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Lassen Sie sich von einer Mörderin fesseln, die zehn Menschen auf ihrem davon völlig unbelasteten Gewissen hat. Viola Kroll, eine erfolgreiche, schöne und gut situierte Lektorin aus Berlin, ist eine aparte und kluge Person. Und doch ist sie aus dem gleichen psychopathischen Holz geschnitzt, aus dem auch manche Präsidenten und Topmanager gemacht sind. Was hat sie dazu gebracht? Morden ist für Viola eine Kunst. Jeder ihrer Morde bringt sie ihrem Ziel näher, ein perfektes Kunstwerk zu erschaffen. Die Künstlerin kommt der Perfektion sehr nahe. Nur dumme Zufälle bringen Polizei auf ihre Spur. Gegen das Glück der Dummen haben Kunst, Intelligenz und Planung kaum eine Chance, und so gerät Viola in Gefahr, dass ihre Höhenflüge bald enden … Viola Kroll mordet spurlos. Bis sie eines Tages an einen ebenbürtigen Kollegen gerät, auch er ein verborgen lebender Mörder aus dem Literaturbetrieb, und zugleich wegen seiner Anonymität ein perfektes Opfer für Viola. Doch ihre Opfer machen Fehler. In mühsamer Kleinarbeit nähert sich ihr die Polizei. Wird sie Viola einholen? Nick Stein präsentiert uns eine sympathische Mörderin, bei der es schade wäre, wenn die Polizei sie schnappen würde. Lernen Sie Viola kennen und lassen Sie sich von ihr einwickeln! Oder setzen Sie auf Kommissar Lukas Jansen, der sie schnappen will, komme was wolle…
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Seitenzahl: 406
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Nick Stein
Atelier des Todes
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Die Mörderin
Die Polizei
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Mörderin
Die Polizei
Die Polizei
Die Polizei
Die Polizei
Die Mörderin
Impressum neobooks
Atelier des Todes
Teil zwei der Serie
Blutbücher
Nick Stein
Wenn Frauen zu viel morden…
Die Wiege der Mörderin
Als die kleine Viola wohlriechend und hübsch in ihrer Wiege lag, sah ihr niemand an, dass eine Karriere als erfolgreiche Mörderin vor diesem niedlichen Kind lag. Eine böse Fee war nicht anwesend, als Violas Eltern in bester Gesellschaft die Geburt ihres Kindes feierten.
Kein Fluch lastete auf ihr.
Ihr Vater nannte sie zärtlich Vi, ihre Mutter liebevoll Ola. Unterschiedliche Namen: War dies der erste Riss in der Persönlichkeit dieser jungen und wohlbehüteten Dame?
Wie entwickelte sich die junge Viola?
Es muss Gründe geben, wenn ein behütetes und sorgenfreies Mädchen später reihenweise Menschen ums Leben bringt. Welcher Mensch möchte das schon, dass jemand aus den eigenen Kreisen reihenweise Mitmenschen ermordet. Wie leicht könnte man selbst zum Opfer werden!
Passen Sie auf, wenn Sie jemand schief ansieht oder sich in aller Freundlichkeit erbietet, Ihnen Zucker in den Tee zu geben. Es könnte Ihr letzter sein.
Die Rede ist von einer wohlerzogenen, gesitteten und angenehmen Gesprächspartnerin, die man sich gut als Schwiegertochter vorstellen könnte. Einer Frau, der man die Psychopathin nicht anmerkt; die Massenmörderin, die mit dem kalten Kalkül der Notwendigkeit und aus Bequemlichkeit tötet, nicht aus den niederen Instinkten Wut und Hass oder aus Hilflosigkeit. Auf jenen Typus von Mördern wird die Rede noch kommen.
Im Nachhinein weiß jedermann genau, warum es so und nicht anders ausgehen musste. Alle hatten schon immer so einen Verdacht und haben es lange vorher geahnt.
Die Gene sind schuld, werden einige sagen. Ein Fingerzeig, der heutzutage für das steht, was in früheren Zeiten Vorsehung und Schicksal hieß.
Viola hatte ausgezeichnete Gene mitbekommen.
Ach was, einzig und allein Erziehung und Umwelt haben sie geformt, wenden andere ein.
Viola hatte die bestmöglichste Erziehung genossen, die man in Berlin bekommen konnte. Das kann es nicht gewesen sein.
Die Vorsichtigen wiegen mahnend den grauen Schädel und weisen uns darauf hin, dass beides eine Rolle spiele.
Man könne das nicht einfach auf das eine oder andere reduzieren. Das wäre doch alles verwickelt und verzwickt. Kaum jemand wäre in der Lage, das in seiner ganzen Komplexität richtig zu verstehen.
Es hätte doch alles auch ganz anders kommen können, wenn da nicht zufällig dies und jenes passiert wäre. Man weiß es nicht, man weiß es nicht!
Die erwachsene Viola hätte aus ihrem Herzen keine Mördergrube gemacht und berichtet, dass es sich so ergeben hat. Dass es zielführend war. Dass es sogar Spaß gemacht hat. Lust. Die ihr immer noch Herz und Schoß wärmt.
Wenn Viola denn darüber ein Wort verloren hätte. Denn vom redseligen Typ war sie nicht. Sie hätte sich nie herabgelassen, ihre geistigen, künstlerischen und mörderischen Höhenflüge von Zuhörern verwässern und beschmutzen zu lassen.
Worüber man nicht reden kann, darüber kann man sich zumindest ordentlich freuen.
Ihre Mutter, Genoveva Kroll, geborene Heinemann, war mit den berühmten Wittgensteins verwandt, über drei Ecken, wie Genoveva gern ungefragt erzählte. Sie hatte deren aristokratisches Aussehen geerbt. Hochgewachsen, blond, strahlend helle blaue Augen, schlank.
Selbst die letzten Kriegsjahre, in denen sie aufgewachsen war, hatten es nicht vermocht, ihren aufrechten Gang und ihren Sinn für das Gute, Schöne und Bare zu brechen.
Natürlich trug die Mutter keine Mördergene in sich. Ihre Erziehung war makellos gewesen, und so wollte sie ihr Erbe weitergeben. Viola, spätgeborenes Einzelkind, sollte ihr spiegelblank geputztes tafelsilbernes Ebenbild werden, um eine Stufe erhöht.
Ola sollte gebildet sein, Tennis und Golf spielen, Dressur reiten, Musik und Literatur beherrschen. Und halte auf dich, Kind, sonst wird nichts aus dir!
Materiell reich beschenkt, sah die kleine Viola auch noch hervorragend aus. Was für ein edles Profil sie hat, meinte die arme Verwandtschaft, ohne schmeicheln zu wollen. Denn das brachte nichts ein; im Hause Kroll gab man nichts auf Schönrederei, weder gute Worte noch Brot und Schinken.
An ihrem Aussehen waren tatsächlich die Gene schuld. Das schafft die Umwelt nicht, aus einem hässlichen Entlein einen Schwan zu machen. Auch ihr Vater, Julius Kroll, geborener Kroll, sah erstklassig aus, weshalb sich Genoveva Heinemann schlussendlich für ihn entschieden hatte.
Der andere Grund für das verarmte Fräulein Heinemann hatte darin gelegen, dass Krolls Vater sich als Produzent strategisch wichtiger Waren gut über den Krieg gerettet hatte.
Gustav Kroll hatte keine Waffen hergestellt, was ihm die Alliierten schlecht angekreidet hätten, sondern die Werkzeugmaschinen dafür, mit denen bei Bedarf auch andere Güter hergestellt werden konnten. Kroll war nicht einmal Parteimitglied gewesen, nur Förderer der lokalen freiwilligen Feuerwehr.
Er hatte gelöscht, nicht gezündelt.
Auch dies war kein Wesenszug, der seinem Sohn und später seiner Enkelin eine Veranlagung zum Morden mitgegeben haben könnte. Zumal er mit seiner Firma im Wiederaufbau so viel Geld erwirtschaftet hatte, dass er nicht einmal die Steuer betrügen musste.
Kein Kristallisationskern von Kriminalität hatte sich so in Julius bilden können, der als einziger Sohn vom Krieg übrig geblieben war und alles geerbt hatte.
Und das hatte Genoveva noch mehr überzeugt als Julius’ gutes Aussehen. Denn die Kunst, den Krieg zu überleben und während aller Wirren seine Schäfchen im Trockenen zu halten, zeugte von Tatkraft und Intelligenz. Das Geld war lediglich die logische Dreingabe, wie Genoveva Heinemann sich selbst gegenüber überzeugend argumentierte.
Mitte der Sechziger heirateten Julius Kroll und Genoveva, und ihr Geschäft gedieh so gut wie ihr Einfluss in der Gesellschaft. Das Paar zog vom Osten nach West-Berlin, in die Enklave der Freiheit.
Dann muss es eben andere Einflüsse gegeben haben, die aus Viola das machten, was sie heute ist, hören wir. Ohne Grund wird so eine doch nicht zur Mörderin! Die hat es doch nicht nötig!
Mord aus Notwendigkeit?
Wir denken an die gequälte Ehefrau, die vor Gericht aussagt, es wäre nicht mehr anders gegangen, sie hätte sich nicht mehr zu helfen gewusst.
An einen gemobbten Lehrer, der zum Überleben keinen anderen Ausweg mehr sieht, als den Quälgeist von Schüler mit seinem Auto zu überfahren.
Das verstehen wir. Wir heißen es nicht gut, aber wir verstehen es. Nur wären diese Fälle kein Mord gewesen. Zwar war ein Vorsatz vorhanden, es fehlten aber die kaltblütige Planung und die niederen Motive, wie Habgier oder Sadismus. Der echte Mörder weiß und billigt, dass er eine rote Linie überschreitet.
Zurück zu unserer Viola.
Wenn sie in den frühen Achtzigerjahren geboren worden war, als einziges Kind eines reichen und angesehenen Paares, waren die Eltern schon jenseits der Vierzig. Klar, für den Mann vielleicht kein großes Problem, aber eine Mutter? Mit über Vierzig?
Da sind die Gene doch schon mutiert, hören wir. Rauchende Schornsteine und saurer Regen, Strahlung aus den neuen Kernkraftwerken, das macht doch die beste DNA kaputt.
Die Umwelt auch, gerade in Berlin, Mensch, das zerstört die wohlerzogenste Psyche, wenden andere ein. Die Insellage, diese Leute in Kreuzberg, ein korrupter Senat, die Mauer.
Und die Gewissheit, von außen versorgt zu werden, es soll dir nicht mangeln, da meint man schnell, man könne sich alles erlauben.
Sehen Sie sich doch nur die Kinder der Gutsituierten in den Siebzigern und Achtzigern an! Alle in der APO, in K-Gruppen und deren Nachfolgeorganisationen! Berlin ist doch voller Langhaariger und linker Spinner!
Ein behütetes Kind wie Viola, ein zartes, blondes Mädchen, das schon beinahe eine Etüde von Mozart auf dem Klavier konnte, soll plötzlich in eine Kita mit all den Kindern dieser linken Besserwisser? Womöglich den Nachmittag zusammen mit den anderen Kindern in irgendwelchen Wohngemeinschaften verbringen, wo die Leute Hasch rauchen und vor aller Augen rumvögeln? Vor den Kindern! Das soll sie nicht verdreht haben?
Lassen wir die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche besser am Breitscheidplatz. So schlimm wird das nicht gewesen sein. Viola lebte in Dahlem, nicht in Kreuzberg. Violas Freundinnen im Kita-Alter waren alle wie sie, verrückt nach rosa Ponys für Barbie, die sie kämmen konnten, und nach schönen Sachen zum Anziehen.
Und selbst die Radikalinskis aus den Siebzigern waren zehn Jahre später von den Spießbürgern, die sie so vehement kritisiert hatten, kaum noch zu unterscheiden.
Das alles tropfte von Viola ab wie Morgentau von einer Rose.
Was bleibt an Zündschnüren übrig, die in Viola glommen?
Sehen wir uns die minderen Charakterzüge der Eltern an.
Die kleine Genoveva hatte schon früh gelernt, dass ihre Familie mütterlicherseits mit dem arischen Zweig der Familie Wittgenstein verwandt war, nicht etwa mit dem jüdischen. Das hatte sie schon mit vier vor jedem, der es nicht wissen wollte, herausgeplärrt.
Es war nicht einmal gelogen, aber doch kokett und sehr unkameradschaftlich dem Rest der Verwandtschaft gegenüber, Ludwig Wittgenstein eingeschlossen. Ein kleiner, schwarzer Fleck auf dem Tafelsilber ihres Charakters, der sich partout nicht wegputzen ließ.
Ein winziger Verrat. Ein Im-Stich-Lassen von anderen zum eigenen Nutzen. Ein Schuss Selbstgerechtigkeit. War es das, dieses Manko im Charakter? Aber tun wir das nicht alle, unseren Vorteil wahren und dafür kleine Unebenheiten in Kauf nehmen? Macht uns das zu potenziellen Mördern? Ich bitte Sie! Uns doch nicht! Mich nicht, und Sie, liebe Leser, schon gar nicht. Lesern reicht Gruseln und Entsetzen aus zweiter Hand, wirklich bei einem Mord dabei sein möchten niemand.
Die bange Frage an uns alle lautet nun:
Wenn eine so gestandene, integre und gut situierte Person zur mehrfachen Mörderin wird, steckt dieses Potenzial womöglich auch in jedem von uns? Wie dünn ist unsere Glasur über der Gewalt? Sehen Sie – ja, Sie da! Leser! Sehen Sie sich mal um, wen würden Sie am liebsten umbringen?
Haben schon mal daran gedacht? Na? Vielleicht nicht gerade jetzt, aber von der Person, an die Sie da gerade denken, hatten Sie schon mal so was von die Nase gestrichen voll, dass es Ihnen schon in den Fingern gejuckt hat, geben Sie’s zu. Damit gedroht haben Sie jedenfalls schon mal, im Zorn, wir haben’s alle gehört.
Wir lesen viel davon, dass es die Gequälten und Benachteiligten sind, die Opfer, die selbst zu Tätern werden. Die misshandelten und vergewaltigten Kinder, die grausam Rache üben, die verdrehten Psychopathen, die der Welt ihr ganzes Elend zurückgeben.
Die mag es geben, und viele gönnen sich diesen kleinen Grusel – davon zu lesen und dem doch entgangen zu sein.
Viola gehörte nicht zu den Unholden, den Triebgestörten und sozial verdrehten Monstern. Im Gegenteil. Sie gehörte zum Goldrand der Gesellschaft. Sie gehört sogar immer noch dazu. Aber wir wollen nicht vorgreifen.
Die meisten echten Morde funktionieren anders. Meist finden sie in Beziehungen statt oder aus Habgier. Aus lange unterdrücktem Missfallen wird Wut, aus Zorn erwächst die impulsive Tat. Oder sie sind situationsbedingt. Etwas kocht hoch, und Rumms!
Ein Einbrecher wird vom Hausherrn erwischt, der eine Schrotflinte in der Hand hält. Die ist nicht geladen, doch das weiß der Einbrecher nicht. Er schießt, der Hausherr ist tot. Bleich erscheint die Ehefrau im Türrahmen. Sie hat alles gesehen und gehört, die Hand vor dem Mund. Die erschießt er zur Sicherheit gleicht mit. Ein Totschlag, gefolgt von einem Mord. Passiert.
Ein bis zur Weißglut verärgerter und sich völlig zu unrecht bedrängt fühlender Ausländerfeind stößt einen indischen Mathe-Studenten, der im Begriff stand, die Fields-Medaille zu gewinnen und der Humboldt-Universität zu neuem Ruhm zu verhelfen, vor die U-Bahn. Auch schon passiert. Oder es wird noch passieren. Warten Sie’s ab.
Bei einer Kneipenschlägerei zieht einer ein Messer, der andere haut ihm eine Flasche auf den Schädel. Das gibt hässliche Schnittwunden, die genäht werden müssen, oder eine weitere Beerdigung.
Bitte ergänzen Sie selbst diese Liste um Ihnen bekannte Fälle. Oder schreiben Sie’s dem Autor, dann kommt das in einen der nächsten Krimis. Versprochen.
Die meisten Morde entstehen aus häuslicher Gewalt. Bei Viola Kroll, die nur einmal und mit einem unscheinbaren Männlein verheiratet war, fällt auch dieser Grund aus. Wir kommen darauf später noch zurück.
Alle bisher genannten Motive treffen also auf Viola Kroll nicht zu.
Leider können wir es uns nicht so einfach machen und sagen, na ja, das lag eben an ihrer Kindheit, oder an Onkel Gerd, der sie mal da unten angefasst hat, oder an der aufgeheizten Atmosphäre beim Mauerfall, wo ihr ein Vopo seine Maschinenpistole in die Hand gedrückt hat, bevor er jubelnd in den Westen entwichen ist.
Leider nicht.
Wir werden Viola also eine Weile begleiten müssen und sehen, wie sie geworden ist, was sie ist. Angesehen und berühmt und eine mindestens zehnfache Mörderin. Wird man ja nicht so ohne Weiteres. Wie viele Leute haben Sie auf dem Gewissen? Keinen? Das haben wir uns schon gedacht. Sonst würden Sie nicht nach solchen Titeln greifen, sondern selbst zur Tat schreiten. Oder lesen Sie dieses Buch etwa gerade in der Gefängnisbibliothek?
Gleichzeitig lassen wir auch die Polizei zu Wort kommen. Einer muss so einer Täterin schließlich das Handwerk legen. Eine mehrfache Mörderin, berühmt und reich? Bitte? Wo kommen wir denn da hin, wenn so was frei rumläuft?
Wobei die Geschichte mit der Polizei etwas handwerklicher daherkommt als die Geschichte des einfallsreichen Mordens. Das Böse zieht uns magisch an, das Gute ist langweilig.
Hand aufs Herz: Wie ist das bei Ihnen selbst? Sie wollen hier doch etwas über Blut und Tod und Gewalt und Grusel lesen, oder? Sonst hätten Sie ein Buch über Gandhi gekauft.
Trotzdem natürlich vielen Dank, dass Sie dieses Buch gekauft haben.
Ein Buch über Gandhi oder eines vom Dalai Lama erwerben Sie bitte auch noch. Seien Sie auch dafür bedankt.
Glamour und Tristesse
Wir können bereits erahnen und werden noch davon lesen, was für eine Frau Viola Kroll war. Effizient, klug, schön, zielbewusst. Frei von Gefühlen und Reue. Eine Frau auf einer Mission zum Erfolg. Eine Frau mit einer guten Herkunft, ausgezeichneter Bildung, fantastischem Aussehen und großem Charisma.
Eine Traumfrau mit exzellenten Beziehungen. Eine Profi-Lektorin, die ihrem Verlag und sich selbst zu tollen Erfolgen verholfen hatte. Eine reiche junge Dame, die später die Wirtschaft am Lago Maggiore ankurbelte.
Eine Kulturschaffende, die Talenten zum Durchbruch verholfen hatte, den diese niemals von sich aus erreicht hätten. Eine Geburtshelferin guter Literatur. Eine Muse.
Was kann eine Frau mehr tun, als gute Bücher an die Öffentlichkeit zu bringen und damit die Welt ihrer Vollendung ein Stück näher zu bringen?
* * *
Wie trist ist dagegen die Arbeit der Polizei! Statt dem Guten, Schönen und Wahren (ersatzweise: Baren) hinterherzujagen, muss sie im Kot der Gesellschaft wühlen. Sie muss denen folgen, die gegen die Regeln verstoßen.
Sie kann die grauenhaften Dinge, die sich die Gesellschaft antut, nur selten verhindern; sie muss hinter der Gesellschaft aufräumen und die Missetäter aus dem Verkehr ziehen. Arme Kerle, diese Müllmänner des sozialen Drecks.
Hart arbeiten, schlecht bezahlt werden und das für den Preis kaputter Familien. Das ist das Los eines Polizisten.
Die Gesellschaft setzt sich Regeln, die Polizei muss sie durchsetzen. Sie muss den Verkehr regeln. Sie muss häusliche Gewalt mitansehen und die Folgen erklären. Sie muss nach all denen suchen, die den Regeln und Menschen Gewalt antun.
Sie muss Berichte schreiben. Sie muss in Sitzungen zuhören. Sie muss Diagramme an die Wand malen. Fotos und Spuren suchen. Sie muss schon wieder irgendwohin fahren, nachts, während der Ehepartner weiter schlummern darf, was früher oder später unweigerlich zu Krisen führte.
Sie muss sich anschießen lassen. Sich von Demonstranten in die Eier treten lassen. Mit Farbbeuteln bewerfen lassen.
Sie muss in jede stinkende Ecke des Landes schauen, die Toten begutachten, die Vergewaltigten in die Klinik bringen, den Betrügern das Handwerk legen. Sie alle auf frischer Tat ertappen, was niemals wirklich gelingt.
Die Polizei kann nur hinter dem Verbrechen hinterherräumen. Müllmänner.
Die Polizei, wir sagten es bereits, muss in der Scheiße der Gesellschaft wühlen und daraus die ganz schlechten Elemente aussortieren. Kein Job, den man sich freiwillig heraussuchen würde.
Wir alle sitzen lieber auf dem Sofa oder liegen im Bett und sind heilfroh, dass uns nichts zustößt, geben wir’s doch zu! Ein bisschen Gruseln als Beitrag zur sozialen Sicherheit. Reicht das? Geben Sie doch bitte mal etwas von all dem Guten weiter, das Ihnen widerfährt.
Trotzdem, bei all der Öde, all dem Grauen, all dem Unrat: Es gibt sie, die Polizisten, die hartnäckig dafür sorgen, dass alles seinen (in Violas Fall: ihren) Richter findet. Sie machen ihren Job.
Es gab einen, der tat das sogar gern. Auch wenn er den Fall, der ihn zum Schluss zu Viola Kroll führen sollte, liebend gern abgegeben hätte, weil er Wichtigeres und Besseres zu tun hatte.
So glorreich und strahlend Violas Karriere war, so schön ihr Leben verlief, beendet wurde beides durch die hart arbeitende, gestresste und todmüde Polizei, von der sie Welten trennte.
Ein alter, müder Mann und ein unerfahrener, naiver Jungspund weigerten sich, einfach so aufzugeben. Wie fade, wie schade, dass so ein wunderbarer Weg wie der von Viola Kroll, gesch. Wunderlich, durch solch triste Polizeiarbeit zu Ende kommen sollte!
Die Polizei brauchte eine Weile, bis sie dort war, wo sie hinwollte. Anfangs war sie Lichtjahre hinter Viola zurück.
Mit der Zeit und mit viel Geduld holte sie auf. Wir tauchen jetzt ein in den langweiligen und mühsamen Kosmos der Polizei und begeben uns auf die Spuren eines Killers, der die Polizei zu Viola Kroll führte: Gerd von Witzleben alias Gerd Winzmann (neben weiteren Pseudonymen, denen wir noch begegnen werden).
Der hatte einen Mann auf dem Gewissen, der eine Freundin bei der Polizei hatte. Diese Freundin hatte ein hohes Tier bei der Polizei zum Ehemann. Dieser Mann, Polizeioberrat Dr. Klose aus Hamburg, brauchte einen Dummen, der ihm die bohrenden Fragen seiner Gemahlin beantworten half.
Er fand einen Jungspund, der ganz andere Dinge im Sinn hatte. Er wollte bei seiner Freundin sein, die mit Zwillingen von ihm schwanger war und die einen eigenen Fall für ihn hatte, der ihn viel mehr interessierte.
Der junge Mann, Lukas Jansen, hatte kaum Erfahrung, und wollte Dr. Kloses Anliegen so schnell wie möglich wieder loswerden. Und ausgerechnet der sollte unserer Viola Kroll gefährlich werden?
Beginnen wir wie immer am Anfang.
Der Auftrag
An einem Montag hatte die Einsatzleitung in Kiel etwas für den jungen Lukas Jansen. Er sollte sich doch bitte um eine Vermissten-Anzeige kümmern. Die Kieler Polizei hatte alle Hände voll zu tun, die erfahrenen Kollegen wurden anderswo gebraucht.
Zu allem Überfluss stammte der Vermisste aus Hamburg, nicht aus Schleswig-Holstein. Allerdings lag der Verlag, in dem er arbeitete, in Reinbek, also in Schleswig-Holstein, wenn auch gleich hinter der Grenze zu Hamburg.
Jansen wurde seitens der Landespolizei Hamburg kooptiert, hatte ihm der Einsatzleiter erklärt. Was hieß, dass die Hamburger keinen anderen Dummen für den Job gefunden hatten, wie ihm sein Kumpel Onno auseinandersetzte.
Jansen musste sofort los. Es gab einen Zeugen. Dieser Mann war der letzte, der den Vermissten gesehen hatte. Der eigentlich dafür zuständige Beamte war allerdings seit zwei Tagen in Urlaub. Zur Seite würde Jansen eine erfahrene Polizeimeisterin stehen, Frau Mertens, eine etwas korpulente und unattraktive Mittvierzigerin.
Der Hamburger Vermisste war ein bekannter Lektor von einem ebenso berühmten Verlag aus Reinbek. Nachdem er sich ein paar Tage im Dienst auffällig verhalten hatte, schroff, desinteressiert und lustlos, hatte ihm sein Chef ein paar Tage Urlaub verordnet. Den hatte er überzogen, was bis dahin nie vorgekommen war.
Wohin er gefahren war, wussten weder seine langjährige Freundin noch Kollegen oder Chef.
Zu guter Letzt war er in die Firma zurückgekehrt, mit einem schweren Kopfverband, und mit einer Anzeige gegen ihn wegen schwerer Körperverletzung, die er auf Sylt begangen haben sollte.
Dr. Golz, so der Name des Cheflektors, hatte sich noch unzugänglicher und schroffer als vorher gezeigt. Er war uneinsichtig, grob und gemein und hatte sofort gekündigt, als sein Chef ihn freundlich und nachsichtig an seine Arbeit erinnert hatte. Und an seine Freundin Renate, die Golz komplett links liegen gelassen hatte.
Dann verschwand der auch außerhalb des Verlagswesens sehr bekannte Lektor und tauchte nicht wieder auf.
Normalerweise hatte er täglich Kontakt zu wichtigen Persönlichkeiten gehabt. Er sprach mit anderen Verlagen, saß in Talkshows, trat bei gehobenen literarischen Zirkeln auf.
Dr. Golz fand man bei nahezu allen wichtigen Kulturveranstaltungen der Stadt Hamburg, zusammen mit vielen Freunden aus den besseren Kreisen der Stadt. So jemand wie er verschwand nicht einfach so.
Unter seinen Bekannten befand sich ein Kriminaloberrat der Stadt Hamburg, und den hatte nach einigen Tagen Golzens Freundin angesprochen, Renate Schiller, die Nachfahrin eines in der Stadt sehr beliebten Politikers, die den Oberrat und seine Frau sehr gut kannte.
Viel hatte der junge Polizist nicht. Er wusste, dass Golz sich auf Sylt in einem Szene-Lokal danebenbenommen hatte. Er hatte trotz Verbotes geraucht – als Nichtraucher, wie seine Freundin erstaunt kommentiert hatte – und einem Mann, der ihn auf die Verbotsregelung hingewiesen hatte, mit einem brutalen Faustschlag die Nase gebrochen.
Golz war kein Schwächling. Er hatte in seiner Jugend als Hobby-Sportler geboxt, in derselben Halle, wo Max Schmeling früher trainiert hatte. Der Freund des Opfers hatte ihm aus Notwehr von hinten eine teure Weinflasche übergezogen, Golz war schwer verletzt im Krankenhaus gelandet. Von wo er bald wieder abgehauen war.
Jansen erstaunte der Bericht des Arztes, der Dr. Golz untersucht hatte. Der Patient hatte Schwermetalle, Amphetamine und einen sehr hohen Nikotinspiegel im Blut gehabt, die der Arzt sich nicht erklären konnte. Dr. Golz hatte, kaum dass er halbwegs wiederhergestellt gewesen war, das Weite gesucht und stand für Rückfragen nicht mehr zur Verfügung.
Als Erstes nahm Jansen sich den Wohnort von Golz vor, in Barmbek-Süd, einem schönen Teil Hamburgs unweit der Alster.
Von dort war Dr. Golz an seinem letzten Arbeitstag wie jeden Tag zu seinem Verlag in Reinbek gefahren. Golz fuhr meistens mit der S-Bahn, der schnellsten Verbindung. Es war hoffnungslos, dort nach Spuren zu suchen. Nur fuhr diese S-Bahn nicht immer. Es gab eine andere passable Verbindung, bei der er einen Bus nehmen musste. Und die passte zeitlich gut zu seinen Arbeitszeiten.
War Golz mit diesem Bus nach Haus gefahren, nachdem er gekündigt hatte? Konnte man ihn darüber finden? Sein Verschwinden lag schon gut zehn Tage zurück. Jansen versuchte es trotzdem bei dem Busfahrer, der vormittags diese Strecke fuhr.
Er hatte das Glück des Tüchtigen.
Der Busfahrer kannte den Mann mit dem markanten Aussehen, er hatte ihn auch schon mal im Fernsehen gesehen. An den Tag, an dem Dr. Golz verschwunden war, konnte er sich zwar nicht mehr erinnern; er zeigte jedoch auf einen unscheinbaren kleinen Mann mit Hut, der gerade aussteigen wollte.
»Fragen Sie den mal. Der sieht und hört alles. Wenn der es nicht weiß, kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen.«
Der Mann wusste. Oh ja, die Person auf dem Foto würde er kennen, gewiss doch, der saß immer in der dritten Reihe rechts am Fenster, wenn er den Bus um 8.45 h Uhr nahm.
Und er wusste auch, wann dieser Herr das letzte Mal mit dem Bus gefahren war. Und wer neben ihm gesessen hatte. Ein Mann, der im gleichen Haus wie er selbst wohnte, sogar auf demselben Flur, in den Mundsburger Hochhäusern bei der Hamburger Meile.
Der hätte ihn zwar noch nie wahrgenommen, der Herr wohnte da auch noch nicht lange, aber er, der Herr Mahndorf, hätte ihn sehr wohl gesehen. Und höflich gegrüßt, doch der hätte ihn gar nicht wahrgenommen.
Den Namen des Mannes wusste er nicht, der Herr wäre sehr unzugänglich.
Der Unbekannte hätte dem Mann auf dem Foto etwas zugesteckt. Jansen ließ sich erklären, wo der Mann wohnte, der den Zeugen zum Nachbarn hatte. Nicht viel, aber immerhin eine Spur.
Was den Polizeischüler mehr irritierte, war der Umstand, dass Golz eine knappe Woche allein auf Sylt gewesen war. Er hatte sonst nie Urlaub genommen. Die Arbeit war sein Ein und Alles gewesen. Warum war er plötzlich allein nach Sylt gereist?
Wenn er nach diesem Urlaub kurzfristig und kurz angebunden gekündigt hatte und verschwunden war, hatte er seine Entscheidung zu diesem Schritt vermutlich schon während des Urlaubs getroffen. Dort hatte er Zeit zum Nachdenken gehabt. Er war allein gewesen; allein denkt man mehr über alles nach als auf einem gemeinsamen Trip.
Dr. Golz konnte dort jemanden kennengelernt haben, der ihn auf andere Gedanken gebracht hatte. Oder die.
Diese Hypothese erschien Jansen am wahrscheinlichsten. Und das Wahrscheinlichste war meist auch das Richtige.
Das hatte der junge Lukas in einem der Kurse gelernt; man nannte dieses Vorgehen Occams Rasiermesser. Und sein rasiermesserscharfer Schluss war, dass der Lektor eine Frau kennengelernt haben musste. Eine andere als seine alte Freundin Renate.
Dr. Golz sah gut aus und war im besten Alter. Er war hetero, wenn man seiner Freundin Glauben schenken wollte. Er war allein in den Urlaub an einen Ort gefahren, an dem man leicht und schnell Leute kennenlernen konnte. Das sah nach Absicht und einer sexuellen Notlage aus.
Jansen wurde immer klarer, dass Dr. Golz dort eine Frau kennengelernt haben musste. Mit der hatte er nach seiner Kündigung das Weite gesucht und gefunden. Vermutlich war er schlicht und einfach mit einer neuen Frau durchgebrannt.
Jansen hatte den Job zugewiesen bekommen, ihn zu finden, und wollte die Aufgabe auch ordentlich beenden. Vielleicht hatte er Glück und Dr. Golz tauchte von selbst wieder auf, sobald er von dem neuen Abenteuer genug hatte.
Oder er schrieb eine Karte von den Malediven, liebe Renate, es ist aus, ich bin jetzt mit Beate zusammen, mache eine Auszeit, habe ein neues Leben angefangen. Dann wäre Jansens Job erledigt gewesen.
Was zu diesen Lesarten nicht passte, war der Umstand, dass Dr. Golz so schroff und grantig in den Verlag gekommen war und auf die Kritik des Verlegers hin sofort den Job geschmissen hatte. Dass er angefangen hatte zu rauchen und eine Schlägerei vom Zaun gebrochen hatte. Das passte so gar nicht zu einer neuen Liebesgeschichte.
Oder lag es gerade an dieser neuen Liebesgeschichte?
Vielleicht hatte ihm jemand das Leben so radikal umgekrempelt, dass er den Halt verloren hatte. Ihn heißgemacht und wie eine heiße Kartoffel fallengelassen. Dann wäre Golz suizidgefährdet gewesen. Vielleicht hatte er sich tatsächlich umgebracht. Doch auch dann musste er irgendwo stecken.
So sehr Jansen diese Ablenkung von seiner eigentlichen Arbeit störte, so sehr reizte ihn der Gedanke, auf Sylt selbst Nachforschungen anzustellen. Dr. Golz musste dort irgendwo gewohnt und gegessen und sich aufgehalten haben. Er hatte sein Handy dabeigehabt, er hatte garantiert mit seiner Kreditkarte oder EC-Karte bezahlt.
Es war wichtig, dass Jansen die Frau fand, die Golz dort kennengelernt hatte. Das war sein bester Ansatz. Er musste nach Sylt. Am besten in dasselbe Hotel, in dem Golz gewohnt hatte.
Der junge Polizist war stolzer Besitzer eines Jack-Russell-Terriers. Und wie ein Terrier verbiss er sich in den Fall des verschwundenen Lektors.
Dieser Fall würde ihn bald zu Dr. Golz’ Nemesis führen, und von dort etwas später zu Viola Kroll. Doch wir wollen nicht vorgreifen.
Bücher
Wir sehen eine kleine Viola Kroll, die barfuß, goldgelockt und in einem kleinen Flatterhemdchen wie im Märchen vom Sterntaler glucksend durch den Garten hopst und versucht, Schmetterlinge zu haschen.
Wir sagen hier ausdrücklich nicht fangen, das täte ein Lepidopterologe. Der würde sie fangen, aufspießen und ihren Gattungsnamen auf ein Schildchen schreiben.
Nein, Viola machte das mit Freude und wie im Rausch, sie wollte die kleinen, flatternden Wunder auch nicht haben, sondern sich an ihnen erfreuen.
Viola hatte gerade Die kleine Raupe Nimmersatt gelesen, die sich durch ein Buch fraß und immer größere Löcher hinterließ und dadurch in ihrer Metamorphose fortschritt.
Der Genuss eines Buches macht aus einem erdgebundenen Wurm, sonst Speise von Vögeln und Maulwürfen, schimmernde, taumelnde Juwelen, die sich von Nektar nährten.
Welche Kraft musste ihnen das Buch gegeben haben! Welche Kraft, welche Magie musste den Büchern innewohnen, wenn so eine gewaltige Veränderung vom Wurm in ein Juwel möglich war!
Hier finden wir einen ersten kleinen Unterschied zu den anderen Kindern in ihrer Barbie-Pony-Gruppe. Violas Pony hieß übrigens Schimmer. Sie war also ganz normal, was das anging.
Die anderen Mädchen fanden die Raupe toll, die fraß und fraß und sich schließlich verwandelte, wie eine kleine GmbH & Co. KG, die später durch viele Firmenzusammenschlüsse schließlich zu einer Dax-notierten Aktiengesellschaft wird.
Tatsächlich wurden aus drei Mädchen aus Violas Krippe, als sie erwachsen waren, erfolgreiche Managerinnen.
Viola dagegen interessierte sich mehr für die Materie, welche die Metamorphose auslöste. Die Bücher. Ihr Wissen. Die Magie. Sie wollte selbst ein Schmetterling werden, eine Metamorphose erleben, aus sich, dem hübschen, blonden Kind, etwas Neues erschaffen. Oder dem zumindest sehr nahekommen.
Die anderen wollten Quantität. Sie wollte etwas Dialektisches, die Umwandlung. Eine neue Qualität. War das der Unterschied, der aus ihren Freundinnen wohlgeratene Bürgerinnen und aus ihr eine Mörderin machte? Hatte die kleine Raupe in ihr etwas Faustisches ausgelöst?
Wir sollten daraus nicht schließen, dass Viola flatterhaft und womöglich nicht tüchtig war. Im Gegenteil, sie würde auch in Sachen Quantität erfolgreich werden, eine gute Geschäftsfrau, eine geachtete Künstlerin, eine berühmte Lektorin. Und eine fleißige Mörderin.
Mengenmäßig stand sie den anderen nicht nach, sie war als Erwachsene reicher und bekannter. Die anderen waren gewöhnlich. Viola hatte etwas, das die anderen nicht hatten.
Bücher.
Auf Sylt
Jansen hätte ein Kurzurlaub auf Sylt zusammen mit seiner Freundin Lisa gut gefallen. Nun reiste er allein dorthin, an einem schönen Novembertag, der für die Jahreszeit viel zu warm war. Er freute sich auf einen Spaziergang am Strand und anschließend einen schönen Grog in einer Bar am Strand.
Züge nach Westerland gingen von Hamburg aus ständig, und vier Stunden später war Jansen auf dem Feriendomizil des Mittelstandes. Im Zug ließ er sich die Kreditkartendaten von Dr. Golz übermitteln. Golz hatte auf Sylt nur einmal Bargeld abgehoben, ansonsten hatte er alles mit Karte bezahlt, das Zimmer in einer Pension, Essen in verschiedenen Restaurants, zwei Besuche in einem Golfklub und in Strandbars.
Mehr bezahlt hatte er für Besuche in einem Klub, der sich altmodisch Disco nannte, wie in den 70ern. Das Rote Kliff in Kampen.
In der Pension, in der Dr. Golz übernachtet hatte, war nichts Auffälliges vorgefallen. Er hatte nicht jede Nacht dort verbracht, wusste die Besitzerin zu berichten. Sein Bett war zweimal unberührt geblieben.
Also hatte er die Nacht zweimal woanders verbracht oder durchgemacht. Das passte zu Jansens Theorie. Der Vermisste musste einfach mit einer Frau durchgebrannt sein, anders war sein Verschwinden kaum zu erklären.
Der Barkeeper in der Strandbar, wo Golz sich geprügelt hatte, konnte sich noch gut an den Lektor erinnern. Er hätte depressiv gewirkt, er wäre richtig schlecht drauf gewesen, hätte viel getrunken und äußerst dünnhäutig auf alles und jedes reagiert. Und dann hätte er sofort zugeschlagen, als ihn ein anderer, freundlicher Gast wegen seines massiven Zigarettenkonsums angesprochen hatte.
Wobei Rauchen in der Bar ohnehin nicht erlaubt war. Komischer Typ, einer, dem man lieber nicht begegnen wollte, fand der Barkeeper.
Das passte gar nicht zu dem Dr. Golz, dessen Profil Jansen gelesen hatte. In der Redaktion und von seiner Freundin war er als charmanter Plauderer, netter, geselliger Mensch und hochintelligenter, eher introvertierter Mensch beschrieben worden. Was war ihm hier über die Leber gelaufen? Was hatte ihn schlagartig so stark verändert?
Jansens nächster Anlaufort war der Nachtklub.
Allerdings musste er in diesen Party-Hotspot erst mal reinkommen. Er musste seinen Polizei-Ausweis vorzeigen, um eingelassen zu werden. Peinlich, und wohl fühlte er sich unter den anwesenden Papageien auch nicht.
Der Laden war für ihn viel zu teuer. Eine Flasche von was auch immer kostete mindestens 160 Euro, nichts, was sich ein Polizeistudent eben mal so leisten konnte.
Ein kleines Bier kostete sieben Euro, und das war neben einem Glas Saft das Billigste, was die Typen sich im Roten Kliff genehmigten. Jansen entschied sich für einen billigen Whisky für zehn Euro. Das Eis war immerhin umsonst.
Es war laut in der Disco, auch wenn im Spätherbst nicht mehr so viel los war wie im Sommer. Die letzten Tage waren warm gewesen, und es waren viele Leute unterwegs.
Jansen ging ein wenig umher, nahm sein Foto von Dr. Golz aus der Tasche und fragte den einen oder anderen nach dem Lektor. Der Barmann konnte sich nicht erinnern, da wären doch täglich Hunderte von Promis, meinte er lakonisch. Andere Personen, die er ansprach, schüttelten nur abweisend den Kopf.
Wenn er schon da war, konnte er auch eine Weile bleiben, dachte Jansen. Ein wenig abzurocken hatte noch niemandem geschadet.
Zwei Stunden und siebzig Euro später hatte er immer noch keine Idee, wie er im Klub eine Spur und eine Bekanntschaft von Dr. Golz finden sollte. Vielleicht war es besser, den Rückzug anzutreten.
Doch auf dem Weg zur Garderobe hielt ihn eine kleine Rothaarige auf. »Du willst doch nicht schon gehen, Süßer, oder?«, brüllte sie ihm ins Ohr. »Komm doch mit zu uns an den Tisch!«
Was tut man nicht alles im Dienste der Ermittlungen, dachte der junge Polizist, mit der gleichzeitig aufkeimenden Hoffnung auf eine Einladung zu einem weiteren, hoffentlich besseren Drink.
Die Leute am Tisch der Rothaarigen, irgendwelche Filmfritzen aus Berlin, hatten gerade eine Riesenflasche Champagner bestellt, Jerry Beam oder so ähnlich, Jansen hatte den Namen nicht richtig verstanden. Jansen kannte nur Jim Beam, den hatte er gerade gehabt.
Er setzte sich dazu, die Rothaarige grinste ihn süß an, sonst nahm niemand Notiz von ihm. Jansen trank ein paar Gläser, aber auf Party hatte er eigentlich keine Lust. Mittlerweile war ihm das zu oberflächlich, er war wegen einer Aufgabe hier, und er wäre lieber wieder zu Haus bei seiner Lisa gewesen.
Da die Musik gut war, verging die Zeit schnell, und Jansen hatte bald mehr getrunken, als ihm lieb war; seine Blase war übervoll.
Vor dem Männerklo stritten sich gerade zwei Betrunkene und ließen niemanden vorbei. Heutzutage war ohnehin überall Unisex, Metrosex oder eins von den anderen Gendern angesagt, die man auf Facebook kannte, dachte sich Jansen, da kann ich doch genauso gut aufs Damenklo.
Als er dort wieder aus der Box trat, pfiff ihn eine sommersprossige Blonde an, die sich gerade schminkte. »Was machst du denn hier! Das ist das Damenklo, verdammt noch mal, Männer haben hier nichts zu suchen!«
Sie hatte sich gerade den Lippenstift quer durchs Gesicht gezogen. Jansen musste sie gehörig erschreckt haben.
»Tja, eigentlich suche ich jemanden, einen als vermisst gemeldeten Mann «, versuchte er sich rauszureden. Jansen zog sein Suchfoto aus seiner Jackentasche. Die Blonde sah gar nicht hin. »Und den suchst du hier auf der Frauentoilette? Spanner, was?«, fauchte sie, und die Luft um ihren zusammengekniffenen Augen knisterte.
»Den«, sagte Jansen matt, und hielt ihr das Foto vor die Augen. Ihm war durchaus klar, dass das nichts verbesserte. Einen Mann in einer Box auf einer Damentoilette zu suchen, brachte im Allgemeinen eher wenig.
»Einen Mann. Stark suizidgefährdet«, schickte er hinterher. Das erregte scheinbar ihr Mitleid. Sie sah sich das Foto an.
»Den kenne ich doch!«, rief sie. »Der hat hier vor kurzem Golf gespielt, und dann war er hier im Klub mit so einer Überfrau. Moment.«
Sie wischte sich das Gesicht mit einem Papierhandtuch ab und zog Jansen aus der Toilette. »Lass uns mal rausgehen. Hier ist es zu laut zum Reden.« Sie zog ihn am Ärmel aus dem Lokal.
»Hm. Suizid, hast du gesagt? Der? Der war doch gut drauf. Ich habe sogar ein Foto, glaube ich.«
Sie blätterte in ihrem Handy. »Hier. Ist er das? Was ist denn mit ihm?«
Jansen sah sich das Foto an. Tatsächlich. Das war Dr. Golz, und er schien in prächtiger Stimmung gewesen zu sein. Er stand dort mit einem anderen aristokratisch aussehenden Mann im besten Alter und einer tiefausgeschnittenen Frau, die aus ihrer herausragenden Figur kein Geheimnis machte. So eine, an deren Existenz man erst glaubt, wenn man sie sieht.
Jansen hatte bis dahin gar nicht gewusst, dass es Frauen gab, die so gut und so sexy aussehen konnten.
»Kann ich das haben?«, fragte er die Sommersprossige. »Und wieso hast du die fotografiert?«
»Klar«, sagte sie. »Mach mal dein Airdrop an, dann schick ich es dir. Warum, das ist doch wohl klar, ne? Ich wollte meiner Freundin das Kleid zeigen, das die anhat. Habe ich aus einem Video rauskopiert. Geil, oder?«
So etwas konnten nur Frauen, dachte Jansen. Das gute Aussehen auf das Kleid zu schieben. Denn an einer anderen Frau hätte das Kleid bestimmt niemals so gut ausgesehen. Kleider machen Leute, heißt es.
Nach Jansens Meinung machten Leute Kleider. Die Bekleidung verstärkte nur das, was sie verhüllte. Oder, in diesem Fall, enthüllte.
Immerhin hatte Jansen jetzt das Foto, das die Blonde von Dr. Golz und seiner Begleitung geschossen hatte, auf seinem Handy.
»Das Video könnte ich auch gut gebrauchen, schickst du mir das? Und kann ich dich zurückrufen, wenn ich noch mehr Infos brauche? Gibst du mir deine Nummer?«, fragte er die Blonde. Sie grinste. Alter Anmachtrick, sagte ihr Grinsen.
»Die Nummer hast du doch schon«, sagte sie. »Gerade über Airdrop. Aber klar. Warte, ich gebe dir gleich das Video. Ruf mich ruhig an, wenn noch was ist.« Sie grinste wieder. »Ich muss wieder rein, meine Freundin wird sonst noch eifersüchtig.«
Weg war sie. Jansen stand draußen in der kühlen Nachtluft, was ihm guttat. Frische Luft, die bis zu den Sternen reichte. Und Ruhe. Und das Video, das Dr. Golz im Gespräch mit einem imposanten Mann und einer noch beeindruckenderen Frau zeigt.
Leider konnte man kein Wort von dem verstehen, was sie zueinander sagten. Sie befanden sich jedenfalls im Gespräch miteinander und standen nicht einfach zufällig zusammen. Das war eine wichtige Erkenntnis.
Als Nächstes musste Jansen rausfinden, wer die beiden anderen Leute auf dem Foto waren. Es war spät, dafür war auch morgen noch Zeit. Jansen sah auf seine Uhr. Was er sich als morgigen Tag vorgestellt hatte, war bereits drei Stunden alt. Viel Schlaf würde er nun nicht mehr bekommen.
Der junge Polizist folgte der Stimme der Vernunft und nahm ein Taxi zurück nach Westerland, zu seiner Pension, und ging zu Bett. Immerhin hatte er nun eine gute Spur.
Viola liest und liest und liest
Viola Kroll hatte schon als Kind ein ausgefülltes Leben. Schule, Klavier- und Reitunterricht, Tennisstunden, Spaziergänge mit ihrer Mutter, eine tägliche halbstündige Pflicht, in der ihre Mutter sie zu erziehen glaubte.
Manchmal ein, zwei Stunden in der Fabrik ihres Vaters, wenn der sie später mit nach Haus bringen oder zu einem Geburtstag bringen sollte. Konfirmationsunterricht, auch wenn niemand in der Familie gläubig war, es gehörte sich einfach so.
Wir wissen bereits, dass Viola eine gute Schülerin war. Sie hatte es leicht, im Unterricht und im Sozialverband. Sie brauchte niemals Nachhilfe, sie übersprang sogar die sechste Klasse. Mit den anderen Schülern hatte sie wenig gemein und verbrachte nicht mehr Zeit mit ihnen als nötig.
Was Viola an verbliebener Zeit hatte, füllte sie mit Lesen. Sie las im Unterricht, schon in der siebten hatte sie alle Deutsch-Lehrbücher bis hin zur zehnten Klasse komplett durch.
Ihrer Mutter gab sie den Literaturkanon, den sie bis zum Abitur gelesen haben sollte. Ihre Mutter kaufte ihr die wichtigsten Bücher und besorgte den großen Rest aus der Stadtbibliothek; Viola sollte auch Sparsamkeit lernen.
Die gemeinsame Einnahme der Mahlzeiten gehörte bei den Krolls zu den wichtigen Ritualen. Man ließ sich Zeit, man redete miteinander, tauschte sich aus über den Tag und über aktuelle Ereignisse der Zeit. Als sie zehn war, begann Viola damit, ihre Bücher mit zu Tisch zu bringen und neben sich zu legen, um während des Gespräches Blicke hinein zu werfen.
Ihre Mutter goutierte das nicht, sie verbot Viola das Lesen bei Tisch. Ihr Vater nickte nur, er war an Ritualen weniger interessiert als seine Frau. Viola stand auf und nahm das Buch mit. »Ich war sowieso fertig mit Essen.«
Ein Eklat und ein einwöchiger Stubenarrest folgten.
Nachdem Viola vier Kilo abgenommen hatte und stets früh vom Tisch aufstand, weil ihr angeblich schlecht war, sahen ihre Eltern weg, als sie das Buch mit den griechischen Heldensagen neben sich auf einen Stuhl statt auf den Tisch legte und nur gelegentlich hinein lugte. Viola hatte sich durchgesetzt.
Sie hatte fortan immer ein Buch dabei, in dem sie in den Gesprächspausen las. Nichtsdestoweniger trug sie zum Tischgespräch bei, mit immer klügeren Einwänden und scharfen Beobachtungen, aber auch altklugen Dummheiten, sodass ihre Eltern auch etwas zu lachen und zu verbessern hatten.
Was Viola weiter anspornte, Lücken im Wissen zu schließen und in der Verknüpfung von Inhalten besser zu werden.
Sie las im Auto ihrer Mutter, wenn die sie zu ihren Reitstunden brachte. Fast hätte sie noch auf dem Dressurpferd gelesen, ein Buch über Dressur und Pferde.
Sie las im Bus, wenn sie zu ihrer Klavierlehrerin nach Charlottenburg fuhr. Sie las auf dem Weg zur Schule und sie las lange spät im Bett.
Sie las Märchen und griechische Tragöden, sie las Umberto Eco und das Decamerone, Voltaire und Meister Eckhardt, sie las sogar die Bibel, dreimal.
Sie las Gesangbücher und Börsenzeitungen, Heidegger und ihren fernen Großonkel Ludwig, den ihr die Mutter besonders ans Herz legte.
Sie las Lore-Romane und Kant, die Bravo und Alan Bullock. Auf dem Weg von der Schule nach Haus gab sie ihr Taschengeld in Antiquariaten aus und stöberte nach seltenen Kuriosa.
Sie las die Beststeller des Abonnements, das ihre Mutter bestellt hatte, das monatliche Lustige Taschenbuch und die Beilage der ZEIT, in der sie die schwierigen Rätsel faszinierten.
Sie las das Reparaturhandbuch für das Auto ihres Vaters und eine Bauanleitung für Freiluft-Backöfen. Sie las über Kunst, Kultur, Backen, Schreiben, Reisen, Häkeln und Sex, über Hunde (die sie nicht mochte, nachdem ihr ein Pudel namens Fluffi in den kleinen Finger gebissen hatte) und Katzen (die sie mochte, weil sie so anschmiegsam schnurrten, obwohl sie schon oft gekratzt worden war), Schildkröten, Orchideen und Pilze, über die Krankheiten von Bäumen und über romantische chinesische Gedichte aus der Song-Zeit.
Sie las. Übersetzungen aus Rumänien und Uganda, Japan und Brasilien.
Viola studierte Basic, lernte C und Java Script. Sie konnte einfache Programme schreiben.
Sie war nicht ansprechbar, wenn sie las. Sie entdeckte die Literaturanlagen am Ende der Bücher, die Querverweise, und folgte den vielversprechendsten. Die schiere Masse dessen, was sie las, in einem Tempo, in dem andere gerade mal umblättern konnten, hätte die imposante Privatbibliothek ihres Vaters viele hundert Mal füllen können.
Das Schnelllesen hatte sie sich selbst beigebracht. Sie übersprang ein paar Worte, irgendetwas in ihrem Gehirn sortierte das Wichtige aus, den Rest überflog sie und verstand den Text trotzdem. Sie las auch ein Buch über schnelles Lesen und musste lachen. Da hatte jemand sein halbes Leben in eine Technik investiert und verwendete den Rest seines Lebens darauf, diese Technik zu verbreiten, während sie ein besseres Verfahren intuitiv gefunden hatte.
Ihre Technik erlaubte ihr, so gut wie alles zu lesen. Das Goldene Blatt beim Zahnarzt und die Apotheken-Rundschau, dazwischen ein paar Seiten Homer in einem Reclam-Heft. Bis sie dran war. Der Nächste bitte!
Ihr Gehirn konnte Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden. Sie hatte verschiedene Speicher dafür. Die Guten ins Töpfchen, der Rest in Wachspapier vergraben. Das Gute konnte sie sofort abrufen, das Eingemottete dauerte etwas länger. Man wusste ja nie, wozu man es noch brauchen konnte.
Als sie mit der Schule fertig war, mit knapp siebzehn, entschied sie sich für ein Studium der Literatur und Kunst. Neben einem Volontariat in einem Verlag, das bedeutsam für sie werden sollte.
Viola begann in Berlin und Heidelberg und setzt ihr Studium an der Sorbonne und am Kings College fort, wo sie es mit Auszeichnung in beiden Fächern abschloss.
Sie hatte einen guten Abschluss, und sie hatte bereits Geld, viel Geld für ein immer noch junges Mädchen, oder besser: für eine voll ausgereifte Frau, die noch sehr jung war.
Viola las weiter.
Ermittlungen im Norden
Das Foto und das Video, das ihm die Sommersprossige übertragen hatte, konnte er auf Sylt nicht analysieren. Dazu brauchte Jansen Zugang zum Polizeiserver, der auf die Melderegister zugreifen konnte. Und auf andere Programme, die Gesichtserkennung ermöglichten.
Das war zwar noch im Versuchsstadium, aber es funktionierte, wenn auch nicht so gut wie in den Jason-Bourne-Filmen. Jansen ermittelte schließlich in Deutschland, dem Land von BER und Stuttgart 21, da ging das nicht so schnell.
Er musste mit dem nächsten Zug zurück nach Kiel. Etwas Schlaf konnte er auch im Zug noch nachholen. Einem jungen, kräftigen Mann wie ihm machten ein paar Stunden entgangenen Schlafs nicht viel aus; notfalls konnte er eine Nacht durchmachen, ohne am nächsten Tag auch nur ansatzweise zu schwächeln.
In der Blume, dem Sitz der Kieler Mordkommission in der Blumenstraße, war der Teufel los, und Jansen kam nicht rein. Borowski drehte einen Tatort, alle vorderen Zugänge waren abgesperrt. Er musste durch den Hintereingang.
Eine halbe Stunde später, es war inzwischen schon nach Mittag, saß er vor einem Rechner, auf dem ihm eine kompetente Dame das optische Suchprogramm installiert hatte.
Das Programm lief, auf dem Bildschirm drehte sich ein Symbol endlos im Kreise, und Jansen wollte gerade anfangen zu schimpfen, als das Gerät eine Erkennungsmeldung abgab. Und dann gleich noch eine zweite.
Das Programm warf kommentarlos drei Bilder aus dem Melderegister aus, zusammen mit Namen und Adressen. Dr. Golz und seine Adresse in Barmbek-Süd kannte Jansen schon. Der zweite Mann war ein gewisser Gero von Witzleben, der nahe der Hamburger Meile wohnte. An derselben Adresse, wo auch der Zeuge aus dem Bus herkam. Das war interessant; ein Zufall war das bestimmt nicht.
Von diesem Mann hatte der junge Polizist noch nicht gehört.
Jansen machte sich gleich Fotos mit dem Handy, für alle Fälle, und weitere Ausdrucke. Die scharfe Lady vom Foto hatte das Programm ebenfalls gefunden; aber in Zivilkleidung, nicht bis zum Nabel ausgeschnitten.
Anders geschminkt und angezogen sah die Dame ganz anders aus, Jansen erkannte sie kaum wieder. Sie hieß Marie Orlowski, hatte zwei Doktortitel, einen in Medizin und einen in Psychologie, dazu noch einen Magister in Philosophie, und war Psychologin an der Uni in Hamburg. Sie wohnte in der Nähe der Universität.
Auf dem Passfoto trug sie ein hochgeschlossenes graues Kostüm und eine dicke, schwarze Brille. Sie war auch nicht rothaarig, sondern hatte dunkles Haar mit angegrauten Schläfen.
Mit diesem Passfoto wäre niemand draufgekommen, wie sexy sie sich herrichten konnte. Auf dem Foto, das der Computer über Augenabstände und ähnliche Parameter gefunden hatte, sah sie aus wie eine gut aussehende, aber langweilige und strenge Professorin.
Jansen googelte, was er über sie finden konnte. Dr. Orlowski hatte eine lange Latte von Veröffentlichungen. Nahezu alle handelten ausschließlich davon, was Männer in ihrer Freizeit an grenzwertigen Situationen anstrebten und erlebten. Er lud sich eine der Veröffentlichungen herunter.
In den wissenschaftlichen Jargon musste er sich erst einlesen. Es ging darin um die Frage, wie sich ansonsten normale Männer einer Domina unterwarfen, und welche Wünsche ihrer Untersuchung zufolge und unter Berichtigung aller statistischen Signifikanzen damit verbunden waren.
Der Text las sich, wenn man den wissenschaftlichen Teil überlas, ganz so, als ob sie dabei gewesen wäre. Das passte gut zu ihrer strengen Erscheinung, fand Jansen. Eine herrische Frau, die Befehle zu erteilen gewohnt war und diese auch durchsetzte.
Was war da gewesen? Hatte Dr. Golz mit diesem von Witzleben gerade eine Session mit ihr erlebt? Hatten die beiden ihr als Versuchs- und Studienobjekte gedient und die Versuchsreihe gerade hinter sich? Entspannt genug sahen alle drei aus, mit einem Glas Champagner in der Hand, die Spielbeine vorgestreckt.
Hatte die Frau womöglich etwas aus der Golzschen Psyche ausgegraben, das ihn aus dem Gleichgewicht geworfen hatte? Als Psychologin, oder als Domina? Beides war gut möglich. Golz hatte sich bestimmt nicht ohne Grund so verändert.
Jansen lud sich die Kontaktdaten der beiden gefundenen Personen auf sein Handy. Er musste ohnehin zurück nach Hamburg, der Kriminaloberrat hatte die Suche nach dem Vermissten dringend gemacht. Seine sonstige Arbeit würde warten müssen.
Jansen ließ sich von der netten Kieler Kollegin zum Bahnhof bringen. Anderthalb Stunden später parkte er den Mietwagen, den ihm die Hamburger für Fahrten in der Hansestadt spendiert hatten, vor der Hamburger Meile.
Er wollte den Mann befragen, mit dem Golz unterwegs gewesen war. Was wusste dies Gero von Witzleben über Golzens Probleme, und wie waren die beiden miteinander verbunden? Außerdem hatte der Mann ihn wohl als einer der letzten gesehen.
Die Dame konnte er später befragen. Vielleicht konnte sie ihm von den Abgründen berichten, die sich für Dr. Golz geöffnet hatten. Die ihn vielleicht in den Suizid getrieben hatten. Vielleicht war sie sogar der Auslöser dazu gewesen.
Womöglich wusste sie auch, was seine bevorzugte Todesart war.
Jansen klingelte zuerst bei dem Nachbarn von Witzlebens, Herrn Mahndorf aus dem Bus. Der war nicht da. Also klingelte er beim Adel höchstpersönlich.
Von Witzleben war da, versperrte Jansen jedoch gleich mit seiner großen Statur den Blick in seine Wohnung, als er seine Uniform sah. Er fragte ihn noch auf dem Flur, was er denn bitteschön von ihm wolle.
»Kann ich reinkommen? Die Sache ist vielleicht etwas komplizierter, Herr von Witzleben, als wir zwischen Tür und Angel besprechen könnten«, sagte Jansen, der gleichzeitig krampfhaft versuchte, an ihm vorbei in die Wohnung zu spähen.
Jansen fragte sich, was oder wen der Mann wohl in der Wohnung versteckt hielt, wenn er so heimlichtat. War Dr. Golz vielleicht bei ihm untergetaucht? Versteckte er ihn bei sich? Oder lief da gerade ein flotter Dreier mit der Domina, den er unterbrochen hatte?