen Verhaltens wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass mein Prämiensystem der Auslöser für den Krieg unter meinen Verkäuferinnen war. System abgeschafft, und siehe da, mein Umsatz hat sich verdoppelt.«

»Danke für den Gutschein.«

»Gerne«, grinste Brenda.

»Es ist so typisch für dich. Statt Geld schenkst du Amelia einen Gutschein für die Boutique, von dem du weißt, dass sie ihn niemals einlösen wird«, brummte Kate.

»Ich möchte kein Geld dafür, dass ich einer Freundin helfe«, wehrte Amelia ab.

»Du lenkst ab. Das mit der fehlenden Führungserfahrung ist nur eine dumme Ausrede, das kannst du locker lernen, wenn du eine Abteilung führst. Also, was ist der wahre Grund?«

»Ich besitze nur einen Highschool-Abschluss, mehr nicht. Der Nachfolger von Mr Clark hat einen Master of Business Administration und arbeitete als Berater bei einem der angesehensten Consulting-Unternehmen der USA.«

»Na und? Das bedeutet gar nichts. Du hast neben einem Vollzeitjob deine Accounting-Ausbildung am Community College abgeschlossen. Du kennst das Unternehmen von der Pike auf. Nein, das ist nicht der wahre Grund hinter der Entscheidung.«

Amelia knirschte mit den Zähnen und legte die Vierer mit Schwung auf den Tisch. »Wenn du alles besser weißt, dann verrat mir doch, weshalb ich nicht Leiterin der Finanzabteilung geworden bin.«

»Es ist ganz simpel. Denk nach.«

»Meine Vorfahren kamen aus Irland?«

»Wessen nicht«, bemerkte Edith, die an der Reihe war.

»Das war ironisch gemeint. Ich bin eine Frau und meine Figur entspricht nicht dem heutigen Schönheitsideal.«

Triumphierend holte sich Brenda den Stapel und legte zwei rote Dreien vor sich. »Ganz genau, und das ist typisch für diese Art von Unternehmen. Alles nur Männer in der Führungsebene. Alles alte Säcke.«

»Brenda«, mahnte Edith.

»Ausnahmsweise stimme ich ihr zu.« Kate legte eine Meldung mit vier Assen. Brenda beugte sich vor.

»Ich sage dir, was du am Montag machst. Du gehst zu diesem CEO, diesem Harrison, und sagst ihm, dass du kündigst, wenn du den Job nicht bekommst.«

»Ich liebe meinen Job.«

»Genau deshalb werden sie dich behalten.«

»Nein, werden sie nicht.«

»Na, auch egal. Jedes Unternehmen wird dich mit Kusshand nehmen.«

»Klar, weil es ja auf dem Arbeitsmarkt keine Buchhalterinnen gibt. Ganz abgesehen davon verdiene ich überdurchschnittlich gut in meinem Job.«

»Oh ja, weil dieser Clark ja nicht bescheuert ist. Er hat kapiert, was er an dir hat, und dich für seine Nachfolge aufgebaut.«

Edith legte ihre Hand auf Brendas Arm. »Du bist dran, meine Liebe, und ich denke, du musst es schon Amelia überlassen, ob sie kündigen möchte oder nicht.«

Amelia packte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie nahm das Haargummi von ihrem Handgelenk, zog das Bündel zweimal durch und beim letzten Mal nur zur Hälfte, sodass ein loser Knoten entstand. Hitze stieg ihr in die Wangen. Das passierte ihr immer, wenn Brenda versuchte, ihr vorzuschreiben, wie sie eine Situation handhaben sollte. Sie war keine Emanze und sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Sie war zufrieden mit ihrem Leben, verflucht noch mal.

Edith wandte sich zu Kate. »Worum ging es denn bei eurem Familienmeeting?«

Normalerweise hätte Amelia den Themenwechsel begrüßt, jedoch nicht heute. Kate schielte zu ihr rüber, schwieg. Doch jedem am Tisch war klar, dass das Schweigen nur dazu führte, dass Brenda den Faden aufgreifen und hartnäckig der Sache auf den Grund gehen würde.

»Daniel hat sich verlobt und wollte mit der Familie einen Termin für die Hochzeit absprechen. Sag mal, Amelia, sind noch Brownies von gestern übrig?«

»Nein, die habe ich mit zur Arbeit genommen. Ich kann dir einen Rest von dem Himbeer-Käsekuchen anbieten, den ich am Mittwoch gebacken habe.«

»Das klingt lecker. Würdest du mir ein Stück holen?«

»Seit wann …«

»Davon würde ich auch gerne ein Stückchen probieren«, unterbrach Edith Brenda.

Amelia erhob sich. »Brenda?«

»Nur ein wenig zum Probieren.«

Erleichtert, dem Gespräch entfliehen zu können, flüchtete Amelia in die Küche. Sie holte den Käsekuchen aus dem Kühlschrank, schnitt aus dem letzten Rest vier schmale Kuchenstücke und verteilte sie auf Teller. Von der Fensterbank holte sie die frische Minze, zupfte ein paar Rispen ab und platzierte sie auf den breiteren Enden. Die Kuchengabeln pikste sie in die Seite. Nein, so gefiel es ihr nicht. Sie öffnete die Schublade, in der ihr Dekomaterial lagerte, und dekorierte die Kuchenstücke jeweils mit einem Schokoladenblatt. Um Welten besser. Sie lauschte auf die unterdrückten Stimmen aus dem Wohnzimmer. Die beschwichtigende von Edith, die erregte von Brenda und die erklärende von Kate. Besser, sie ließ noch ein wenig mehr Zeit verstreichen.

KAPITEL4

Jugend – Schule

Amelia saß auf der niedrigen Mauer des Pausenhofs. Nur mit halbem Ohr hörte sie dem Gespräch ihrer Klassenkameradinnen zu. Ihr Blick schweifte immer wieder zu Daniel, der mit Sean, Enedin, Richard, den alle nur Dick nannten, Lucy, Sandra, Melanie und Ruth in einer Runde stand. Vier plus vier ergibt acht. Er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, sah zu ihr rüber und zwinkerte ihr zu. Hastig wandte sie sich Rose zu.

»Weißt du noch, was wir in Mathe aufhaben?«

Ihre Freundin starrte sie an. »Mathe? Du fragst mich, was wir in Mathe aufhaben? Was hat das mit dem Homecoming-Ball zu tun, über den wir gerade reden?«

Amelia blinzelte. »Homecoming-Ball?«

Rose stemmte ihre Hände in die Hüfte. »Sag mal, hast du uns überhaupt zugehört oder gehörst du jetzt auch zum Fanclub von Sean oder einem anderen aus diesem Footballteam?«

»Nein, wie kommst du darauf?«

»Na, weil du seit Wochen in jeder Pause ständig zu der Truppe rüberschaust, als wären sie der Nabel der Welt. Echt, Amelia, ich hätte nie gedacht, dass du dich mal in eine dieser langweiligen Schnepfen verwandelst. Fehlt nur noch, dass du eine Diät anfängst und dich bei den Cheerleadern bewirbst.«

Chloe hob den Kopf von ihrem Notizbuch. »Das wäre immerhin ein positiver Effekt der Schwärmerei.«

Stille. Alle aus der Runde sahen sie an. Chloe wurde rot. »Tut mir leid, Amelia, so war das echt nicht gemeint.«

»Ehrlich, Chloe, was wird das hier?«, fauchte Rose. »Bodyshaming? Definieren wir uns jetzt über Äußerlichkeiten?«

»Nein, auf keinen Fall, ich meinte doch, dass es mir egal ist …«

»Nur, dass du ihr damit gleichzeitig zu verstehen gibst, dass sie fett ist.«

Alle Augen richteten sich auf die wütende Rose, die knallrot anlief. Amelia prustete los. Es war zu komisch, dass Rose in ihrer Kritik an Chloe den verletzenderen Fauxpas begangen hatte. Die anderen fielen in das Lachen ein.

»Lacht ihr über mich?«

Schlagartig verstummte die Gruppe mit Ausnahme von Amelia, die sich mit dem Handrücken kichernd die Tränen von den Wangen wischte. Daniel vergrub seine Hände in den hinteren Taschen seiner Jeans. Sein dunkelblondes Haar, das er sich aus dem Gesicht gekämmt hatte, kringelte sich um seinen Kopf und stand wegen des Wirbels an der Stirn nach oben. Zusammen mit den Sommersprossen auf seiner Stupsnase gab ihm das einen lausbubenhaften Charme, dem sich kein weibliches Wesen zu entziehen vermochte. Selbst Kate kochte er damit weich. Dazu dieses schelmische Grinsen.

Amelia seufzte innerlich. Er war zum Anknabbern. Blusen wurden zurechtgezupft, Schulterblätter zusammengeschoben, die Busen nach vorne gereckt. Selbst Rose zog ihre Jacke über den Fleck auf ihrem Sweatshirt und klimperte mit ihren langen Wimpern.

»Hi Daniel, natürlich lachen wir nicht über dich.«

Amelias Fröhlichkeit verschwand schlagartig. Alles nur Geschwafel. Von wegen Äußerlichkeiten spielten keine Rolle. Nur so lange sie nicht um die Gunst eines Objektes der Begierde konkurrierten. In ihrem Magen bildete sich ein Klumpen. Daniel wandte sich ihr zu.

»Danke, dass du mir bei Mathe geholfen hast. Ich denke, ich bin dir etwas schuldig. Hättest du Lust, mit mir ins Kino zu gehen?«

»Nein.«

Er runzelte die Stirn. »Kein Kino?«

»Nein.«

»Dann Essen?«

»Nein.«

Chloe sah Amelia an, den Mund offen und die Augen weit aufgerissen. Diese stand auf und schnappte sich ihren Rucksack.

»Ich gehe, muss noch was im Sekretariat erledigen.«

Ohne Daniel oder die anderen eines Blickes zu würdigen, wetzte sie los.

Auf dem Heimweg stoppte Amelia an der roten Fußgängerampel. Sie nahm seinen typischen Geruch nach Bergamotte wahr, bevor er von der Seite an sie herantrat.

»Hi.«

Rasch musterte sie die Umgebung und stieß erleichtert die Luft aus. Sie konnte niemanden aus ihrer Klasse entdecken. Zwischen seinen Augenbrauen sah sie eine steile Falte. Dennoch schaffte sie es nicht, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen.

»Wir hatten gesagt, dass wir getrennt nach Hause gehen.« Absurd, denn der Rest fuhr mit dem Auto, dem Schulbus oder wurde von den Eltern abgeholt.

»Weißt du, Amelia, du tust immer so, als hättest du ein dickes Fell, aber in Wahrheit bist du eine echte Mimose. Was sollte das vorhin in der Pause?«

»Weshalb bist du zu uns gekommen?«

»Grün.« Er stiefelte los und sie hielt trotzig mit ihm Schritt.

»Ich werde es dir sagen. Du hast gesehen, dass wir einen Streit hatten, und du meintest, du müsstest mir wie der Ritter in der silbernen Rüstung zu Hilfe eilen. Weißt du, Daniel Ackermann, ich bin bisher in meinem Leben auch wunderbar allein zurechtgekommen.«

»Ohne Frage, das bezweifle ich nicht, aber wenn du glaubst, dieser verlogene Haufen von Bitches, mit denen du in der Pause abhängst, wäre nur einen Deut besser als Lucy, Ruth, Melanie oder Sandra, hast du dich geirrt. Im Gegenteil, Ruth hat heute erzählt, wie cool sie dich findet.«

»Na danke, das hat mir jetzt echt geholfen. Ein toller Freund bist du.« Sie beschleunigte ihre Schritte, doch er war schneller, packte sie am Arm und hielt sie fest.

»Nein, genau das bin ich nicht, weil du, verflucht noch mal, ein Riesengeheimnis daraus machst. Verrat mir eines: Warum darf niemand erfahren, dass du meine Freundin bist?«

Tränen stiegen ihr in die Augen. »Weil es dann erst richtig mit dem Gerede losgeht. Bist du blind, hast du nicht gesehen, wie sie sich alle zum Affen für dich machen? Glaubst du ernsthaft, deine Freunde vom Footballteam oder die Cheerleader würden mich in ihrer Runde akzeptieren? Was, denkst du, passiert, wenn wir beide Händchen haltend über den Pausenhof schlendern? Hä?«

Er ließ sie los, atmete tief durch. »Es ist mir egal, was die anderen denken. Ich liebe dich, Amelia. Du bist klug, du bist hilfsbereit und wie du alles bei dir zu Hause im Griff hast? Sie alle können sich eine Riesenscheibe von dir abschneiden, und das sage ich nicht, weil ich dein Freund bin.«

»Mir ist es aber nicht egal!«

Sie marschierte wieder los. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen von der Wange. Schweigend lief er neben ihr her. In ihrem Kopf hörte sie die Stimmen der anderen Mädchen. Daniel und Amelia? Nie im Leben. Schau sie dir doch an. Sie ist fett, langweilig, und ihre Mutter ist Alkoholikerin, wusstest du das? Sie gibt ihm Nachhilfe in Mathe. Deshalb ist er mit ihr zusammen. Daniel ist schlau. Ein wenig Aufmerksamkeit, ein paar Komplimente, und ein solches Mädchen macht die Beine schneller breit, als du bis drei zählen kannst. Denk nur mal an Elena, die hat jeden rangelassen.

Erneut packte Daniel ihren Arm. »Hör auf!«

»Womit?«

»Ich höre deine Gedanken. Amelia, du wirst niemals wissen, wer du wirklich bist, wenn du immer nur versuchst, der Mensch zu sein, den andere in dir sehen.«

»Du hast keine Ahnung, wie das ist, ich zu sein.«

»Weißt du, was mir einfach nicht in den Kopf will?«

»Nein.«

»Wie es sein kann, dass ein Mädchen wie du, das mit beiden Füßen fest im Leben steht, sich gleichzeitig von anderen verunsichern lässt.«

»Ich bin nicht unsicher.«

»Doch, das bist du. Und du denkst, dass du es nicht wert bist, geliebt zu werden, aber ich liebe dich. Ich finde dich wunderschön. Ich liebe jede deiner Rundungen, jede Sommersprosse und am meisten liebe ich die zwei Spitzen auf deiner Nase. Weißt du, warum?«

Tränen liefen ihr die Wange hinunter. Er wischte sie mit den Fingerspitzen fort. Sein Lächeln ließ sich nicht ignorieren.

Er beugte sich vor, schaffte es, erst die eine Erhöhung, dann die zweite zu küssen. »Deshalb.« Er zog sie in seine Arme.

Einen Moment wehrte sie sich, bevor sie ihren Widerstand aufgab.

Daniel saß am Schreibtisch und quälte sich durch seine Hausaufgaben. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er eine Runde an seinem Computer gespielt.

»Denk daran, wenn du alles fertig hast, kannst du den ganzen Abend spielen«, kam es von Amelia, die mit gekreuzten Beinen auf dem Boden saß und in der Englischlektüre las.

»Du könntest mir helfen, dann ginge es schneller und wir hätten noch Zeit für ein zweites Stück von dem köstlichen Apfelkuchen, den du gebacken hast.«

»Netter Versuch, Ackermann, aber das funktioniert bei mir nicht.«

»Nein?« Er ließ sich von seinem Stuhl auf den Boden gleiten und schnappte sich die Lektüre aus ihrer Hand.

»Hey, lass das! Gib es mir zurück.«

»Du bist schon fast durch damit. Das ist unfair.« Er hielt das Büchlein in die Höhe. Sie griff danach, er lehnte sich nach hinten. Ihre Brust streifte seine und er genoss die Erregung, die sich schlagartig in ihm ausbreitete. Dummerweise durchschaute sie seine Absichten.

Sie verschränkte die Arme. »Du benimmst dich kindisch.«

»Tu ich das?« Er neigte sich vor, betrachtete ihren vollen runden Mund, der beim Küssen so himmlisch nachgab, dass er darin versank wie in einem weichen Kissen.

Sie runzelte die Stirn. »Was wird das?

---ENDE DER LESEPROBE---