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»Du warst die Stimme, Frieda der Takt und Anina die Musik. Was passiert, wenn die Stimme verstummt und nur noch Stille zu hören ist?« Niemand ahnt, dass hinter der biederen Landschaftsgärtnerin Jasmin, die einst provokative Leadsängerin J der Mädchenband Wintergrün steckt. Eine öffentliche Ohrfeige, die sie dem Sänger Liam von Stardust verpasst, sorgt für Wirbel nicht nur unter seinen weiblichen Fans. Jasmin erhält ein Strafbefehl und wird zu Sozialstunden verdonnert. Ihr Projekt, den Betonschulhof einer Grundschule in ein Naturparadies zu verwandeln. Dabei erhält sie unerwartete Hilfe von Damian, Liams Bruder, den das schlechte Gewissen plagt. Die zarten Bande zwischen den Beiden werden je zerrissen, als die Wahrheit ans Licht tritt und Jasmin einmal mehr erfahren muss, dass sie ihrem Ruhm nicht entfliehen kann, egal wie sehr sie versucht sich davor zu verstecken.
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WINTERGRÜN
Liedtext von Evelyn Wolf
1. Herzenswunsch
2. Stardust Konzert
3. Strafe folgt auf dem Fuß
4. Rechtsberatung
5. Die Grundschule
6. Ein Angebot
7. Der Hausmeister
8. Erinnerungen
9. Ein Date
10. Wiedersehen
11. Dissonanzen
12. Weiter in Dur
13. In Moll
14. Lovesong
15. Bitterer Nachgeschmack
16. Brücken bauen
17. Überraschungseinlage
18. Shitstorm
19. Abgekartetes Spiel
20. Mutprobe
Epilog
Wie geht es weiter?
Deutsche Erstausgabe März 2023
Copyright © 2023 Kerstin Rachfahl, Hallenberg
Lektorat, Korrektorat: Martina Takacs, dualect.de
Buchcover: Florin Sayer-Gabor - 100covers4you.com
Bilder: Adobe Stock von Rymden
Kerstin Rachfahl
Heiligenhaus 21
59969 Hallenberg
E-Mail: [email protected]
Webseite: www.kerstinrachfahl.de
Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Für meinen Onkel Adi und Tante Renate, die mir bei meinen Fragen rund um eine Landschaftsgärtnerei hilfreich zur Seite standen.
Wie gerne hätte ich denselben grünen Daumen wie ihr.
Chorus:
Mach die Augen auf und fang an, mal wieder richtig hinzusehen. Diese Farben, Formen, kannst du so nur hier und jetzt wahrnehm’. Mach die Augen auf und leg das Handy mal beiseite. Denn echte Erinnerungen schaffst du genau hier und heute.
Vers 1:
Nimm dir jetzt mal diesen Augenblick, komme bei dir an mit einem tiefen Atemzug. Blicke dich um, was kannst du sehen? Ist diese Welt nicht einfach wunderschön?
Vers 2: Nimm dir jetzt mal diesen Augenblick, schließe deine Augen und lehn dich mal zurück. Lausche genau hin, was kannst du hören? Ganz nah, hier bei dir, und ganz weit in der Ferne?
Bridge:
Wir haben verlernt im Hier und Jetzt zu leben, sind ständig damit beschäftigt, etwas Großes anzustreben. Dabei vergessen wir manchmal, dass es nur Hier und Heute gibt, die Zukunft können wir nur erahnen, in die Vergangenheit gibt es kein Zurück.
Vers 3:
Bist du hier in diesem Augenblick? Dann spür mal in dich rein und erforsche Stück für Stück, wie dein Körper sich in dem Moment fühlt, was in dir lebendig ist und was dich bewegt.
Jasmin schrubbte sich die Hände mit Kernseife, bis ihre Haut von der groben Behandlung rot leuchtete. Zuletzt kam der Dreck unter ihren kurz gehaltenen Fingernägeln dran. Nach dem Abtrocknen cremte sie die Hände ein. Jeder Finger wurde sorgfältig bearbeitet. Am Ende betrachtete sie das Resultat. Trotz ihrer Mühen sah man ihren Händen die Arbeit an.
»Jasmin?«
Seufzend tappte sie auf Socken durch die Tür von der Gärtnerei ins Haus. Sie ahnte, was ihr als Nächstes bevorstand, und wappnete sich innerlich. Der dunkelblonde Haarschopf ihrer Schwester, durchsetzt mit goldenen Haarsträhnen, genau wie bei ihrem Vater, tauchte prompt vor ihr auf. Carlas Gesicht war geschminkt: dramatische Smokey Eyes und die Lippen in einem dunklen Rotton. Diva hieß der Lippenstift. Passender hätte Carla es sich nicht aussuchen können.
Jasmin schüttelte den Kopf über sich selbst. Seit wann stopfte sie sich den Kopf mit solchen lapidaren Dingen wie der Bezeichnung eines Lippenstifts voll? »Meine Antwort lautet Nein.«
»Bitte, Jasmin.« Mit weit aufgerissenen Augen sah ihre Schwester sie an und machte einen Schmollmund.
»Nein.«
»Ich hab auch gekocht. Wirsing mit Kartoffeln und Hackfleisch. Eins von Papas Lieblingsgerichten. Die Spülmaschine ist eingeräumt, und die Waschmaschine läuft. Du brauchst nichts mehr zu machen. Bitte.«
»Nein.«
»Du warst doch auch mal jung und bist ständig auf Konzerte gegangen. Ich möchte doch nur ein einziges Mal zu Stardust. Es ist ewig her, dass sie hier aufgetreten sind. Sie sind seit zwei Jahren auf Europatournee, und es heißt, dass sie eine Pause einlegen wollen. Wer weiß, ob sie zusammen bleiben. Vielleicht ist es das letzte Konzert überhaupt, das sie geben.«
»So was nennt sich Marketing. Man erzeugt bewusst eine Knappheit, damit sich die Tickets für das Konzert zu einem höheren Preis verkaufen lassen.«
»Bitte, bitte, Jasmin. Nur dieses einzige Mal.«
Sie ließ ihre Schwester stehen und ging in Richtung Küche, aus der es köstlich duftete. Wenn Carla es wollte, war sie die beste Köchin in der Familie. Jasmin lief das Wasser im Mund zusammen, und ihr knurrte der Magen.
Ihr Vater deckte gerade den Tisch und hielt den Blick nach unten gerichtet. Klar, dass er sich aus der Diskussion heraushielt. Seit ihre Mutter sie im Stich gelassen hatte, war sie diejenige, die Carla Grenzen setzte.
»Papa, bitte«, wandte sich Carla an ihren Vater. »Ich verspreche auch, dass ich mir nie wieder etwas anderes wünsche.«
Jasmin setzte sich auf ihren Platz. »Du meinst, wie bei deinem neuen Handy, dem Piercing im Ohr und dem Tattoo auf der Schulter?«
Die Augen ihrer Schwester blitzten zornig auf. »Mit welchem Recht spielst ausgerechnet du dich als Moralapostel auf? Wer von uns ist denn mit sechzehn durch die Weltgeschichte getourt, hat Drogen genommen, Alkohol getrunken und rumgehurt?«
»Carla«, mahnte ihr Vater.
»Ein Konzert. Nur ein Konzert, und ihr macht einen Affenaufstand, als würde die Welt untergehen. Ich hasse euch beide! Ich hasse euch! Ich hasse euch!«
Ihre Unterlippe fing an zu zittern, Tränen stiegen ihr in die Augen, kullerten die Wange hinunter und zogen Spuren durchs Make-up. Bevor einer von ihnen etwas erwidern konnte, drehte Carla sich auf dem Absatz um, rannte aus der Küche und knallte die Tür hinter sich zu.
Noch während sie die Treppe hochstampfte, hörte man sie bis in die Küche schreien: »Gott, bin ich froh, dass ich bald achtzehn werde! Dann packe ich meine Koffer, so wie Mama, und ihr seht mich nie wieder!«
Jasmin häufte sich Wirsingeintopf auf den Teller und schob sich die erste Portion mit der Gabel in den Mund. »Mhm, lecker. Da hat sie sich mal wieder selbst übertroffen.« Hungrig, wie sie war, schlang sie das Essen hinunter und mied den Blick ihres Vaters, der sein Besteck hin und her schob.
Er hielt inne.
»Nein.«
»Wenn du nicht gehst, gehe ich mit ihr.«
»Verdammt, Papa, wann lernst du es endlich? Das ist doch alles nur eine Show, was Carla da abzieht, und du fällst darauf rein. Die beruhigt sich schon wieder. Spätestens wenn sie Geld von dir will, weil ihr Kleideretat mal wieder nicht ausreicht. Denkst du, ich merke es nicht, wenn du ihr einen Schein aus der Haushaltskasse zusteckst?«
»Mama und ich waren nie so streng mit dir.«
»Ja, das stimmt …« Den Rest des Satzes verkniff sie sich, weil sie wusste, dass es ihm gegenüber nicht fair wäre. »Du verwöhnst Carla schon genug. In sieben Monaten kann sie machen, was sie will. Dann kann sie immer noch auf ein Konzert gehen.«
»Aber nicht auf eins von dieser Band – wie heißt sie noch gleich?«
»Stardust.«
»Sie schwärmt für den Sänger. Du weißt, wie das ist.«
»Ja, und genau deshalb sollten wir es dabei belassen.«
»Es gehen Gerüchte um, dass er aussteigt.«
Sie hatte sich den Teller zum zweiten Mal vollgeladen und hielt mit der Gabel vor ihrem Mund inne. »Woher willst du das wissen?«
Auf den Wangen ihres Vaters zeichnete sich eine feine Röte ab. »Ich habe es im Internet recherchiert.«
»Du hast im Internet nach Stardust und Liam Dust gesucht?«
»Geht ganz leicht. Computer einschalten, Webbrowser öffnen und Suchwort eingeben. Soll ich es dir zeigen?«
Jasmin verdrehte die Augen. »Haha. Wieso interessierst du dich für die Band?«
»Carla ist ein Fan, und es ist mir wichtig, dass ich mit meinen Töchtern im Gespräch bleibe.«
»Ach, Papa.« Stöhnend legte Jasmin das Gesicht in ihre Hände.
»Mach dir keine Gedanken. Wie gesagt, ich gehe mit ihr hin. Ich wollte es vorhin schon anbieten, aber wenn ihr zwei erst mal in Fahrt kommt …«
»Ich bin ganz ruhig geblieben und habe nur Nein gesagt. Mehr nicht. Sie hat rumgeheult und ist hoch in ihr Zimmer gerannt.«
»Du hättest es erklären können, anstatt sie so kurz abzufertigen. Sie hat nicht nur gekocht, sondern auch die Wäsche gemacht.«
»Wenn ich arbeite, koche und den Haushalt schmeiße, sagt niemand was.«
»Du weißt, wie dankbar ich dir bin.« Er legte eine Hand auf ihre, drückte sie. »Ohne dich hätte ich das alles niemals geschafft.«
Sie drehte ihre Handfläche zu seiner und verschränkte ihre Finger miteinander.
»Ist dir klar, was für ein Lärm das ist, wenn vierzigtausend Mädchen kreischen und in Ohnmacht fallen?«
Er zog die Nase kraus.
»Ganz zu schweigen von all den BHs, die auf die Bühne geworfen werden, und den Mädchen, die umkippen, weil sie seit Stunden ganz vorn ausharren, und von der Security rausgezogen werden müssen?«
»Die Fans bringen Unterwäsche zum Werfen mit?«
»Nein. Sie ziehen sie beim Konzert aus.«
Ihr Vater versuchte, seine Hand unter ihrer herausziehen, doch sie hielt sie fest.
»Das erzählst du mir nur, damit ich es mir anders überlege.«
Sie legte den Kopf schief. »Funktioniert es?«
»Ich werde der Älteste dort sein.«
»Mit Sicherheit.«
»Wie lange dauert so ein Konzert?«
»Mit der Vorband drei Stunden oder vier.«
»Das geht ja noch.«
»Vergiss nicht das Anstehen vor dem Einlass.«
»Puh.«
»Du solltest auch daran denken, dir Ohrstöpsel zu besorgen.«
Diesmal sah sie ihm direkt in die Augen und las die Frage darin – die Bitte. Sie liebte ihn mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt. Sie löste ihren Griff und zog ihre Hand unter seiner heraus, ergriff die Gabel und nahm eine Portion Wirsing darauf. »So schlimm wirds schon nicht werden. Nun iss. Carla hat sich diesmal selbst übertroffen.«
Jasmin lag im Bett. Obwohl sie von der körperlichen Arbeit ausgelaugt war, schaffte sie es nicht, einzuschlafen. Beständig ging ihr die Szene vom Abendessen durch den Kopf. Sie hörte die schlurfenden Schritte ihres Vaters auf dem Flur, sein leises Klopfen an Carlas Tür. Seine Stimme, als er um Einlass in das Zimmer ihrer Schwester bat. Sie erinnerte sich gut an die Tage, als er an ihre Tür geklopft hatte, um die Wogen zwischen ihr und ihrer Mama zu glätten. Sie seufzte. Er war einfach viel zu gut für diese Welt. Geduldig klopfte er noch einmal, wiederholte seine Bitte, bis sich ihre Schwester schließlich dazu herabließ, ihn reinzulassen. Sie lauschte, wartete auf den Aufschrei der Freude. Es blieb still. Verdammt, Carla, sei nicht so eine verfluchte Zicke. Freu dich, dass er mit dir zum Konzert geht. Kapierst du nicht, was für eine Tortur das für ihn wird?
Die Selbstgespräche tönten so laut in ihrem Kopf, dass sie das leise Klopfen erst überhörte.
»Darf ich reinkommen?«
Jasmin schaltete ihre Nachttischlampe an. »Ja, klar.«
Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Er zögerte, bevor er ihr Zimmer betrat, betrachtete ihren Schreibtisch, den Stuhl, die kahle Wand, an der kein einziges Poster mehr klebte. Stattdessen stand dort ein Lesesessel aus einem Billigmöbelhaus, den sie nur selten benutzte.
Sie rückte ein Stück zur Seite und klopfte auf ihre Bettkante.
Er lächelte, setzte sich ganz an den Rand. »Es ist lange her, dass ich in deinem Zimmer war.«
»Sieben Jahre, fünf Monate und dreiundzwanzig Tage.«
»Du hattest die Jalousien am Fenster runtergelassen, dich völlig in deinem Bettzeug vergraben und wolltest nie wieder daraus hervorkommen.«
»Du hast gesagt, dass ich mich nicht ewig vor dem Leben verstecken kann.«
»Frau Schneider ist begeistert von ihrem Garten. Das war kein einfaches Projekt.«
»Eigentlich nicht. Ich musste halt nur herausfinden, was sie wirklich mit ihrem Garten anfangen will.«
»Ich lobe dich viel zu selten.«
»Du bist der beste Vater auf der Welt.«
Ein kurzes Lachen. Er streckte die Hand aus und strich ihr über den Kopf. »Ich bin froh, dass du bei mir geblieben bist.«
»Du hast uns ein Zuhause gegeben, das werde ich nie vergessen.«
»Du bist meine Tochter.«
»Wieso hat Carla sich nicht gefreut?«
»Ich dachte mir schon, dass du nicht schläfst.« Er zog seine Hand weg und verschränkte die Hände in seinem Schoß. »Nun, sie hat sich natürlich gefreut, dass sie zu dem Konzert darf. Nur dass ich sie begleite …«
Sie schwieg, wartete, dass er seinen Satz beendete.
»Ist nicht so doll, mit seinem achtundfünfzigjährigen Vater auf ein Konzert von Stardust zu gehen.«
»Papa …«
»Ich weiß. Ich denke, ich war einfach nur ein wenig enttäuscht, aber ich kann es verstehen.«
Er beugte sich vor, gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Schlaf. Der Tag morgen wird anstrengend. Das Gelände ist steinig. Henrik braucht den kleinen Bagger morgen bei der anderen Baustelle, und Karl sagt, er wird frühestens nachmittags bei deiner sein.«
»Kein Problem. Ich kann mit den Vorbereitungen für die Beete anfangen.«
Sie schaltete das Licht aus, nachdem sich die Schlafzimmertür hinter ihrem Vater geschlossen hatte, rollte sich auf die andere Seite zur Wand und legte die gefalteten Hände unter ihren Kopf. Sie hörte seine schlurfenden Schritte ins Bad, das fließende Wasser, als er sich die Zähne putze, zuletzt, wie er über den Flur zurück ins Schlafzimmer schlappte. Im Haus wurde es still. Carla würde morgen in der ersten Stunde eine Deutschklausur schreiben. Ihre kleine Schwester war viel schlauer als sie, ein echtes kleines Genie, vor allem, was die Gesellschaftswissenschaften anbelangte. Nächstes Jahr im Sommer würde sie das Abitur machen. Im Januar davor stand ihr achtzehnter Geburtstag an. Sie erinnerte sich genau an den Tag, als sie sich zu der elfjährigen Carla ins Bett gelegt, sie in den Arm genommen und getröstet hatte.
Drei Wochen später sprach Carla noch immer kein Wort mit ihr. Das war ein Rekord. Anfangs hatte sich Jasmin darüber amüsiert, aber langsam wurde es ihr zu viel. An dem blassen Gesicht ihres Vaters erkannte sie, wie sehr ihm der Streit zwischen ihnen zu schaffen machte. Carla kochte weiterhin für alle, nahm ihr Essen jedoch mit hinauf in ihr Zimmer, weil sie angeblich lernen musste. Jeder Versuch von Jasmins Seite, mit einem Scherz, einer Blume oder etwas Süßem die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, war von ihr abgeblockt worden. Es reichte. Jetzt war Schluss damit. Ohne anzuklopfen, riss sie die Tür zu Carlas Zimmer auf, aber statt wütend aufzuspringen, blieb ihre Schwester auf dem Bett liegen. Das Tablet vor sich aufgestellt schaute sie sich ein Musikvideo an. Sie drehte den Kopf aufreizend langsam zu ihr und zog die Ohrstöpsel heraus. Leise erklang der Nummer-eins-Hit von Stardust, bis Carla auf den Bildschirm tippte und der Song erstarb. Sie richtete sich vollends in eine sitzende Position auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Augen waren rot gerändert und ihre Wangen glänzten feucht.
Jasmin vergaß, weshalb sie ins Zimmer ihrer kleinen Schwester gekommen war. Stattdessen keimte Sorge in ihr auf. Egal wie sehr sie sich stritten, niemand durfte Carla etwas antun. Dann wurde sie zu einer Löwin, die ihr Junges verteidigte.
»Was ist passiert?«
Sie setzte sich zu ihrer Schwester aufs Bett und wollte ihr den Arm um die Schultern legen. Carla rückte jedoch sofort von ihr ab. Der Stich in ihr Herz nahm Jasmin für einen Moment die Luft.
»Okay«, sagte sie dann, »du hast gewonnen. Ich gehe mit dir in das Konzert.«
Carlas Unterlippe fing an zu zittern. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und fing an, bitterlich zu weinen. Das Schluchzen klang nach purer Verzweiflung. Jasmin starrte sie verständnislos an. Was hatte sie jetzt falsch gemacht? Sie wagte einen zweiten Anlauf.
»Darf ich dich in den Arm nehmen?«
Statt ihr zu antworten, warf sich Carla in ihre Arme, und nur im letzten Moment konnte Jasmin verhindern, dass sie beide rückwärts aus dem Bett flogen. Sie streichelte ihrer Schwester den Rücken, während diese ihren Oberkörper fest umschlang und ihr Schlafshirt mit ihrem Tränenfluss durchweichte. Es dauerte, bis sich Carla einigermaßen gefangen hatte, und noch länger, bis sie sie endlich losließ.
Jasmin sah sich suchend um, bis sie die Papiertaschentücherbox fand. Sie stand auf, zupfte ein paar Taschentücher heraus und füllte von dem Wasserkrug auf dem Schreibtisch ein Glas voll. Beides brachte sie Carla ans Bett und reichte es ihr.
Carla schnäuzte sich die Nase und trank in großen Zügen das Glas leer.
»Ich sehe schrecklich aus.«
»Wie ein aufgequollenes Monster.«
Indem sie halbherzig die Mundwinkel verzog, warf Carla ihr eines der gebrauchten Taschentücher an die Schulter.
»Dein Schlafshirt kannst du in die Wäsche packen.«
»Egal. Das waren keine Freudentränen.«
»Weil dein Angebot zu spät kommt. Es ist vorbei. Liam …«
Erneut begannen die Tränen zu fließen. Statt weiterzureden, drehte Carla ihr Tablet zu Jasmin um. Über das Touchpad ließ sie die Videoaufnahme, die jemand auf einem Social-Media-Kanal gepostet hatte, zurück zum Anfang springen.
Die Bühne versank in Dunkelheit. Leuchtstäbe wurden mit dem Intro des Songs im Takt geschwungen. Ein Frösteln lief über Jasmins Körper und ließ sie erschauern, während sie der Melodie und den Akkorden lauschte. Die weiblichen Fans kreischten, doch kaum, dass die Stimme des Sängers erklang, als er den ersten Vers sang, verstummten sie. Ein Kameraschwenk in die vorderen Reihen des Publikums. Langsam bewegte sich Liam beim Singen von der Hauptbühne über eine Brücke auf den vorderen Steg. Eine Nahaufnahme von seinem Gesicht, dann auf seine Hand, als er mit dem Zeigefinger eine lockende Bewegung ausführte. Die Kamera schwenkte dem Hinweis folgend zu zwei Security-Leuten, die eine junge Frau auf die Bühne hoben. Eine Nahaufnahme von ihr: rundes Gesicht, braune Augen, lange blonde Mähne, üppig geschminkt und die vollen Lippen in einem apricotfarbenen Ton in Szene gesetzt. Bildhübsch. Ungläubig sah sich die junge Frau auf der Bühne um, bis ihr Blick auf Liam fiel, der mit ausgestreckten Armen auf sie zukam. Ihre Hände fanden sich und er zog sie in seine Arme. Die Menge fing an zu kreischen, wiegte sich rhythmisch im Takt der Musik, während er den Refrain des Lovesongs sang. Schweiß strömte. Unwillkürlich rümpfte Jasmin die Nase. Dann löste sich Liam auf dem Video von der jungen Frau, und sie küsste ihn. Er erwiderte den Kuss – ohne Zunge, immerhin. Der Lärmpegel im Publikum erreichte einen Höhepunkt. Das Lied endete. Liam schob die Frau aus seinen Armen, und zwei Security-Beamte, die wie aus dem Nichts bei der jungen Frau auftauchten, begleiteten diese von der Bühne, die komplett abgedunkelt wurde. Ein Schlagzeug-Intro folgte, und die Bassgitarre läutete einen schnelleren Song ein. Der Clip endete damit, dass die Scheinwerfer zurück auf die Hauptbühne gerichtet wurden. Hunderttausende von Likes, Tausende von Kommentaren.
Carla zog die Beine an und legte das Kinn auf die Knie. Keine Träne floss mehr. Sie hatte sich sprichwörtlich ausgeheult.
»Sie hat ihn geküsst«, stellte Jasmin mit einem vorsichtigen Blick auf Carla fest.
»Sie hat sich ihm an den Hals geworfen.«
»Er kennt nicht einmal ihren Namen.«
Carla ging auf die Knie, scrollte durch ihren Social-Media-Account zu einem Post von Liam.
»Da.«
Jasmin betrachtete das Foto. Es war ein gelungener Schnappschuss, auf dem er mit der Frau auf der Bühne tanzte. Darauf stand in verschnörkelter Schrift: »So sweet. My Guardian Angel.«
»Okaaay?«
»Verstehst du es nicht? Guardian Angel, das ist der Titel von dem Lied, das er gesungen hat. Sie ist seine große Liebe. Es ist zu spät. Du hast gewonnen.«
»Carla, glaubst du allen Ernstes, dass Liam selbst seinen Social-Media-Kanal bedient?«
»Ja, natürlich macht er das. Er schickt Fotos von Backstage, wie sie sich vorbereiten. Wie er sich in der Umkleide einsingt. Videos vom Tourbus mit der schlafenden Crew. Wie die Fans sein Hotel belagern. Klar hat er das selbst geschrieben. Du und Papa, ihr denkt, sobald jemand berühmt ist und auf einer Bühne steht, kümmert er sich nicht mehr um seine Fans. Aber so ist Liam nicht. Er sieht uns. Er hat sie in der Menge entdeckt, auf die Bühne geholt, und jetzt ist er vergeben, und ich habe meine große Chance verpasst.«
»Also möchtest du nicht mehr zum Konzert?«
»Nein. Wozu noch? So was passiert nur einmal im Leben.«
Jasmin küsste Carla auf die Stirn. »Ach, mein Mäuschen. Es tut mir echt leid. Ich wäre gerne mit dir gegangen. Du hast recht damit, dass ich in deinem Alter viel mehr durfte als du. Ich bin nur so streng mit dir, weil du so unglaublich klug und sensibel bist. Ich möchte einfach nicht, dass dir jemand wehtut.«
»Das sagst du jetzt nur, weil ich nicht mehr zum Konzert möchte.«
»Ich liebe dich, und ich wäre mit dir hingegangen. Nicht weil ich scharf darauf gewesen wäre, sondern aus Mitleid mit Papa. Bei all den Mädchen, die rumkreischen und heulen – den armen Kerl würde es völlig fertigmachen.«
Carla ließ sich mit einem Stöhnen zurück auf ihr Bett fallen.
»Die Klausur morgen wird eine Katastrophe.«
»Ach Quatsch, das schaffst du mit Links.«
Jasmin erhob sich, froh, dass die Mauer des Schweigens zwischen ihnen gebrochen war.
Dieses Gedränge und Geschubse! Jasmin hatte kein Problem mit Menschenansammlungen, aber diese dicht gepackte Menge im Stadion? Carla war viel zu aufgedreht, um etwas davon zu bemerken. Rücksichtslos schob sie sich in jede Lücke, die sich vor ihnen auftat. Immerhin kreischte sie nicht herum wie ein Großteil der anwesenden Fans. Jasmin kontrollierte, ob sich ihre Ohrstöpsel auch wirklich noch im Ohr befanden. Warum hatte sie sich auch nur breitschlagen lassen, auf das Konzert zu gehen? Gleichzeitig spürte sie die Erregung, das Adrenalin, das durch ihre Adern gepumpt wurde. Aus den Lautsprechern dröhnte Musik, ein Mischmasch von Stardust und der Vorband. Auf den Leinwänden liefen abwechselnd Musikvideos und Bilder von der Bühne mit ihrem ovalen Aufbau und dem Steg, der wie eine Brücke gebaut war und in einer vorgelagerten kleineren Bühne endete, ganz wie in dem Videoclip, den ihr Carla ein paar Abende zuvor gezeigt hatte. Die Lautsprecher waren im gesamten Stadion verteilt. Die Menschenmasse erzeugte zusammen mit den Scheinwerfern eine solche Hitze, dass Jasmin die Jacke auszog und um die Taille band.
Carla war nicht davon zu überzeugen gewesen, eine Jacke anzuziehen. Ihr bauchfreies schwarzes Top mit zwei gekreuzten Bändern betonte ihre schmale Taille. Die Tuchhose – oben eng, unten im Marlene-Dietrich-Stil weit, passte super dazu. Tatsächlich war sie so schlau gewesen, Turnschuhe anzuziehen. Sie sah zum Anbeißen aus. Das Rotkehlchen-Tattoo auf ihrer rechten Schulter leuchtete in dem gedimmten Licht. An ihren Ohren hingen goldene Loops, während in den vier Piercings, die sich an ihrem linken Ohrrand aneinanderreihten, kleine Diamanten in goldener Fassung blitzten – ein Geschenk von Jasmin zu Carlas siebzehntem Geburtstag. Sie hatte ihren Kussmund in demselben Apricotton in Szene gesetzt wie die Frau im Clip.
Neben ihrer kleinen Schwester kam sich Jasmin in ihrem weiten weißen, mit gelbem Löwenzahn geblümten T-Shirt, der Jeanslatzhose und ihrer Jeansjacke underdressed vor. Die Haare hatte sie oben auf dem Kopf zu einem hochsitzenden losen Bunny zusammengebunden. Kurz blickte sie auf das geknüpfte braun-grün-rote Band mit der metallenen Plakette an ihrem Handgelenk. Ein flüchtiges Lächeln glitt über ihr Gesicht und sie umfasste das Band mit der anderen Hand.
Carla drehte sich zu ihr um, packte ihre Hand und zog daran. »Los, komm, wir müssen uns nach vorne durchkämpfen.«
»Das hat keinen Sinn«, brüllte Jasmin gegen den Lärm an. »Du siehst doch, wie rappelvoll es ist. Lass uns in Richtung der kleinen Plattform gehen, wo die Brücke endet. Da ist auch eine Leinwand und du kannst alles super sehen.«
»Bist du bescheuert? Da geht er nur für zwei Songs hin, und das wars. Nein, ich will zu Hauptbühne.«
Jasmin verdrehte die Augen, ließ sich aber von Carla mitzerren. Wieso hatte Liam auch überall in den Social-Media-Plattformen klarstellen müssen, dass er weiterhin Single war? Zugegeben, er hatte es auf eine charmante Weise getan, ohne dieser – wie sie auch immer hieß – vor den Kopf zu stoßen. Sein PR-Manager oder seine Managerin war hervorragend. Carla war total ausgerastet, und natürlich konnte sie ihr Angebot nicht mehr zurückziehen, dass sie statt Papa mitkommen würde. Der hatte sie heute umarmt, ihr ein »Danke, mein Spatz« ins Ohr geflüstert und ihr das Versprechen abgenommen, dass sie gut auf Carla aufpassen würde, damit sie keinen Blödsinn anstellte. Na toll, das war genauso, als würde man einer Katze erklären, sie dürfe keine Maus fangen.
Ein Ellenbogen traf sie unsanft auf dem Nasenrücken. »Hey!«, schrie sie wütend, doch der Delinquent war bereits nach vorn verschwunden.
Der Adrenalinpegel in der Menschenmenge stieg an. Das Gekreische nahm zu. Am Rand zogen Sanitäter zwei Jugendliche aus der Menge und flößten ihnen etwas zu trinken ein. Jasmin spürte, wie warmes Blut über ihre Oberlippe floss. Scheiße, das hatte noch gefehlt! Sie blieb stehen, kramte mit der freien Hand in ihren weiten Hosentaschen nach einem Papiertaschentuch, das es dort nicht gab. Sie legte den Kopf in den Nacken, zerrte ihr T-Shirt ein Stück heraus, zog es nach oben und presste sich die Ecke vom Saum unter die Nase. Der Zug an ihrem Arm, wo ihre und Carlas Hand verschränkt waren, wurde schmerzhaft.
»Scheiße, scheiße, scheiße!«
Jasmin schaffte es nicht, ihren lang ausgestreckten Arm wieder anzuwinkeln, um ihre Schwester zurückzuziehen. Sie spürte, wie ihr deren Hand entglitt. Carla, die sich, von anderen eingezwängt, nach ihr umdrehte, wurde weiter nach vorn geschoben und ihre Augen weiteten sich. Jasmin winkte ab und deutete zum Rand, wo sich die Sanitäter aufhielten. Jedes Wort wäre ohnehin in dem Lärm untergegangen. Die ersten Akkorde der Bassgitarre von der Vorgruppe erklangen, und das Stadion verwandelte sich in einen Hexenkessel. Jasmin ließ es zu, dass sie von der Menge weiter nach hinten gedrängt wurde, wo sie endlich wieder mehr Luft bekam. Stück für Stück kämpfte sie sich zum Rand vor. Ein Mann bemerkte sie, hob die Hand und winkte den Sanitätern zu. Da er sie um einen halben Kopf überragte, war es für ihn ein Leichtes, deren Aufmerksamkeit zu erlangen. Ein neues Lied wurde gespielt. Die Menge drängte nach vorn, und da Jasmin nur einen Arm einsetzen konnte, driftete sie wieder ab. Ihr Helfer erkannte die Situation, setzte rücksichtslos seine Ellenbogen ein, um zu ihr zu gelangen, packte sie am Oberarm, schob sie hinter sich und blockte sie so vor den anderen ab. Ein Fels in der Brandung. Jasmin war schweißgebadet.
»Das nenne ich Muckis«, sagte ihr Retter und grinste. Er hielt immer noch ihren Oberarm fest, und sie spannte unbewusst die Muskeln an. »Bodybuilding?«
»Gärtnerin«, brachte sie gedämpft durch das T-Shirt hervor. Sie zog die Ohrstöpsel raus, da der Lärm hier am Rand für die Ohren erträglich war.
»Ah, daher der Löwenzahn.«
Sie starrte ihn an, verblüfft, dass ihm die Pflanzen auf ihrem T-Shirt aufgefallen waren. Bevor sie etwas erwidern konnte, schob der Mann sie zu dem Sanitäter, der neben ihm auftauchte. Dieser nahm sie noch ein Stück weiter zu seinem Kollegen mit.
»Ist Ihnen schwindelig oder schlecht?«
»Nein. Alles okay. Das Nasenbluten kommt nicht vom Kreislauf, und getrunken habe ich auch genug. Meine Nase blutet, weil ich einen Ellenbogen abgekommen habe.«
Er grinste. »Da sind Sie nicht die Einzige.«
Die erste Strophe eines Songs ertönte. Das Gekreische verebbte. Der Stresspegel sank. Sie hörte, wie ein Teil der Menge den Refrain mitsang.
Sie nahm eine Kühlkompresse entgegen und drückte sie sich auf den Nasenrücken.
»Wenn Sie das T-Shirt wegnehmen …«
»Klar.«
Der Sanitäter schob ihr zwei Wattetampons in die Nasenlöcher. Sie öffnete den Mund, um weiter zu atmen. Alles roch und schmeckte nach Blut. Ekelhaft. Übelkeit stieg in ihr auf.
»Besser?« Ein alarmierter Blick. »Ist ihnen schlecht?«
»Nein«, log Jasmin. Sie wusste, dass sie womöglich komplett aus dem Konzert fliegen würde, wenn sie jetzt Schwäche zeigte. Um sich abzulenken, fing sie an, durch die leicht geöffneten Lippen ein Lied zu summen, das erstbeste, das ihr durch den Kopf ging. Langsam ebbte die Übelkeit ab, was auch daran lag, dass das Blut nicht mehr ihre Kehle hinunterlief, sondern in die Tampons in der Nase.
»Kann ich mir mal den Nasenrücken anschauen?«
»Nichts gebrochen, war nur der Schlag.«
Er hob eine Augenbraue. »Sind Sie Profiboxer?«
»Nein. Wieso?«
»Weil Sie sehr durchtrainiert wirken und sich mit gebrochenen Nasenrücken auskennen.«
»Alles von meiner Arbeit. Ich glaube, es geht wieder.«
Sie zog einen der Tampons aus der Nase, und tatsächlich kam kein Blut mehr. Mit einem Wattestäbchen schmierte der Sanitäter ihr eine Salbe auf die Nasenschleimhaut, zog den zweiten Tampon heraus und wiederholte die Prozedur im anderen Nasenloch. Jasmin drehte die Kühlkompresse um.
»Möchten Sie noch eine?«
»Nein. Ich denke, es ist wieder okay.«
»Das Lied, das Sie vorhin gesummt haben … Sind sie Sängerin?«
Sie stieß ein halbherziges Lachen aus. »Quatsch. Wie kommen Sie darauf?«
»Ich hab ’ne Freundin, die singt, und die sagt, dass Summen echt schwer ist. Bei Ihnen hört es sich voll professionell an, und irgendwie kam es mir auch bekannt vor.«
»Danke.« Sie reichte ihm die Kühlkompresse zurück, obwohl sie gern noch den letzten Rest Kälte herausgezogen hätte. Er öffnete den Mund, doch da wurde bereits die nächste Patientin von einer heulenden Freundin herangeführt.
Jasmin verschaffte sich einen Überblick von der Situation. Hier im hinteren Bereich war das Gedränge erträglich. Vorn, vor der Bühne, besonders im Zentrum, quetschten sich Menschen dicht an dicht. Noch spielte die Vorband. Die Situation würde sich verschärfen, sobald Stardust die Bühne übernahm. Die Menge bei der Nebenbühne stand weniger dicht gedrängt zusammen. Das Geschehen auf der Hauptbühne wurde auf eine große Leinwand übertragen. Davor war ein winziger Leerraum. Jasmin kannte das von ihren früheren Konzerten und hatte mit Carla im Vorfeld vereinbart, dass sie sich entweder dort oder ganz hinten treffen würden, sollten sie sich verlieren. Aber sie kannte ihre Schwester. Niemals würde sie ihren Platz vorn aufgeben, sofern sie es dorthin geschafft hatte, um sich mit ihr an der Nebenbühne oder hinten zu treffen. Jasmin blickte über die Köpfe der Menge hinweg auf die Leinwand, wo man verfolgen konnte, wie die Kamera immer wieder auch ins Publikum schwenkte. Die Menschen wurden vom passend zur Musik arrangierten Lichtspiel rhythmisch in verschiedenen Farben erleuchtet. Die Sequenzen waren viel zu kurz. Keine Chance, Carla da zu finden.
Langsam bahnte sie sich einen Weg zur Nebenbühne, ein mühseliges Unterfangen, das sie mit Beharrlichkeit und Rücksichtslosigkeit verfolgte, bis sie endlich nur noch fünf Meter davon entfernt stand. Die Security-Mannschaft behielt die Menschenmenge wachsam im Auge. Ein Scheißjob, ging es Jasmin durch den Kopf. Doch dann erinnerte sie sich an ein Gespräch mit einem Security-Mann vor ziemlich genau sechs Jahren, einem Soziologiestudenten und Kraftsportler, der gern bei Veranstaltungen für die Sicherheitsfirma arbeitete. Erstens erhielt er exzellentes Anschauungsmaterial für sein Studium und zweitens kam er kostenlos in den Genuss von Konzerten, und zwar in der ersten Reihe.
Sie runzelte die Stirn, als einer der Security-Männer am Absperrband ihr zuwinkte. Galt das ihr? Sie drehte sich um, aber die Blicke der Frauen hinter ihr waren auf die Leinwand gerichtet.
Gekreische. Frenetischer Applaus. Sie duckte sich vor dem Geräuschpegel, ohne in der Lage zu sein, ihm zu entfliehen. Gott, wie hatte sie es geliebt. Ein schriller Pfiff. Nicht nur sie riss den Kopf zu dem Geräusch herum. Der Security-Mann legte die Hände zum Trichter an seinen Mund.
»Jasmin!«
Erneut schaute sie nach rechts und links. Meinte er wirklich sie? Sie stieß ihren Zeigefinger gegen ihre Brust. Ein wildes Nicken, und wieder winkte er sie zu sich. In ihrer Verwirrung zögerte sie, sich weiter nach vorn durchzudrängeln. Dann wurde ihr die Entscheidung von den beiden Frauen rechts und links von ihr abgenommen, die sie energisch nach vorn schoben. Die Leute weiter vorn bemerkten die Gestik des Security-Mannes und drehten sich zu ihr um. Die einen lächelten selig, während andere anfingen, hemmungslos zu schluchzen. Eine schmale Gasse wurde gebildet, durch die sie sich nach vorn quetschte, diesmal aus eigenem Antrieb. Ehe sie sichs versah, stand sie vorn vor dem Security-Mann, der ihr zusammen mit seinem Partner half, die Barriere zu überwinden. Sie sah den Typen an, der ihren Namen gerufen hatte, und versuchte, sein Gesicht einzuordnen.
»Letztes Jahr?«, sagte er. »Ferienjob bei euch? Deine Schwester Carla hat ihn mir organisiert.«
»Leonhard.« Sie grinste. »Hey, was machst du hier?«
»Ist das nicht offensichtlich?«
»Zusätzliches Geld verdienen für deine geplante Weltreise nach dem Abi?«
»Das wohl nicht mehr, aber fürs Baby. Meine Freundin ist schwanger.« Er grinste ein Stück breiter.
»Wow.« Sie riss die Augen auf. »Du wirst Vater?«
Hinter ihr entstand Bewegung. Sofort wandte er seine Aufmerksamkeit von ihr weg auf die Menge.
»Achtung, es geht los«, warnte sein Kollege neben ihm, kurz bevor das Stadion explodierte.
Ein wildes Lichtspektakel. Die Menge brach in ekstatisches Gekreische aus. Jasmins Plus stieg schlagartig an. Das Adrenalin pumpte durch ihre Adern. Am liebsten wäre sie auf die Bühne gesprungen. Sie unterdrückte den Impuls und half den Security-Leuten, dem zunehmenden Druck auf die Absperrung entgegenzuwirken. Als die ersten Töne einer Bassgitarre erklangen, sank der Lärmpegel spürbar. Jasmin blickte unwillkürlich zur Leinwand, die sich rechts von ihr befand. Die Lichter gingen aus. Spannungsgeladene Stille, untermalt von der Musik. Ein Spot ging an und beleuchtete den Mikrofonständer, der mittig auf der Bühne stand, und dann – wie aus dem Nichts – tauchte Liam an der Stelle auf und umfasste mit beiden Händen das Mikrofon.
»Hallo, Heimatstadt, seid ihr bereit für das ultimative Event des Jahres?«
Es gab kein Halten mehr. Die Menge schrie sich die Stimme aus dem Leib. Jasmin hielt sich die Ohren zu. Mist, sie hatte vergessen, die verfluchten Ohrstöpsel wieder hineinzustecken.
Liam lachte, hob den rechten Zeigefinger und legte ihn an seine Lippen. Die Geste reichte aus, dass es im Stadion wieder leiser wurde.
»Uhu … mhm. Uhu … mhm« Er schloss die Augen, während er das Intro des Liedes summte.
Einzelne Stimmen wurden laut: »Ich liebe dich!« – »Ich will ein Kind von dir!« – »Heirate mich!« – »Just fuck me!« Erste BHs und Stringtangas flogen auf die Bühne. Daneben landeten Blumensträuße und ein einsamer Teddybär.
Der Rhythmus des Songs gewann an Fahrt. Ein Schlagzeugsolo setzte ein. Das Keyboard spielte die Melodie, und gemeinsam mit der Gitarre setzte Liam ein und begann zu singen. Der rasche Sound fing perfekt die Stimmung des Publikums auf. Der Druck auf die Absperrung ließ nach.