Der Tote vom Töpfermarkt - Nick Stein - E-Book

Der Tote vom Töpfermarkt E-Book

Nick Stein

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Beschreibung

Ausgerechnet am Tag des großen Fests liegt ein Toter in der Festscheune. Was tun? Die Polizei zu rufen, kommt nicht in Frage. Der Markt würde sofort beendet werden, und das wäre eine Katastrophe für das niedersächsische Dörflein Großenrode. Das Dorf muss wohl oder übel selbst ermitteln. Und was es nicht alles zu klären gibt! Wer ist der Tote? Ist es tatsächlich Brad Pitt, oder sieht er ihm nur sehr ähnlich? Viele Indizien deuten darauf hin, dass der amerikanische Schauspieler hier ermordet worden ist. Während der Töpfermarkt weitergeht, das große Ereignis, das alle zwei Jahre Südniedersachsen erschüttert, beginnen die Dörfler mit ihren Untersuchungen. Und sie kommen zu erstaunlichen Ergebnissen. Ist der Tote an Hornissenstichen verendet? Oder an den Bissen von Vampirfledermäusen? Ist er gar mit einer teuren Vase erschlagen oder vergiftet worden? Jeder folgt einer anderen Theorie, ein wenig recht haben alle mit ihren Vermutungen. Schließlich ruft ein Verwandter den ostfriesischen Kommissar Lukas Jansen auf den Plan, damit er dem Dorf bei der Aufklärung hilft. Das Ergebnis seiner Arbeit überrascht nicht nur ihn selbst "Der Tote vom Töpfermarkt" ist eine lustige Krimi-Komödie, die ein Dorf und seine Bewohner von innen durchleuchtet. Es macht Spaß, den Bewohnern bei der Arbeit zuzusehen… Wer mag, kann Menschen, die den handelnden Personen ähneln, auf dem echten Töpfermarkt selbst am Muttertagswochenende 2021 begegnen. Wer weiß, vielleicht findet sich auch diesmal wieder ein Toter, dessen Geschichte niemand kennt!

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Seitenzahl: 217

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Nick Stein

Der Tote vom Töpfermarkt

Eine nicht ganz ernst zu nehmende Kriminalkomödie

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

Impressum neobooks

KAPITEL EINS

Dies ist eine fiktive Geschichte. Der Schauspieler Brad Pitt war bisher noch nie in Großenrode; vielleicht erscheint er ja zum nächsten Töpfermarkt, wer weiß.

Den Ort Großenrode bei Göttingen und den Töpfermarkt gibt es dagegen wirklich. Der Markt findet alle ungeraden Jahre am Muttertagswochenende statt und ist tatsächlich eine der großen Attraktionen der Region.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind, falls vorhanden, nicht böse gemeint, wenn sie nicht ohnehin rein zufällig sind.

Der Schauspieler Brad Pitt war bisher noch nie in Großenrode; vielleicht erscheint er ja zum nächsten Töpfermarkt, wer weiß.

Wer sich allerdings dennoch wiederzuerkennen glaubt und sich auf den Schlips getreten fühlt, möge sich beim Autor melden, der sie oder ihn dann gern in das Vorbild der »Flüsterecke« auf ein Bier einlädt. Das gleiche gilt für alle, die gern dabei gewesen wären, sich aber nicht in der Geschichte wiederfinden.

Wer gern dabei gewesen wäre oder im nächsten Band aus Großenrode dabei sein möchte, sollte das den Autor wissen lassen.

Tiere sind bei der Herstellung dieses Krimis nicht zu Schaden gekommen. Die erwähnte Herdenschutzziege ist zwei Tage vor Abfassung dieses Werks Mutter eines wunderschönen Zickleins geworden. Auch Fuchs und Habicht sind wohlauf. Vom Verbleib eines Wolfs ist nichts bekannt.

Die Legenden vom Jäger Hackelberg und von den Männlein aus den Höhlen unter der Plesse entstammen dem antiquarischen Buch »Niedersachsens Sagenborn«.

Jetzt wünsche ich allen Lesern viel Vergnügen mit meinem nicht ganz ernst zu nehmenden Großenrode-Krimi.

Großenrode, im April 2019

Nick »Knitterton« Stein

DER TOTE VOM

TÖPFERMARKT

Eine nicht ganz ernst zu nehmende

Kriminalkomödie

Nick Stein

DER TOTE

»Da liegt jemand in der Ecke«, flüsterte die junge Frau ihrem Begleiter zu. »Iiih, der sieht aber scheiße aus! Der ist doch nicht etwa tot?«

Der junge Mann neben ihr, noch leicht beduselt vom letzten Abend, schlug sich die Hand vor den Mund und erbleichte. »Ich glaube, du hast recht«, flüsterte er zurück. Obwohl zum Flüstern gar kein Grund vorlag. Es war früh am Tag, die Tausende von Besuchern, mit denen am Muttertag gerechnet wurde, hatten sich noch nicht eingefunden. Jedenfalls nicht hier, in der Scheune mit den Schmuck- und Stickereiständen neben dem großen Pufferstand. Die ersten Leute würden allerdings bald da sein, sobald Fred Kühne begann, seine berühmten Kartoffelpuffer zu braten. Sobald deren verführerischer Duft durchs Dorf zog, würden schnell Hunderte von Besuchern eintreffen.

Die beiden jungen Leute traten vorsichtig an den Körper heran, der verrenkt in einer Ecke lag. »Mein Gott, den hat es aber schwer erwischt«, kommentierte der Neunzehnjährige, der seiner Freundin helfen sollte, die Stände auf den Ansturm der Besucher vorzubereiten.

Sophia Kühne, die Schwiegertochter des besten Kartoffelpufferbäckers zwischen Flensburg und Berchtesgaden, hielt sich den Magen. »Ich glaube, ich muss gleich kotzen«, kündigte sie an. Ihr Freund Finn sah sich bereits nach einer Tüte um, fand aber nur eine wunderschön bestickte Umhängetasche, an der noch das Preisschild hing. »Scheiß auf die zwanzig Euro«, sagte er und hielt ihr die Tasche hin.

Während Sophia in das Kunsthandwerk brüllte, schielte sie gleichzeitig zur Leiche hinüber. Der Mann sah aus, als ob er in einen Schredder geraten wäre. Am Leib trug der Mann ein schickes kurzärmeliges Hemd, das mit Blutspuren und Dreck verschmiert war. Zum Bedauern von Sophia, denn das Kleidungsstück bedeckte einen kräftigen, sportlichen Männerkörper. Der Tote hätte mit einem sauberen Hemd viel schöner ausgesehen, fand sie.

Ein Schuh fehlte, beim anderen waren die Schnürsenkel offen. Vorn am rechten Unterschenkel klaffte ein langer, tiefer Riss durch Bein und Hose, aus dem viel Blut ausgetreten war. Die dünne, beige Leinenhose, die er trug, war von dort bis ganz nach unten rostbraun verfärbt. Das linke Hosenbein war hochgekrempelt, das rasierte Bein darunter sah aus wie ein Streuselkuchen.

Was Finn an den Kuchen erinnerte, den er gestern hier im Café Kühne zu sich genommen hatte. Der beste zwischen Einbeck und Göttingen, immerhin, doch jetzt wollte er zusammen mit den Puffern und anderen leckeren Sachen vom Samstag wieder hinaus ins Freie. Finn hielt die Tasche weiter auf und steckte seinen Kopf neben den von Sophia. Dann wischte er sich den Mund ab. »Mist, das Ding ist nicht dicht«, entdeckte er, griff sich eine weitere von den kostbaren Umhängetaschen, diesmal eine aus einer Art Jeansstoff, und zog sie über die erste. Dann kam es ihm erneut hoch.

»Kuck mal, die Wunde am Kopf.« Er wies mit dem Finger darauf, nachdem er sich mit dem Ärmel den Mund abgewischt hatte. »Ist das ein Stück Keramik, das da drinsteckt?«

Was gut beobachtet war. Von der Keramik lebte der Töpfermarkt in Großenrode bei Göttingen, der alle zwei Jahre am Muttertagswochenende stattfand und Besucher aus ganz Deutschland anzog. Keramik, Töpfe, Porzellan, Kunstwerke, Gebrauchsgegenstände, wenn etwas professionell gebrannt, geformt und bemalt worden war und auch noch gut aussah, dann konnte man es hier bestaunen. Neben vielen anderen schönen Dingen, die ebenfalls zu haben waren, zu kleinen, mäßigen und sehr hohen Preisen.

Sophia trat einen Schritt näher und streckte den Kopf vor. »Hm. Könnte sein. Da ist auch ganz viel Blut, Finn. Und was ist das da am Hals? Kannst du das erkennen?«

Sie drehte sich wieder weg und hielt sich erneut den Magen. Ihr Freund, die Kotztüte noch in der Hand, weit von sich gestreckt, spähte den Hals des Toten aus. »Sieht aus, als ob er in einen Stacheldraht gekommen wäre. Oder sogar wie kleine Bisse.«

Er trat einen Schritt zurück. »Scheiße!«, rief er. Womit er nicht die Leiche meinte, sondern einen kleinen Haufen, den ein Mischlingsrüde am Tag vorher dort unbemerkt abgesetzt hatte, während sein Herrchen es ganz bewusst nicht mitbekommen hatte. Finn scheuerte mit dem Schuh in der Streu auf dem Boden hin und her, um ihn zu säubern. Den Schuh, nicht den Boden.

»Scheiße!«, rief er dann nochmals. »Was machen wir jetzt? Wenn wir die Polizei holen, ist Sense mit dem Markt. Sophia, was sollen wir tun? Oder lassen?«

Seine ebenfalls neunzehnjährige Freundin war einen Schritt näher an den Toten herangetreten. Ihre Neugier und der jahrelange Aufenthalt in der Landwirtschaft, der sie gegenüber Blut und Mist gestählt hatte, waren stärker als die Furcht vor der Leiche. »Hier liegt noch ein Glas, neben seiner Hand. Vielleicht hat er sich ja auch vergiftet«, fand sie. »Da ist irgendwie Kacke drin.«

Finn hatte sein Smartphone aus der Tasche geholt und machte von allen Seiten Fotos. Vor allem vom Gesicht, bei dem er die herabgerutschte Hornbrille wieder zurechtrückte, damit der Tote etwas besser zu erkennen war. Finn hatte eine App zur Gesichtserkennung auf seinem Handy, an deren Entwicklung er mitgearbeitet hatte. Die würde er gleich starten, nahm er sich vor. Aber erst mal musste er sich die Leiche genauer ansehen.

An einem Arm, der hinter dem Corpus verdeckt gelegen hatte, entdeckte er eine weitere Wunde. »Ist das eine Bisswunde?«, fragte er seine blonde Begleiterin. »Oder was?«

Sophia wehrte gerade einen Terrier ab, der den Weg aus dem Haus zu dem für ihn attraktiv duftenden Verblichenen gefunden hatte. »Nicht, Luna, zurück!«, befahl sie der schwarz-weißen Nase auf Beinen. Sie nahm die Hündin hoch. »Ich gehe rein und sage deinem Papa Bescheid. Wir müssen was tun.«

Finn nickte und trug seine beiden teuren Taschen mit ausgestrecktem Arm zum nächsten Mülleimer.

Sophia fand ihren zukünftigen Schwiegervater vor dem Backofen, in den er gerade vier Bleche mit Keksen schob, die alle wie Schwalben geformt waren. Er bückte sich dazu, auf seiner hohen Stirn, die fast bis zum Nacken reichte, glänzte bereits der Schweiß. »Fred«, flüsterte sie, obwohl sie immer noch niemand anderes hören konnte. »In der Kunstscheune liegt eine Leiche. Ruf bitte nicht die Polizei, sonst ist hier alles vorbei.«

Fred Kühne wischte sich die Stirn und sah die hübsche junge Frau erstaunt an. »Wie, eine Leiche? In der Scheune? Wer soll das sein? Eine Schnapsleiche, meinst du, oder?«

Sophia schüttelte den Kopf. »Kenne ich nicht. Sieht sehr tot aus. Und da ist überall Blut. Und der ist irgendwie überall zermalmt, zerrissen, voller Bisse und kleiner Wunden. Und ein Schuh fehlt auch. Sieht teuer aus, der Schuh.«

Sophia achtete immer sehr auf Schuhe bei den Leuten. Wer gepflegte und gut gemachte Schuhe hatte, der hatte bei ihr sofort einen Stein im Brett. Finn hatte sie in einem Schuhgeschäft in Göttingen kennengelernt, als er sich gerade das beste Paar im Laden angezogen hatte und darin aussah wie ein junger Gott. Zumindest an den Füßen. Der Rest hatte ihr dann aber auch gefallen. Schon allein der Schuhe wegen.

Der große Bio-Landwirt schloss die Ofenklappe. »Zeig mir das bitte mal.«

Über den Hof sah er, dass von der Straße her bereits die ersten Besucher auf den Hof wollten. Auf dem es außer Kartoffelpuffer auch noch andere Leckereien, Musik, Spiele und viel Gutes zu kaufen gab. Und Kuchen. Er sah, wie Finn, mit einer vollen Tasche in der Hand, die ersten Besucher in ein Gespräch verwickelte und verzweifelt nach hinten sah. Hier war Eile geboten.

Fred Kühne hatte kein Problem mit dem Tod. Er schlachtete auch selbst und wusste, wie Säugetiere von innen und außen aussahen und wie viel Blut und andere leckere Sachen in ihnen steckten.

»Schöner Mann«, fand er. »Sieht aus wie Brad Pitt, finde ich.«

»Mensch, Papa, der ist tot, und du vergleichst ihn mit Brad Pitt?« Sophia war außer sich. »Was machen wir denn jetzt mit dem?«

Dass der Mann jemandem ähnelte, hatte Finn daran erinnert, dass er seine App starten wollte. Das Ergebnis seiner Suche war, dass der Tote nicht nur wie Brad Pitt aussah. Sondern es auch sein musste. Die App hatte ihn sofort erkannt. Finn bekam den Mund nicht mehr zu. »Das könnte er tatsächlich sein«, kommentierte er.

Wenn Fred Kühne außer den vielen Sachen, die er sowieso konnte, noch eines konnte, dann war es schnell denken. »Der muss hier schleunigst weg. Aufklären müssen wir das selber, du hast völlig recht, die Polizei macht uns den Markt dicht. Wir kennen doch selber Leute, die Ahnung von so was haben. Hör zu. Ich hole den Trecker mit dem Frontlader und eine Plane. Da packen wir den rein. Es wird heiß heute, der fängt uns sonst an zu müffeln.«

Auch das kannte er. Vandalen hatten ihm mal ein Kalb auf der Weide getötet, das hatte ebenfalls rasch zu stinken begonnen, allerdings im September, nicht im Mai. Was aber von der Temperatur her ähnlich war. Luna hatte es toll gefunden, der Hund hatte sich jedes Mal wieder an der Stelle im Gras gewälzt. Das roch so gut!

Fred Kühne hielt seine Kühe nicht im Stall, sondern immer als Familie auf der Weide, ein Bulle, einige Kühe und ihre Kälber friedlich miteinander. Er hatte damals vermutet, dass ihm ein Massentierhalter aus der weiteren Umgebung das geneidet hatte. Für den Toten in der Scheune hatte das indes keine Bedeutung.

»Dann bringe ich den zu Eva Scharf in die alte Kneipe, die ist geschlossen, da geht auch keiner rein. Und da stellen wir eine mobile Klimaanlage rein, hat sie in ihrem Hotel. Dann bleibt uns der länger frisch. Die Bullen können wir morgen immer noch holen. Und du machst hier dann sauber. Aber so was von sauber. Kriegst du das hin mit dem Blut?«

Sophia nickte. »Ich streue da Holzhäcksel und Sand drüber und kehre es weg. Und dann mit dem Schrubber. Und dann neue Streu drüber. Merkt kein Mensch mehr.«

Ihr Schwiegervater nickte weise. »So machst du das. Genau so.«

Zwei Minuten später hatte er das Corpus Delicti im Frontlader verpackt und vertäut. Der Frontlader mit seiner Fracht schwebte jetzt stolz in drei Metern Höhe. Fred fuhr damit um zwei Straßenecken zur alten Dorfkneipe von Frau Scharf, an der immer noch die alten Leuchtkästen mit der Aufschrift »Zur Flüsterecke« hingen, genau wie am Neubau, der jetzt ein kleines Hotel mit Gaststätte war, nicht etwa nur eine Kneipe. Die »Flüsterecke« war berühmt für ihre Weihnachtsgänse, die jetzt noch gleich nebenan, durch und durch bio, als flauschige gelbe Gössel auf einer Wiese die Besucher anschnatterten.

Außerdem hatte die »Flüsterecke« gutes bayrisches Klosterbier und zivile Preise, sodass hier täglich viele Besucher Halt machten. Wer aus dem kartoffelpufferverarmten Flensburg über die A7 nach Süden fuhr, machte hier, genau in der Mitte der Republik, ebenso Halt wie die puffermäßig unterversorgten Berchtesgadener auf ihrem Weg in den kühlen Norden.

Fred Kühne stand mit dem Trecker vor der Kneipe und kratzte sich den glänzenden Schädel. Wie sollte er die Leiche jetzt da reinkriegen? Inzwischen liefen schon etliche Marktbesucher durch die Straßen des Ortes, auch weil hier noch freie Parkplätze waren, und gerade vor dem Brunnen, der den Platz nahe der Kneipe zierte, diskutierten einige Besucher. Nicht überall war Markt, der konzentrierte sich beim alten Gutshof, trotzdem war das Dorf voll von interessierten Gästen.

Die Kneipe hatte ein Saalgebäude, das nur noch selten benutzt wurde.

»Ich muss neue Kartoffeln aus meinem Lager holen, sonst bekommt ihr heute alle keine Puffer mehr«, rief Fred der Besuchergruppe zu, obwohl die ihn gar nicht weiter beachtete. Er stieg vom Trecker und holte sich von der robusten Wirtin den Schlüssel. »Ich erzähle dir gleich, warum, Eva. Ist eilig. Frag nicht. Muss.«

Eine Minute später hatte er den Trecker zwischen den Hecken durchmanövriert und schob er den Frontlader vorsichtig an die weit geöffnete Doppeltür. Rein passte der Lader nicht, er war zu breit. Fred Kühne stieg ab, wickelte die Plane um Brad Pitt und ließ ihn vorsichtig zu Boden gleiten. Er lugte am Frontlader vorbei. Die Umstehenden hatten nichts bemerkt, sondern sahen sich die Gössel am Bachlauf an und suchten sich wohl bereits Kandidaten für Weihnachten aus, wenn sie solange überlebten. Die Gänse, nicht die Besucher.

Fred setzte den Trecker ein paar Schritte zurück, schloss die Tür wieder und steckte den Schlüssel ein.

Er fuhr zurück auf den Hof und stellte den Traktor weitab vom Geschehen ab. Jetzt musste sich jemand anders um die Leiche kümmern. Er hatte auch schon eine leise Ahnung, wer. Er selbst musste Kuchen und Puffer backen. Viele Puffer. Aneinandergereiht würden sie eine Strecke von Flensburg bis Berchtesgaden ergeben.

KAPITEL ZWEI

DER KILLERKEILER

Im Dorf gab es eine, die einen kannte, dessen Cousin mit einem Kriminalkommissar verwandt war. Das war weit genug weg von der Polizei, um Folgen zu haben, wie etwa eine offizielle Ermittlung, aber auch nah genug dran, dass vielleicht noch ein wenig Expertise hängen geblieben war, was in einem solchen Fall zu tun war. Den Mann brauchte das Dorf jetzt.

Vorher musste Fred Kühne noch die mobile Klimaanlage aus dem Hotel holen und in die alte Kneipe bringen. Eva Scharf, die resolute Witwe von Alfons Scharf, holte sie aus einem der oberen Räume, in denen es im Sommer immer besonders heiß war. Es waren zwar alle Zimmer vermietet oder vorbestellt, aber sie erwartete noch einen Gast aus Afrika. Der würde wohl auch ohne Klimaanlage auskommen, dachte sie. Außerdem war ja erst Mai und noch nicht Sommer, auch wenn es schon genauso heiß war.

Fred schleppte das Ding mit ihr zusammen über die Straße. Sie stellten es neben der hohen Theke im alten Gastraum ab. Zwar waren alle Fenster mit Brettern vernagelt, aber sicher war sicher. Eva Scharf, die schon manche Gans von innen gesehen hatte, staunte kaum über den schönen Toten. »Wenn den einer umgelegt hat, war das aber nicht sehr fachmännisch«, fachsimpelte sie. »Kuck dir mal den Schnitt da am Bein an. Das ist doch nicht sauber. So macht man das nicht. Ich zum Beispiel hätte den eher am Hals abgestochen. Aus unserem Dorf war das bestimmt keiner, die schlachten doch alle selbst und wissen, wie das geht.«

Die beiden schleppten den Verblichenen vom alten Saal in die Kneipe und legten ihn an den zweitschönsten Platz. Hinter die Theke.

»Ich muss wieder rüber«, Eva Scharf wischte sich die leicht blutigen Hände an der Schürze ab. »Da wollen noch einige Frühstück.«

»Ich eigentlich auch, höchste Eisenbahn sogar«, antwortete Fred Kühne. »Erst habe ich aber noch was zu erledigen.«

Er wollte natürlich den Mann mit der Teilexpertise als Kriminalist finden. Er hatte nur keine Ahnung, wo der Kerl stecken konnte. Andererseits kannte Fred seine Tatort-Sendungen aus dem Fernsehen. Ein Arzt musste auch her. Natürlich kein offizieller, kein Amtsarzt, der hätten so einen Todesfall ja melden müssen. Das war schon arg blöd, so ein Toter auf einem so großen Fest!

Ihm fiel Soraya Lustig ein. Die blonde, von Lachfalten übersäte Tierarztassistentin, deren Mutter früher Fan vom Schah von Persien gewesen war. Hatte die nicht auch Medizin oder zumindest Anatomie gelernt? Er sah die hübsche Frau noch vor sich, wie sie einen Arm bis zur Schulter in seiner notleidenden Kuh stecken hatte, die nicht kalben wollte. Soraya hatte das hinbekommen, das Kalb lief jetzt ein paar Weiden weiter seiner Mutter hinterher, zum Wohlgefallen aller Kinder, deren Eltern den Töpfermarkt besuchten und in der Feldmark spazieren gingen. Wer Ahnung vom Leben hatte, dachte Fred, den konnte der Tod nicht schrecken.

Es waren auch nur ein paar Meter. Soraya war aber nicht zu Haus, nur ihr Hund bellte ihn an, als ob er, Fred, den Toten auf dem Gewissen hätte. Roch er etwa nach Leiche? Dann musste er noch mal duschen und sich die Hände abschrubben, bevor es ans Backen ging.

Dann sah er die Tierkundige ein paar Meter weiter auf einem Hof stehen, auf dem gerade der Sonntagsgottesdienst lief. Erstaunlich viele Kinder nahmen daran teil. Wie Fred wusste, waren die nicht der frohen Botschaft wegen dort, sondern weil danach der Kinderzirkus auf demselben Hof beginnen würde. Viele waren aus dem Ort selbst. Anders als in vielen anderen Dörfer wurden hier noch regelmäßig welche geboren und blieben später weiterhin im Dorf. Fred fragte sich, woran das wohl lag. Waren die Leute hier fruchtbarer? Gut genährt sahen sie auch alle aus. Kein Wunder, bei seinen Puffern. Das musste es sein.

Fred war es wurst, was sich im Zirkus tat. Er marschierte hinüber und tippte Soraya auf die Schulter. »Ich brauch dich mal ganz dringend. Komm einfach mit, frag nicht«, empfahl er ihr.

»Luna?«, fragte sie und sah ihn mit ihren hellen blauen Augen an. »Oder Marina?« So hieß das Kalb, dem sie ins Leben verholfen hatte. Und das die Landkarte des Landkreises auf dem Fell hatte. Ungefähr jedenfalls.

Fred Kühne schüttelte nur den Kopf. »Komm einfach. Du wirst schon sehen.«

Als die Tierarztassistentin hinter die alte Theke blickte und des im Luftstrom abkühlenden Leichnams ansichtig wurde, legte sie ihre ansonsten glatte Stirn in Falten. »Das ist ja ein Mensch«, beobachtete sie. »Und dem kann ich wohl kaum noch helfen. Der sieht irgendwie so tot aus?«

»Du bist die Einzige, die das hier beurteilen kann«, fand Fred. »Die Polizei oder einen Arzt dürfen wir nicht rufen, wenn der Markt weitergehen soll, das verstehst du doch, oder?«

Soraya nickte so bedächtig wie ihr königliches Namensvorbild. »Aber einen Totenschein kriegst du nicht von mir, damit das gleich mal klar ist, Fred.«

»Vielleicht lebt er ja noch«, machte der einen letzten Versuch, sie zu einer Art Leichenschau zu bewegen.

Die junge Frau trat näher und kniete vor dem Toten nieder. »Schöner Mann«, fand sie. »Schade drum, nicht?« Sie sah Fred strahlend an. Der verzog keine Miene, er stand nicht auf Männer, und so wandte Soraya sich dem Corpus wieder zu und hielt Händchen mit dem schönen Toten. Eine ganze Weile lang. »Also, einen Puls fühle ich da nicht«, stellte sie fest.

Bei ihren Tieren hätte sie jetzt die Schnauze aufgeklappt und hineingesehen. Das schickte sich bei einem, der wie Brad Pitt aussah, irgendwie nicht. Stattdessen zog sie ein Augenlid hoch. »Tut sich nichts«, beobachtete sie. »Die Pupille ist total entspannt und zieht sich nicht zusammen. Ich glaube, der ist tot.«

»Und woran?« Fred wollte es jetzt genau wissen.

»Hm. Wohl nicht an einer Kolik oder Staupe.« Sie sah sich die Bisse an Arm und Bein und den Hals an. »Irgendwas scheint ihn gebissen zu haben. Oder gestochen. Oder beides. Tollwut dauert aber drei Wochen, bevor man tot ist. An dem Biss ist er jedenfalls nicht verblutet.«

Sie hatte sich inzwischen bis zum Kopf hochgearbeitet. »Hat wohl ordentlich eins übergezogen bekommen. Gab es gestern nicht spät abends noch ein Handgemenge?«

Davon wusste Fred nichts. Er war früh ins Bett gegangen, um eins, um morgens alles zum Backen vorzubereiten und zu sehen, ob im Café Kühne, das nur zu Feierlichkeiten geöffnet hatte, alles in Ordnung war.

Die jüngere Frau besah sich den Kopf genauer. Die Tonscherbe steckte trotz des Transportes durch Fred Kühne immer noch fest im Kopf des Opfers. Sie trat auf die andere Seite, zog ein Tempotaschentuch aus ihrer Handtasche und griff damit zu. Die Scherbe saß fest. Sie ruckelte ein wenig hin und her, bis die Scherbe auseinanderbrach und sie das größere Bruchstück in der Hand hielt. Aus der Wunde trat jetzt Blut aus, in einem kleinen Rinnsal. Es musste sich hinter dem Tonstück gestaut haben, dachte sie.

»Was soll ich jetzt hiermit machen?«, fragte sie Fred Kühne.

Der sah sich das Teil aus der Distanz an. »Gib es Hermann oder seinem Sohn Lars, die kennen sich mit so etwas aus«, schlug er vor.

Soraya trat zurück von der Leiche.

»Also, der ist tot, damit du’s weißt«, bemerkte sie. »Ich muss jetzt wieder, die Kirche ist gleich aus, mein Kleiner will in den Zirkus.« Das sorgsam eingewickelte Bruchstück stopfte sie in ihre Handtasche.

Ihr Kleiner war etwas über zwanzig und zwei Köpfe größer als sie und hatte selbst bereits ein Söhnchen. Das verstand zwar im Zirkus nichts, gab dem jungen Vater aber einen guten Anlass, mal wieder Zirkusluft schnuppern zu dürfen. Der jungen Oma war das von Anfang an klar gewesen.

Fred Kühne schloss die Tür zur alten Flüsterecke. Jetzt musste jemand rausfinden, was passiert war. Ob es ein Unfall war oder ob tatsächlich jemand Brad Pitt eins mit einer teuren Vase übergezogen hatte. Was sehr schlimm gewesen wäre. Denn die Vasen auf dem Markt waren ziemlich einmalig und immer ein großer Verlust, wenn sie kaputtgingen. Es war zwar mal ein Japaner da gewesen, der kaputte Vasen mit einer Goldpaste wieder geklebt hatte und sie dann für fünfstellige Beträge verkauft hatte. Allerdings war das nicht hier im Dorf gewesen, sondern außerhalb, fiel Fred Kühne ein. In Japan oder so. Das Dorf brauchte dringend einen, der das auch konnte.

Wo steckte das Mädel mit den Kontakten bloß? Er suchte nach einer jungen Studentin aus Nörten-Hardenberg, die ein paarmal die Woche in den Ort war, um bei einem Biobauern einzukaufen. Zita de Havilland, nicht verwandt oder verschwägert mit dem Flugzeug oder der Schauspielerin. Sie hatte einen Freund aus dem Nachbardorf Behrensen, das praktisch zum Ort Großenrode dazugehörte wie die Gallenblase zur Leber.

In den Fehden nach der Reformation hatte der Ort nur einen Steinwurf entfernt gelegen. Großenrode war protestantisch gewesen. Als die verschiedenen katholischen Heerscharen gekommen waren, aus Einbeck, Braunschweig oder Mainz, um in Großenrode ordentlich zu plündern und zu brandschatzen, was damals groß in Mode gewesen war, hatten sie Behrensen aus praktischen Gründen immer gleich mit abgefackelt. Wenn es doch schon einmal so schön brannte, man wollte ja nicht umsonst gekommen sein. Bis die Behrenser die Nase voll und ihren Ort verlegt hatten.

Wiedergefunden hatten sie ihn anschließend immerhin, dachte Fred. All das tat jetzt aber nichts zur Sache. Er brauchte entweder Zita oder ihren Freund, Maximilian Schuster. Soweit er wusste, kannte der einen Polizeischüler namens Alexander Jansen aus Hannoversch Münden. Und der hatte einen Kommissar als Cousin. Oder Alexander war sein Cousin und der kannte einen Polizeischüler. Jedenfalls kannte einer einen, der Bescheid wusste.

Nur dass er keinen Einzigen von dieser Truppe finden konnte. Das störte ihn.

Fred ging zurück zu seinem Hof. Puffer waren jetzt wichtiger als Leichen, solange die gut gekühlt blieben. Wie der Pufferteig, der durfte jetzt auch nicht zu warm werden. Sein Sohn lief gerade zu einem Stand, an dem es bereits kühles Bier gab. Fred nahm ihn beiseite.

»Finn, du suchst jetzt mal nach Zita, Max oder Alex. Du kennst die doch, oder?« Finn grinste. Auf Zita war er schon immer scharf gewesen, hatte aber nie einen Stich gekriegt. »Klar. Herholen?«

»So sicher wie das Amen vor dem Zirkus«, grinste Fred. »So was von.«

* * *

Alexander Jansen hatte sich nur ein paar Meter von Fred Kühne entfernt an einem Stand aufgehalten, auf dem Hof der Brenneckes, dem Epizentrum des keramischen Bebens, das an diesem Wochenende durchs Leinetal lief. Max und Zita hatte er noch nicht gefunden, sah sie dann aber vor einem Trafohäuschen stehen, wo ein Stand eines Naturschutzverbandes friedlich neben einem der Jägerschaft stand. Sie sprachen mit einem Falkner und versuchten ihn zu überreden, seinen Jagdfalken auf die Hühner des Biobauern loszulassen. Jedenfalls las Alex ihre Gesten von Weitem so.

Als er näherkam, ging es doch um etwas anderes. Hinter den Ständen erhob sich ein Schwalbenturm, den die lokale Initiative gebaut hatte, und die Traube vor den Ständen stritt sich gerade darum, ob ein Wanderfalke eine Mehlschwalbe im Flug erbeuten konnte oder nicht. Und ob er das überhaupt wollte, wo ihm doch Tauben lieber waren.

Zita verleibte sich gerade Kekse in Schwalbenform ein, die am Stand der Naturschützer verkauft wurden, zur Finanzierung der Nester dahinter.

Die drei begrüßten sich mit High Fives und einem komplizierten Ritual mit den Fingerknöcheln, Ellenbogen und Ohren. »Ist das etwa ein Balztanz?«, fragte der knittrige NABU-Mensch und Vogelfreund hinter dem Tisch. Nico Bernstein, der erst seit einem Jahr mit seiner Frau im Ort lebte und eigentlich noch überhaupt nicht dazugehörte. Die drei ignorierten ihn.

Der Falkner packte seinen Falken wieder weg, die Traube löste sich auf.

»Mann, das ist ja der Brüller!«, rief Maximilian Schuster, der ein interessantes Buch auf dem Tisch vor sich entdeckt hatte.

»Psssst!«, flüsterte Zita, die gerade einem stämmigen Mann nachsah und nicht kapiert hatte, dass Max etwas anderes gemeint hatte. »Das ist doch Stefan die Stimme. Lass ihn das bloß nicht hören!«

Max folgte ihrem Blick und sah dem kräftigen Mann hinterher, der gerade in Richtung Thie marschierte, dem Dorfplatz. Vor sich hin grinsend, als ob er einen Plan hätte.