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»Glaubst du an ausgleichende Gerechtigkeit?« Der zweite Fall für Feline: Dunkelheit, Nebel, der erste Schnee – und dann ein Knall. Noch während Fee zum Unfallort eilt, alarmiert sie den Notruf. Doch jede Hilfe kommt zu spät, der Fahrer ist tot. Fee übernimmt die schwere Aufgabe, die Ehefrau des Opfers zu informieren. Doch was sie vorfindet, übertrifft selbst ihre Vorstellungskraft: Die Witwe feiert mit Champagner den Tod ihres Mannes. Fee ahnt, dass hinter diesem scheinbaren Unfall mehr steckt. Hinweise verdichten sich, als Fee unerwarteten Besuch von ihrem Schwager Paul erhält. Seine selbstgefällige Art sorgt schnell für Spannungen. Doch sein Auftauchen ist kein Zufall – Paul sollte das verstorbene Unfallopfer im Unternehmen ersetzen. Fee steckt plötzlich mitten in einem Netz aus Intrigen und Geheimnissen. Kann sie das Rätsel mit Hilfe von Tom lösen? Oder ist es am Ende das perfekte Verbrechen?
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Ein Fall für Feline
Buch 2
1. Unfall
2. Die Witwe
3. Karin
4. Unangemeldeter Besuch
5. Tom
6. Männer
7. Matthias Isenberg
8. Ehefrauen unter sich
9. Gespräch mit Yvette
10. Gespräch mit Tom
11. Aufstellen eines Boards
12. Befragungen
13. Kurt Niggemann
14. Streit
15. Eine Affäre
16. Gedankenspiele
17. Die Gesellschafter
18. Die dritte Generation
19. Sackgasse
20. Die Jagdhütte
21. Die Tochter
22. Licht im Dunkeln
23. Ein Verrat
24. Weiberfastnacht
25. Beerdigung
26. Verfahren
27. Ein Geständnis
Nachwort
Bücher von Kerstin Rachfahl
Deutsche Erstausgabe September 2024
Copyright © 2024 Kerstin Rachfahl, Hallenberg
Lektorat, Korrektorat: Martina Takacs, dualect.de
Buchcover: Florin Sayer-Gabor - 100covers4you.com
Bilder: Adobe Stock von Volker Loche
Kerstin Rachfahl
Heiligenhaus 21
59969 Hallenberg
E-Mail: [email protected]
Webseite: www.kerstinrachfahl.de
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Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Fee zog den Reißverschluss ihrer Daunenjacke bis zum Kinn hoch. Fünf Grad Celsius bedeuteten für sie zwar keine Kälte – da hatte sie schon ganz andere Temperaturen erlebt –, aber durch die Feuchtigkeit, die vom Boden aufstieg und in den Tälern hing, war die gefühlte Temperatur niedriger. Hinzu kamen Windböen, die durch die Bäume fegten. Einige der dünneren Baumstämme bogen sich unter deren Kraft und federten wieder zurück. Sicherheitshalber prüfte Fee die Wetter-App auf ihrem Smartphone, doch es gab keine Unwetterwarnung. Sie nahm die Hundeleine kürzer. Inzwischen hatten sie auf dem Feldweg vom Wald her kommend die Straße erreicht, die sich den Berg hinauf zum Nachbardorf zog.
»Fuß.«
Ronja, die Nase weiterhin am Boden, kam widerwillig an ihre linke Seite. Die Straße war schmal und hatte keine Mittelstreifenkennzeichnung. Durch ihren kurvigen Verlauf, den dichten Buschbewuchs auf ihrer Seite und die Bäume auf der gegenüberliegenden Seite, wo die Straße nach unten abfiel, war die Einsicht stark begrenzt. Fee verließ sich nicht allein auf ihre Sicht, sondern horchte zusätzlich auf sich nähernde Fahrzeuge. Sie hielt Abstand zu der Pfütze auf ihrer Seite, da sie an genau dieser Stelle bereits einmal von einem Auto von oben bis unten bespritzt worden war. Ronja, ihre rumänische Mischlingshündin, die ihr bis zum Knie reichte, hatte sogar mit dem Wasserschwall einen Stein abbekommen. Die weichen schwarzen Haarspitzen ihrer hängenden Ohren waren mit winzigen Eiskristallen benetzt. Heute war die Sicht durch den Bodennebel zusätzlich eingeschränkt. Als sich ein ungutes Gefühl in ihr ausbreitete, zog sie fröstelnd das Kinn in den Jackenkragen und entschied sich, auf demselben Weg zurückzukehren, anstatt die Straße zu überqueren. Nur um der gewohnten Runde willen würde sie das Risiko nicht eingehen, auch wenn sie ihre Leuchtweste trug und Ronja die Reflektordecke übergezogen hatte, sodass sie beide gut sichtbar waren. Der Schotterweg zurück auf die Höhe war mit Büschen und Bäumen bewachsen, die zunehmend dichter wuchsen.
Sie waren kaum fünfzig Meter weit den Weg hinaufgegangen, als Fee ein Motorgeräusch von der Straße her hörte und kurz darauf einen Aufprall und splitterndes Glas, gefolgt von – einer Explosion?
Fee dachte nicht nach, sondern reagierte. Sie befestigte Ronjas Leine am nächstbesten Baum, holte ihr Smartphone heraus und wählte den Notruf. Kaum hatte sie die Zentrale am Ohr, gab sie in gefasster Stimme die Fakten durch, während sie wieder in Richtung Landstraße lief.
»Mein Name ist Feline Markwart. Ich wurde soeben Zeugin eines Autounfalls auf der Landstraße 717 Bad Berleburg – Berghalle. Der Unfall ereignete sich in Höhe des Wanderparkplatzes, wo es zum Hufstättchen abgeht. Über die Anzahl der Verletzten und die Art der Verletzungen kann ich noch nichts sagen. Bitte informieren Sie direkt die Polizei.«
Inzwischen hatte sie die Straße wieder erreicht. Ein dunkler Pkw stand, die Front komplett eingedrückt, an einem Baum auf der ihr gegenüberliegenden Straßenseite. Glassplitter und Metallteile lagen auf der Fahrbahn. Von der Motorhaube stieg Dampf auf. Sie brauchte das Warndreieck zur Absicherung der Unfallstelle und steuerte den Kofferraum des Fahrzeugs an. Als sie nur zwei Schritte davon entfernt war, hörte sie das Quietschen von Bremsen und hielt die Luft an, wartete auf den Knall, der zum Glück ausblieb. Keine drei Meter von ihr entfernt blieb der Wagen auf der Gegenspur stehen. Die Fahrerin hatte ihr mit ihrer Vollbremsung das Leben gerettet. Fee starrte in das blasse Gesicht eines jungen Mädchens. Fahranfängerin schoss es ihr durch den Kopf. Sie überwand die kurze Distanz, verdrängte den Gedanken, dass sie ihre eigene Sicherheit vergessen hatte, und riss die Tür auf. Die Fahrerin zuckte zusammen.
»Warnblinklicht an, Warnweste anziehen und dann das Warndreieck in der nächsten Kurve hinter dir aufstellen. Aber geh am Seitenstreifen lang und pass auf den Graben auf deiner Seite auf.«
Das Mädchen blickte von Fee zu dem aus dem Motorraum dampfenden Unfallfahrzeug.
»Ist nur Wasserdampf. Die Rettung ist informiert. Beil dich, bevor das nächste Auto kommt.«
Das Mädchen löste sich aus der Erstarrung, wahrscheinlich nicht zuletzt, weil sie sie mit barscher Stimme angefahren hatte. Fee wusste, dass in solchen Situationen nur der Befehlston das gewünschte Ergebnis brachte, und manchmal funktionierte selbst das nicht. Doch bei der jungen Frau klappte es.
Sie wandte sich wieder dem Unfallfahrzeug zu. Beim Umrunden des Autos registrierte sie, dass nur der Fahrer im Auto saß. Aus der Nase des Mannes, der etwa Ende fünfzig sein mochte, floss Blut. Seine Augen waren geschlossen. Fee riss sich von dem Anblick los. Erst die Unfallstelle sichern, dann um den Verletzten kümmern. Der Kofferraumdeckel ließ sich anheben, und drinnen fand sie an einer Seite das in einer leuchtend orangen Plastikhülle verpackte Warndreieck. Rasch löste sie den Klettverschluss, eilte diesmal am Seitenrand entlang und stellte es 150 Meter entfernt auf. Ronja bellte sich indessen im Wald die Seele aus dem Leib. Fee ignorierte es und rannte zum Unfallfahrzeug zurück. Die Fahrertür, völlig im Fahrzeugrahmen verkeilt, ließ sich nicht öffnen. Durch das geborstene Seitenfenster fühlte sie mit Zeige- und Mittelfinger nach der Halsschlagader des Verletzten. Nichts. Aus seinem linken Ohr floss ebenfalls ein dünnes Rinnsal aus dunkelrotem Blut seinen Hals hinab.
Die junge Frau kam zu ihr. Sie hatte eine dick gefütterte dunkelblaue Winterjacke angezogen und darüber die Warnweste an. Sie trat von einem Bein aufs andere.
»Ist er …«
»Ja. Er ist tot.«
»Oh mein Gott, oh mein Gott.«
Das Mädchen schlug die Hand vor den Mund, dann fing es am ganzen Leib an zu beben und schluchzte auf.
Fee atmete tief durch. Sie spürte den Adrenalinstoß in ihrem Körper. Doch für sie war es nichts Ungewöhnliches. Sie kam damit klar. Sachte zog sie die Fahrerin fort von dem Unfallfahrzeug und an den Seitenrand und zog sie in ihre Arme, streichelte ihr sanft über den Rücken und starrte auf den Haufen Blech, der noch kurz zuvor ein Auto gewesen war.
Einer der Sanitäter hatte ihr das Mädchen abgenommen. Fee war zu Ronja zurückgegangen und hatte die Leine vom Baum gelöst. Es dauerte, bis Ronja aufhörte zu hecheln. Die Hündin drückte sich eng an ihr Bein. Ein paar Monate zuvor hätte sie noch versucht, zu fliehen, um sich unter dem nächstbesten Busch zu verkriechen, aber jetzt suchte sie ihre Nähe. Gemeinsam gingen sie zurück zur Kreuzung.
Ein älterer Polizist hatte Dienst, zusammen mit ihrer Freundin Sabine. Polizeihauptkommissar Sänger, so hatte er sich vorgestellt. Ein weiteres Polizeifahrzeug erschien, und gemeinsam fotografierten, markierten und dokumentierten die Beamten die Unfallstelle.
Fee wartete mit Ronja auf dem Feldweg. Herr Sänger nahm die Daten und die Aussage der Fahrerin auf. Die Hände des Mädchens zitterten, sie war immer noch blass und ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander. Sabine nahm ihr den Autoschlüssel ab und fuhr mit ihr zurück ins Dorf. Ihre zwei herbeigerufenen Kollegen folgten ihr.
Die Freiwillige Feuerwehr war zuerst an der Unfallstelle angekommen. Die Feuerwehrleute hatten die Fahrertür mit einer Brechstange aufgehebelt. Kurz darauf war die Polizei eingetroffen, dicht gefolgt vom Notarzt, und zuletzt das Rettungsfahrzeug.
Der Leichnam des Fahrers wurde in einem schwarzen Sack verpackt. Ein Abschleppwagen zog jetzt das Fahrzeug auf einen Anhänger. Fee war froh, dass sie sich warm angezogen hatte. Der zweite Polizeiwagen kam zurück. Sabine stieg aus, und ihre Kollegen fuhren weg. Gemeinsam mit Herrn Sänger kam sie zu ihr auf den Waldweg.
Ihre Freundin atmete tief durch. »Ein mitternachtsblauer BMW.«
Der aufmerksame Blick, mit dem Sabine sie betrachtete, ließ Fee die Stirn runzeln. Was wollte Sabine ihr mit der Nennung der Automarke sagen?
»Als Violas Oma euch zum ersten Mal besucht hat, wolltest du Anzeige gegen den Fahrer eines mitternachtsblauen BMWs erstatten. Er sei mit Vollkaracho in die Kurve gegangen, hätte dabei sein Smartphone in der Hand gehalten und dich und Ronja übersehen. Ronja hat damals einen Stein abbekommen. Klingelt da jetzt was bei dir?«
Fee starrte zurück auf die Unfallstelle. Die Straße war leer. Das Polizeifahrzeug parkte auf der anderen Seite auf dem Weg, der zu einer Grillhütte führte.
»Jetzt, wo du es sagst … Aber ich kann unmöglich sagen, ob es derselbe Fahrer war. Außerdem hatte ich mir das Kennzeichen nicht gemerkt.«
»Sein Handy lag angeschlossen in der Mittelkonsole. Konntest du sehen, ob er es vorher in der Hand hielt?«
»Frau Kollegin, es ist kalt. Ich schlage vor, wir nehmen Frau Markwart mit aufs Revier. Dort können wir die Zeugin in Ruhe befragen, ohne sie mit Suggestivfragen zu bombardieren, die ihre Aussage beeinflussen.«
»Natürlich.« Sabine trat einen Schritt zurück.
Fee blickte von ihr zu ihrem Kollegen und dann auf Ronja. »Möchten Sie, dass ich direkt mitkomme?«, wandte sie sich an den Mann.
»Ja, solange noch alles frisch ist.«
»Dann müssen Sie auch meinen Hund mitnehmen.«
»Kein Problem.«
Gemeinsam mit den Polizisten überquerte Fee die Landstraße. Nichts an der Fahrbahn verriet mehr etwas von einem Unfall, der einen Menschen das Leben gekostet hatte. Die verletzte Rinde am Baum war die einzige Spur, dort, wo der Wagen frontal aufgeprallt war. Sie erreichten das Polizeifahrzeug, und Fee stieg mit Ronja hinten ein. Über Funk kamen Meldungen herein. Sabine saß am Steuer. Der Kollege gab an die Zentrale durch, dass die Straße wieder freigegeben sei. Feline bemerkte Sabines Blick im Rückspiegel. Sie drehte den Kopf zum Fenster und vergrub eine Hand in Ronjas dichtem Nackenfell. Nein, sie würde nicht über den anderen Autounfall nachdenken, der von einem Tag auf den anderen ihr ganzes Leben verändert hatte.
Sie erreichten die kleine Dienststelle im Rathaus von Berghalle. Fee zog ihre Warnweste und die Jacke aus und hängte sie an die Garderobe, verstaute ihre Mütze in der Kapuze und die Handschuhe in der Jackentasche. Sie setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und ließ Ronja sich neben ihr ablegen. Der Polizist nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Er zog die Tastatur zu sich und loggte sich in den Computer ein.
Sabine blieb an der Kaffeemaschine stehen. »Möchtest du was trinken? Und einen Keks? Oder Schokolade?«
»Danke, nichts von allem.«
»Max?«
»Einen Kaffee. Danke.«
Sabine füllte zwei Becher und stellte ihrem Kollegen einen davon auf den Tisch. Sie zog sich einen dritten Stuhl heran und setzte sich neben Fee. Ronja setzte sich auf und legte den Kopf auf Sabines Oberschenkel ab. Abwesend kraulte sie die Hündin.
Max, wie Sabine Herrn Sänger genannt hatte, erfasste zuerst Fees Daten. Er bat sie um die Schilderung der Ereignisse, wenn möglich mit Zeitangaben.
Fee nahm ihr Smartphone und sah auf ihre Anrufliste. Sie kalkulierte eine Minute für ihre Reaktionszeit ein und gab alles, woran sie sich erinnerte, zu Protokoll.
»Sie sagten, sie hätten die Wegbiegung erreicht und zuerst Ihren Hund an den nächsten Baum gebunden. Das bedeutet, dass Sie zu dem Zeitpunkt noch gar nicht wissen konnten, was sich auf der Straße ereignet hatte. Dennoch haben Sie die Notrufzentrale angerufen.«
»Das ist korrekt. Ich rief die Zentrale an, noch während ich Ronja anband, und zur Straße zurückkehrte. Der Aufprall, das explosionsartige Geräusch … Mir war sofort klar, dass es sich um einen Unfall handeln musste.«
»Mhm. Gingen Sie denn nun in Richtung Straße oder hatten Sie zuvor die Straße überquert?«
»Weder noch. Ich kam ursprünglich vom Wald und wollte erst über die Straße gehen, um den Weg an der Grillhütte vorbei zurück zum Dorf zu nehmen, aber stattdessen wendete ich und ging zurück in Richtung Wald.«
»Also standen Sie bei dem Unfall am Straßenrand und wollten zu der Zeit noch die Straße überqueren?«
Fee stutzte nur kurz, bis sie begriff, dass er ihr die Frage bewusst stellte, um den Wahrheitsgehalt ihrer Aussage zu prüfen.
»Nein. Ich hatte mich kurz zuvor dagegen entschieden, da die Stelle bereits ohne Nebel schlecht einsehbar ist. Der Bremsweg verlängert sich auf nassem Asphalt, und bei der Wetterlage ist Straßenglätte nicht auszuschließen. Mir schien es zu risikoreich, hinüberzugehen.«
»Wieso nahmen Sie in dem Fall überhaupt den Weg?«
»Keine Ahnung. Ich hatte im Vorfeld nicht darüber nachgedacht.«
»Mhm.«
Polizeihauptkommissar Sänger tippte auf der Tastatur. Fee mied den Blick zu Sabine. Gerade bildete sich ein Knoten in ihrem Magen. Das Gespräch verlief nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie bekam das Gefühl, unter Anklage zu stehen. Ein absurder Gedanke.
»Sie kamen wann genau wieder an der Straße an?«
»Direkt nachdem ich den Anruf beendet hatte.«
Der Polizist sah sie erwartungsvoll an.
Fee schloss die Augen und versetzte sich noch einmal in die Situation. »Zuerst wollte ich die Unfallstelle sichern, damit kein weiteres Fahrzeug in das Unfallfahrzeug reinbrettert. Ich musste die Straße überqueren, um an den Kofferraum zu gelangen. Bevor ich dort ankam, hörte ich das Quietschen von abgebremsten Reifen. Das Auto von Frau …« Sie sah den Polizisten an.
»Ich habe mit der Zeugin gesprochen.«
»Ich ging zu ihr, wies sie an, das Warnblinklicht einzuschalten, die Warnweste anzuziehen und ihr Warndreieck aufzustellen.«
»Wäre die Fahrerin schneller gewesen, hätte es zu einem weiteren Unfall kommen können.«
»Das stimmt.«
»Weiter.«
»Ich lief schließlich zum Kofferraum des Unfallfahrzeugs, holte das Warndreieck heraus und stellte es in der anderen Richtung etwa 150 Meter entfernt seitlich auf der Fahrspur auf. Danach ging ich zurück und direkt zum Unfallfahrer. Ich prüfte seinen Puls an der Halsschlagader, konnte aber keinen mehr feststellen. Die Airbags waren aufgegangen. Aus seiner Nase und aus den Ohren kam Blut, was auf ein Schädeltrauma hindeutete.«
»Sind Sie Ärztin?«
»Nein.«
»Und woher nehmen Sie Ihr Wissen? Aus dem Fernsehen?«
Fee presste die Lippen zusammen und holte Luft, bevor sie antwortete: »Ich war Rettungssanitäterin und entschied mich erst später dazu, noch zu studieren.«
»Mhm. Hätten Sie in dem Fall nicht zuerst dem Verletzten Hilfe leisten müssen?«
»Nein, man muss zuerst die Unfallstelle sichern, dann Erste Hilfe leisten. Es nützt niemandem etwas, wenn ich mein Leben durch einen Auffahrunfall riskiere.«
»Sie leisteten Erste Hilfe, nachdem Sie die Unfallstelle absicherten?«
»Nein, da im nächsten Moment die Freiwillige Feuerwehr eintraf und kurz darauf Sie.«
»Sie gingen zurück zu Ihrem Hund.«
»Um Sie nicht bei der Arbeit zu behindern.«
»Mhm.« Herr Sänger blätterte in seinem Notizblock. »Die andere Fahrerin sagte, sie sei zu Ihnen gegangen, um Sie bei der Ersten Hilfe für den Fahrer zu unterstützen. Sie hätten gesagt, er sei tot. Dann hätten Sie sie an den Seitenrand gezogen und sie in den Arm genommen.«
Fee hätte sich am liebsten geohrfeigt. Das hatte sie völlig vergessen.
»Ja, das stimmt.«
»Wie konnten Sie sicher sein, dass der Fahrer tot ist?«
»Es war kein Puls mehr zu fühlen.«
»Sie hätten eine Herzmassage vornehmen können.«
»Und wie, exakt? Hätte ich durch das gesplitterte Fenster krabbeln sollen? Und dann?«
Polizeihauptkommissar Sänger betrachtete sie. Fee schaffte es nicht, ihre Gesichtszüge zu kontrollieren, genauso wenig wie ihre Stimme. Der Typ brachte es fertig, ihr unterlassene Hilfeleistung zu unterstellen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ärgerte sich schon wieder. Das war eine typische Geste von jemandem, der sich schuldig fühlte.
»Danke für Ihre Aussage, Frau Markwart. Sollten wir noch Rückfragen haben, würden wir uns noch mal an Sie wenden. Wenn Sie noch einen Moment Geduld aufbringen würden? Ich drucke das Protokoll gleich aus, dann können Sie es lesen und – sofern Sie nichts an Ihrer Aussage ändern möchten – unterschreiben.«
Fee schaute auf ihre Uhr. Es war kurz nach zehn. Viola war im Kindergarten. Zu Hause wartete niemand auf sie. Besser, sie brachte die Angelegenheit direkt hinter sich.
»Kein Problem.«
Schweigen breitete sich in dem Büro aus. Nur das Tippen des Polizisten war zu hören. Der Mann verwendete das typische Sechsfingersystem von Menschen, die zwar viel am PC arbeiteten, aber nie das Zehnfingersystem erlernt hatten. Sabine stand auf und schaltete den Drucker ein.
»Danke«, kam es von ihrem Kollegen.
Der Kerl war nicht verkehrt, dachte Fee. Im Grunde machte er nur seinen Job. Sie reagierte überempfindlich. Der Drucker erwachte zum Leben. Sabine holte die Blätter heraus und reichte ihr das warme Papier. Ronja erhob sich. Sie gähnte, streckte und rekelte sich. Fee schüttelte amüsiert den Kopf. Dem Hund schien die Dienststelle zu gefallen. Aufmerksam las sie das Dokument. Es stimmte mit ihrer Aussage überein. Dennoch zögerte sie, bevor sie den Kuli nahm, den ihr Herr Sänger reichte. Ein weiteres Mal las sie den Text sorgfältig Wort für Wort. Sie fand keinen Fehler. Entschlossen unterschrieb sie das Protokoll an der vorgesehenen Stelle.
Sie schob ihm die Blätter über den Schreibtisch zurück. »Wars das? Kann ich gehen?«
»Von meiner Seite spricht nichts dagegen.«
Fee biss sich auf die Innenseite der Wange. Besser keinen Streit vom Zaun brechen. Etwas an Polizeihauptkommissar Sänger triggerte sie, doch sie schaffte es nicht, den Finger daraufzulegen, was es war.
Mit forschen Schritten, Ronja an der kurzen Leine bei Fuß, schlug Fee den Heimweg ein. Die kalte Luft klärte ihre Gedanken. Sie hätte nichts für den Fahrer tun können, da war sie sich sicher. Statt weiter darüber nachzudenken, überlegte sie, was sie heute kochen oder backen sollte, um ihren Kopf wieder von den Bildern des Toten freizubekommen.
Erschrocken zuckte sie zusammen, als neben ihr ein Auto anhielt. Sabine sah sie aus dem geöffneten Fenster des Polizeibullis an.
»Bist du sauer?«
Fee verdrehte die Augen und schnaubte. »Ja. Es ärgert mich, wenn mir jemand unterlassene Hilfeleistung unterstellt.«
»Ach, Quatsch. Niemand unterstellt dir das. Max nimmt seinen Job ernst, und er kennt dich nicht. Außerdem kam es ihm seltsam vor, dass du dich nicht mehr an die Anzeige erinnert hast.«
»Die ich nicht mal erstattet habe. Ich weiß nicht, ob es das Fahrzeug und der Fahrer waren oder nicht.«
Sabine wiegte den Kopf hin und her. »So viele mitternachtsblaue BMWs fahren auf dieser Strecke nun auch wieder nicht hin und her.«
»Wie auch immer. Ich war Zeugin eines Unfalls. Jemand hat sein Leben verloren. Das geht nicht spurlos an einem vorbei.«
»Du warst ruhig, sehr gefasst. Selbst die Notrufzentrale hat das erwähnt.«
»Ich bin darin geschult, mit solchen Situationen umzugehen.«
»Solchen Situationen?«
Fee stemmte die Hände in die Hüften. »Es reicht. Fängst du jetzt auch noch an?«
»Hey, schon gut. Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du mich begleiten kannst.«
»Bin ich jetzt eine Verdächtige?«
»Nein, Blödsinn. Aber es ist das erste Mal, dass ich einer Frau sagen muss, dass ihr Mann bei einem Unfall gestorben ist. Du hast selbst gesagt, dass du dich mit so was auskennst. Hast du schon mal so eine Nachricht überbracht?«
»Ja. Häufiger als mir lieb ist.«
Sabines Gesichtszüge entspannten sich. »Ach, das ist ja super. Würdest du mitkommen?«
»Bist du dir sicher, dass das für Max in Ordnung ist?«
»Keine Sorge, das nehme ich auf meine Kappe. Einen Seelsorger kann ich immer noch organisieren, wenn ich weiß, welche Konfession – wenn überhaupt – die Witwe hat.«
»Was ist mit Ronja?«
Sabine betrachtete die Hündin. Ihr Kopf war der einer Siebenbürger Bracke, ihr Fell war hell am Körper und endete in schwarzen Spitzen. Das rechte Vorderbein war bis zum Kniegelenk weiß und hatte hellbraune Flecken. »Kann sie zu Hause bleiben?«
»Dann müssen wir erst noch bei mir vorbei.«
»Ich warte vor dem Haus.«
»Sabine.«
»Jepp?«
»Das hier ist eine absolute Ausnahme. Ich mache es nur, weil du es bist.«
»Verstanden.«
Fee schloss die Haustür auf, entledigte sich ihrer Wanderschuhe und der Leuchtjacke, schlüpfte in saubere Turnschuhe und schnappte sich ihre vorzeigbare Winterjacke vom Kleiderhaken. Ronja legte sich auf ihr Kissen im Flur, den Kopf auf den Pfoten, und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Fee holte rasch einen Kauknochen aus dem Haushaltsraum, in dem das Hundefutter und die Hundeleckerchen untergebracht waren. Sie streichelte der Hündin über den Kopf, bevor sie wieder aus dem Haus trat.
Zum zweiten Mal an diesem Tag stieg sie in das Polizeiauto, diesmal auf den Beifahrersitz. Sie betrachtete die Armaturen, das Display, die angeschlossene Tastatur, die sich auf den Schoß holen ließ. Sogar ein EC-Kartenlesegerät gab es.
»Nichts anfassen.«
»Keine Sorge, habe ich nicht vor.«
Sabine steuerte den Bulli geschickt durch die engen Straßen zurück zur Landstraße. Sie passierten die Unfallstelle. Im Geist sah Fee wieder das vor sich, was von dem BMW nach dem Frontalaufprall vor den Baum übrig geblieben war. Dann wechselte das Bild in ihrem Kopf. Ihr eigenes Auto auf dem Hof der Werkstatt. Ein kleiner Haufen Schrott, ohne eine Chance, zu erkennen, von welchem Hersteller es stammte.
Sabine warf ihr einen Seitenblick zu. »Alles in Ordnung?«
»Wahnsinn, wie schnell so was geht. Gerade noch fährst du die Straße entlang, und, zack, bist du tot.«
»Frontal vor einen Baum? Ein Drittel der tödlichen Verkehrsunfälle laufen so ab.«
»Die Frage ist, wieso er überhaupt gegen den Baum gefahren ist. Ich meine, die Straße war frei, der Bodennebel beeinträchtigt die Sicht, aber es gab kein Glatteis. Auf der Fahrbahn waren keine Bremsspuren zu sehen, als hätte er geradewegs auf den Baum zugehalten. Wenn man sich erschreckt, weil ein Reh oder ein anderes Tier auf der Fahrbahn steht, dann bremst man doch. Abgesehen davon hätte Ronja ein Tier in der Nähe bemerkt.«
»Bist du dir sicher?«
Fee zuckte die Achseln. »Vielleicht nicht, wenn der Wind falsch stand oder es von der anderen Seite gekommen wäre. Aber dann wäre er auf der anderen Seite im Graben gelandet, statt an dem Baum.«
»Es könnte auch sein, dass er etwas anderes gesehen hat.«
Fee sah Sabine an, deren Blick konzentriert auf die Straße gerichtet war.
»Du meinst, mich?«
»Du hattest deine Warnweste an, und Ronja auch.«
»Weil das sicherer ist bei den Lichtverhältnissen.«
»Hey, es war nur so ein Gedanke, mehr nicht.«
»Wohin fahren wir überhaupt?«
»Nach Bad Berleburg.«
»Verstehe, daher das Kennzeichen BLB.«
»MI für Matthias Isenberg, und 700. Wenn man das umdreht, ist es 007, weil er sich für James Bond hielt.«
»Nee, ehrlich?«
»Keine Ahnung. Vielleicht bedeutet es auch etwas anderes oder es war einfach die Nummer, die gerade dran war.«
Sie fuhren schweigend weiter, bis sie eine Wohnstraße erreichten, mit Häusern, denen man ansah, dass dort vermögende Menschen wohnten. Sabine hielt vor einem modernen Satteldachhaus mit großen Fenstern im ersten Geschoss. Ein rechteckiger Anbau teilte die Vorderfront in zwei Hälften. Das Haus mit einer klassischen Ost-West-Ausrichtung trug auf der Dachfläche, die zur Frontseite zeigte, achtzehn Solarpaneele in drei Reihen.
Sabine betrachtete durch die Windschutzscheibe den gepflegten Weg zur Haustür, breite Pflastersteine, umrandet mit Beeten von Rheinsteinkieseln, die mit Gräsern, Rhododendron und Buchsbaumkugeln bepflanzt waren. Je zwei Glaskugellampen säumten den Pfad.
»Nicht schlecht. Fehlt nur noch ein Swimmingpool.«
»Vielleicht hinten?«, schlug Fee vor.
»Was, wenn sie nicht zu Hause ist?«
»Dann wirst du herausfinden müssen, wo sie arbeitet.«
»Okay. Bereit?«
»Möchtest du, dass ich die Nachricht überbringe?«
Sabines Augen leuchteten auf. »Das würdest du tun?«
Statt zu antworten, stieg Fee aus dem Auto. Besser den Stier bei den Hörnern packen. Wenn die Frau zu Hause war, hatte sie das Polizeifahrzeug womöglich bereits gesehen und fragte sich, was es zu bedeuten hatte. Ihr war es damals so gegangen, und sie hatte gleich geahnt, welche Nachricht man ihr überbringen würde. Nur dass ihre Schwester zu dem Zeitpunkt noch gelebt hatte.
Fee klingelte. Sabine stand neben ihr und zupfte an ihrer Uniform.
»Mist«, brummelte sie. Mit einem Taschentuch versuchte sie, den Kaffeefleck, den sie entdeckt hatte, zu entfernen.
»Lass das.«
Die Tür wurde geöffnet. Die Frau war mit einem Seidenpyjama und darüber einem Seidenbademantel in Malve mit gestickten roten Blüten bekleidet. An den Füßen trug sie Puschelpantoffeln in Pink mit einer goldenen Glitzerschleife.
Fee blinzelte.
»Ja, bitte?«
Der Blick der Frau huschte von ihr zu Sabine. Sie riss die Augen auf, schlug die Hand vor den Mund und lachte auf.
Fee sah Sabine an, die wiederum sie ansah. Fee räusperte sich. »Frau Isenberg …«
»Nein, nein.« Die Frau beugte sich vor, sah über die Straße, dann nach rechts und links. »Nicht hier draußen. Kommen Sie bitte rein.« Sie versuchte, ernst zu bleiben, presste die Lippen zusammen, aber kaum hatte sie die Tür hinter ihnen geschlossen, fing sie wieder an zu lachen.
Fee und Sabine folgten der Dame des Hauses vom Eingangsbereich in einen Flur. Sie betraten eine moderne Küche. Jede Menge Chrom gepaart mit granitgrauem Schiefer und in weißer Farbe lasiertem Holz. Mitten im Raum stand eine ausladende Kochinsel mit einem Induktionsfeld, einer integrierten höheren Theke und Barhockern davor. Direkt vor der Fensterfront, die auf eine Terrasse und einen Garten blickte, stand ein Esstisch mit gepolsterten Stühlen, klassisch in Weiß gestrichen mit marineblauen Polstern.
Frau Isenberg drehte sich zu ihnen um. »Ist Matthias tot?«
Sabine übernahm das Wort. »Es tut mir leid, Frau Isenberg. Ihr Mann hatte einen Autounfall kurz vor Berghalle in einer Kurve. Er verstarb noch am Unfallort.«
»Nicht doch, nicht doch.« Die Frau hob erneut die Hand vor den Mund und lachte, bis ihr die Tränen kamen.
Fee erwiderte Sabines fragenden Blick mit einem Kopfschütteln. Sie hatte viele Formen der Trauer erlebt, von Ohnmacht über Zusammenbrüche, Weinkrämpfe und Stille bis hin zur Leugnung der Nachricht, die sie überbrachte, immer wieder, mit den Worten, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Eine Verwechslung. Die Reaktion von Frau Isenberg war neu für sie. Sie betrachtete die Ehefrau des Verstorbenen. Sie hatte einen dunkelblonden Bob, der bis zum Kinn reichte, war nicht geschminkt. Ihre Figur tendierte zur molligeren Variante. Üppiger straffer Busen, entweder durchtrainiert oder künstlich oder sie trug einen BH unter dem Pyjama, volle Lippen, lange Wimpern, gepflegtes Gesicht. Die Nase passte nicht. Sie wirkte zu schmal für die Knochenstruktur.
»Möchten Sie einen Kaffee? Oder Champagner?« Die Witwe kicherte.
»Frau Isenberg, Sie haben doch verstanden, dass Ihr Mann einen tödlichen Unfall erlitten hat?«, rückversicherte sich Sabine.
»Aber natürlich. Selbstverständlich. Ich hätte nicht gedacht, dass es einfach so passiert. Gestern erst war ich bei dieser schamanischen Zeremonie und habe diesen Zettel verbrannt. Ich meine, das Universum hat verdammt schnell reagiert, finden Sie nicht? Also, es ist mir jetzt egal, was Sie von mir denken. Ich brauche einen Champagner.«
Erneut wechselten Sabine und Fee einen Blick. Sabine zuckte mit den Achseln.
»Der Leichnam Ihres Mannes ist auf dem Weg nach Bad Berleburg ins Krankenhaus.«
»Ins Krankenhaus?« Augenblicklich verschwand das Lächeln vom Gesicht der Witwe.
»Für die Leichenschau.«
»Wieso Leichenschau?«
»Das ist Vorschrift. Der Notarzt kann keinen Totenschein ausstellen. Das übernimmt ein Arzt. Da wir die Straße nicht länger sperren wollten, hat mein Kollege in Rücksprache mit dem Staatsanwalt entschieden, dass die Leichenschau in der Pathologie des Krankenhauses vorgenommen wird. Wir dachten, dass es hier vor Ort für Sie einfacher sein wird, mit dem Bestatter.«
Fee überwand mit zwei Schritten die Distanz zu der Witwe. Sie schnappte ihr die Champagnerflasche aus der Hand, kurz bevor sie ihr aus der Hand fallen konnte. Sachte nahm sie ihren Arm. »Kommen Sie, setzen Sie sich.«
Frau Isenberg ließ sich willig zu einem Stuhl am Esstisch führen. Fee gab ihrer Freundin ein Zeichen, sich zu der Witwe zu setzen. Rasch sah sie sich in der Küche um. Sie fand den Schrank mit den Gläsern, holte ein Glas heraus, füllte es mit Wasser und stellte es vor Frau Isenberg hin, die vor Kopf saß. Sabine hatte auf der rechten Seite Platz genommen, und Fee wählte die linke. Das Gesicht der Witwe hatte jede Farbe verloren. Sie hob das Glas an den Mund. Ihre Hand bebte. Wasser schwappte über den Rand. Sie setzte es wieder ab.
»Wieso wurde die Staatsanwaltschaft eingeschaltet? Sie haben gesagt, Matthias hätte einen Unfall gehabt.«
»Ein Unfall ist eine nicht natürliche Todesart. In dem Fall muss ein Arzt die Todesursache abklären. Das Ergebnis wird in den Totenschein eingetragen. Sie erhalten eine Sterbeurkunde und können mit dieser alle notwendigen rechtlichen Schritte einleiten.«
Fee sprach in einem sanften, langsamen Tonfall.
Frau Isenberg atmete sichtbar ein und aus. »Verstehe, und die Staatsanwaltschaft?«
»Wird von der Polizei bei einem Unfall informiert, weil auch ein Fremdverschulden ausgeschlossen werden muss.«
»Fremdverschulden?«
»Ein anderes Fahrzeug zum Beispiel.«
»War das der Fall?«
»Nein. Hatte Ihr Mann ein Herzproblem? Hat er Medikamente genommen?« Fee machte eine kurze Pause, bevor sie leise fortfuhr: »Hatte er finanzielle oder berufliche Probleme?«
Sabine warf ihr einen tadelnden Blick zu. Diese Frage zu stellen, lag allein in ihrem Verantwortungsbereich.
»Nein. Nicht, dass ich wüsste.«
»Ist es in Ordnung, wenn Polizeikommissarin Wegner sich in Ihrem Bad umschaut?«
»Natürlich. Selbstverständlich. Die Treppe hoch. Rechts ist direkt das Gästebad. Das andere Bad in unserem Schlafzimmer nutzt Matthias seit längerer Zeit nicht mehr. Er ist vor ein paar Monaten ins Gästezimmer umgezogen.«
Sabine erhob sich. »Können Sie uns sagen, wer Ihr Hausarzt ist?«
»Dr. Frankenstein.«
Die Polizistin blieb abrupt stehen und wandte sich um.
Die Witwe lächelte. »Glauben Sie mir, er kann sich einiges anhören und hat sogar mal überlegt, seinen Namen zu ändern. Frankenstein ist ein durchaus üblicher Familienname in unserer Gegend.«
Sabine ging hinaus.
Frau Isenberg verknotete ihre Finger miteinander. Sie sah auf den Tisch. »Sie denken bestimmt, dass ich mich seltsam verhalte.«
»Jeder trauert auf seine Weise.«
Frau Isenberg hob den Kopf und sah Fee direkt an. »Trauern? Nein. Vielleicht. Es ist eher wie eine Last, die von meinem Schultern fällt.«
»Das sollten Sie gegenüber der Polizei nicht laut sagen.«
»Ich habe nichts zu verbergen.« Sie strich mit der Handfläche über den Tisch. »Ich brauche einen Kaffee. Möchten Sie auch einen?«
»Sehr gern.«
Jede noch so winzige Aufgabe half in einer solchen Situation. Frau Isenberg nahm zwei Tassen aus dem Schrank. »Cappuccino?«
»Nein, danke. Ich trinke meinen schwarz.«
»Ihre Kollegin?«
»Sie ist nicht meine Kollegin. Ich denke, sie nimmt gern einen Cappuccino.«
Frau Isenberg holte einen runden Metallbehälter aus dem Kühlschrank. Mit einem Schlauch schloss sie ihn an den Kaffeevollautomaten an. Sie reichte Fee die Tasse mit dem schwarzen Kaffee, auf dem eine karamellfarbene Crema schwamm. Dazu stellte sie eine silberne Etagere mit verschiedenen Plätzchen und Pralinen auf den Esstisch.
»Bitte, greifen Sie zu.«
Fee nahm aus Höflichkeit einen Keks.
Frau Isenberg steckte sich gleich zwei Pralinen in den Mund. »Sind Sie Seelsorgerin?«
»Nein, ich bin Psychologin und beschäftige mich viel mit Traumata.«
»Sie praktizieren in Berghalle?«
»Nein, aktuell nehme ich eine Auszeit.«
»So was geht?«
Fee sah zu der Tür im Flur. Sie senkte die Stimme und beugte sich ein wenig vor.
Die Witwe nahm sich eine weitere Praline und spiegelte ihre Bewegung.
»Frau Isenberg, Sie sprachen vorhin von einer schamanischen Zeremonie und einem Zettel, den Sie verbrannt hätten?«
»Ach, das. Corinna hat mich zu dieser Hexe mitgenommen. Ich meine nicht so eine hässliche alte verschrumpelte Hexe, sondern so eine moderne alte, ganz nett anzusehen. Wir haben ein Reinigungsritual vorgenommen, mit Gesängen, einer Trommel und einer Kokosnuss. Die mussten wir auf einem Stein zertrümmern. Ist gar nicht so einfach, wie man sich das vorstellt. Zuletzt schrieben wir unsere Wünsche auf Zettel, und die wurden verbrannt.«
»Und auf Ihrem Zettel stand der Wunsch, dass Ihr Mann stirbt?«
»Nein. Das Universum sollte mich von ihm befreien, weil mir die Kraft dazu fehlte.«
»Verstehe.«
»Nein, das tun Sie nicht. Niemand kann verstehen, wie es ist, mit Matthias verheiratet zu sein. Aber egal.« Das Schmunzeln kehrte zurück in ihr Gesicht. »Das alles gehört jetzt der Vergangenheit an, und ich kann mein Leben neu beginnen. In jedem Ende liegt ein Neuanfang.«
Bevor Fee ihr antworten konnte, kam Sabine wieder in die Küche zurück. Ihr Blick wanderte von ihr zu der Witwe, dann auf den Cappuccino, der an ihrem Platz stand, und zu den Pralinen.
»Frau … ähm«, wandte Frau Isenberg sich an Fee.
»Markwart. Ich dachte, dass du gern einen Cappuccino trinken würdest.«
Sabine setzte sich, nippte an der Tasse. »Hm, lecker.«
»Nicht wahr? Der Kaffeevollautomat war ein Weihnachtsgeschenk von Matthias. Die Ehefrau bekommt etwas Praktisches, die Geliebte den kostbaren Schmuck. So ist das. Nehmen Sie eine Praline. Die sind aus Marburg von der berühmten Konditorei Vetter, handgemacht. Nicht zu vergleichen mit diesem am Fließband produzierten Zeug.« Frau Isenberg schob sich das nächste Stück Konfekt in den Mund. »Nur noch heute. Ab morgen ist Diät angesagt.«
Sabine wählte eine schneeweiße Praline aus.
»Gute Wahl. Champagnertrüffel.«
»Ihr Mann hatte eine Affäre?«
»Oh ja. Nicht das erste Mal, aber was soll man von einem verheirateten Mann erwarten, der seine erste Frau mit der Assistentin betrügt? Dass er sich ändert? Nein. Hätte Manuela nicht überreagiert, würde ich heute nicht hier sitzen.«
»Manuela?«
»Manuela Isenberg, seine erste Frau, mit der er zwei Töchter hat. Keine Sorge, Sie brauchen sich nicht darum zu kümmern. Ich werde sie über Matthias’ Tod informieren. Wie lange wird das mit der Leichenschau dauern?«
»Es sollte zeitnah erfolgen, so lautet die Vorschrift.«
»Wunderbar.«
»Wären Sie so nett, Ihren Hausarzt zu informieren, dass Ihr Mann verstorben ist, und ihn von der Schweigepflicht entbinden, damit er uns Auskunft über die Gesundheit Ihres Mannes geben kann?«
Frau Isenberg kniff die Augen zusammen und sah Fee an. »Ist das rechtens?«
»Es beschleunigt die Arbeit der Polizei. Ohne Todesursache kann der Totenschein nicht ausgestellt werden.«
»Ich werde mit ihm sprechen.«
Sabine trank ihren Kaffee in einem Zug aus. »Vielen Dank. Falls Sie Fragen haben …« Sie schob der Frau eine Visitenkarte hin.
Die Witwe nahm die Karte entgegen. Sie sah Fee an. »Würden Sie mir Ihre Nummer geben, falls …«
»Sehr gern. Rufen Sie mich an, wenn Sie Hilfe brauchen. Hätten Sie einen Zettel und einen Stift für mich?«
Frau Isenberg eilte in den Flur.
»Eine Ex-Frau, eine Geliebte und ein Mann, der ohne zu schnell in die Kurve zu fahren vor einem Baum landet«, murmelte Sabine. »Ich denke, da werde ich wohl noch mal mit Max reden müssen, was meinst du?«
»Deine Entscheidung.«
»Du bist nicht zufällig die Geliebte?«
»Was? Nein, verdammt, Sabine, hör auf, so einen Scheiß zu reden.«
»Ich hätte dich nicht mitnehmen dürfen.«
»Hast du Medikamente im Bad gefunden?«
»Nein, nur das Übliche. Erkältungsmittel, Schmerztabletten und was man noch so als Mann braucht.«
Frau Isenberg kehrte mit einem Block und einem Stift zurück. »Tut mir leid, ich musste erst danach suchen.«
»Kein Problem.« Fee schrieb ihre Handynummer auf.
Fee öffnete die Haustür.
Das Haus, in dem sie wohnte, gehörte nicht ihr, sondern ihrem Schwager Paul. Nach dem Tod seiner Frau, die das Fachwerkhaus liebevoll renoviert hatte, war Fee mit seiner Tochter dort eingezogen.
Hatte Paul das Haus überhaupt jemals betreten? Die Handschrift ihrer Schwester steckte in jedem winzigen Detail. Sie hatte das Innenleben des Hauses modernisiert, ohne dabei das Ambiente zu verändern. Fee liebte es. An diesem Ort fühlte sie sich mit ihr verbunden. Sie hätte sich nicht gewundert, wenn Maja singend, tanzend und lachend durch die Tür gekommen wäre. Ihre Fröhlichkeit vermisste Fee am meisten. Selbst in den dunkelsten Momenten ihres Daseins hatte ihre Schwester die Fähigkeit besessen, das Leben zu umarmen.
Paul war von seiner neuen Firma für ein Jahr nach Singapur geschickt worden, wo er für das deutsche Unternehmen den asiatischen Markt aufbaute, bevor er die Position des kaufmännischen Geschäftsführers hier vor Ort im Sauerland übernehmen würde. Fee hatte ihre Wohnung in Hattingen für die Zeit untervermietet.
Fees Nichte liebte das Haus. Durch ihre Freundin Julia, die nebenan wohnte, und ihren besten Freund Timo, den Sohn von Sabine, war die kindliche Ausgelassenheit langsam in ihren Alltag zurückgekehrt. Trotzdem vergaß Viola es nie, ihrer Mutter abends zu erzählen, was sie am Tag alles erlebt hatte, so als würde sie bei ihr im Bett liegen und zuhören.
Paul hatte das Verhalten seiner Tochter zutiefst irritiert, als sie Weihnachten mit ihm bei seinen Eltern in Hamburg verbrachte. Die Überzeugungskraft eines befreundeten Kollegen von Fee war nötig gewesen, damit er verstand, dass Viola nicht verrückt war. Nur ein paar Monate blieben Fee noch, um ihrer Nichte den Rücken zu stärken und ihr zu helfen, mit dem frühen Verlust ihrer Mutter klarzukommen, bevor sie wieder nach Hattingen zurückkehren würde.
Ronja lag nicht mehr auf ihrem Kissen im Flur. Sie kam auch nicht zu ihr, um sie zu begrüßen. Fee runzelte die Stirn. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen, und als sie den Raum betrat, entdeckte sie die Hündin vor der Terrassentür hockend. Auf der anderen Seite der Scheibe saß hoheitsvoll Bartimäus, den Schwanz elegant über die Vorderpfoten drapiert. Er richtete die jadegrünen Augen auf sie. Fee blieb stehen. Er fixierte sie, und das Gefühl beschlich sie, eine Maus in der Falle zu sein. Ronja erhob sich, schüttelte sich und kam zu ihr. Das löste den Katzenbann.
Sie kraulte ihre Hündin, die mit der Rute wedelte, dass die Bewegung sich durch ihren gesamten Körper fortsetzte. »Na, der hat uns beide ganz schön im Griff. Sollen wir ihn reinlassen?«
Ronja bellte. Fee verstand nicht, wie die Freundschaft zwischen den beiden so unterschiedlichen Tieren funktionierte. Katzen und Hunde verwendeten verschiedene Körpersignale, was normalerweise zu Missverständnissen führte, doch der Kater schaffte es, Ronja klarzumachen, was er von ihr wollte. Im Herbst hatte sie die beiden einmal friedlich beieinander in der Sonne schlafend vorgefunden. Im Gegensatz zu ihrer verstorbenen Schwester, die ein absoluter Katzenmensch gewesen war, fand Fee Katzen mit ihrer Unabhängigkeit und ihrer – wie sie fand – mangelnden Loyalität blöd. Bartimäus allerdings war ein Kater, der sie aus irgendeinem Grund faszinierte.
Sie öffnete die Terrassentür. Statt ihr Angebot direkt anzunehmen, fixierte der Kater sie ein weiteres Mal. Sie trat zur Seite, und erst dann schlich das Katzenwesen auf leisen Pfoten durch die Öffnung. Sofort legte Ronja sich hin und beobachtete, wie der Kater gemächlich das Wohnzimmer durchquerte und durch den Flur in die Küche schritt, gefolgt von Fee. Vor dem Kühlschrank blieb er stehen. Es war ihr ein Rätsel, woher Bartimäus wusste, wann eine offene Katzenmilch im Kühlschrank stand und wann im Hauswirtschaftsraum. Die Tatsache, dass sie überhaupt Katzenfutter im Haus vorrätig hatte, irritierte sie zutiefst. Sie holte das Schälchen, füllte es mit der Milch und stellte sie dem Kater auf den Boden. Nicht dass er sich darauf gestürzt hätte, nein, er sprang aufs Fensterbrett des Küchenfensters und starrte auf die Küchenuhr. Fee folgte seinem Blick.
»Ach du Scheiße«, fluchte sie. Ihr blieben knapp dreißig Minuten, um ein Mittagessen auf den Tisch zu zaubern. Dann gäbe es heute statt der geplanten Kürbiscremesuppe eben Spaghetti mit einer Gemüsesahnesoße. Dass Bartimäus vom Sims sprang und sich seiner Milch widmete, bekam Fee nur noch am Rande mit.
Fee öffnete die Tür, vor der Viola und Julia mit knallroten Wangen standen.
»Was gibt es heute?«
»Spaghetti mit Gemüsesahnesoße.«
»Welches Gemüse?«
»Rote und gelbe Karotten, Pastinakenstreifen und grüner Spargel.«
»Okay, ich esse mit.«
Typisch Julia. Fee grinste. Sie hatte sich angewöhnt, immer ein wenig mehr zu kochen.
»Erst musst du das mit deiner Mutter oder deinem Vater klären.«
»Die sind beide bei der Arbeit.«
»Was ist mit Grit?«
»Die hat Nachmittagsunterricht und kommt erst später.«
»Marlene?«
»Die hat bestimmt nichts gekocht.«
»Dann ruf sie an und frag, ob sie mitessen möchte.«
Julia zog einen Schmollmund, streckte aber die Hand aus. Fee wählte die eingespeicherte Nummer vom Festnetz der Familie Brieden und reichte ihr das Smartphone.
»Hi. Ich esse bei Fee. Wenn du magst, kannst du mitessen. Es gibt Spaghetti und zum Nachtisch ein Eis.«
Mit einem Grinsen gab Julia ihr das Telefon zurück.