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Der Sammelband zur Sondereinheit Themis Band 4 bis 6. Sie sind Spezialisten und kämpfen gegen das Verbrechen in Deutschland und International. Menschen mit Werten, Zweifeln und Konflikten, die sie mit in ihren Job bringen. Es macht sie verwundbar und schweißt sie gleichzeitig mit ihren Diensthunden zu einem Team. Band 4: Die Spinne im Netz Wie eine Spinne wartet er darauf, dass sich seine Opfer im Netz aus digitalen Fäden verfangen. Eine Befreiungsaktion in Venezuela endet für das Alpha-Team der Sondereinheit Themis in einem Desaster. Natasha hat eine Geisel mit der Waffe bedroht, und Chris wird schwer verletzt. Die Führungsebene muss sich vor einem politischen Ausschuss für den Einsatz rechtfertigen. Derweil schlägt sich Paul, der IT-Spezialist der Einheit, mit der Zunahme an digitalen Angriffen auf deutsche Webserver herum. Um das Problem einzuschätzen und einen Überblick auf den privaten Sektor zu erhalten, zieht er die externe IT-Sicherheitsexpertin Tamara ins Vertrauen. Rasch wird den beiden klar, dass sie es nicht mit mehreren, sondern mit nur einem Angreifer zu tun haben. Wer steckt dahinter und welchen Zweck verfolgt der Angreifer? Band 5: Hinter Gittern Verhaftet? Anstiftung zum Mord? Ausgerechnet Natasha? Die Welt von Pit steht Kopf, als das LKA vor ihrer Wohnungstür steht und Natasha festnimmt. Und wie reagiert sie? Wortlos und ohne Widerstand zu leisten geht sie mit. Klar, ist Natasha wütend, dass Alexander Egbert aus der U-Haft entlassen worden ist. Wer wäre das nicht? Immerhin ist er der Kopf des größten Menschenhändlerringes, den sie je haben auffliegen lassen. Und nicht nur das. Er hat 16-jährige Mädchen mit seinen abartigen sexuellen Vorlieben missbraucht. Mädchen, die alle so aussahen wie Natasha, sein erstes Opfer. Aber Anstiftung zum Mord? Während Pit noch versucht zu verstehen, was da gerade passiert, rennt Natasha in der Justizvollzugsanstalt die Zeit davon. Kann Pit Natashas Unschuld beweisen oder sieht er sich gezwungen einen Mord zu decken? Band 6: Engame Sein Ziel: Deutschland zur wahren Größe führen. Sein Mittel: alles was dem Zweck dient. Sein Gegner: die Sondereinheit Themis. Sein Trick: Zerstörung von Innen. Das letzte Spiel hat begonnen - Endgame. Schachmatt. Endlich gibt es eine Zeugin, die bereit ist gegen Konstantin Wolff auszupacken. Die Ära des Meisters, der sich Jahrzehnte zwischen den Fronten der Spionagedienste, Diktatoren, Wirtschaft und Verbrecherkartelle bewegte, ist
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Deutsche Erstausgabe Dezember 2021
Copyright © 2021 Kerstin Rachfahl, Hallenberg
Lektorat: Martina Takacs – dualect.de
Umschlaggestaltung: cover.artwize.de
Kerstin Rachfahl
Heiligenhaus 21
59969 Hallenberg
E-Mail: [email protected]
Webseite: www.kerstinrachfahl.de
Reihenfolge der Bücher zur Sondereinheit Themis:
Season 1 - Boxset 1:
Band 1 Auf Probe
Band 2 Der Terrorist
Band 3 Menschenhandel
Season 2 - Boxset 2:
Band 4 Die Spinne im Netz
Band 5 Hinter Gittern
Band 6 Endgame
Das Team der Sondereinheit Themis.
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Weitere Bücher zu den Nebenfiguren der Sondereinheit Themis:
»Hannas Wahrheit« und »Hannas Entscheidung« erzählen die Geschichte von Johanna Rosenbaum und Ben Wahlstrom.
In »Im Netz der NSA« erfährst du alles über die Hintergründe der Beziehung zwischen Tamara Baumann und Tobias Wagner (TJ).
In dem Kurzroman »Sonate ins Glück« stolpert Samuel Baumann über seine Emily.
In »Die Bundespräsidentin« ist das Team der Sondereinheit Themis 2 x im Einsatz.
Band 4: Die Spinne im Netz
Prolog
1. Irgendwo im Dschungel
2. Flucht
3. Deutsche Botschaft Venezuela
4. Fragen über Fragen
5. Zurück in Berlin
6. Ein Anruf
7. Konspiratives Treffen
8. Der Stein kommt ins Rollen
9. Nachtschicht
10. Gamers Club
11. Alte Freunde
12. Vertraust du mir?
13. Komplikationen
14. Dissonanzen
15. Private Geheimnisse
16. Vom Erdboden verschluckt
17. Digitale Spuren
18. Verlorene Seelen
19. Wegkreuzungen
20. Einsatzbesprechung
21. Unerwünschter Rat
22. Heikle Gespräche
23. Mauer des Schweigens
24. Wer weiß was?
25. Muster
26. Licht am Ende des Tunnels
27. Das wahre Gesicht des Feindes
28. Tricks
29. Hanna
30. Angelika Winters
Epilog
Band 5: Hinter Gittern
1. Kater
2. Bei der Staatsanwältin
3. Carolina
4. Geständnisse
5. Alexander Egbert
6. Freilassung
7. Mord
8. Vernehmung
9. Zweifel
10. Die Frage ist, wieso
11. Im Gefängnis
12. Einer für alle, alle für einen
13. Der Wahrheit auf den Grund gehen
14. Spekulationen
15. Nachforschungen
16. Klarheit
17. Unerwartet
18. Hinter Gittern
19. Nachforschungen
20. Befragungen
21. Aufgeflogen
22. Abgründe
23. Krisensitzung
24. Im Untergrund
25. Die Schlinge zieht sich zu
26. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit
27. Frei
28. Begegnung
Band 6: Endgame
1. Schachmatt Wolff
2. Eröffnung
3. Tatort Wolff
4. Bauernformation
5. Doppelangriff
6. Cassia, Königin des Schachs
7. Verstimmungen
8. Déjà-vu
9. Wieder im Einsatz
10. Bestandsaufnahme
11. Rochade
12. Recherche
13. Familienangelegenheiten
14. Russische Verteidigung
15. Bedenkzeit
16. Thesen
17. Gestellt
18. Major Wagner
19. Doppelangriff Springer
20. Mantrailing
21. Schach
22. Suche
23. Gerlings
24. Marie Ziegler
25. Unter Verdacht
26. Die Schlinge zieht sich zu
27. Die Uhr tickt
28. Eins und eins ergibt drei
29. Gamer
30. Bauer, Springer und Turm
31. Endgame
Epilog
Das Team und Familie Abel
Nachwort
Bücher von Kerstin Rachfahl
Über die Autorin
Ben sah, wie Kehlmann den linken Arm nach oben streckte, weiter dehnte und reckte, bevor sie ihn langsam wieder nach unten nahm. Als Nächstes schob sie die Schulter leicht nach vorn und wieder zurück. Ein kurzer Blick nach rechts zu ihrem Partner, der auf die Gruppe im Parcours fixiert war, den die beiden bereits in Bestzeit bewältigt hatten. Ganz leicht beugte sie sich vor, um sich Erleichterung zu verschaffen.
Ben trat zu ihr. »Es reicht, Kehlmann.«
Sofort straffte sie ihre Haltung und presste die Lippen zusammen. »Es steht nur noch das Schwimmen an.«
»Ich sagte, es reicht, Kehlmann. Seit wann sind Sie wieder im Training?«
Sie schwieg, verschränkte die Arme vor der Brust. Abel wurde aufmerksam und wandte sich zu seiner Partnerin. »Hast du Schmerzen?«
»Es ist nur noch das Schwimmen.«
Sie schlug Abels Hand weg, bevor er damit die verletzte Stelle erreichen konnte.
»Jeder weiß, dass Sie schwimmen können. Duschen Sie und ziehen Sie sich um«, sagte Ben in einem Ton, der deutlich machte, dass er keinen Widerspruch duldete.
Sie schob angriffslustig das Kinn vor. »Es ist mir scheißegal, welchen Grund Sie dafür angeben. Egal, ob Sie Ihre Periode haben oder eine verdammte Erkältung.«
Verwirrt musterte er sie.
»Ihre eigenen Worte damals.«
Diese Frau war einfach ein verdammter Sturkopf und hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant. Er sah hinüber zu Abel, der rasch versuchte, sein breites Grinsen zu verbergen.
»Also gut. Ihre Entscheidung, Abel, es ist ihr Team. Schafft Sie es nicht in ihrer Zeit vom letzten Leistungstest, sind Sie das bis zum nächsten Quartalstest Epsilonteam.«
Zufrieden mit dem erstarrten Ausdruck in Abels Gesicht zog er sich wieder auf seine Beobachterposition zurück. Sollte sich doch Abel mit seiner halsstarrigen Partnerin herumschlagen.
Hanna dehnte sich und klappte ihren Laptop zu. Ein vom Sturm umgekippter Baum, bemoost in der nebligen Waldlichtung – perfekt als Einstiegsbild für den Bildband über den Zustand der deutschen Wälder. Sie stand auf, ging in die Küche, setzte Wasser auf und machte sich einen Tee. Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Bild. Sie hatte schon einmal ein Bild mit einem Baumstamm gemacht … Heute war sein Geburtstag. Sie versuchte, dem Impuls zu widerstehen, schaffte es aber nicht. Mit einem Seufzen nahm sie den Becher mit dem Tee, ging zurück an ihren Arbeitsplatz, öffnete den Laptop und meldete sich an. Sie gab die Adresse des Chatraums ein und loggte sich ein.
Die Community hatte den Wandel überstanden. Die Seite war moderner, die Chatfunktionen intuitiver und simpler als früher. Auch die Gespräche hatten sich verändert wie auch der Altersdurchschnitt der Mitglieder. Sie klickte von einem Diskussionsthema zum nächsten, ohne länger zu verweilen oder einen Beitrag zu dem Thema zu schreiben. Das Icon für eine private Nachricht leuchtete auf. Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Herzschlag. Albern. Es gab noch andere Mitglieder, die sie von früher her kannten. Sie klickte auf das Symbol.
Hi
Da war sein Name.
Hi
Immer noch so gesprächig wie früher. Wie geht es dir?
Gut. Wie geht es dir?
Einsam.
Sie starrte auf das Wort, und alles zog sich in ihr zusammen. Sie beide auf dem Baumstamm im Wald der Klinik. Nur Haut und Knochen und ein Haufen seelischer Splitter, die sie wieder zusammenzufügen versuchten.
Ich vermisse dich.
Ihre Finger schwebten kurz über der Tastatur. Sie dachte an Ben und was er denken würde, wenn er wüsste, mit wem sie sprach.
Ich dich auch, tippte sie.
Hast du ihn geheiratet?
Erneut starrte sie auf die Worte und verharrte. Zwischen ihnen hatte es nie Lügen gegeben. Jedenfalls hatte sie das immer gedacht, bis die Wahrheit herauskam. Doch was war die Wahrheit?
Nein. Wir leben zusammen. Für Ben ist es, als wären wir verheiratet, und wo liegt der Unterschied? Am Ende macht es nur ein Stück Papier aus.
Sie wartete. Es kam keine Antwort. Sie starrte auf ihre Worte. Es war gelogen. Für sie machte es einen Riesenunterschied. Sie hatte gedacht, dass er eines Tages den Schritt wagen würde, doch Ben fühlte sich pudelwohl in seiner Situation. Alles war so, wie er es sich wünschte. Eine Partnerin, Frau, Geliebte, und er konnte jederzeit gehen, wenn es ihm nicht mehr gefiel. Nach außen tat er, als wären sie verheiratet. Innerlich hielt er misstrauisch diese letzte Distanz zu ihr.
Hanna presste verärgert die Fäuste auf die Augen. Keine Ahnung, was in letzter Zeit mit ihr los war. Gerade als sie den Rechner schließen wollte, erschienen die Punkte, die anzeigten, dass er eine Nachricht schrieb.
Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Ich wünschte, ich könnte bei dir sein. Ich wünschte, ich könnte mit dir reden, so wie früher, als es nur uns gab.
Ich auch. Du bist mein bester Freund.
Ein trauriger Smiley kam zurück.
Ben schloss die Tür zu seiner Wohnung auf. Alles war dunkel und still.
»Hanna?«
Nichts. Reflexartig drückte er sich an die Wand. Er lauschte, schob sich vorwärts. Albern. Er benahm sich absolut albern. Vermutlich war Hanna unten bei seiner Schwester Lisa oder sie hatte sich mit Marie verabredet oder mit ihrer Mutter. Er richtete sich wieder auf, schob das ungute Gefühl in seiner Magengegend beiseite. Da, ein Flackern aus dem Wohnzimmer. Die Kerze stand auf dem Tisch. Hanna saß auf dem Boden, den Rücken zu ihm. Mit den Armen umschlang sie die Beine, und ihr Kinn ruhte auf ihren Knien. Ihr Blick war auf die Kerze gerichtet.
»Hi.«
Keine Antwort. Er ging zu ihr, ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder. Sie drehte den Kopf und legte die Wange so auf ihre Knie, dass sie ihn ansehen konnte.
»Was ist passiert?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Wer ist das neue Alphateam?«
Trotz seiner Sorgen um sie musste er grinsen. »Abel und sein Team.« Er schüttelte den Kopf. »Immer wenn ich glaube zu verstehen, wie Kehlmann tickt, belehrt sie mich eines Besseren. Sie war beim Schwimmen so schnell wie noch nie. Sogar besser als damals, als wir das Navy-Seals-Team geschlagen haben.«
»Ja.« Sie pustete die Kerze aus. Ihre Hand wanderte an seinen Nacken, und als sie ihn küsste, schmeckte er das Salz auf ihren Lippen.
Natasha verscheuchte energisch jede Vorstellung davon, was in diesem sumpfigen Wasser alles herumschwimmen mochte. Ihr Kinn berührte die Oberfläche, die tagsüber giftgrün gewesen war. Der Gestank ließ sie nur flach atmen. Die Geräusche des nächtlichen Dschungels waren laut genug, dass ihr Vormarsch unbemerkt vonstattenging.
Kevin tippte ihr von hinten auf die Schulter. Das Zeichen zum Angriff. Kevin und Bodo, die besten Schwimmer im Team, übernahmen mit ihr zusammen den Angriff vom Fluss aus. Chris, Gabriella und Pit deckten zusammen mit Smart den rechten Bereich des Abschnitts mit der breiten Straße ab. Carolina, Mark, Zoe und Ulf näherten sich der Hüttensiedlung von der linken, höher gelegenen Seite aus. So hatte Caro als Scharfschützin die beste Position, um in Deckung zu liegen und die Situation optimal im Auge zu behalten.
Auf den Satellitenbildern hatten sie sehen können, dass die winzige Siedlung aus nur vier Hütten bestand. Zwei davon waren größer, lang gezogen, und eine der kleineren, die direkt am Fluss lag, wurde streng bewacht.
Laut der Aufklärungstruppe befanden sich zwanzig Mann im Dorf. Um das Gebäude, in dem sie aufgrund der Bewachung die Geiseln vermuteten, waren sechs Männer verteilt. Zwei davon drehten Natashas Gruppe den Rücken zu. Sie plauderten miteinander. Ein roter Punkt glühte in regelmäßigen Abständen auf, wenn einer der beiden an seiner Zigarette zog.
Natasha machte das Zeichen für »Abwarten«. Dem Gespräch der Bewacher hatte sie entnommen, dass sich gerade einer von den Wächtern bei den Geiseln aufhielt. Sie wusste, dass Gerling bei der Entführung eine Kugel abbekommen hatte, und die Wunde wurde offensichtlich behandelt. Das war der Vorteil, wenn es in diesen Ländern um Lösegelderpressung ging. Man musste die Geiseln am Leben erhalten, denn sie sollten nicht an einer Infektion sterben.
Major Wagner, der Einsatzleiter, hatte sich eindeutig geäußert: Keine Befreiungsaktion, wenn sich bewaffnete Wachleute bei den Geiseln aufhielten.
Es plätscherte leise, und der eine Wachmann drehte sich um. Natasha hielt die Luft an und tauchte lautlos unter. Durch die Wasseroberfläche sah sie ein Licht mehrmals über den Sumpf streifen, dann wurde es wieder dunkel. Sie wartete noch ein paar Sekunden, bevor sie mit dem Kopf die Wasseroberfläche durchbrach. Am schwierigsten war es, beim ersten Atemzug kein Geräusch zu machen. Ihre Lungen brannten, und sie spürte ein leichtes Schwindelgefühl. Sie blickte kurz auf die Uhr, eine Spezialanfertigung, an der sich die Uhrzeit ablesen ließ, ohne dass man ein Signalfeuer erzeugte. Es war lächerlich, sie war gerade mal knapp fünfzig Sekunden unter Wasser gewesen. Normalerweise bereitete ihr das keine Probleme. Sie konnte locker die doppelte Zeit ohne Sauerstoff auskommen.
Wieder tippte Kevin sie an. Sie musste erklären, warum sie zögerte. Alle anderen lagen in ihren Stellungen und warteten auf das Zeichen zum Start. Die Situation war schließlich perfekt – zwei Wachen außer Sichtweite der anderen Hütten direkt am Ufer, dahinter die Rückwand der Hütte, in der sich die Geiseln befanden. Es war geplant, dass Bodo und Kevin in die Rollen der Wachleute schlüpfen sollten, um ihr einen Zeitpuffer zu verschaffen, damit sie die Familie Gerling unbemerkt befreien konnte. Dabei war klar, dass eine solche Charade nicht lange vorhalten würde.
In ihrer teameigenen Zeichensprache verdeutlichte sie Kevin, was sie gehört hatte. Dann erstarrte sie, als sie mitbekam, worüber die beiden Wachen jetzt sprachen. Das Plätschern hatte nicht etwa jemand vom Team verursacht, sondern ein auf der Lauer liegender Alligator, der sich einen Fisch einverleibt hatte. Selbstverständlich waren sie gebrieft worden, mit welchen Wildtieren sie möglicherweise in Kontakt geraten würden. Immerhin bewegten sie sich lautlos durch den Dschungel. Sie wusste, dass Alligatoren keine Menschen verschlingen, schon weil sie ihr Maul gar nicht weit genug aufsperren können. Abgesehen davon war es bekannt, dass diese menschenscheuen Tiere nur angreifen, wenn sie sich selbst angegriffen fühlen. Dumm nur, dass sie ausgerechnet nachts durch einen Fluss mit diesen nachtaktiven Reptilien schwammen. Sie hoffte, dass das Ultraschallsignal, das die Sensoren ihrer Anzüge abgaben, die Räuber von ihnen fernhielte. Sollte sie Kevin und Bodo signalisieren, dass sich in ihrer Nähe gerade ein Alligator seine Mahlzeit jagte? Besser nicht.
»Zwei Wachmänner kommen aus der Hütte mit den Geiseln«, hörte sie Mark über ihr Headset sagen. Da er und Caro die größte Distanz zum Angriffsziel hielten, übernahmen sie auch die Kommunikation mit der Basis.
»Dann wissen wir jetzt auch, weshalb unsere Schwimmer nicht aus dem Wasser kommen«, bemerkte Wagner, der im Ausgangslager die Satellitenbilder im Auge behielt.
»Hey, Natasha, ich will später alle dreckigen Witze erzählt kriegen, mit denen sich die Wachleute die Zeit vertreiben. Muss ja irgendeinen Vorteil haben, wenn man ein Sprachgenie in der Truppe hat.«
Echt witzig. Natasha spürte, wie leichte Übelkeit in ihr aufstieg. In letzter Zeit hatte sie oft Probleme damit. Ihr Magen war überempfindlich geworden, und ihr Geruchssinn ebenso.
Sie fokussierte ihre Gedanken wieder auf den Einsatz und näherte sich langsam – gefolgt von ihren zwei Teamkameraden – dem Ufer mit den zwei Wachmännern, die ihnen erneut den Rücken zukehrten. Der eine steckte sich eine neue Zigarette am Stummel der alten an. Natasha schwamm, bis ihr Bauch den Boden berührte. Sie vertraute darauf, dass auch Kevin und Bodo hinter ihr in Startposition gingen. Mit den Armen stemmte sie den Oberkörper hoch, sprang auf die Füße und rannte los. Während sie den direkten Weg zur Rückwand der Hütte nahm, teilten sich ihre Begleiter auf und übernahmen die Wachen zu beiden Seiten.
Sie wandte sich um, hockte sich hin. Bevor Ramirez’ Männer wussten, wie ihnen geschah, hatten Kevin und Bodo die beiden mit einem gezielten Schlag ausgeknockt. Binnen Sekunden waren sie von ihrer Oberbekleidung befreit, gefesselt und geknebelt. Natasha zog rasch die Hand aus etwas Weichem neben ihr. Der Geruch von menschlichem Kot stieg ihr unangenehm in die Nase. Sie würgte, beugte sich vor und war froh, als ihr Magen den Powerriegel von zuvor wieder herausgegeben hatte.
Bodo tippte sie an. Er reichte ihr ein Desinfektionstuch, mit dem sie sich die Hand säuberte. Es roch nach Zitrone. Mit ihrem eigenen wischte sie sich den Mund sauber, trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und gab das Alles-okay-Zeichen.
»Zwei down, bleiben achtzehn«, kam es von Wagner aus dem Headset. »Auf jetzt Tempo, Kehlmann, ab in die Hütte zu den Geiseln. Römer und Steuber, Sie sichern den Eingang. Sobald wir zuverlässig wissen, dass die Familie Gerling sich dort befindet, schlagen wir zu.« Wagner trieb sie zur Eile an, aber der hatte gut reden, er saß ja in sicherer Entfernung in einem Zelt.
Bodo und Kevin zogen rasch die paar Sachen von den Wachmännern über, sodass ihre speziellen Tarn-Neoprenanzüge verdeckt wurden. Natasha verstaute derweil ihre sichtbaren Ausrüstungsgegenstände im Rucksack. Lediglich ihr Kampfmesser und die Glock, die sie statt ihrer üblichen Heckler & Koch P30 mitführte, behielt sie bei sich. Die Glock war bei den deutschen Kampfschwimmern erprobt, und sie hatte damit die letzten Tage im Lager trainiert. Zuletzt schob sie das speziell für ihre Einheit angefertigte Multifunktionstaschenmesser in ihre Hosentasche.
Ein Ersatzmagazin mitzunehmen, konnte sie sich in ihrer Rolle als gefangene Geisel nicht leisten. Ihre zwei Teamkameraden führten dafür umso mehr Munition mit sich. Den Rucksack versteckte sie an der Hüttenrückwand unter einem Busch. Entweder bliebe die Zeit, ihn wieder mitzunehmen, oder sie musste ihn als Verlust abschreiben. Im Vorfeld hatten sie zwei mögliche Fluchtvarianten festgelegt, in jedem Fall mit Fahrzeugen der Entführer, also entweder mit den Jeeps oder den am Steg liegenden Luftkissenbooten. Und wenn alles schieflief, stand noch ein Hubschrauber des venezolanischen Militärs auf Abruf. Die Zeitverzögerung, bis der einträfe, wollte jedoch keiner von ihnen riskieren.
Kevin packte sie am Oberarm und zerrte sie mit sich in Richtung Hüttentür. Dabei stieß er alle spanischen Flüche aus, die sie ihm beigebracht hatte. Er hatte im Vergleich zu Bodo die weitaus bessere Aussprache. Natasha ließ sich mitschleifen und versuchte den Eindruck zu erwecken, geschlagen worden zu sein.
Sie waren fast bis zum Eingang gekommen, als eine der Wachen vor dem Gebäude sie aufhielt.
»He, wo habt ihr die aufgegabelt?«
Der Dialekt und das Sprechtempo brachten Kevin sichtlich an die Grenzen seines Sprachtalents, doch aus der Haltung des anderen verstand er auch so, was gemeint war.
»Draußen am Fluss, sie wollte uns ausspionieren.«
»Eine Spionin? Scheiße, ihr seid doch total bescheuert. In der Einheit sind auch Frauen, ihr Idioten!«
Der Mann griff zu seinem Funkgerät. Kevin packte fester zu, und sie spannte den Körper an. Als er ihr einen Schubs in Richtung auf den Wachposten zu versetzte, war der Mann völlig perplex. Er ließ das Funkgerät fallen. Doch bevor er reagieren und seine Waffen ziehen konnte, versetzte sie ihm einen heftigen Handkantenschlag gegen die Halsschlagader. Er kippte auf sie zu, und statt zurückzuspringen, fing sie ihn auf. Bevor Bodo sich den zweiten Mann vorknöpfen konnte, hatte der bereits seine Waffe gezogen. Der Schuss traf den Mann in Natashas Armen, drang durch dessen Körper und prallte an ihrer Schutzweste ab. Sie verlor das Gleichgewicht und landete rückwärts auf dem Boden, hörte einen weiteren dumpfen Ton und drehte den Kopf. Der Wachmann lag mit einem glatten Kopfschuss neben ihr.
Caro. Der erste Schuss – der von dem Wachmann – war laut gewesen, der aus Caros Scharfschützengewehr hingegen hatte dumpf verzerrt geklungen, denn ein Schalldämpfer nimmt einem Schuss nicht jegliches Geräusch, sondern verändert es nur, sodass er nicht mehr wie ein Schuss klingt und anders interpretiert werden kann. Bodo fluchte leise vor sich hin. Weitere Wachen kamen angerannt.
Bodo hob den Mann, der auf ihr lag an, prüfte seinen Puls und schüttelte den Kopf. »Los, beeil dich. Plan B.«, zischte er ihr zu.
»Nimm am besten gleich Plan C«, brummte Kevin, der die Hände defensiv hob und einen Schwall spanischer Flüche losließ.
Natasha ignorierte die Männer, die auf sie zugelaufen kamen, vertraute auf ihre Kameraden – sie würden ihr den Rücken freihalten – und lief in die Hütte.
Sie blieb stehen. Shit! Das war ja klar. Sie hatten verschiedene Szenarien dessen, was sie vorfinden würden, durchgespielt. Nun bot sich ihr das Bild des Worst-Case-Szenarios. Die Geiseln waren in der Hütte in eine Zelle gesperrt.
»Schlüssel?«, bellte Natasha ins Headset.
»Mist!«, fluchte Bodo.
Draußen wurden die Stimmen lauter. Es war abwegig zu glauben, sie könnten das Ruder noch herumreißen.
»Wer sind Sie?«, kam es stöhnend von Diedrich Gerling.
Sie schenkte ihm ein verzerrtes Grinsen. »Das Befreiungskommando.«
»Na super. Da können wir uns ja gleich die Kugel geben.«
Natasha ließ den Blick rasch über die beiden anderen Geiseln schweifen. Die Frau, Helga Gerling, wirkte erstaunlich wach, ja beinah erregt. Der achtjährige Sohn, David, hockte neben ihr, die Arme um die Knie geschlungen. Mit geweiteten Pupillen sah er sie ohne ein Zeichen von Unruhe oder gar Panik an. Sie hatte es offenbar nicht nur mit einer verschlossenen Zelle zu tun, sondern auch noch mit Geiseln, die unter Drogen gesetzt waren. Und dann war da ja noch die Schussverletzung an der linken Wade des Mannes.
Natasha wandte sich an Diedrich Gerling. »Können Sie laufen?«
»Sieht es so aus? Verflucht noch mal, wofür zahle ich so viel an Steuern? Für eine Bundeswehr, die mir die letzten Idioten schickt?«
»Diedrich«, mahnte seine Frau.
Gefesselt waren sie nicht. Immerhin ein Pluspunkt. Natasha sah sich das Schloss an der Zellentür an.
»Ist das da Blut?« Der Junge starrte auf ihre Hand.
Natasha warf einen raschen Blick darauf. Der vom Eisengehalt durchdringende Geruch des Bluts von dem Wachmann machte sich in ihrer Nase breit, und Gallenflüssigkeit brannte in ihrem Hals. Sie entschied, die Frage zu ignorieren. Sie musste das Problem mit dem Schloss lösen, und zwar schnell. Darauf zu schießen, kam nicht infrage, denn eine abprallende Kugel war unberechenbar.
»Negativ«, kam es von Bodo. Also kein Schlüssel bei den zwei toten Wachen. Klar, was sonst?
»Tempo, Kehlmann!«, bellte Wagner. »Lös das Problem.«
Na super, dachte sie erbost, setzt mich noch mehr unter Druck. Draußen brach der Krieg aus.
»Verflucht, tun Sie endlich was!« Gerling flippte in der Zelle aus.
Seine Panik übertrug sich auf David. Seine Frau hingegen reagierte direkt und verkroch sich in die entfernteste Ecke. Für einen Moment blickte Natasha sie irritiert an. Als würde die Frau begreifen, was sie verwunderte, packte sie ihren Sohn grob am Arm und zog ihn zu sich.
»Ich schwöre Ihnen, das wird Konsequenzen haben«, drohte Diedrich Gerling.
Natasha konzentrierte sich auf das Schloss, blendete alles andere aus. Selbst als der erste Querschläger über ihrem Kopf in die Wand einschlug, blieb sie ruhig. »Gehen Sie zu Ihrer Frau und Ihrem Sohn, dort sind Sie vor Kugeln sicher.« Wenigstens, solange keiner der Entführer in die Hütte kommt, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Einen Scheißdreck werde ich!«, brüllte Gerling und erhob sich mühsam, indem er sein Gewicht auf das gesunde Bein verlagerte.
Natasha zückte ihre Waffe und richtete sie auf den Unternehmer. »Ab in die Ecke.« Sie verwendete denselben Ton wie bei ihrem Hundewelpen, der kleinen Freya, wenn die es mal wieder zu doll trieb und damit durchzukommen glaubte.
Die Sekunden verstrichen, aber es funktionierte. Widerwillig folgte der Mann ihrem Befehl und gesellte sich zu Frau und Sohn. Verflucht, das alles kostete wertvolle Zeit.
»Natasha?« Es war die ruhige Stimme von Pit, der normalerweise ihr Partner im Einsatz war.
Sofort legte sich ihr Zorn. »Verschafft mir eine halbe Minute Luft«, murmelte sie ins Headset.
»Du hast eine Minute.«
Ungewollt huschte ihr ein Lächeln über die Lippen. Das war typisch für ihren Teamführer, der eigentlich Peter Abel hieß. Er gab ihnen selbst in brenzligen Situationen das Gefühl, dass sie alle Zeit der Welt hatten, weil er wusste, dass Druck zu Stress und Stress zu Fehlern führt.
Natasha zückte ihr Taschenmesser. »Mark, kannst du dir was anschauen?«
»Versuchs«, hörte sie Mark mit angestrengtem Atem zwischen den Schüssen sagen. Sie nahm ihre Spezialuhr vom Handgelenk, stellte eine Verbindung zu Marks Uhr her und hielt den Knopf gedrückt, während sie mit der längeren Seite der Uhr, in die eine winzige Kamera eingebaut war, das Schloss von beiden Seiten filmte.
»Nimm C3 und F4 von deinem Multitool. Mit dem C3 musst du einen Hebel schieben, während du den F4 benutzt, um den Mechanismus zu drehen.«
Natasha schloss die Augen, um ihre Sinne auf ihre Finger zu fokussieren. Mark hatte recht, oben gab es einen Hebel.
Exakt siebenundzwanzig Sekunden später hatte sie das Schloss geknackt. Gerling drängte sofort seine Frau zurück und humpelte, so rasch er konnte, direkt zur Tür in die Schusslinie. Natasha rammte ihn und warf ihn zu Boden. An ihrem linken Arm spürte sie ein scharfes Brennen. Sie war nicht zimperlich mit Gerling, als sie ihn am Fuß packte und wieder zurück in den Raum schleifte. Am Hemdkragen zerrte sie ihn hoch und funkelte ihn böse an.
»Widersetzen Sie sich noch ein einziges Mal meinem Befehl und gefährden Ihre Frau, Ihren Sohn und mich, dann jage ich Ihnen persönlich eine Kugel durch den Kopf und behaupte, es wäre ein Terrorist gewesen. Das schwöre ich Ihnen. Verstanden?«
»Kehlmann, reißen Sie sich am Riemen«, wies Wagner sie über das Headset zurecht.
»Drück ihm kurz die Blutzufuhr ab, bis er ohnmächtig ist«, schlug Zoe vor.
»Und was dann? Soll ich ihn schleppen?«, murrte Ulf.
Der knappe Wortwechsel löste Gelächter beim Rest der Truppe aus. Das half Natasha, sich wieder abzukühlen. Auch das war untypisch für sie, dass sie sich derartig leicht aus der Fassung bringen ließ. Doch darüber konnte sie sich nach dem Einsatz ärgern. Sie schenkte Helga und David ein warmes Lächeln. Beide waren erschrocken vor ihr zurückgewichen.
»Keine Sorge, wir bekommen Sie heil hier raus. Bleiben Sie dicht hinter mir immer an der Wand, und folgen Sie meinen Anweisungen.«
Noch dämpfte das Adrenalin in ihrem Körper den Schmerz von dem Streifschuss an ihrem Arm. Sie fluchte, weil sie die Medizintasche, die sie wie alle anderen immer bei sich trug, im Rucksack zurückgelassen hatte.
»Bereit«, gab sie Kevin und Bodo durch. »Denkt daran, dass Gerlings Bein verletzt ist.«
»Standby. Team Wolf, wie sieht es bei euch aus?«, fragte Bodo. Team Wolf, das waren Smart, Pit, Chris und Gabriella.
»Wir haben die Fahrzeuge unbrauchbar gemacht. Wir nehmen die Boote, das ist näher für euch.«
»Und Nummer sechs down«, kam es knapp von Caro.
Natasha lief ein kalter Schauer über den Rücken. Caro sprach von Menschen, als würde sie im Training die Treffer zählen. Aber zwei von den Männern lebten immerhin noch.
»Leute, pronto, Tempo. Keine Verzögerungen mehr. Jemand hat Verstärkung angefordert. Die braucht maximal zehn Minuten, um Sie zu erreichen. Team Eagle, vorstoßen zu Team Snake. Sie sichern den Fluchtweg zum Fluss. Team Wolf, Sie verschaffen Ihren Kameraden Zeit.«
»Roger«, kam es von Caro, die mit Mark das Team Eagle bildete.
»Roger«, hörte Natasha Ulf sagen, der mit Zoe zum Team Snake gehörte.
Sie drehte sich zu Gerling um, der hinter ihr kauerte, so weit es sein verletztes Bein zuließ. »Sobald meine Kollegen den Befehl geben, müssen wir zur Tür raus Richtung Fluss. Sie können nicht laufen, also werde ich Sie tragen.«
»Auf keinen Fall.«
Natasha zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen, dann humpeln Sie hinter uns her und riskieren, eine Kugel abzubekommen.«
»Besser, als wenn Sie unter meinem Gewicht zusammenbrechen.«
Diesmal grinste sie ihn an. »Was wiegen Sie? Achtzig Kilo?«
Er reckte gekränkt den Kopf ein Stück höher. »Vierundsiebzig – seit ich zwanzig war.«
»Geben Sie mir Ihre Hand. Nein, legen Sie sie über meine Schulter. Sobald das Zeichen kommt, werde ich Ihr verletztes Bein packen und es mir ebenfalls über die Schulter ziehen. Das wird weh tun, aber ich kann es nicht ändern. Je mehr Sie mir helfen, indem Sie Ihr Gewicht verlagern, desto leichter wird es für uns beide. Wenn ich Sie absetze, nutzen Sie Ihr gesundes Bein und stützen sich mit dem Arm auf mich.«
Sie hatte es oft genug mit den Teammitgliedern – vor allem mit Pit – geübt, da man ja nicht wusste, ob Gerling mit seiner Verletzung laufen konnte.
»Hey, David, weißt du, wo es zum Flussufer geht?«, fragte sie und lächelte dem Jungen aufmunternd zu. Er nickte. »Wenn ich es dir sage, dann läufst du, so schnell du kannst, zu den Booten, die dort liegen. Geh zum ersten ganz vorn am Steg. Du schaust dich nicht um, sondern rennst, als wäre der Teufel hinter dir her. Deine Sportlehrerin sagt, du bist der Schnellste in deiner Klasse.«
»Das bin ich«, bestätigte er, furchte die Stirn vor lauter Konzentration und nahm eine Starthaltung ein.
Sie sah zu Frau Gerling hinüber, die die Lippen fest zusammengepresst hatte und ihr zunickte.
»Los!«, bellte Kevin.
Natasha ignorierte Gerlings Schrei, als sie sein verletztes Bein über ihre Schulter zog, stemmte sich hoch und lief mit ihrer Last durch die Tür. David stürmte an ihr vorbei. Bodo und Kevin hielten ihnen den Rücken frei und nahmen die letzten von Ramirez’ Männern, die sich verschanzt hatten, unter Dauerbeschuss. Sie blieb auf ihr Ziel fokussiert. Ihre Lungen brannten, ebenso ihre Beine.
Schweißgebadet und keuchend erreichte sie den Steg mit den vertäuten Luftkissenbooten. Sie setzte ihre Last beim vordersten Boot ab und verbiss sich den Schmerzlaut, als Gerling die Finger in ihren verletzten Arm krallte. Er ließ sich auf den Rücken fallen, leichenblass.
»Steig in das zweite Boot und leg dich so flach wie möglich hin«, wies sie David an und sah sich suchend nach Frau Gerling um. Da kam sie gelaufen, angetrieben von Ulf, der Chris auf dem Rücken trug. Blut tropfte auf den Boden, als Ulf bei den Booten zum Stehen kam.
David fing an zu weinen. »Reiß dich zusammen«, schimpfte seine Mutter. Der Junge schluckte.
»Steigen Sie zu ihrem Sohn ins Boot«, herrschte Natasha sie an. Mit seiner Last stieg Ulf in das vorderste Boot, das gefährlich ins Schwanken geriet, und für einen Moment erfasste sie Panik, es könne umkippen, doch er schaffte es, die Kippbewegungen auszugleichen. Nur kurz regte sich ihr schlechtes Gewissen wegen ihrer Erleichterung, dass nicht Pit der Verletzte war.
»Ich brauche deine Hilfe!«, bellte Ulf.
Sie blickte auf Gerling, der noch immer blass und erschöpft auf dem Rücken lag. »Kommen Sie.« Sie zog ihn auf die Beine, umschlang seine Taille und stützte ihn ab, stieg dann zuerst selbst vom Steg in das Boot, in dem Ulf wartete, bevor sie Gerling hinein half. Das Boot neigte sich gefährlich zur Seite, als der Verletzte ungelenk hineinhüpfte. Diesmal war es ihrer eigenen schnellen Reaktion zu verdanken, dass sie nicht ins Wasser stürzten.
»Hol das Verbandspaket aus Chris’ Medizintasche«, kommandierte Ulf.
Der Schuss war durch Chris’ Oberschenkel gegangen, aus dem es langsam und gleichmäßig blutete, was bedeutete, dass keine Arterie verletzt war. Ulf legte schon den Druckverband mit der orangefarbenen Abbindevorrichtung an, dem Combat Application Tourniquet. Natasha holte außer dem Verbandsmaterial gleich die mit Alginat getränkten Wundauflagen hervor.
Die Blutung stoppte.
»Merde, merde, merde«, schimpfte Chris vor sich hin und sog scharf die Luft ein. Natasha nahm ihr Messer und entfernte den Stoff seiner Hose von der Wunde. »Die war nagelneu«, jammerte er.
Natasha warf Ulf einen Blick zu, doch der blieb voll auf seine Arbeit konzentriert. Sein angespannter Gesichtsausdruck sagte alles.
»Verflucht, kann mir mal jemand helfen?«, tönte Gerling. »Was für ein Befreiungskommando sind Sie eigentlich? Kümmern sich zuerst um ihre eigenen Leute, statt um mich? Geisel befreit, aber an Infektion krepiert, oder wie?«, wetterte er vor sich hin.
Sowohl Natasha als auch Ulf ignorierten den Mann. Inzwischen war der Rest der Mannschaft nachgerückt. Kevin sprang zu ihnen auf das Boot, brach das Schloss auf und schaltete den Motor kurz. Ein sattes Geräusch ertönte und der Rotor verwirbelte die Luft.
»Dein Rucksack!«, bellte Ulf, während er rasch mit geübtem Blick Chris nach weiteren Schussverletzungen absuchte. Erst danach wendete er sich Gerling zu.
Natasha sprang vom Boot, um zurückzulaufen. Mark hatte inzwischen die beiden anderen Boote kurzgeschlossen und saß im ersten Boot.
»Tempo, Tempo, Tempo!«, trieb Wagner sie alle über das Headset zur Eile an. Im Augenwinkel sah Natasha, wie Smart einen Satz aus der Deckung machte und sich in das Handgelenk eines Angreifers verbiss, der mit der Waffe direkt auf sie gezielt hatte. Verdammt, sie hatte nicht mal auf ihre Umgebung geachtet, geschweige denn ihre Waffe gezogen.
Pit, Caro und Gabriella kamen um die Ecke geflitzt. »Lauf!«, befahl Pit.
Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie rannte weiter, hatte den Rucksack noch nicht ganz auf den Rücken geschoben, als sie schon wieder den Steg entlanglief. Kevin hatte das Boot bereits vom Steg weg manövriert. Mit einem Satz landete sie darauf. Ulf, der sich Gerlings Wunde ansah, hielt nur die Hand auf, und sie reichte ihm ihr Medizinpaket.
Dann nahm sie Kevin das Sturmgewehr – die HK 416 – ab, brachte sich in Stellung und konzentrierte ihre Schüsse auf die leeren Boote, die noch am Steg lagen. Mark fuhr mit David und Helga Gerling los. Bei ihnen auf dem Boden des Luftkissenboots hockten Bodo und Gabriella und nahmen das Ufer unter Beschuss. Pit wendete in einer scharfen Kehre das letzte Boot, in dem Zoe und Carolina Stellung bezogen hatten. Smart bewahrte Zoe davor, aus dem Boot zu fallen, indem er in ihr Hosenbein biss und sein Gewicht gegen die Fliehkraft stemmte.
Kaum hatte Kevin mit einem kurzen Blick nach hinten festgestellt, dass der Rest des Teams ihm nachkam, gab er Gas. Natasha hatte wegen der beiden nachfolgenden Boote keine Möglichkeit mehr, einen sicheren Schuss abzugeben.
Ein Jeep kam schlingernd in einer gekonnten Fishtailwendung direkt vor dem Steg zum Halten. Bewaffnete Männer sprangen heraus und eröffneten das Feuer. Schüsse peitschten über den Fluss. Caro, Zoe, Bodo und Gabriella erwiderten das Feuer, während weitere Verfolger hinzukamen. Natasha konnte sehen, wie sich die Reihen ihrer Angreifer lichteten – was beim Beschuss von einem schwankenden Boot aus keine Selbstverständlichkeit war, sondern das Ergebnis ihres harten Trainings. Die Flussbiegung nahm ihr die Sicht auf das Geschehen. Kevin schaffte eine perfekt geschwungene Linie, ohne dass das Luftkissenboot unnötig weit hinaustrieb oder an Fahrt verlor. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis die beiden anderen Boote hinter ihnen auftauchten. Im Gegensatz zu Kevin steuerte Mark weit hinaus und verlor an Fahrt. Pit machte einen Schlenker, um hinter seinem Boot zu bleiben. Er übernahm die Rückendeckung.
Natasha wandte sich Gerling zu. Ulf hatte seine Wunde frisch verarztet und gab ihm gerade eine Spritze gegen die Schmerzen. Sie rutschte zu Chris.
»Kannst du mir auch so einen netten Cocktail verpassen?«, versuchte er zu scherzen.
»Dir ist klar, dass du davon süchtig werden kannst?«, foppte sie ihn.
Chris stand der kalte Schweiß auf der Stirn, aber das war es nicht, was ihr Sorgen bereitete, sondern der Ausdruck in seinen grünen Augen. Die hellen Töne darin, die ihn für viele Frauen so unwiderstehlich machten, wenn er es darauf anlegte, waren verschwunden. Stattdessen wirkte die Iris beinahe schwarz.
Sie strich ihm das feuchte dunkelblonde Haar aus dem Gesicht, beugte sich vor und deckte mit der Hand das Mikro des Headsets ab. »Das wird schon wieder. Du lässt dich einfach für ein paar Wochen von …« Sie runzelte die Stirn. Verflucht, wie war der Name seiner aktuellen Freundin? »… Ulrike pflegen, und ehe du dich versiehst, kannst du wieder mit dem Training anfangen.«
Er schloss die Augen, und sein Mund bildete eine gerade Linie. Für sie alle stand der Job an erster Stelle. Der Gedanke, ihn nicht mehr ausüben zu können … Nein, besser gar nicht darüber nachdenken. Ungewollt lief ihr ein Schauer über den Rücken, aber sie weigerte sich, bereits jetzt die Flinte ins Korn zu werfen.
»Weißt du, ich bin jedenfalls froh, dass mal nicht ich diejenige bin, die ein Sondertraining von Pit verpasst bekommt.«
Diesmal verzogen sich seine Mundwinkel kurz nach oben.
»Fahren Sie den Fluss weiter hoch bis nach Canaima«, wies Wagner sie an. »Am Flughafen wartet ein Black Hawk auf Sie, der bringt Sie auf dem schnellsten Weg nach Caracas.«
»Wir brauchen einen fahrbaren Untersatz. Weder Gerling noch Chris schaffen die Strecke von der Anlegestelle bis zum Flughafen«, erwiderte Ulf.
»Ich kümmere mich darum.«
»Was ist mit Ramirez’ Männern?«, wollte Pit wissen.
»Hoffen wir, dass es ihnen reicht. Er hat einige Männer verloren. Sie haben ihre Boote und Fahrzeuge unbrauchbar gemacht, also stehen ihnen nur die Jeeps des Verstärkungstrupps zur Verfügung. Sie müssen entscheiden, wen sie mitnehmen, und auch Leute bei den Verletzten zurücklassen. Dieser Entscheidungsprozess kostet Zeit. Die Straße durch den Dschungel erlaubt nur eine begrenzte Geschwindigkeit, und erschwerend kommt hinzu, dass sie auf der falschen Seite des Flusses sind. Mit anderen Worten – bis Ramirez mit seinen Männern bei Ihnen wäre, sind Sie längst über alle Berge, und ich denke, das weiß er genauso gut wie wir.«
Chris atmete tief durch. Natasha hob den Kopf und schaute Ulf an, dessen Blick auf Chris ruhte. Tiefe Sorgenfalten hatten sich in sein Gesicht gegraben. Ihre stumme Frage beantwortete er mit einem Achselzucken. Er konnte ihr nicht sagen, ob ihr Kamerad wieder mit ihnen zusammen in einen Einsatz würde gehen können.
Seit Natasha in die Sondereinheit aufgenommen geworden war, hatten drei Männer und eine Frau aufgrund von Verletzungen die Einheit verlassen müssen. Da Generalmajor Hartmann, ihr oberster Chef, die Mitglieder aus den Bundesbehörden und dem Militär rekrutierte, wurden sie in so einem Fall wieder in die ursprünglichen Behörden zurückgeführt. Dort bekam man entsprechend seiner Diensttauglichkeit einen Job zugeteilt, der im optimalen Fall in gegenseitigem Einvernehmen ausgesucht wurde. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wieder zum BKA in den reinen Polizeidienst zurückzugehen. Es wollte ihr nicht gelingen. Sie liebte die Vielfältigkeit der Einsätze in der Sondereinheit. Alles andere kam ihr mittlerweile langweilig vor. Chris kam vom Militär. Wo würde er landen, wenn er nicht mehr diensttauglich für die Sondereinheit war?
Auf ein Zeichen von Ulf wechselten sie die Plätze. Kurz bevor sie zu der Truppe gestoßen war, hatte diese schon einmal ein Teammitglied durch eine Verletzung im Einsatz verloren. Sie hatte den Nachklang noch zu spüren bekommen und verstand Ulfs Bedürfnis, für Chris da zu sein.
Sie gesellte sich zu Gerling. »Sind die Schmerzen erträglicher?«
»Was ist mit meiner Frau und meinem Sohn?«
»Gabriella?«, sprach sie über das Headset ihre Teamkameradin im anderen Boot an. »Herr Gerling möchte wissen, wie es seiner Familie geht.«
»Bei uns ist alles klar. David steht gerade bei Mark und darf das Boot lenken.«
Sie musste schmunzeln. Das war typisch für Mark, der selbst im Herzen ein großer Junge war. »Ihrer Familie geht es gut, Herr Gerling. Beide sind wohlauf und haben keine Kratzer abbekommen.«
»Sie meinen außer den seelischen?« Gerling bedeckte mit einer Hand die Augen, und sein Körper begann zu beben.
Sie legte dem Mann eine Hand auf die Schulter. »Glauben Sie mir, mit viel Liebe und Geduld lässt sich auch ein so traumatisches Erlebnis verarbeiten. Das Wichtigste ist, dass Sie jetzt für Ihre Familie da sind und Sie alle darüber reden.«
»Es war ein Fehler, mit diesem Land Geschäfte machen zu wollen. Ich hatte mir das anders vorgestellt. Ich hätte wissen müssen, dass sich diese Verbrecher nicht an Vereinbarungen halten. Ein Menschenleben hat für die keinen Wert.«
»Sie sollten ein Land nicht nach seinen Kriminellen beurteilen. Die Kultur und die Bevölkerung sind es, die es prägen und zu dem machen, was es ist. Jedenfalls auf lange Sicht.«
Gerling schnaubte. »Sie haben auch noch nie versucht, Wirtschaftsbeziehungen zu Venezuela aufzubauen.«
»Es stimmt, Korruption ist gang und gäbe in der Führungselite des Landes – egal ob politisch oder wirtschaftlich. Aber lassen Sie sich davon nicht täuschen. Auch da gibt es Ausnahmen, und das Land verändert sich. Ich bin sechs Wochen durch Venezuela gewandert. Man hat Sie übrigens im sechstgrößten Nationalpark der Welt gefangen gehalten, der von der UNESCO nicht umsonst zum Weltkulturerbe ernannt wurde. Schade, dass ich Ihnen den höchsten Wasserfall der Welt nicht zeigen kann, den Salto Angel.«
»Sie scherzen.« Gerling musterte sie mit verengten Augen.
»Nein, es ist ein Anblick, den man niemals vergisst.«
»Meine Frau, mein Sohn und ich, wir wurden entführt. Ich wurde angeschossen, und Sie erzählen mir etwas von der Schönheit der Natur?«
»Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille.«
»Gott bewahre mich vor Idealistinnen. Und vor Frauen, die meinen, den Job eines Mannes machen zu können.«
»Keine Sorge, Herr Gerling, Sie müssen meine Gesellschaft nicht mehr lange ertragen, und ich bezweifle, dass sich unsere Wege je wieder kreuzen werden. Sie sind mich bald los.«
»Ich kann es kaum erwarten.«
Zoe schob ihr unsanft den Ärmel bis zur Schulter hoch. »Verdammt noch mal, Natasha, musst du immer die Heldin spielen?«, schimpfte sie vor sich hin, während sie die Schusswunde desinfizierte, kein leichtes Unterfangen in einem Black Hawk, der mit irrsinniger Geschwindigkeit durch die Luft jagte.
»Ist nur eine Fleischwunde durch einen Streifschuss«, kam Ulf ihr unerwartet zu Hilfe. Sie saßen in zwei Reihen in dem Black Hawk, der verletzte Gerling sowie Smart auf dem Boden zwischen ihnen.
»… die sich infizieren und zu ernsthaften Problemen führen kann, wenn man sie nicht behandelt!«, fauchte Zoe. »Seit wann bist du derart nachlässig in deinem Job?«.
»Ich hatte zwei Schwerverletzte, falls es dir entgangen sein sollte, Miss Oberschlau.«
»Hey, könnt ihr euch bitte wieder abregen?«, fuhr Natasha in den Schlagabtausch zwischen Ulf und Zoe, die in ihrer Einheit ein Zweierteam bildeten. Ihr war klar, dass alle durch die Ungewissheit wegen Chris angespannt waren.
»Hast du Ulf gesagt, dass du gekotzt hast?«, goss Bodo noch Öl ins Feuer.
»Nein, hat sie nicht«, erwiderte Ulf und fixierte sie mit zusammengekniffenen Augen.
Rasch schaute sie zu Pit hinüber, der mit Kevin zusammen bei Chris am unteren Ende der Reihe saß. Smart hatte den Kopf auf Chris’ unverletzten Oberschenkel gelegt und ließ sich von Chris kraulen, in dessen Gesicht die Farbe ein Stück weit zurückgekehrt war.
Gerling lag auf einer Trage zwischen ihnen am Boden. David, der neben Kevin saß, ließ den Blick unablässig über die gesamte Gruppe streifen. Klar – Tarnfarbe, Schweiß, die verschlammten, verdreckten Klamotten, die Waffen – das alles roch für einen Jungen nach Abenteuer und Heldentum. Frau Gerling hatte den Kopf abgewandt und starrte nach draußen in die Nacht.
Ulf gab Caro ein Zeichen und tauschte den Platz mit ihr, um sich Natasha gegenüber niederzulassen. Sie verdrehte die Augen. »Nun übertreib mal nicht.« Dann versetzte sie Bodo rechts neben ihr mit dem gesunden Arm einen Rippenstoß. »Mit mir ist alles in Ordnung. Wenn man in Menschenkacke fasst, muss man schon mal kotzen. Es sei denn, man ist ein Mann. Männer können so was halt besser ab und leben dafür kürzer.«
»Da muss ich ihr ausnahmsweise recht geben«, sagte Zoe. »Frauen ekeln sich schneller, weil es sie vor Infektionen schützt, vor allem wenn sie schwanger sind. Aber genau deshalb, du Oberschlauberger«, fügte sie hinzu und klopfte unsanft mit den Fingerknöcheln auf Natashas Stirn, »solltest du wissen, dass sich eine Wunde infizieren kann, wenn sie nicht behandelt wird.«
»Zoe, seit wann bist du so eine Glucke?«, maulte Natasha genervt.
»Seit sie darüber nachdenkt, ob wir ein Kind adoptieren sollen«, kam es von Caro.
»Ihr wollt was?«, rutschte es ihr, Ulf und Gabriella gleichzeitig heraus.
»Behaltet eure Gedanken bloß für euch. Keine schlauen Sprüche, das geht nur uns beide etwas an«, erwiderte Caro knapp.
»Wir sind davon genauso betroffen«, widersprach Mark mit düsterer Miene.
Ulf wandte sich Natasha zu.
»Keine Sorge, du musst nicht auf Caro verzichten«, entgegnete Zoe, die verfolgte, wie Ulf Natasha untersuchte, als würde sie es ihm nicht zutrauen, sie zu behandeln.
»Soll das heißen, dass du in Mutterschutz gehst? Gibt es so etwas bei uns überhaupt? Und was, bitteschön, mache ich dann?«, beschwerte er sich. »Soll ich diese sturköpfigen Möchtegernhelden, die jede Verletzung herunterspielen, allein behandeln?«
»Oh Mann, Caro, du hast genau gewusst, was du mit dem Spruch anrichtest«, stöhnte Zoe. »Im Moment ist es lediglich eine Idee, also regt euch mal alle ab.«
»Wer soll sich abregen?«, fragte Pit und ließ sich neben seiner ehemaligen Partnerin Caro gegenüber von ihnen nieder. Er furchte die Stirn, als er bemerkte, dass Ulfs Zeigefinger an Natashas Hals lag. »Was machst du da?«
Das war das Allerletzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, dass ihr Partner sich Sorgen um sie machte.
»Wehe, du sagst was«, wisperte sie, während sie gleichzeitig das Mikro des Headsets abdeckte. »Dann war es das letzte Mal, dass ich ihn davon abgehalten habe, dir wegen Carina den Hals umzudrehen.«
Sofort nahm Ulf die Hand weg. »Ich wollte nur sicherstellen, dass Natasha sich durch den Streifschuss keine Infektion zugezogen hat«, erwiderte er laut.
»Streifschuss?« Eine herrische Handbewegung reichte, damit Zoe wortlos den Platz mit ihm tauschte.
»Na, super gemacht, Verräter«, zischte sie Ulf an und wandte sich zu Pit. »Alles halb so schlimm, es ist wirklich nur ein harmloser Kratzer.«
Doch damit gab Pit sich nicht zufrieden. Er nahm ihren Arm und tastete ihn ab. Zum Glück war sie noch nie übermäßig schmerzempfindlich gewesen.
»Wann hat die Kugel dich getroffen? Auf der Flucht?«
Kurz erwog sie zu lügen, wusste jedoch, dass er sie durchschauen würde. Er kannte sie einfach zu gut.
»Vorher. Während der Befreiungsaktion.«
»Du bist für den nächsten Einsatz gesperrt.«
»Bitte? Spinnst du?«
»Das ist nun doch ein wenig übertrieben«, mischte sich Caro ein, die Einzige, die kein Problem damit hatte, sich mit Pit anzulegen.
»Sie hat das Leben der Geiseln gefährdet.«
»Habe ich nicht«, protestierte sie.
Er funkelte sie an. »Durch deine Verletzung bestand das Risiko, dass du Gerling nicht zum Steg hättest tragen können. Ich – und übrigens auch die Einsatzleitung – muss eure Leistungsfähigkeit zu jedem Zeitpunkt während eines Einsatzes beurteilen können.«
Caro verdrehte die Augen. »Es ist ein Streifschuss am Oberarm, Pit, mehr nicht.«
»Ich kann das Verbot gern auf dich ausdehnen.«
Zum Glück erreichten sie in diesem Moment das Lager.
Nach dem Duschen fühlte sich Natasha wieder fast wie ein normaler Mensch. Smart, den sie gleich mitgeduscht hatte, schüttelte sich und schaute sie vorwurfsvoll an. Obwohl der Schäferhund sich nicht scheute, ins Wasser zu springen und mit ihr zu schwimmen, egal ob es sich um einen Sumpf, einen Fluss oder das Meer handelte, konnte er es nicht leiden, geduscht zu werden. Dabei verwendete sie für ihn nicht einmal ihr Duschgel mit dem frischen Minzduft, sondern Schafmilchseife ohne Duftstoffe. Schließlich wollte sie seine empfindliche Nase, auf die sie im Einsatz oft genug angewiesen waren, nicht irritieren.
Smart kroch unter das Feldbett, auf dem Pits Sachen lagen, legte den Kopf auf die Pfoten und machte die Augen zu.
Außer Ulf, Kevin, Chris und Pit lag der ganze Rest der Mannschaft in den Feldbetten und ruhte sich aus. Manche von ihnen schliefen bereits tief und fest. Die deutsche Botschaft hatte ihnen im Erdgeschoss einen großen Raum bei den Sicherheitskräften zugeteilt, in dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten.
Mark lag auf der Seite und hatte sein Kissen über den Kopf gestülpt, unter dem nur sein blonder Lockenschopf hervorlugte. Caro und Zoe hatten ihre Feldbetten zusammengeschoben und flüsterten miteinander. Bodo schlief rücklings lang auf der Pritsche ausgestreckt, die Fußknöchel überkreuzt, den einen Arm angewinkelt unter dem Kopf. Gabriella lag ihm zugewandt auf der Seite, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt.
Seit einiger Zeit fiel es Natasha häufiger auf, dass Gabriella heimlich Bodo betrachtete, wenn sie glaubte, niemand würde es bemerken. Kaum spürte sie ihren Blick, schloss sie rasch die Augen. Natasha unterdrückte ein Schmunzeln. Sie fragte sich, wie lange Gabriella ihre Gefühle für Bodo geheim halten zu können glaubte. Dann schüttelte sie den Kopf, amüsiert über sich selbst. Pit und sie hatten sich fast vier Jahre lang etwas vorgemacht.
Sie seufzte. Er würde sich nicht leicht dazu bewegen lassen, ihre Sperre für den nächsten Einsatz wieder aufzuheben. Schon gar nicht, wenn Oberst Wahlstrom die Sache mitbekam. Er reagierte noch empfindlicher auf solche Dinge als Pit. Major Wagner hingegen hatte ihr beim Debriefing lediglich eine Kopfnuss verpasst.
Sie legte sich auf ihr Feldbett, kramte ihr Smartphone hervor und schrieb an Malte:
Wie geht es meiner Süßen?
Sie verschickte die Kurznachricht, und die Antwort kam prompt – zusammen mit einem Bild von Freya, die in mühevoller Kleinarbeit einen Tennisschuh auseinandergenommen hatte.
Für diesen Hund bin ich definitiv zu alt!
Sie lachte leise in sich hinein.
In Wahrheit liebst du sie.
Kannst du schon sagen, wann du zurück bist?
Morgen.
Gott sei’s gelobt, meine Qual hat ein absehbares Ende. Vergesst nicht, sie zuerst abzuholen.
Keine Sorge, ich vermisse sie schon jetzt.
Es stimmte, wie Natasha überrascht feststellte. Sie hatte geglaubt, nach Akiro nie wieder einen Hund so sehr lieben zu können, wie sie ihn geliebt hatte. Doch wie eine kleine Diebin hatte sich die Hündin, die gerade mal fünf Monate alt war, in ihr Herz geschlichen. Und nicht nur in ihres. Es galt auch für den Rest der Mannschaft. Die Hündin hatte vor allem Chris um ihre kleine Pfote gewickelt. Wenn Natasha nicht aufpasste, würde er ihre ganze Erziehung verderben. Ihr Lächeln verflüchtigte sich. Chris … Hoffentlich durfte sie sich über dieses Problem weiterhin ärgern. Wenn er nur wieder in Ordnung kam. Gähnend legte sie sich auf die Seite, umarmte ihr Kissen und zog die Beine an.
Den Mund leicht geöffnet, schlief Natasha tief und fest. Peter hockte auf seinem Bett und besah sich den Verband, der unter ihrem T-Shirt hervorschaute. Ulf hatte wie immer gute Arbeit geleistet. Die Stelle war nicht einmal leicht gerötet. Er hatte mit seiner Sperre überreagiert, das wusste er, bevor Wagner es ihm auf dem Flur unter die Nase gerieben hatte. Es lag nicht daran, dass sie ein Paar waren. Von Anfang an hatte er Natasha bei Einsätzen besonders im Auge behalten, weil sie dazu neigte, ein zu hohes Risiko einzugehen – nicht für das Team, sondern für ihre eigene Sicherheit. Er musste sich jedoch eingestehen, dass ihm der Schreck von ihrer Entführung vor nicht allzu langer Zeit, bei der sie nur knapp dem Tod entronnen war, noch immer in den Knochen saß.
Auch wenn Natasha sich nach außen hin den Anschein gab, den Fall verarbeitet zu haben – er kannte sie besser. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich manchmal nachts im Schlaf herumwälzte und mit einem Schrei erwachte. Er wusste nicht, was die bessere Methode war – ihr eine erzwungene Auszeit zu verpassen, um alles zu verarbeiten, oder ihr zuzugestehen, dass sie sich in die Arbeit vergrub. Immerhin hatte ihr Dr. Franziska Naumann, die Psychologin des Teams, uneingeschränkte Einsatzfähigkeit bescheinigt.
Als hätte sie seinen Blick gespürt, öffnete sie die Augen mit flatternden Lidern. Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. Die anderen, einschließlich Ulf, schliefen tief und fest. Kevin war an Chris’ Seite geblieben.
Er verzog die Lippen zu einem Lächeln und nickte als Antwort auf Natashas unausgesprochene Frage, wie es um Chris’ Bein stand. Erleichtert atmete sie aus. Er zog fragend die Augenbrauen hoch. Sie grinste und deutete unter sein Bett.
Er beugte sich hinunter. Smart lag auf der Seite, klopfte kurz mit dem Schwanz auf den Boden und blieb liegen. Nach vier Jahren wusste der Hund, dass er jede Gelegenheit zum Ausruhen nutzen musste. Pit ging auf die Knie und kraulte ihm die Ohren. Ohne Smart wäre der Schuss auf Chris tödlich gewesen, und die Situation mit Natashas Angreifer wäre auch brenzlig geworden. Smart hatte ihm mit dem Biss in dessen Handgelenk die Zeit verschafft, ihn kampfunfähig zu machen. Manchmal fragte er sich, wie sie im Einsatz jemals ohne ihren tierischen Teamkameraden zurechtgekommen waren.
Apropos Hund … Er sah zu Natasha, die ihm bereits mit einem schelmischen Grinsen ihr Handy mit dem Foto zeigte. Der neue Zuwachs in ihrer Wohngemeinschaft. Freya. Er hatte geglaubt, dass es leicht wäre, diese Hündin zu erziehen, nach Smart und Akiro. Doch sie stellte sie vor eine echte Herausforderung. Vor allem mit ihrem treuen Hundeblick, der jedes Herz zum Schmelzen brachte. Dieses manipulative Weibsstück von Hund nutzte das gnadenlos aus – ganz wie ihre neue Besitzerin. Er wunderte sich nicht mehr, dass sein Freund Malte, Hundezüchter und Trainer, diesen Welpen unbedingt schnell hatte abgeben wollen.
Er ließ sich auf das freie Feldbett neben Natasha fallen. Lieber hätte er sich zu ihr gelegt, nur um ihren Geruch einzuatmen, ihren warmen Körper neben sich zu spüren und sie in den Armen zu halten. Er hätte nie gedacht, dass er einmal eine Frau so sehr lieben könnte. Es jagte ihm eine Heidenangst ein.
Natasha strich ihm mit einer Hand liebevoll übers Gesicht. Er hielt die Hand fest, als sie sie wegziehen wollte, und drückte ihr einen Kuss auf die raue Innenfläche. Sie war nicht nachtragend, und obwohl sie garantiert wütend über seine Entscheidung war, trennte sie das berufliche Leben vom privaten. Darum beneidete er sie, denn er war sich nicht sicher, ob er, wenn es jemand anderes aus dem Team gewesen wäre, genauso reagiert hätte. Ihr zugewandt schloss er die Augen.
Neidisch betrachtete Natasha Pit, der nach vier tiefen Atemzügen schlief. Sie hingegen wusste, dass sie jetzt nicht mehr einschlafen konnte, egal wie sehr sie es versuchen mochte. Ihr Kopf hatte zu arbeiten begonnen. Sie dachte an Frau Gerling, die mehr an ihre eigene Sicherheit gedacht hatte als an die ihres Sohnes. Selbst Natashas Mutter, die eher eine kühle Natur war, hätte sich in dieser Lage schützend vor sie gestellt.
Alle drei Geiseln waren in gutem körperlichen Zustand. Gerlings Verletzung war versorgt worden. Grundsätzlich achteten Entführer darauf, dass ihre Geiseln keinen körperlichen Schaden nahmen, weil das im Hinblick auf die Lösegeldforderung an ein Unternehmen schlecht fürs Geschäft wäre. Viele Firmen schlossen eine Versicherung ab, wenn sie Mitarbeiter in Länder entsandten, in denen unter Umständen eine Entführung zu befürchten war. Das war den Verbrechern natürlich bekannt. Oft liefen Deals unter der Hand ab, was voraussetzte, dass die Geiseln von der Gegenseite gut behandelt wurden. Es kam aber auch vor, dass ein Unternehmen die Polizei hinzuzog wie in diesem Fall, die dann wiederum Spezialkräfte einsetzte. Ob die GSG 9, das KSK oder die Sondereinheit Themis zum Einsatz kam, hing von der Situation ab. Im Lauf der letzten vier Jahre hatte Natasha mit allen deutschen, aber auch mit internationalen Spezialkräften zusammengearbeitet. Etwas an dem Fall Gerling beschäftigte sie, ohne dass sie den Finger auf etwas Konkretes hätte legen können. Vielleicht hatte Pit aber auch recht und sie brauchte eine Auszeit. Nach ihrem letzten Fall hatte sie sich, kaum dass sie die ärztliche Freigabe erhalten hatte, wieder voller Eifer in die Arbeit gestürzt. Das war besser, als über das nachzugrübeln, was passiert war. Ihr stand noch der Prozess bevor, in dem sie als Zeugin der Staatsanwaltschaft würde aussagen müssen.
Sie dachte an Cecilia, Pits Schwester, die sie um Hilfe gebeten hatte. Cecilia war Psychotherapeutin und kümmerte sich aktuell um die rumänischen Mädchen, die Opfer eines Menschenhändlerrings, die das Themis-Team kürzlich befreit hatte. Die Mädchen der letzten Lieferung waren inzwischen von der Stiftung der Familie Abel in Arbeit vermittelt oder in das deutsche Schulsystem eingegliedert worden. Angela, Pits jüngste Schwester, die die Stiftung leitete, war ein Phänomen, wenn es darum ging, Menschen in Lohn und Brot zurückzuführen. Schwieriger war die Situation der drei Mädchen, die jahrelang als Prostituierte missbraucht worden waren. Da auch Natasha in gewisser Hinsicht ein Opfer von Alexander Egbert gewesen war, hatte Cecilia sie gefragt, ob sie ihr helfen würde. Sie hatte es zunächst spontan abgelehnt. Zu tief waren ihre eigenen seelischen Wunden. Jahrelang hatte sie das, was damals passiert war, aus ihrem Leben verdrängt. Andererseits war es gerade dieses Erlebnis gewesen, das sie angetrieben hatte, Polizistin zu werden – und nicht nur irgendeine, sondern die beste. Dazu gehörte es für sie auch, Opfern zu helfen, einen Neuanfang zu wagen, mit dem sicheren Wissen, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen wurden.
Freya hatte sie bei jeder Sitzung mitgenommen, manchmal auch Smart. Seit sie mit Pit in einem Team arbeitete, hatte sie oft genug erlebt, wie die Hunde es schafften, Menschen in emotional schwierigen Situationen zu beruhigen. Mit einem wehmütigen Lächeln dachte sie an Akiro, ihren Seelenhund, der ihr mehr als Malte oder auch Pit gezeigt hatte, was es bedeutete, sich auf einen Hund in seinem Leben einzulassen. Niemand konnte diesen Verlust aufwiegen. Akiro würde für immer einen besonderen Platz in ihrem Herzen einnehmen.
Freya war anders. Die Hündin zeigte bereits eine außergewöhnliche Intelligenz, jedoch fehlte es ihr an der notwendigen Härte für den Polizeidienst. Das befürchtete jedenfalls Malte, und auch Pit glaubte, dass sie nicht zum Polizeidienst taugte. Natasha hingegen war sich da nicht so sicher. Klar war, dass der Welpe es mit seiner niedlichen, verspielten Art schaffte, die geschundenen Seelen der Mädchen zu erreichen. Dabei zeigte Freya eine ungewöhnliche Sensibilität und ein Einfühlungsvermögen für die Bedürfnisse der Patientinnen. Cecilia war begeistert und hatte sich inzwischen mit der Therapiehundeausbildung befasst.
Sie beschloss, eine Runde joggen zu gehen, und schlüpfte leise aus dem Schlafsack. Immerhin hatten sie einen halben Tag für die Rückreise im Flugzeug vor sich. Sie gab Smart ein knappes Handzeichen, und er folgte ihr auf leisen Pfoten. Statt sich im Zimmer fertig zu machen, nahm sie ihre Tasche mit und zog sich im Duschraum um.
Eine der Sicherheitskräfte hielt sie auf, als sie die Botschaft verlassen wollte. »Sind Sie nicht erst vor ein paar Stunden vom Einsatz zurückgekehrt?«, fragte der Mann.
»Bewegung kann man nie genug bekommen.«
»Was macht Ihr Arm?«
Sie runzelte die Stirn, folgte seinem Blick auf den Verband, der ein Stück unter ihrem T-Shirt hervorlugte. Den Gedanken an die Verletzung hatte sie völlig verdrängt. »Fast wie neu«, sagte sie und grinste ihn an.
»Sie sollten aufpassen, wo Sie laufen. Die Situation mit der neuen Regierung ist weiterhin kritisch. Es gibt immer wieder Unruhen und Straßenkämpfe.«
»Danke, dass Sie nicht sagen, es wäre zu gefährlich für mich.«
Er schmunzelte. »Der Ruf Ihrer Einheit eilt Ihnen voraus. Bestimmt können Sie verdammt gut auf sich aufpassen.« Er warf einen Blick auf Smart. »Ganz abgesehen von Ihrem vierbeinigen Begleiter. Ein schönes Tier. Dennoch – seien Sie vorsichtig.«
»Bin ich. Können Sie mir eine Fünf-Kilometer-Runde empfehlen?«
Er zückte sein Smartphone und zeigte ihr auf der Kartenanwendung eine Route. Sie bedankte sich und startete in einer Geschwindigkeit, die Smarts Trabtempo entsprach. Schließlich wollte sie keine Trainingseinheit absolvieren, sondern sich Bewegung gönnen, um ihre Gedanken loszuwerden.
Als er eine Hand auf seiner Schulter spürte, öffnete er abrupt die Augen und war gleich hellwach. Das Erste, was er sah, war das leere Feldbett ihm gegenüber. Sofort setzte er sich auf.
Major Wagner legte den Zeigefinger an die Lippen und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen.
Sobald sie im Flur standen, drehte sich der Major zu ihm um. »Also, Abel, wo ist Kehlmann?«
Pit fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Vorhin lag sie noch im Bett. Vielleicht ist sie zur Toilette gegangen?«
»Mit Smart?«
Er blinzelte. Dass der Schäferhund nicht mehr unter seinem Bett lag, hatte er gar nicht wahrgenommen. Andererseits – er hatte zuvor unter seinem Bett gelegen, woher also wusste Major Wagner, dass Smart nicht mehr da war?
Wagner schien ihm die Frage vom Gesicht abzulesen. »Er beobachtet jeden, der sich Ihnen nähert, und glauben Sie mir, man spürt, wenn Smarts Blick einem folgt. Also, wohin ist Kehlmann mit ihm hin?«
»Keine Ahnung.« Pit spürte, wie Ärger und Sorgen in ihm aufstiegen. Das war wieder typisch für sie, und niemand schaffte es, ihr dieses Verhalten auszutreiben, selbst Oberst Wahlstrom nicht.
»Ich wecke Chris. Ach Mist, der ist ja außer Gefecht.«
»Darauf bin ich schon selbst gekommen. Ihre Uhr ist aus, und sie hat auch kein Smartphone dabei.«
»Na super. Haben Sie es über Smarts Sender probiert?«
Wagner schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Langsam werde ich alt. Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe. Legen Sie sich wieder hin.«
Pit warf ihm lediglich einen Blick zu, und Wagner zuckte mit den Achseln. »Also gut, dann kommen Sie mit.«
Sie machten sich auf den Weg zum Eingang der Botschaft, wo sich die Treppe und der Fahrstuhl zu den oberen Etagen befanden.
»Warum suchen Sie Natasha überhaupt?«
»Gerling verlangt eine Entschuldigung von ihr, weil sie ihn mit der Waffe bedroht hat. Außerdem hat er sich über ihr angeblich unprofessionelles Verhalten beschwert. Oder mit anderen Worten – er will Beschwerde einlegen.«
»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst.«
»Mein voller.«
»Sie wollen, dass Natasha sich bei dem Arsch entschuldigt, der seine Familie in ein derartiges Land mitgenommen und damit überhaupt erst in diese Lage gebracht hat?«
»Na, was erwarten Sie von so jemandem?«
»Nicht viel, aber von Ihnen erwarte ich, dass Sie sich verdammt noch mal hinter uns stellen.«
»Vorsicht, Abel. Sie haben bei diesem Einsatz zwei Verletzte mit nach Hause gebracht, einer davon schwer verletzt, und wenn Smart nicht so schnell gewesen wäre, hätte die Sache auch schlimmer ausgehen können.«
»Was daran lag, dass man uns falsche Informationen gegeben hat. Die Männer waren besser bewaffnet, waren trainiert und reagierten auf uns rasch und vor allem professionell. Wenn das ein zusammengewürfelter Haufen von einer Bande war, fresse ich einen Besen. Abgesehen davon – woher kam die Verstärkung? Es hieß, nur diese Gruppe sei für die Entführung verantwortlich. Hätten wir korrekte Informationen bekommen, wären wir mit mindestens drei Einheiten angetreten.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Es ändert aber nichts an der derzeitigen Situation. Wenn Gerling offiziell Beschwerde einlegt, wissen Sie selbst, was passiert. Es gibt mehrere Stimmen in der Politik und aus einigen Behörden, die die Berechtigung dieser Sondereinheit hinterfragen.«
»Weil wir anders gestrickt sind als die anderen, schon klar, die Teams, die aus polizeilichen und militärischen Mitgliedern bestehen. Aber es ist ja gerade der Mix aus Erfahrung und Wissen, was uns so besonders macht, und das wiederum ist anderen Behörden ein Dorn im Auge. Ganz abgesehen von Hartmanns langjähriger Auslandserfahrung und dem Netzwerk internationaler Sonderkommandos, das er mitbringt.«
»Sie brauchen mich nicht zu überzeugen, Abel. Ich hoffe nur, dass Kehlmann die Kuh vom Eis schafft und nicht noch ein Loch in Letzteres hackt.«
»Da habe ich im Moment meine Zweifel«, brummte er. »Aalglatte Typen sind ihr derzeit ein besonderer Dorn im Auge.«
»Oh, da kenne ich noch jemanden«, konterte Wagner und schwieg dann, als sie die Eingangshalle durchquerten.
Der Sicherheitsbeamte ließ seinen Blick über sie gleiten. »Sie wollen auch eine Runde joggen gehen?«
Pit war verwirrt, und auch Wagner blieb stehen. »Auch?«