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Gerade seinen Mördern im Watt entronnen, steht LKA-Kommissar Lukas Jansen vor seiner nächsten Herausforderung. Eine Gruppe namens AFDP hat direkt vor dem Upstalsboom, dem Wahrzeichen Ostfrieslands, eine Leiche abgelegt. Ein paar Tage vorher war ein Mann vor seinem Haus erschossen worden. Beide Toten arbeiten in der Windkraftindustrie, die Tat scheint von Windkraftgegnern begangen worden zu sein. Lukas gerät schnell wieder mit seinem Vorgesetzten aneinander und auch sofort wieder selbst in Lebensgefahr, als er auf einer einsamen Vogelinsel unter Beschuss kommt und erst im Krankenhaus wieder aufwacht. Der Fall erhält eine besondere Brisanz durch das Verwandtschaftsverhältnis seines Kollegen Hinnerk zu einem der mutmaßlichen Täter. Kann Lukas ohne die Hilfe seiner Frau Lisa, die weiter in einem Safe House im Atlantik ausharrt, den Fall lösen?
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Turbinenkiller
Wer Wind Erntet
Band acht der Lukas-Jansen-Reihe
Nick Stein
Ostfrieslandkrimi
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 3
Kapitel 2 24
Kapitel 3 37
Kapitel 4 48
Kapitel 5 67
Kapitel 6 87
Kapitel 7 107
Kapitel 8 124
Kapitel 9 142
Kapitel 10 156
Kapitel 1 173
Kapitel 11 193
Kapitel 12 209
Kapitel 13 226
Kapitel 14 244
Kapitel 15 259
Kapitel 16 281
Es war dunkel, als ich am Hundestrand von Norddeich auf allen vieren über den vereisten Boden auf die Lichter der Stadt zu rutschte. Ich hatte drei frostklirrende Stunden hinter mir, die mich meine letzten Kraftreserven gekostet hatten.
Hundertachtzig endlose Minuten über Eisschollen, bei minus zehn bis zwölf Grad. Zum Schluss, nahe am Strand, wo es wärmer war als draußen im Watt, war ich zum Überfluss noch zweimal ins dünne Eis über einem Priel eingebrochen.
Meine Beine hatten bis zum Hintern im Wasser gesteckt, das meine Jeans sofort in Eisröhren verwandelt hatte, nachdem ich mich mit schon gar nicht mehr vorhanden geglaubten Restkräften aus dem splitternden Eis gehievt hatte.
Ich spürte meine Beine und Füße nicht mehr. Sie waren kaum bewegliche Stelzen aus holzigem Eis, weshalb ich bald darauf nur noch langsam vor mich hin kroch. Die Knie konnte ich nicht mehr richtig beugen, ich stakste erst, wankte dann, fiel hin und zog mich schließlich nur noch mit den Armen und Ellbogen übers Eis.
Ich betete, dass mir die Ärzte die Beine nicht abnehmen mussten, die ich kraftlos hinter mir herzog.
Wenn ich das hier überhaupt überlebte und einen Arzt fand.
Mir war immer noch nicht ganz klar, wie ich hierhergekommen war. Klar, die letzten Kilometer über das gefrorene Watt, da konnte ich mich an jeden mühsamen Tritt, jeden schweren Meter komplett erinnern. Nur die Zeit davor war ein schwarzes Loch.
Mich hatten zwei Leute in Südwestern mit einem Sportboot im Watt ausgesetzt, genau an der Stelle, wo vorher ein Rocker aus meinem letzten Fall tot aufgefunden worden war. Angeblich, weil ich dort ermitteln sollte. Das hatte ihnen jemand als Auftrag mitgegeben.
In Wirklichkeit hatte ich dort in der aufkommenden unbarmherzigen Flut umkommen sollen, der Kälte und den steigenden Wassern schutzlos ausgesetzt.
Ausgerechnet die erbärmliche Kälte hatte dafür gesorgt, dass ich nicht gleich umgekommen war. Die Flut der Nordsee hatte sich mit schmutzigen Schollen bedeckt, ein glitschiges, tückisch knirschendes Terrain. Bei jedem Schritt hatte ich geglaubt, dass es mein letzter sein würde. Die Schollenbildung in der eisigen Kälte hatte mich vorerst gerettet.
Ich blieb entkräftet am Spülsaum des gefrorenen Strandes liegen, einen Meter vor einem großen Haufen vereister Hundescheiße.
Mein eigener Hund Jackie war bei meinen Eltern. Wenigstens er war in Sicherheit.
Meine Frau Lisa und unsere beiden Zwillinge, die zwei Jahre alten Ella und Onno, waren inzwischen auf den Kapverdischen Inseln, in Santa Maria auf der Insel Sal, in einem neuen Safehouse. Das hoffte ich zumindest.
Das LKA hatte sie anfangs auf der Ilha do Fogo auf den Kapverden in einem vermeintlich sicheren Haus untergebracht, weil wir alle massiv bedroht worden waren. Von Leuten, die wir nicht kannten, Drahtziehern, denen ich auf der Spur gewesen war. Denen meine Ermittlungen zu weit gegangen waren und denen ich meinen Aufenthalt hier im Eis zu verdanken hatte.
Lisa und die Kleinen waren dort in einer Pension untergebracht worden, Pipi’s Guest House.
Dann hatte ich nachts einen Anruf erhalten, von jemandem, der mir Fotos der drei auf mein Handy aufgespielt hatte. Was eigentlich gar nicht ging. Und was zeigte, wie technisch versiert diese Leute waren. Und dass sie an meiner Familie dran waren, entgegen aller Behauptungen des Landeskriminalamtes, dass meine drei Süßen in Sicherheit waren. Sie waren dann auf eigene Faust auf die Insel Sal umgezogen, ohne irgendjemandem zu verraten, wo sie genau waren; mir hatte sie ihren neuen Ort leicht verschlüsselt über eine Bierwebseite mitgeteilt. Die genaue Adresse hatte ich allerdings noch nicht.
Diese Bedrohung hatte mir gezeigt, dass das LKA einen Maulwurf in seinen Reihen haben musste, einen Informanten der Leute, die meine Frau und Kinder bedrohten. Woher sonst hatten sie die Adresse auf den Kapverden erhalten? Es war zum Verzweifeln, wenn nicht einmal kleine Kinder in Sicherheit sein konnten.
Sie würden meine Familie nur dann in Ruhe lassen, wenn ich mich stellte, hatten diese Leute mir gesagt, denen eigentlich ich auf den Fersen sein sollte. Stattdessen hatten sie mich in der Hand gehabt.
Ich hatte getan, was sie von mir verlangten, ich hatte mich gestellt. Sie hatten mich betäubt, unter Drogen hypnotisiert und ausgefragt. Mir selbst fehlten dabei viele Stunden. Was hatten die noch mit mir gemacht? Und was hatte ich alles ausgeplaudert?
Und hatte ich womöglich etwas Wichtiges für immer vergessen, durch den Drogencocktail induziert?
Am nächsten Tag hatten mich diese Unbekannten anderen, vermutlich unbescholtenen und für den Job gut bezahlten Leuten übergeben, die mich im Watt ausgesetzt hatten. Die beiden Männer in ihren Südwestern gingen davon aus, dass mich ihre Auftraggeber selbst wieder abholen würden, was die allerdings nie vorgehabt hatten. Die wollten mich im wahrsten Wortsinn kaltstellen.
Ausgerechnet der tödliche Frost, der mich hatte umbringen sollen, hatte mich vor dem mir zugedachten Ende gerettet. Und dann doch noch fertiggemacht.
Waren Lisa, Onno und Ella in Sicherheit? Oder waren sie auch an ihrem neuen Ort in Gefahr geraten?
Das war der Gedanke gewesen, der mich gerade so am Leben erhalten hatte. Ich war zweimal kurz davor gewesen, aufzugeben und herauszufinden, ob einem beim Erfrieren wirklich warm und einem alles egal wurde. Wie es zum Schluss noch mal so richtig schön kuschelig im Eis wurde.
So wie ich hier am Strand lag, unfähig, mich zu entschließen, ob ich um den Hundehaufen herum oder über ihn hinweg kriechen und ob ich überhaupt noch weiterkriechen sollte, zuckte kurz die Ironie meiner Lage durch mein Gehirn.
Das Gehirn, das immer noch unter dem Einfluss irgendwelcher Drogen stand, Wahrheitsdrogen oder was das auch immer gewesen war. Auch im Kopf war ich sterbensmüde.
Der wohlige Gedanke, dass ich es geschafft hatte, am Strand anzukommen, dem Norddeicher Hundestrand, ließ mich die Glieder strecken. Ich hatte das Festland erreicht. Wunderbar!
Mir war auch nicht mehr kalt. Der vereiste Strand war weich wie ein Bett. Warm genug für ein ganz kurzes erholsames Nickerchen, dachte ich.
Etwas Heißes fuhr über mein Gesicht, ein gekochter Waschlappen.
Eines meiner Augen öffnete sich einen Spalt.
Der Rottweiler war das Letzte, was ich an diesem Wintertag noch sehen sollte.
Ich war mit einer extremen Unterkühlung ins Krankenhaus eingeliefert worden, wie ich am übernächsten Tag erfuhr. Ich hatte über dreißig Stunden geschlafen; jetzt war mir unerträglich heiß unter der Bettdecke eines Krankenbettes in der Dr. Becker Klinik in Norddeich, einem Krankenhaus für orthopädische und psychosomatische Rehabilitation.
Eine Schwester sang einem Kind in meinem Nachbarbett etwas vor; davon war ich zum zweiten Mal aufgewacht.
Die Ärzte hatten mich langsam ins Leben zurückgeholt. Anfangs in einer Kühlkammer, weil meine Kerntemperatur bereits bedrohlich abgesunken war und eine rasche Erwärmung mich umgebracht hätte, dann in zunehmend wärmeren Räumen.
Jetzt sollte ich mich nur noch erholen. Stress würde mir schaden, hatte die Chefärztin gesagt, und aus diesem Grund waren auch weder Telefon noch Fernseher in meiner Nähe.
Das Einzige, was ich tun konnte, war daliegen und denken.
Wusste Lisa, wo ich war? Meine Eltern? Ich hatte keine Ahnung. Mit Lisa hatte ich eine Vereinbarung gehabt; auf einer unverdächtigen Blogseite über Bier hatten wir miteinander abgesprochene Nachrichten abgesetzt, um uns zu versichern, dass alles in Ordnung war. Oder auch nicht in Ordnung.
Sie machte sich bestimmt die größten Sorgen um mich.
Und ich mir um sie und die beiden Kurzen. Denn meine Entführer hatten mir nur versprochen, sie in Ruhe zu lassen, wenn ich mich ergab. Ob sie sich daran gehalten hatten? Den Bösen glaubte ich grundsätzlich nicht.
Als ich das erste Mal hier aufgewacht war, hatten Ärzte um mich herumgestanden und etwas mit mir gemacht, mir Sonden aufgeklebt, einen Infusionsschlauch gelegt, mir ein Thermometer eingeschoben und andere Dinge mehr.
Ich als Mensch hatte sie kaum interessiert.
Später hatte eine Schwester meinen Namen aufgenommen und meinen Dienstrang. Polizeikommissar beim LKA Niedersachsen, für die Fachgebiete Umweltkriminalität und Organisiertes Verbrechen, im Bereich ostfriesische Küste.
Meine nächsten Angehörigen hatte ich auch nennen müssen; stand es wirklich so schlimm um mich?
Ich hatte ohne nachzudenken Lisa und unsere Adresse in Burmönken bei Wittmund angegeben, die Schwester war mit dieser Information davongeschwebt.
Natürlich hatte sie dort niemanden erreicht. Ich hätte meine Dienststelle oder meine Eltern angeben sollen, dachte ich im Nachhinein. Dann wäre schon jemand hiergewesen, der mir helfen konnte.
»Ich bin Polizist«, hatte ich der übermüdeten Schwester erzählt. »Rufen Sie bitte in meiner Dienststelle in Wittmund an. Die Nummer steht im Telefonbuch.«
Drei Stunden später stand jemand vor meinem Bett, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ein großer Mann in Uniform, mit einer schwarzen Igelfrisur, auf der seine Mütze kaum Halt fand. Einhundertzwanzig Kilo freudestrahlendes Lebendgewicht.
Mein alter Kumpel Onno, der mir in Eutin das Autofahren beigebracht hatte. Das richtige Fahren. Mit angezogener Handbremse, Powerslide und hundert um die Kurve, für den Anfang. Onno, der Namenspate meines Sohnes.
»Alter, was machst du für Sachen?«, fragte er mich. »Schickst mich elektronisch nach Afrika? Als endlich jemand ranging, redete der auf irgendeiner merkwürdigen Sprache auf mich ein. Da war mir klar, da ist was faul im Staate Dänemark.«
»Das war das Signal von meinem Handy, Onno. Das hatten mir die Bösen abgenommen und auf die Reise geschickt, nach Genua«, erklärte ich ihm und atmete erleichtert aus. »Und von dort wird es wohl nach Afrika gereist sein. Was für ein tolles Gerät, dass es noch so lange Saft hatte. Mensch, und jetzt ist es weg.«
Mein Handy war mein letzter Hilferuf gewesen, den ich in den wenigen Minuten abgesetzt hatte, die mir meine Entführer gegönnt hatten. Ich hatte Onno gebeten, meinen Standort damit zu verfolgen. Aber den Trick kannten diese Leute auch. Sie hatten dafür gesorgt, dass es woandershin reiste als ich. Und den GPS-Sender, den ich zusätzlich verschluckt hatte, hatten sie mir aus dem Magen gepumpt und zusammen mit dem Handy auf die Reise auf einen vorbeifahrenden Lastwagen geworfen.
»Mensch, gut dass du da bist«, sagte ich zu ihm. »Ich wusste schon nicht mehr, ob ich noch echt bin, mal wieder in einem Krankenbett, mehr tot als lebendig. Habe ich langsam genug von. Wie hast du mich gefunden? Über meine Dienststelle?«
»Halb erfrorener Mann am Strand in Norddeich gefunden, wie es in der Zeitung stand, da war mir klar, das kannst nur du sein«, grinste er. »Nachdem dein Signal nach Afrika gereist war und du nicht zu erreichen warst. Dann habe ich die Kliniken durchgeklingelt und nachgefragt. Und Bingo. Bin sofort hergekommen.«
Er zog die Linke, die er die ganze Zeit hinter seinem Rücken verborgen gehalten hatte, nach vorn und streckte sie mir entgegen. Ich sah das neueste Modell meiner Handymarke vor mir.
»Ich dachte mir, du brauchst bestimmt ein neues Gerät, wenn dein altes verreist ist. Ist sogar schon alles drauf, was auf dem alten Handy drauf war, Lucky Luke. Ich musste dazu dein Cloud-Backup hacken, aber hör mal. Liselon2020, da habe ich schon bessere Passwörter geknackt. Lisa, Ella, Onno. Ich habe dir ein sicheres aufgespielt, klebt hinten drauf. Entsperrung über Gesichtserkennung, auch von deinem alten Modell übernommen.«
Er hielt mir das neuste Modell der Handyfirma mit dem angebissenen Stück Obst als Logo hin. »Hier, Alter. Was war denn los?«
»Gleich.« Ich hörte ihm kaum noch zu. Ein Handy mit allen Nummern drauf! Ich war Onno nicht mal böse, dass er meine Accounts geknackt hatte. Wenn das einer durfte, dann er.
Ich probierte sofort die Nummer eines Billig-Handys aus, die wir für absolute Notfälle vereinbart hatten. Lisa hatte das auf den Kapverden erworben und noch nicht aktiv benutzt.
Die Nummer war tot.
»Mann, Alter, hör mir doch erst mal zu«, ermahnte mich mein Freund. »Ich habe auch beim LKA angerufen und mich schlaugemacht. Lisa ist nicht mehr am selben Ort, sie ist auf eigenen Wunsch umgezogen, Handy hat sie auch keins mehr. Sie und die Kurzen bleiben noch ein paar Tage zur Sicherheit dort, wo auch immer sie gerade sind, dann werden sie zurückgeflogen. Dein Fall ist gelöst, sie erholen sich von dem Stress und sind bald wieder hier.«
Hatte ich einen Fall gehabt? Das war alles in weite Ferne gerückt, obwohl es doch erst zwei, drei Tage her sein konnte. So richtig hatte ich meine Erinnerungen noch nicht wieder sortiert. Wenn ich noch echte Erinnerungen hatte. Und wenn es meine eigenen waren und die mir nichts anderes eingepflanzt hatten.
Ach ja. Ich wusste noch, worum es gegangen war. Zwei Gruppen hatten sich um die riesigen Gaslager unter Etzel gestritten, hier oben in Ostfriesland, wo die größten strategischen Öl- und Gasreserven der Bundesrepublik lagerten.
Eine russische Gruppe, die dafür sorgen wollte, dass das Gas aus Nordstream 2 dort hingelangen würde, und eine amerikanische, die das Flüssiggas LPG in Wilhelmshaven anlanden und unter Etzel speichern wollte. Es hatte einige Tote gegeben, bis eine dritte Macht den Streit geschlichtet hatte. Dieselben Leute, die alle Informationen aus mir rausgeholt hatten und die veranlasst hatten, dass ich in der Kälte im Watt ausgesetzt wurde. Die hatten dafür gesorgt, dass der Streit zwischen den beiden Großmächten beigelegt worden war.
Wohlerzogene Leute, höfliche Menschen, die mich unter Drogen hypnotisiert hatten.
Diese Leute, von denen ich immer noch keinen blassen Schimmer hatte, wer sie waren, hatten hinter sich aufgeräumt. Wer waren sie? Das BKA, der BND? Agenten der Wirtschaft? Von einer Versicherung, wie Hinnerk gemeint hatte, als Sorgenträger der Wirtschaft? Ich hatte null Ahnung.
»Onno, der Fall ist nicht gelöst. Da hat nur jemand geschlichtet und anschließend alles unter den Teppich gekehrt. Die haben für eine Einigung zwischen den Russen und den Amis gesorgt. Aber die Morde an den jeweiligen Killern sind trotzdem nicht aufgeklärt worden. Oder etwa doch? Während meiner Abwesenheit?«
»Ich weiß nur, was im Fernsehen kam und in der Zeitung stand, Alter. Alles aufgeklärt, Fall abgeschlossen.«
Ich schloss kurz die Augen.
»Stimmt nicht. Wir waren an einem Adrian Holzner aus Bremen dran, wenn das sein echter Name war. Und der war mit großer Wahrscheinlichkeit der Mörder von McDeath, das ist das Pseudonym eines russischen Profikillers, in Esens. Oder ist der Holzner verhaftet worden?«
Onno dachte nach. »Nichts von gehört.«
»Und in McPomm gab es einen Mord an einem John Ross. Nicht mein Gebiet, aber bestimmt auch nicht aufgeklärt.« So viel an Informationen hatte mein Schädel doch noch bereitgestellt.
Die beiden Mordopfer waren diejenigen gewesen, die für ihre jeweilige Seite missliebige Zeugen und Überläufer beseitigt hatten. Denn sowohl die Russen als auch die Amis wollten der Alleinlieferant der Bundesrepublik für Erdgas werden und hatten dabei Handlanger eingesetzt, die das mit Gewalttaten gegen die andere Seite dick unterstrichen hatten.
Trump wollte Nordstream II auf jeden Fall verhindern und hatte sogar schon Häfen deshalb verklagt, in denen Material für die Pipeline lagerte. Und die Russen hatten Anlagen sabotiert, durch die das amerikanische Flüssiggas fließen sollte.
Die Leidtragenden waren wieder einmal wir Ostfriesen gewesen, mindestens eines der Gaslager unter Etzel war uns um die Ohren geflogen, Menschen waren gestorben.
Enno kratzte sich seinen Igel.
»Lass mal lieber die Finger davon, Lucky Luke, sonst ist es mit deinem Glück eines Tages vorbei«, warnte er mich. »Oder geh doch gleich zum BKA, dann sitzt du an der Quelle. Wir brauchen dich noch, Alter, und Lisa und die Kurzen ganz besonders.«
Womit er Recht hatte. Ich musste mir wirklich nicht alle Schuhe anziehen, die lose in der Gegend herumstanden. Dennoch wurmten mich ungelöste Fälle.
»Wo steckt Lisa denn jetzt?«, fragte ich Onno.
»Keine Ahnung. Woanders, das LKA durfte mir das nicht sagen. Ich glaube, die wussten es selbst nicht.«
Ich griff zum Handy. »Hast du alles übertragen? Auch die Buchmarken und alles aus dem Browser?«
Onno runzelte die Stirn. »Alles, was auf dem Backup in der Cloud war, Alter. Sieh doch mal nach.«
Ich suchte im Browser nach einer Seite über das deutsche Reinheitsgebot, musste die Adresse dann aber doch per Hand eingeben und mir mein Passwort wieder einfallen lassen.
Ach ja, ich wusste es noch. Eine Kombination aus dem Pils aus der Heimat und den Sprachgewohnheiten der Piraten aus Asterix.
Friesisch_’erb!
Auf dem entsprechenden Blog war ein Eintrag von Hiltrud Hammerstein, Lisas Codenamen.
»Eins von den dreißig Bierchen gestern war wohl schlecht«, hatte sie am Vortag eingegeben. »Heute wieder gut. Frische Luft tut gut.«
Also wusste sie, dass sie in Gefahr geschwebt hatte. Und frische Luft stand wohl für einen neuen Ort. Ich war beruhigt. Den Rest würde ich noch erfahren.
»So ein frisches Pils hätte ich jetzt auch gern. Gilt das Reinheitsgebot eigentlich auch für die Luft?«, schrieb ich als Kommentar dazu.
Habe Sehnsucht nach dir, und ist die Luft rein?, sollte das in etwa bedeuten.
Die Antwort kam postwendend.
»Jau. Prost.«
Onno sah mich fragend an. »Alles in grünen Tüchern«, sagte ich ihm und wischte mir etwas salzige Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln. Reste vom Meerwasser vermutlich.
»Kannst du mal nachsehen, ob mein Hausschlüssel noch in der Hosentasche steckt? Die müsste da im Schrank liegen.«
Onno folgte meinem Fingerzeig und sah nach. »Ja. Alles da, selbst dein Geldbeutel.« Er sah mich fragend an.
»Willst du dich etwa selbst entlassen?«
»Na ja, ich war ja nur unterkühlt, nicht krank oder tot. Versuch doch draußen mal einen Arzt zu finden. Ich brauche auf jeden Fall einen Entlassungsschein. Das letzte Mal, als ich mich selbst entlassen habe, glaubten die Leute, ich wäre ein Zombie.«
Ich war vor einem halben Jahr mit bandagiertem und blutigem Kopf und in den Klamotten eines toten Nazis durch die Gegend gerast, um diejenigen zu finden, die meine Wunden verursacht hatten. Die Urlaubskiller, die ich schließlich zur Strecke gebracht hatte.
Während Onno draußen war, dachte ich über meine Optionen nach.
Ich konnte aufgeben und mich ausschließlich um die Familie kümmern. Lisa verdiente als Ärztin und Rechtsmedizinerin genug.
Ich konnte weitermachen und trotz aller Warnungen und Verbote nach den noch verbliebenen Mördern in der Kette der Gewalt suchen. Und damit in einen Brotkorb langen, der vier Stockwerke über meinem hing, auf die Gefahr hin, dabei draufzugehen. Das durfte ich meiner Familie nicht antun. Oder doch? Weil die Gerechtigkeit um jeden Preis siegen musste?
Vielleicht sollte ich die Einladung wahrnehmen, zum BKA zu gehen. Damit war ich brotkorbmäßig schon näher dran an dem Fall und seinen Tätern. Musste ich dann nach Karlsruhe oder Berlin umziehen? Ich wollte hier nicht weg. Das konnte ich meiner Familie auch nicht antun. Ich musste prüfen, was das bedeuten würde.
Oder ich ließ alles sacken, vertraute den Weisungen meiner Chefs und Ratgeber und kümmerte mich ausschließlich um das, was in meinen Bereich fiel. Dienst nach Vorschrift. Ostfriesentorte und Tee, Jever Pilsener und Klönschnack, langsam dicker werden.
Das konnte ich meiner Familie ebenfalls nicht antun.
Mein erster Impuls vor einiger Zeit wäre gewesen, ach was, scheiß der Hund drauf, ich mache weiter und finde die Schurken. Am Schluss werden mir alle dankbar sein.
Inzwischen war ich etwas gelassener geworden. Wie ich mein Glück oder Unglück kannte, würde die Lösung schon auf mich zukommen. Ich würde Dienst nach Vorschrift schieben und vor allem dafür sorgen, dass die Familie wieder komplett und gesund zu Hause war. Alles andere durfte getrost warten. Denken und ein ganz klein wenig recherchieren durfte ich ja wohl.
»Ich verstehe schon, dass du gleich wieder aus der Klinik rauswillst, Alter«, druckste Onno herum. »Vor allem wegen dieser neuen Umwelt-Geschichte hier unten bei euch.«
Unten war gut. Ich empfand Ostfriesland immer als ganz oben in Deutschland. Aber Onno kam aus Kiel, das war noch weiter nördlich. Für ihn war Ostfriesland schon fast Sizilien.
»Hä?« Ich sah ihn stirnrunzelnd an. »Was meinst du?«
Er sah sich nach einem Stuhl um, unterzog ihn einer optischen Prüfung und ließ sich dann vorsichtig mit seinem Lebendgewicht darauf nieder.
»Denk mal an deinen ersten Fall, Lukas«, erinnerte er mich. »Als du noch klein warst, das hast du mir mal erzählt. Da hatte einer bei Wittmund einen Baum mit einem Adlerhorst darauf abgesägt. Du hattest noch die Küken gefunden.«
Das stimmte. Ich hatte die beiden kleinen Federbälle in Gießharz gebettet bei mir auf dem Schreibtisch stehen.
»Und?« Ich war mir nicht sicher, worauf er hinauswollte. »Mach doch mal das Fenster auf, mir ist immer noch viel zu heiß hier drin.«
»Ich finde es eher kalt«, fand er, stand aber doch auf und stellte eines der Fenster auf Kipp.
»Also«, sagte er, von mir abgewandt. »Das ist schon wieder passiert. Im Ammerland hat einer eine hundert Jahre alte Eiche umgelegt, auf der ein Adlerpärchen ein Nest angelegt hatte. Das war wohl der neuen Autobahn im Wege, und ein Windpark sollte dort in der Nähe auch entstehen. Und Anglervereine gibt es da ebenfalls zuhauf, die mögen das nicht, wenn ihnen ein Adler die Fische wegschnappt.«
Genau wie im Adlerkiller, dachte ich. So hatte ich meinen ersten Fall genannt. Da hatte ein Bauer Adler vergiftet und einen Horstbaum umgelegt. Allerdings nicht für die Windkraftplaner, wie ich anfangs gedacht hatte, sondern aus ganz anderen Gründen. Der Bauer war selbst dabei draufgegangen. Mein erster Toter. Lange her.
»Schiet«, sagte ich. »Haben die Kollegen schon jemanden geschnappt?«
Er schüttelte den Kopf und setzte sich wieder. »Da hat keiner was gesehen, gehört oder gerochen. Man kann nur vermuten, was da passiert ist.« Er schnaubte. »Das ist jetzt schon ein paar Tage her, finde ich merkwürdig, dass du das nicht mitgekriegt hast. Aber …«
»Aber was?« Mir schwante nichts Gutes.
»Das hat vielleicht was mit diesem anderen Fall zu tun, dachte ich.«
»Du redest in Rätseln, Kumpel«, meckerte ich. »Welcher andere Fall?«
»Es hat einen Mordfall bei euch in der Gegend gegeben. Keine Ahnung, ob das tatsächlich zusammenhängt.«
Ich versuchte, mich aufzurichten, und merkte dabei, wie schwach ich noch war.
»Wie jetzt? Und wieso weiß ich nichts davon?«, fragte ich ihn.
Dazu sagte er nichts. »Du, ich muss wieder«, erklärte er mir. »Brauchst du noch was? Handy hast du ja nun wieder, Wohnungsschlüssel auch. Weißt du was?«
Er stand auf und machte einen Schritt zur Tür.
»Ich werde mal mit dem Arzt reden. Vielleicht kann er dir was zur Stärkung geben und dich dann nach Haus bringen lassen.«
Er sah auf seine Sportuhr. »Ich bin eigentlich im Dienst. Sag, wenn du noch was brauchst, Alter.«
»Ne Stärkung wär schon gut«, krächzte ich. »Lange möchte ich hier nicht das Bett hüten.«
»Ich lass dir eine Kiste nach Haus liefern«, versprach er. »Für morgen. Schlaf dich aus.«
Er stand bereits in der geöffneten Tür. »Bis die Tage, Lukas.«
Ich nickte nur.
Eine halbe Stunde später hielt ich es nicht mehr aus. Ich musste wissen, was los war. Ich hatte versucht zu schlafen, aber das funktionierte nicht. Außerdem würde es bald Abendbrot geben.
Ich rief Svantje an, meine lange und dürre Kollegin mit dem roten Afro, die bekanntlich auch als Leuchtturm einen ordentlichen Job gemacht hätte.
»Lukas?«, staunte sie statt des üblichen »Moin«. »Ich dachte, du wärst erfroren? Sozusagen tot? Kam vor ein paar Tagen über den Notruf. Warst du das gar nicht?«
»Hör ich mich so an?«, fragte ich zurück. »Ich war knapp davor. Erfrieren ist übrigens ganz angenehm, falls dir mal was Ähnliches passiert. Das war ein Mordversuch, Svantje. Irgendjemand wollte mich aus dem Verkehr ziehen und auf Eis legen. Sieht man mir zwar so direkt nicht an, aber ich wusste wohl zu viel.«
»Boah«, sagte sie. »Hätte ich nie gedacht.«
»Sag mal«, fragte ich sie beiläufig. »Bei uns ist schon wieder was passiert, höre ich. Was war denn los?«
Sie machte einen Ton, der wie hng klang. »Bist du überhaupt schon wieder im Dienst, Lukas?«
»Ein Polizist ist immer im Dienst, Svantje.«
»Echt jetzt? Ich habe in drei Stunden frei, da kümmert mich dann nicht wirklich mehr was«, gestand sie.
»Was war denn jetzt? Kannst du mir das sagen?«, insistierte ich. »Hatte das was mit unserem letzten Fall zu tun?«
»Nö«, hörte ich sie lächeln. »Ganz alltäglicher Mord. In Eversmeer ist heute Morgen ein Mann vor seinem Auto erschossen worden, als er gerade einsteigen wollte.«
»Und das findest du normal? Komm, erzähl mir mal mehr darüber.«
»Ach, hier wird doch täglich gemordet, Lukas«, fand sie. »Steht doch fast jeden Tag in irgendwelchen Büchern, das weißt du doch. Da schreiben die sogar Krimis drüber. Also dieser Fall, der hat mit Verbrechen gegen die Umwelt eher nichts zu tun, Lukas«, meinte sie. Denn meine kleine Abteilung des LKA Niedersachsen, der außer mir und Svantje noch Hinnerk Tjaden angehörte, ein erfahrener Analyst, war für Umweltverbrechen und den Kampf gegen die organisierte Kriminalität im Großbereich Ostfriesland zuständig. Gewöhnlicher Mord war Sache der Kripo Wittmund. Und die behandelte das gern selbst.
Ich überlegte, wie man eigentlich Würmer in die Nase bekommen konnte, und was hinter dem Spruch steckte. Ich kam mir komisch vor, als ich ihn aufsagte. »Muss ich dir denn alle Informationen einzeln wie Würmer aus der Nase ziehen, Svantje? Erzähl mir einfach alles, was du darüber weißt. Ich liege hier nämlich im Bett in der Klinik und langweile mich. Fernsehen habe ich auch nicht, nicht mal eine Zeitung. Und auch keins von diesen Büchern. Schieß los, bitte.«
»Tja«, sagte sie gedehnt. »Also. Der Typ war ein ehemaliger Mitarbeiter der Uni Oldenburg, aber seit sechs Jahren selbständig. Studiert hat er dort auch, später auch noch an der Bundeswehr-Hochschule in Hamburg. Er war vier Jahre beim Bund. Die Kollegen hier vermuten, dass der Mord damit zusammenhängt. Er ist nämlich mit einem Nato-Gewehr, einem G 36, erschossen worden. Einzelner Schuss aus der Distanz in den Kopf. Volltreffer. Ein Profi am Werk, ein Scharfschütze. Vermutlich eine Racheaktion für irgendwas.«
Sie atmete aus und kratzte sich die rote Afromatte, wie es klang. Mein Hund Jackie machte einen ähnlichen Sound, wenn er durch eine vertrocknete Hecke sprang.
»Ach ja, der Typ war unverheiratet und wohnte allein. War nicht oft zu Haus, viel unterwegs. Ein Jan Mertens.«
»Eine Racheaktion von einem alten Kameraden?«, vermutete ich ins Blaue. »Weißt du, ob da mal was war? Eine Frauengeschichte, ein Zwischenfall? Wenn der studiert hat, war der vermutlich Offizier. Vielleicht war er ja ein Schleifer, oder er hat einen anderen Soldaten in Afghanistan oder Mali in der Scheiße hängen lassen. Gibt es da was zu?«
»Jenseits meiner Hutschnur«, seufzte Svantje. »Was ganz anderes. Wann wirst du entlassen? Soll ich dir eine Torte backen, für deine Rückkehr ins Revier?«
Svantje wusste, worauf es im Leben ankam.
»Aber sicher. Mit viel Rum und vielen Rosinen, Svantje.«
Sie sagte zu und versprach mir eine Überraschung, ich bedankte mich und legte auf.
Nach einer Weile stand ich auf, in Krankenhausklamotten, und machte ein paar Übungen, Kniebeugen, Liegestütze und Situps, obwohl mir immer noch viel zu heiß war.
Das Kind im Nachbarbett, ein Junge, wie ich jetzt an seiner Stimme hörte, fand das lustig. Ich nicht; ich musste wieder in Form kommen. Schließlich war ich nur unterkühlt gewesen, und sind wir Ostfriesen das nicht schließlich alle? Also konnte ich auch wieder raus und ran an den Speck.
Warum ich dabei an Lisa dachte, war mir selbst schleierhaft. Ich vermisste sie, das war es.
Nach dem drögen Abendessen kam der Chefarzt zu mir und erzählte mir, dass er mich eigentlich noch eine Woche zur Beobachtung hierbehalten müsste. So einen interessanten Fall hätten sie hier lange nicht mehr gehabt. Vor Jahren hätte auch mal einer im Winter in Norddeich in den Dünen gelegen und überlebt. Der hätte aber so viel Alkohol im Blut gehabt, dass das wie ein Frostschutzmittel gewirkt hätte. Heute würde er sehr erfolgreich Kühlschränke verkaufen.
»Herr Doktor, schön und gut«, ließ ich ihn wissen. »Den Tipp muss ich mir merken, danke. Aber ich habe einen Mord aufzuklären. Ich bin beim LKA, die Kriminellen hier oben sind leider nicht eingefroren, sondern machen Ostfriesland unsicher. Geben Sie mir was zur Stärkung, und dann möchte ich hier raus.«
Er sah mich stirnrunzelnd an.
»Bitte«, schickte ich hinterher.
Er sah auf meine Krankenakte und meine Kasseninfo. Er sah aus dem Fenster, es war immer noch Winter. Keine Touristen, wenig los im Krankenhaus. Ich konnte den Buchhalter hinter seiner Stirn rechnen sehen.
»Eigentlich entlassen wir Patienten höchst ungern, wenn die Heilung noch nicht genügend fortgeschritten ist«, murmelte er. »Auf Ihre eigene Verantwortung, Herr Jansen. Sie bekommen noch etwas. Die Schwester bringt Ihnen später die Entlassungspapiere. Wenn Sie dann draußen zusammenbrechen und tatsächlich erfrieren, täte mir das sehr leid.«
Er verließ kopfschüttelnd den Raum, nachdem er mir erklärt hatte, was ich mir in meinem Zustand alles einfangen konnte. Pest, Cholera und andere unschöne Todesarten.
Zwanzig Minuten später stand ein Tablett mit Obst und Fruchtsäften vor mir; die versprochene Stärkung. Ich aß trotzdem alles auf und leerte die Säfte bis auf den letzten Tropfen. Man wusste ja nie, wozu es gut war.
Zwanzig Minuten später bekam ich meine Papiere. Nach einer weiteren Stunde hatte mich ein Krankenwagen nach Haus gebracht.
Den Kasten Jever, der gut gekühlt vor der Haustür stand, die versprochene Stärkung von Onno dem Älteren, brachte ich in den Keller. Die Kleinen konnten draußen erfrieren und platzen, das hatten selbst Flaschen nicht verdient.
Ich machte die Heizung an, obwohl mir immer noch zu warm war, selbst in unserem Haus, wo es nur zehn Grad über null waren, wärmte mir eine Pizza auf und holte eines der noch kalten Biere aus dem Keller zurück. Es sollte nicht länger einsam sein.
Um zehn Uhr abends, ohne Lisa und die Kurzen, ohne Jackie, mit dem ich ums Moor ziehen konnte, ließ ich mich ins Bett fallen.
Morgen würde ich jemandem ganz gewaltig den Arsch aufreißen, nahm ich mir vor. Ich wusste nur noch nicht, wem. Ich hatte die leise Befürchtung, dass ich selbst derjenige sein konnte, dem das passierte. Mit diesem beunruhigenden Gedanken schlief ich schließlich ein.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich wieder fit. Ich machte mich fertig, frühstückte ausgiebig und fuhr um neun aufs Revier.
Erika Meier, die Erste Hauptkommissarin der Wittmunder Kripo, sah mich erstaunt an. »Was wollen Sie denn hier, Jansen?«, fragte sie, die Fäuste in die Hüften gestemmt. »Sie sind doch krankgeschrieben. Außerdem ist kaum was los bei uns hier oben. Warum fahren Sie nicht wieder nach Haus?«
»Mir liegt der letzte Fall noch im Magen«, erklärte ich. »Da läuft noch ein Mörder frei rum, den jemand beauftragt hat. Und dieser Jemand hat vor ein paar Tagen versucht, mich im Watt sterben zu lassen. Hat was Persönliches, Frau Meier. Ich mag das nicht so, wenn mich einer umbringen will.«
Sie lachte ihr tiefes Glöckchenlachen. »Schon wieder ganz der Alte, was? Aber da dürfen wir nicht ran, das liegt beim BKA, die ermitteln und werden Sie schon informieren, wenn sie die Täter haben, Jansen. Lassen Sie die Finger davon. Das nächste Mal werden Sie vielleicht nicht mehr überleben. Ich würde das ernstnehmen.«
Das liegt beim BKA. Diese Aussage ließ mich einen Moment nachdenken. Ich hatte Freunde dort. Die wollten mich in ihren Diensten sehen. Sollte ich? Aber noch war ich hier in Ostfriesland. Und da war noch was.
»Soweit ich weiß, gab’s hier oben bei uns einen Mord. In Eversmeer. Ein Mann ist auf offener Straße erschossen worden. So viel zu kaum was los, Frau Meier.«
Sie überschlug ihre Arme vor der Brust. Eine Geste, bei der man sich dem Gegenüber verschließt. Sie mochte den Gedanken nicht.
»Wollen Sie mir erklären, wie ich meinen Job zu tun habe, Jansen? Das ist immer noch mein Gebiet. Es sei denn, Sie weisen mir nach, dass der Mord organisierte Kriminalität war. Sieht nicht so aus, wenn Sie mich fragen. Oder wenn es ein Verbrechen gegen die Umwelt war. Dafür reicht ein bisschen Blut auf dem Gehweg wohl nicht aus. Mit anderen Worten: nicht Ihr Fall, Jansen. Ruhen Sie sich ein paar Tage aus. Oder fliegen Sie zu Ihrer Familie, wo immer die steckt. Urlaub. Schon mal gehört?«
Ich sah sie entgeistert an. Auf den Gedanken war ich noch gar nicht gekommen, weil das Rachevirus noch in meinen Adern kreiste.
»Vielleicht keine schlechte Idee«, gab ich zu. »Okay, dann sehen wir uns in ein paar Tagen wieder. Viel Erfolg bei der Aufklärung.«
Ich ging zurück zu meinem Büro. Lukas Jansen und einen Fall freiwillig sausen lassen, wo gab es das denn?
Auf meinem Schreibtisch stand eine grünlich aussehende Torte. Mit drei Tellern und Besteck. Daneben stand eine blauweiße Kanne, deren Tülle der Duft von Ostfriesentee entströmte. Tassen aus dem gleichen Porzellan, in denen jeweils ein großer Kluntje lag. Ein Kännchen Sahne.
Zweites Frühstück.
Svantje und Hinnerk hatten mich gehört und kamen in mein Zimmer, wo vor meinem Schreibtisch ein runder Besprechungstisch stand. Und der diente meist für unsere Rituale. Ostfriesentee und Ostfriesentorte. Es gab keine Fälle, die damit nicht gelöst werden konnten.
Hinnerk hing seine kalte Pfeife im Mund. »Moin«, quetschte er dazwischen hervor, bevor er sie rausnahm und sich setzte.
Svantje verzichtete auf die Begrüßung und kam zur Sache. »Minze, Lukas, nicht, was du denkst«, sagte sie und zeigte auf die Torte.
Sie verteilte die Tortenstücke, ich goss Tee ein, Hinnerk stopfte seine Pfeife. Anschließend ging das Sahnekännchen rum.
»Früher war das alles ganz anders«, erinnerte sich Hinnerk. »Da ging immer die Pfeife rum, die Minze war im Tee, die Torten waren draußen, dafür aber erste Sahne.«
Svantje schüttelte nur den Kopf. »Chauvi«, sagte sie. »Ich wusste doch schon immer, dass da früher was nicht in Ordnung war.«
Nach der ersten Tasse und dem ersten Stück und viel Lob an unseren Leuchtturm Svantje konnten wir zur Sache kommen.
Hinnerk klopfte sich mit dem Pfeifenkopf in die Handfläche der Rechten, nachdem ich meinen Bericht beendet hatte. »Also. Da wird also gewaltig was vertuscht, und du warst so nahe dran, dass sie dich auf die kalte Tour beseitigen wollten. Heiß.«
Eher saukalt, dachte ich, aber Svantje kam mir mit einer Antwort zuvor. »Die wollen das auf Eis legen«, analysierte sie. »Genau wie dich. Die Amis und die Russen haben sich geeinigt, oder jemand hat sie zu einem Waffenstillstand gebracht. Könnte eine Versicherungsgruppe gewesen sein, wie du glaubst. Der Wirtschaft wird das zu teuer mit den Kollateralschäden, die brauchen das Gas aus Nordstream 2 und auch das LPG dringend und ohne Störungen. Könnte auch jemand über uns gewesen sein. BND, BKA. Fall ist bereinigt, das Gas fließt, das Leben geht weiter, die Toten bleiben tot, Klappe zu, Affe tot. Du hast da nur gestört, Lukas.«
»Okay, kann alles so sein. Mich umbringen zu lassen, passt mir trotzdem irgendwie nicht in den Kram.«
Diesmal antwortete Hinnerk, der sich gerade vorsichtig ein zweites Stück Torte auflud. »Sieh das mal so, Lukas. Du hast es überlebt. Wenn du die Füße stillhältst, passiert dir auch nichts mehr, denke ich. Lass es ruhen. Vielleicht kannst du später über deine Freunde beim BKA rausfinden, was los war. In einer stillen Stunde, nicht offiziell, beim Bier. Und ruh dich erstmal aus, Mann. Flieg runter zu deinen Süßen und häng ein paar Tage ab.«
»Ich backe dir auch welche von meinen Spezialkeksen zum Mitnehmen«, schlug Svantje vor.
Das war ein Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte. Außerdem hatte ich Sehnsucht nach meiner kleinen Familie; es schien Monate her zu sein, dass wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Dazwischen war so viel passiert, ich war fast gestorben, Lisa und die Zwillinge waren ebenfalls in großer Gefahr gewesen.
Und wenn ich nicht weiterwusste, war es doch immer Lisa gewesen, meine anschmiegsame Frau mit den klugen graublauen Augen, die mir weitergeholfen hatte.
»Gut, das werde ich machen«, gab ich bekannt. »Aber da ist noch was. Geht uns zwar nichts an, aber ich habe das Gefühl, das könnte ein Umweltthema sein. Ich denke an den Mordfall Jan Mertens, bei Eversmeer. Onno meinte, das wäre doch mein Fall. Wo doch ein paar Tage vorher gerade wieder eine Eiche umgesägt worden ist, auf der ein Seeadler nisten wollte.«
Svantje schloss die Augen. Nicht schon wieder so eine Sache, die uns nichts angeht, las ich aus ihrer Mimik. Hinnerk hatte die Lippen zusammengekniffen und schüttelte sachte das weise weiße Haupt.
»Ich will ja nur, dass ihr in meiner Abwesenheit mal ein wenig aushelft«, schob ich nach. »Sonst haben wir ja nichts zu tun. Sammelt doch einfach mal ein paar Informationen. Svantje, du kannst doch gut mit Sinja, oder?«
Ich sah Hinnerk an. »Oder sprecht doch mal mit Werner Reemtsma von der Spurensicherung. Ich meine ja nur, falls sich da doch ein Fall für uns ergibt, wissen wir schon mal Bescheid.«
»Ja, ja«, murmelte Svantje. Was hier bei uns so viel wie »Klei mi an Mors« hieß. Leck mich am Arsch, auf Hochdeutsch.
»Na, na!«, ermahnte ich sie. »Gib dir ruhig mal ein wenig Mühe.«
»Aushelfen finde ich in Ordnung«, fand Hinnerk. »Du leihst uns dann praktisch an Erika Meier aus. Finde ich in Ordnung.«
Ich wusste, dass er die Erste Hauptkommissarin einfach gernhatte, was nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie war verheiratet, aber das schien ihn nicht zu stören.
»Gut. Wenn das geklärt ist, brauche ich ein Ticket auf die Kapverden, Holzklasse, ist ja privat. Kannst du mir was Günstiges raussuchen, Svantje?«
Sie setzte sich an ihren Computer, während Hinnerk und ich uns über die vergebens geleistete Arbeit in unserem Fall unterhielten. Wir brauchten nicht lange, bevor Hinnerk sich bereiterklärte, mal in Bremen unauffällig bei dem Mordverdächtigen von unserem letzten Fall vorbeizuschauen, um mehr über ihn herauszufinden.
Und ich nahm mir vor, Werner Heim und Klaus Brunner anzurufen. Sie hatten mir angeboten, zum BKA zu kommen, weil sie meine Hartnäckigkeit schätzten. Vielleicht konnte ich sie ja dazu bewegen, mir etwas mehr über den letzten Fall mitzuteilen. Ob ich ihr Angebot annehmen würde, musste ich mir noch reiflich überlegen.
Svantje hatte etwas gefunden.
»Du kannst über London und Lissabon nach Praia fliegen, Lukas«, berichtete sie. »Unter sechshundert Flocken. Allerdings hast du ein paar Stunden Aufenthalt in London. Wolltest du da nicht sowieso …?«
Wollte ich? Was meinte sie? Dann fiel es mir wieder ein. Viele der bedeutenden Banken, Versicherungen und Rückversicherungen Europas hatten dort Standorte, wegen des weitaus lockeren Regelwerks. Von dort aus steuerten sie die Geldflüsse und regelten, was zu regeln war. Zum Beispiel, dass das Erdgas aus Russland weiter floss und auch die Amis besänftigt wurden, ohne sich bei uns in Ostfriesland einen Privatkrieg leisten zu müssen.
Sie regulierten das auf ihre eigene stille Weise. Sie hatten die Killer beider Seiten aus dem Verkehr gezogen. Aber auch ein Mord an einem Mörder bleibt eine Straftat, und bei so etwas bin ich kein bisschen nachgiebig.