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Die Mörderin Viola Kroll entkommt nur mit knapper Not der Polizei und der Mafia, die ihren Tod will. Sie flieht unter neuem Namen nach New York und nimmt dort eine Stelle an. Sie soll einen deutschen Krimi, "Unter Strom", ins Amerikanische übertragen. Bald merkt sie, dass der Autor einen echten Kriminalfall aufgedeckt hat. Sie geht dem nach und findet heraus, wer der wahre Täter war. Sie beginnt sich für True Crime zu interessieren. Indes kennt der Täter ihre Geschichte, sie haben beide etwas gegen den jeweils anderen in der Hand. Sie kann dieser Situation nur entkommen, wenn sie einen weiteren Mord begeht, an einem bekannten Milliardär mit gelben Haaren und orangefarbenen Gesicht. Kann sie ihr schlechtes Karma als Mörderin durch die Beseitigung dieses Milliardärs, der so viel Dreck am Stecken hat, verbessern? Kommt sie überhaupt an ihn heran? Und wird sie diese Tat überleben?
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Nick Stein
Tod eines Milliardärs
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Impressum neobooks
Tod eines Milliardärs
Teil drei der Serie
Blutbücher
Nick Stein
Alle schlechten Eigenschaften entwickeln sich in der Familie. Das fängt mit Mord an und geht über Betrug und Trunksucht bis zum Rauchen.
(Alfred Hitchcock)
JOHANNA
Sie hatte fliehen müssen.
Viola hatte zwölf Menschen umgebracht. Vielleicht auch nur elf oder doch dreizehn, so genau ließ sich das nicht sagen.
Mord war nicht gleich Mord. Eines ihrer Opfer hatte sie unwissentlich und indirekt in den Tod getrieben. Galt das als Mord? Eine andere Frau, die sie getötet hatte, war ohnehin dem Tode geweiht gewesen. Viola hatte das Lebensende der Frau als Sterbehilfe verbucht.
Und allen Opfern hatte sie zu postmortalem Ruhm verholfen.
Im Flugzeug von London nach New York sann Johanna Svensson, die frühere Viola Kroll, über die Ironie dieser Reise nach.
Nicht die Polizei hatte sie in die Flucht geschlagen; die brauchte sie kaum zu fürchten, auch wenn ein Bullenpärchen ihr hartnäckig auf den Fersen gewesen war.
Es waren ihre Freunde und Verbündete gewesen, die ihren Tod verlangt hatten. Ihr Liebhaber von der ’Ndrangheta. Giovanni de Luca.
Viola hatte gehorcht. Sie war in ein schnelles Auto gestiegen und mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Berg gerast. Der Wagen war in Flammen aufgegangen, von Viola hatte man nur ein wenig Blut und ein paar Haare finden können. Genug, um sie zu identifizieren, zu wenig für die große, raumfüllende Präsenz dieser schönen Frau.
Viola Kroll war tot.
Ins Flugzeug von Rom nach London war bereits Johanna Svensson gestiegen, mit einem Jobangebot von Penguin Random House in der Handtasche.
Ihre Freunde von La Familia waren zufrieden mit der Inszenierung ihres Todes gewesen. Sie hatten ihr drei Tage für den Suizid gegeben; Viola hatte diese Zeit gut genutzt.
Sie hatte sich Papiere und eine neue Identität besorgt; sie hatte eine suizidgefährdete Bekannte überredet, an ihrer Stelle ins Auto zu steigen und damit von Rom nach Norden zu rasen, mit einer Echthaarperücke aus Violas Haaren auf dem Kopf und etlichen gefüllten Benzinkanistern im Kofferraum.
Diese selbstmordsüchtige Frau hatte ihr geglaubt, dass sie ihre Todessehnsucht überwinden könne, wenn sie für zwei Stunden unter höchster Lebensgefahr über die Autostrada rasen würde.
Dass Viola das Auto vorher präpariert hatte, weil sie eine weibliche, ihr ähnliche Leiche, nach Möglichkeit bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, in ihrem Mietwagen benötigte, hatte sie allerdings nicht gewusst. Vermutlich wäre es ihr sogar gleich gewesen.
Als diese Bekannte zwischen all den persönlichen Dingen Violas, ihren Fingerabdrücken, der Handtasche, etlichen Blutspuren und ihrem Handy, in einer Kurve schließlich die Kontrolle über den getunten Sportwagen verlor, hatte Johanna bereits eingecheckt.
Sie hatte nun kurze, schwarze Haare statt ihrer rotblonden Haarpracht, sie hatte kosmetische Veränderungen vorgenommen. Sie hatte sich einen anderen Gang angewöhnt und zog sich anders an.
Nicht genug, um Freunde und die Personen zu täuschen, die sie gut kannten. Für die Grenzkontrollen reichte es allemal.
Aus dem Fenster sah sie gerade eine der kleineren schottischen Inseln vorbeiziehen. Die ursprüngliche Johanna Svensson, eine Schwedin, die ihr ähnlichgesehen hatte, war auch von einer zu Schweden gehörigen Insel zu ihr nach Berlin gekommen. Dort hatte sie ihr Werk vollendet und es Viola hinterlassen; später war sie wortwörtlich in einem Kunstwerk von Viola aufgegangen.
Eines dieser Werke stand in New York, nein, mehrere, korrigierte sie sich. Die Skulpturengruppe, welche die originale Johanna enthielt, stand hinten im Abstellraum einer Galerie in Mailand; Violas etwas harmloseres Œuvre war in der Met ausgestellt. Dort würde sie eines Tages hingehen, wenn sie im Big Apple Fuß gefasst hatte.
Ihr graute vor der langweiligen Tätigkeit bei Penguin. Sie würde dort als Übersetzerin arbeiten, deutsche Krimis ins Amerikanische und amerikanische Werke ins Deutsche übertragen. Stupide Arbeit. Keine Kunst.
Nicht, dass Johanna die Morde fehlten, die Viola zu ihrer steilen Karriere und ihrem Reichtum verholfen hatten. Die hatten ihre Zeit gehabt und ihren Zweck erfüllt.
Viola hatte stets wenig dabei verspürt. Es war nie hoch hergegangen; sie hatte meist ein freundliches Ende herbeigeführt, Blut war selten geflossen. Gut, zwei Frauen hatte sie mit einem Auktionshammer aus Messing erschlagen und dabei leichten Ekel empfunden.
Ihr Mittel der Wahl war Gift gewesen, wie bei den meisten Mörderinnen. Einer Frau mit der Glasknochenkrankheit hatte sie kurzerhand den zerbrechlichen Hals umgedreht.
Ansonsten hatten die toten Schriftsteller, die ihr gutes literarisches Material geliefert hatten, Viola als letzte Morgengabe noch ihre Körper gegeben, die sie zu Asche verbrannt und in künstlerischer Keramik verbacken hatte, zu Gesamtkunstwerken.
Für Johanna war alles passé, was Viola früher unternommen hatte. Sie gedachte das nicht in den Staaten in ähnlicher Form fortzusetzen. Die Morde hatten ihre Zeit gehabt.
Geld hatte sie genug, auch wenn sie sich von ihrer wunderschönen Villa am Lago Maggiore und ihrem Haus mit Atelier am Berliner Schlachtensee hatte trennen müssen. Und auch von ihrem Mobiliar, ihrem sexuell begabten Gärtner und ihren beiden Pekinesen.
Ihre Vorgeschichte hatte ein bis zum Anschlag erfülltes Leben umfasst, trotz ihrer Jugendlichkeit. Standen ihr nun ruhigere Jahre bevor?
Johanna empfand Dankbarkeit, dass sie es geschafft hatte, sich in dieses andere Leben hinüberzuretten, selbst wenn es einen letzten Mord an einer Bekannten erfordert hatte. Eigentlich hatte sie dieser Frau nur einen Wunsch erfüllt. Sie war nicht nur suizidgefährdet gewesen, sie hatte sich nach dem Ende gesehnt.
Auf dem Bildschirm ihres Erste-Klasse-Sitzes liefen Nachrichten. Mehrfach war ein Mann mit rotem Gesicht und gelben Haaren zu sehen, den Johanna verabscheute.
Wenn sie noch einen Mord begehen würde, dann an dem, dachte sie bei sich, alles andere würde sich nicht lohnen und keine Steigerung ihrer Karriere mehr darstellen.
Aber dafür flog sie nicht nach New York.
Sie wusste noch nicht, was sie erwartete. Sie würde ein paar Tage Zeit haben, um sich eine Wohnung zu suchen und sich in der Stadt zurechtzufinden, bevor sie ihre triste Arbeit antreten sollte.
Um den Job auf die Schnelle zu bekommen, hatte sie dieses Mal keine fremde Hilfe in Anspruch nehmen können.
Die echte Johanna Svensson war eine einsame Frau auf einer menschenverlassenen Insel gewesen, niemand hatte sie bislang vermisst. Immerhin war sie mit einem deutschen Vater und einer schwedischen Mutter mit Englisch als Muttersprache aufgewachsen. Sie hatte Referenzen, die Random House gefallen hatten, den fehlenden Rest hatte Viola dazuerfunden, bevor sie zu Johanna wurde.
Die wirkliche Johanna hatte sie auch auf den Gedanken gebracht, sich in den USA zu bewerben. Johanna hatte schon damals in die Staaten gewollt, als Übersetzerin, und Viola hatte ihr sogar eine sehr nette Referenz geschrieben. Und nun, nach dem letzten Mord, noch eine zweite, dringliche, dass Johanna den Job jetzt bräuchte, um ihrer Einsamkeit zu entrinnen.
Somit war die neue Johanna noch ohne Fehl, und sie gedachte es so zu belassen.
Johanna musste schmunzeln. Sie waren beide tot, Johanna und Viola. Und beide lebten, in Violas Körper und mit Johannas Namen. Was würde ihr diese Fusion bescheren?
Was würde ihr Leben ausfüllen, ohne die frühere Aufregung, den Kitzel, aus fremden Werken und Personen etwas Höheres zu machen? Viola war Lektorin gewesen, die auch als Autorin reüssiert hatte, wenn auch mit fremden Federn und unter anderen Namen.
Ihre eigenen Schreibanstrengungen waren nur von mäßigem Erfolg gekrönt gewesen.
Natürlich würde sie soziale Kontakte aufbauen, Männer kennenlernen und um den Finger wickeln, Frauen manipulieren und für sich einspannen. Sie würde sich in der Kunstszene bewegen und sich dort einen Namen machen.
Dennoch grauste ihr schon jetzt vor der Langeweile, die sie erwartete.
Sie würde eine Chefin haben. Auch etwas, was sie in ihrem glanzvollen früheren Leben nie gehabt hatte, oder nur für kurze Zeit. Jemand würde ihr sagen, was sie zu tun hatte und erwarten, dass sie genau das tat.
Dabei hatte ihre künftige Vorgesetzte, Elizabeth Campbell, am Telefon nett und sympathisch gewirkt. Johanna hatte ihr ein paar Titel vorgeschlagen, die in Deutschland lange auf den Bestsellerlisten gestanden hatten und auch die amerikanische Leserschaft interessieren würden.
Dass dies alles Werke waren, die Viola Kroll ihren Mordopfern entrissen und verlegt hatte, ging Elizabeth nichts an. Johanna würde es den Einstieg in den Job erleichtern, sie kannte diese Werke in- und auswendig. Eines war sogar im Original auf Englisch gewesen, sie hatte aber vieles ändern müssen.
*
Elizabeth holte sie vom Flughafen ab.
»Das ist aber eine Überraschung«, freute Johanna sich. Elizabeth war ihr auf den ersten Blick sympathisch, vor allem ihrer warmen braunen Augen wegen, aus denen der Schalk blitzte.
Sie war kleiner als sie selbst, aber dennoch eine stattliche Erscheinung. Trotz der Wärme, die ihr vor dem Terminal entgegenschlug, trug ihre neue Chefin einen leichten Sommermantel über einem beigen Kostüm.
»Das Schöne an diesem Flug ist, dass man fast zur gleichen Zeit ankommt, zu der man abgeflogen ist.«
Johanna sah auf ihre Uhr. »Keine drei Stunden, und schon bin ich in einem neuen Leben angekommen.«
Elizabeth lächelte, mit regelmäßigen ultraweißen Zähnen wie aus einer Waschmittelwerbung.
»Ist mir eine Freude, dich kennenzulernen«, sagte sie mit einer kräftigen Stimme, der man anhörte, dass diese Frau es gewohnt war, Aufgaben zu verteilen, ohne Widerspruch zu erwarten. »Ich lerne meine neuen Mitarbeiter immer gern sofort kennen.«
Sie winkte dem Fahrer des gelben Taxis, Johannas Koffer einzuladen. »Wir fahren zuerst zu deinem Hotel. Ich habe dir ein Dossier vorbereitet, in dem du alles findest, was du in den nächsten Tagen brauchst.«
Sie stiegen ein, Elizabeth nannte dem turbanbewehrten Fahrer das Ziel, das da Vinci Hotel in der Nähe des Verlages.
Während ihr Elizabeth Wissenswertes über New York mitteilte, stiegen in Johanna Erinnerungen an Rom auf, den Da-Vinci-Airport, von dem sie nach London abgeflogen war. Wo ihr Freund Gio sie gedemütigt und ihr deutlich gemacht hatte, dass sie eine nicht mehr willkommene Last für la Familia geworden wäre.
Dass sie sich selbst aus dem Leben nehmen sollte, war noch ein Akt der Höflichkeit gewesen. Andere, die die Kreise der Mafia störten, verschwanden auf direktere Weise.
Sie war dankbar dafür, dass sie eine Chance gehabt hatte, dem zu entgehen. Ob ihr Freund Gio, kurz für Giovanni, ahnte, dass sie ihr Ende getürkt hatte? Würde er es gutheißen? Denn die Bedrohung für die Firma war damit aus dem Wege geräumt.
»Ich war schon ein paar Mal hier, aber das wusste ich nicht«, antwortete sie höflich, als ihre Begleiterin sie auf eine Stelle mit Geschichte hinwies.
Johanna hatte die Gabe, ihre eigenen Gedanken weiterzuverfolgen, während sie zuhörte. Konversation war eine zu langsame Beschäftigung für ihr trainiertes Gehirn, das immer im höchsten Leistungsbereich arbeitete.
Elizabeth, die ihr gleich den Gebrauch der Vornamen angeboten hatte, kurz Liz, hatte ihr die Stelle auf dem East River gezeigt, wo vor Jahren ein Pilot sein havariertes Flugzeug auf dem Wasser gelandet und alle Passagiere gerettet hatte.
War das ein Zeichen, dass sie selbst auch gerettet war?
Johanna glaubte nicht an Zeichen und Wunder oder andere magische Wirkungsweisen, fühlte aber trotzdem einen beruhigenden Effekt von diesem Gedanken ausgehen.
»Johanna, das klingt für mich wie Jo-Anne. Darf ich dich Ann nennen?«, fragte Liz.
»Eine Ann haben wir noch nicht, aber zwei Jo-Anns, merkwürdig, nicht wahr?«
Johanna begann sich zu langweilen. Sie war im Reich der Banalitäten angelangt. Sie gähnte.
»Ich hasse diese Jetlags nach kurzen Flügen«, bekannte sie.
»Absolut unnötig, trotzdem erwischt mich das immer wieder.«
Liz lachte. »Geht mir auf Flügen nach Deutschland auch immer so. Du weißt ja, dass wir zu einer großen deutschen Verlagsgruppe gehören, nicht wahr?«
Johanna nickte.
»Jemand aus Gütersloh hat mir einen Autor ans Herz gelegt, der in Deutschland gut läuft«, fuhr ihre Chefin fort.
»Martin Krantz. Der Säuremörder, so heißt sein Buch. Ich geb dir mal ein Exemplar mit, du kannst dich im Hotel schon mal ein wenig einlesen.«
»Du sprichst sehr gut Deutsch«, bemerkte Johanna, als Liz den Originaltitel erwähnte.
Sie spürte eine leichte Verunsicherung.
Sollte sie dieses Buch ins Amerikanische übersetzen? Sie hatte doch ihre eigenen Bestseller dabei, in elektronischer Form. Wurde jetzt von ihr erwartet, dass sie sich ein gedrucktes Buch vornahm und das Zeile für Zeile übertrug? Was für eine Zeitverschwendung, dachte sie. Sie hatte ein paar Werkzeuge, mit denen das besser funktionierte.
»Ich bekomme aber auch noch eine E-Version, oder?«, fragte sie etwas verunsichert nach.
Liz lachte. »Bereits in deiner Mailbox vom Verlag. Zugang findest du auch in der Mappe, nebst neuer E-Mail-Adresse und allem anderen.«
»Über die Arbeit reden wir am Dienstag oder Mittwoch«, fuhr sie fort.
»Jetzt richtest du dich ein und siehst dich um. Und in der ersten Zeit wirst du noch genug damit zu tun haben, eine Wohnung zu finden und einzurichten. Das wird immer unterschätzt, wie aufreibend das hier in New York ist.«
Sie warf ihr einen freundlichen Blick von der Seite zu. »Ich bin sicher, ein paar deiner neuen Kollegen werden sich darum reißen, dir dabei zu helfen. Du wirst sehen.«
Liz hatte ihre in der Mitte abgeknickte Adlernase angehoben, als ob sie ihr Parfüm prüfen wollte; gleichzeitig waren ihre braunen Augen über Johannas Figur gewandert, die ihre leichte Reisekleidung kaum verbarg.
Johanna hatte ein paar Gedanken gleichzeitig. Nahm Liz sie bereits als Konkurrentin um die Gunst der Männer in der Redaktion wahr? War einer der hilfsbereiten Kollegen einer ihrer eigenen Lieblinge? Wer würde da wohl wie an sie herantreten? Würde sie sich durch die Bars von Manhattan und im Village schleifen lassen müssen?
Sie waren angekommen. Ein Gepäckträger, den Liz als Bellhop bezeichnete, jemand, der beim Klang einer Glocke dienstbereit herbeisprang, half ihr mit dem Koffer. Liz passte auf, dass alles beim Einchecken in Ordnung war, und ging mit Johanna aufs Zimmer.
Das Zimmer war klein, mit einem winzigen Schreibtisch, der ihr zu Haus in Berlin bestenfalls als Abstellfläche für eine Blumenvase gedient hätte, aber ansonsten sauber, weiß und ordentlich. Sie sah auf dem Weg über den langen Gang durch das schmucklose, schlichte Gebäude in die anderen Zimmer. Es gab keine Unterschiede. Ein Hotel mit identischen Bienenwaben.
»Es ist spät, Ann. Wenn du möchtest, lasse ich dich jetzt allein. Sonst warte ich gern unten an der Bar auf dich, auf einen Absacker, als Willkommensgruß. Was meinst du?«
»Ich bin in einer Viertelstunde unten.«
Johanna packte ihren Koffer aufs Bett, suchte ihre Waschsachen heraus und duschte ausgiebig. Sie war nicht müde; während des achtstündigen Fluges hatte sie schlafen können.
Etwas anderes war von ihr abgefallen, ihre alte Existenz; die Bedrohung ihres Lebens. Aber auch alle alten Beziehungen und Freundschaften; niemand kannte sie mehr.
Es war eher ein Gefühl von Kälte und Erschöpfung als von Müdigkeit. Schlafen konnte sie noch nicht, sie war zu neugierig auf ihr neues Leben.
Die Mappe und das Buch, die Liz auf den winzigen Schreibtisch gelegt hatte, ließ sie unberührt. Das hatte Zeit. Sie wollte ein Gespür für das entwickeln, aus persönlichen Gesprächen, was da auf sie zukam.
Liz saß vor einem Glas Wasser an der Bar und las, als sie herunterkam. Sie stand von ihrem Hocker auf.
»Wir können uns auch an den Tisch setzen und etwas essen, es ist halb sechs«, schlug sie vor.
»Ich hatte im Flieger zwei gute Mahlzeiten, aber danke«, entgegnete Johanna. »An der Bar redet es sich besser. Ich denke, ich möchte einen Cosmopolitan.«
Liz entschied sich für einen Gin Tonic.
»Halte dich anfangs an Ryan Gardiner«, empfahl sie ihr. »In der Redaktion, meine ich. Er kann dir bei vielen Dingen helfen. Er ist äußerst hilfsbereit, und du musst außer Freundlichkeit keine Gegenleistungen erbringen. Sein Mann, Justin Garcia, ist Makler. Die beiden würden sich überbieten, dir etwas Passendes zu suchen, Ann.«
Johanna grinste. »Und vor wem muss ich mich in der Redaktion hüten, Liz?«
Der Kellner stellte die Getränke vor ihnen ab.
»Vor mir.«
Johanna griff zu ihrem Manhattan, trank und schluckte. Sie hatte nichts gegen Frauen, aber diese Avancen hatte sie nicht erwartet, sie passten ihr auch nicht.
Sie stellte ihr Glas ab und lachte. »Aha. Und sonst?«
Liz lachte ebenfalls. Dem Anschein nach wusste sie nicht, was sie von der Antwort halten sollte.
»Ich denke, du wirst sehr gefragt sein. Du wirst schon sehen. Jemand Neues sorgt immer für Aufregung bei den Kollegen, und um die Leckerbissen reißen sich regelmäßig alle. Langweilig wird dir nicht werden, Ann. Ich bin sicher, du kannst damit umgehen.«
Liz trank ihren Gin aus und gab dem Kellner ein Zeichen. »Du wirst müde sein, meine Liebe. Wenn du willst, kannst du dich zurückziehen. Oder sollen wir noch ein wenig um die Blocks ziehen?«
Johanna bemerkte ihre unruhigen Seitenblicke zur Tür. Liz hatte noch etwas vor, ihr Angebot war höflich gemeint gewesen. Sie gähnte.
»Danke, riesig nett«, entschuldigte sie sich. »Ich bin wirklich etwas geschafft. Ich denke, ich lese noch ein wenig und lege mich dann hin. Keep in touch«, sagte sie und legte Liz ihre Hand auf den Unterarm. »Wir sehen uns. Ich freue mich auf alles.«
Liz rutschte von ihrem Hocker herunter. »Dann lies doch gleich diesen Roman. Er soll gut sein, meinte Johannes von der deutschen Zentrale.«
Der Kellner hielt Liz ein Gerät hin, sie bezahlte durch Hinhalten ihres Handys.
»Ruh dich gut aus, meine Liebe«, hauchte sie ihr ins Ohr, während sie sie flüchtig umarmte. »Ich brauche dich ausgeruht.«
Johanna brachte sie zur Tür, dann ging sie zurück zu ihrem Cosmopolitan, trank ihn aus und bestellte sich einen neuen. Sie blieb gleich an der Bar sitzen.
Dass Liz sie anscheinend mochte, gefiel ihr nicht. Das konnte zu Komplikationen führen, wenn sie sich anderweitig engagierte. Und wenn sie das nicht tat, würde Liz das womöglich als Bereitschaft missinterpretieren.
Beides war nicht gut.
Sie würde Job und Privatleben gut voneinander trennen müssen.
Ein Mann setzte sich neben sie, ein Glatzkopf mit Muskeln wie ein Bauarbeiter.
»Can I buy you a drink?«, benutzte er die Standardformel von Männern, denen sonst nichts einfiel. »Kann ich dich zu einem Drink einladen?«
»Danke, als großes Mädchen kann ich das selbst, und reden will ich auch nicht«, wies sie ihn ab.
»Schwedin?«, fragte er ungerührt zurück. »Du siehst aus wie eine. Du hast dir die Haare gefärbt, sehe ich.«
Johanna ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken. Was war das? Wusste der Typ etwas über sie? Über ihre richtige Haarfarbe? War doch noch jemand hinter ihr her?
»Friseur, oder was?«, fragte sie stattdessen zurück. »Tut mir leid. Lassen Sie mich bitte in Ruhe. Ich muss nachdenken.«
Lieber hätte sie ihm gesagt, just piss off, Noddy, verpiss dich, du Heini, aber an ihrem ersten Tag hier wollte sie höflich bleiben.
Sie setzte sich einen Hocker weiter weg von dem Typen, auch wenn er gar nicht mal schlecht aussah. Dafür hatte sie heute keine Zeit; außerdem war sie es gewohnt, dass sie es war, die über ihre Dates bestimmte.
Der Typ kam ihr nach.
»Wohnst du hier im Hotel?«, fragte er. »Ich will nicht aufdringlich sein, aber die meisten Gäste hier nutzen meinen Service. Ich habe ein paar Limos, ich kenne alle Schleichwege in Manhattan, wenn du mal rasch irgendwo hinwillst, dann ruf mich an. Brandon.«
Er streckte ihr die rechte Hand entgegen, und als Johanna keine Anstalten machte, sie zu ergreifen, zauberte er mit einer raschen Bewegung eine Karte hervor, die er vor sie hinlegte.
Brandon MacIntosh, las sie. Limo- und Taxidienste, Besorgungen aller Art.
Sie nahm sie an sich, trank ihren Drink aus und winkte dem Kellner. So schnell ließ sich der Typ wohl nicht abschütteln.
»Okay, Brandon. Vielleicht komme ich ja darauf zurück.«
Sie gab dem Kellner Bargeld. Lieber hätte sie den Cocktail auf ihr Zimmer buchen lassen, aber dann hätte der Glatzkopf ihre Zimmernummer gesehen.
»Und du bist?«, fragte der Muskelmann zurück.
»Ann. Ich heiße Ann.«
Im Lift fragte sie sich, wer sie denn nun in Wirklichkeit war.
*
Zurück im Zimmer stellte sie fest, dass sie nicht im Mindesten müde war. Sie hätte gern weiter an der Bar gesessen, in den Spiegel zwischen die Flaschen gesehen und in ihrem Spiegelbild gelesen, was ihr die Zukunft wohl brachte. Aber allein an einer Bar in New York, das ging scheinbar nicht.
Sie war zum ersten Mal allein in der Stadt. Bei früheren Besuchen war sie immer in männlicher Begleitung gewesen.
In Italien, wo sie vor gefühlten sechs Monaten ihren Flieger nach London bestiegen hatte, war es jetzt drei Uhr nachts. Müde war Johanna trotzdem nicht; sie war in einem neuen Leben angekommen, das sich anfühlte wie ein zu großer und zu schwerer kratziger Mantel.
Sie ging ins kleine Bad, putzte sich die Zähne, schminkte sich ab und nahm noch eine warme Dusche, um müde zu werden.
Es half nichts.
Was soll’s, dachte sie. Mache ich mich eben fertig für die Nacht und lese noch ein wenig. Dann habe ich bei Arbeitsbeginn weniger zu tun.
Sie begann zu lesen.
DER SÄUREMÖRDER
»Ilka?«, fragte der Telefonhörer. Als ob der Anrufer nicht glauben mochte, dass sie tatsächlich abgehoben hatte. Was die Kommissarin ernsthaft abgewogen hatte, als sie die Nummer des Anrufers erkannt hatte.
Ilka Eichner stieß genervt die Luft aus der Lunge.
»Ja-ha«, antwortete sie genervt. »Was ist denn, Jonas? Kannst du nicht gleich sagen, was du willst? Du weißt doch, dass das meine Nummer ist und da niemand sonst rangeht.«
Oberkommissar Jonas Altmann machte den Status als ihr Untergebener immer wieder durch Versuche wett, ihr als cooler, starker Typ gegenüberzutreten. Er benahm sich so, als ob sie Geheimnisse teilten.
Vielleicht brauchte sein Ego das, dachte sie. Ihr ging diese Methode, sich anzuschleimen, gewaltig auf den Keks.
»Ich dachte nur, wir könnten da zusammen hinfahren, Ilka. Liegt in der Nähe vom Treibhaus. Wir könnten dort anschließend was zusammen essen oder einen Drink zischen.«
»Wie bitte? Hast du getrunken, Jonas? Wohin? Und anschließend an was? Was willst du eigentlich? Ich dachte, du wärst im Dienst.«
Sie schnaufte. Ausgerechnet ins Treibhaus. Und vermutlich sollte sie dort mit ihm in seinem Triebwagen hinfahren, wie sie ihn kannte. Seinem fetten Siebener, bei dem sich der Beifahrersitz nicht mehr richtig nach vorn klappen ließ.
»Äh – wegen diesem Fall in der Baumbachstraße? Das ist da gleich um die Ecke, in List. Diese verschrumpelte Frau.«
»Welche verschmorte Frau? Wovon redest du?«
Altmann stutzte am Telefon. »Sag bloß, du hast davon noch nicht gehört? Sonst bist du doch immer die Erste, die alles weiß.«
»Kannst du mal zum Thema kommen, Jonas? Was ist da passiert? Um was handelt es sich? Wer hat das gemeldet? Wer ist da verschrumpelt? Fakten, bitte. Also?«
Sie hörte, wie ihr Gegenüber am Telefon schluckte.
»Warte, ich komme rüber und erstatte Bericht«, brummte er.
Die Kriminalhauptkommissarin legte auf.
»Na also. Warum nicht gleich so.«
Eine Minute später kam Altmann zur Tür herein, leicht gebückt, damit er mit seinem schwarzen Cowboyhut nicht gegen den Türrahmen stieß. Mit Hut war er locker zwei Meter und zehn hoch.
»Sorry, Ilka, ich dachte, du wärst informiert. Tut mir leid.«
Er setzte sich auf einen der beiden Stühle vor ihrem Schreibtisch und legte eine Mappe vor sich auf die Tischkante.
»Also. Eine Nachbarin hatte angerufen, weil es in einer Wohnung im dritten Stock in der Baumbachstraße so merkwürdig roch, und zwar seit Tagen. Als ob da permanent was am Gammeln wäre. Sie hatte geklingelt, es war niemand da. Sie kannte die Frau, die dort wohnte. Es handelt sich um eine Luisa Heinrich, neunundzwanzig, geschieden, allein lebend, keine Kinder. In der Wohnung brannte Licht.«
Altmann schluckte.
»Sie hat dann die Kollegen gerufen. Der Hausmeister hatte einen Generalschlüssel und hat sie reingelassen. Gefahr im Verzug, ohne Bescheid.«
»Und?« Ilka Eichner sah Altmann ins Gesicht und zwinkerte nicht. Er senkte den Blick auf die Tischplatte und fuhr fort.
»Da lag eine Frau im Wohnzimmer, beziehungsweise die Reste von ihr. Vor ihr standen zwei Kanister mit Chemikalien, ein kleinerer klemmte zwischen ihren Beinen. Ein Chemieunfall. «
Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich.
»Die Frau war halb zersetzt, sie roch nach Müllhalde. Sie hatte da schon ein paar Tage gelegen und es sah entsprechend aus.«
Er sah auf und bemerkte ihren kritischen Blick.
»Sorry, aber war wohl so. Die Chemikalien stammen wohl aus dem Großhandel. Oder von jemand anderem, wir wissen nicht, ob dabei womöglich Fremdverschulden vorliegt.«
Er massierte sich mit dem langen Nagel des kleinen Fingers die tiefe Spalte in seinem Kinn, aus der er die Stoppeln nie richtig herausbekam.
»Sie hatte da verschiedene Mischbehälter, einen Trichter, Schläuche und ähnlichen Kram.«
Er sah wieder auf, konnte dem Blick aus ihren grauen Augen aber nicht lange standhalten.
»Ach ja, noch was. Die Frau hatte eine VR-Brille vor den Augen, die aber aus war. Vermutlich hat sie sich wegen Inaktivität abgeschaltet. Die Spurensicherung hat sie mitgenommen. Der Computer, der auf dem Schreibtisch stand, hatte sich ebenfalls abgeschaltet.«
Er schob ihr den Bericht rüber, stand auf und sah ihr in die Augen.
»Die Leiche ist jetzt freigegeben. Sollte unser Fall sein. Ich dachte, wir sollten uns das ansehen.«
Er stand auf, nahm den Cowboyhut, den er auf dem Rand des Schreibtisches abgelegt hatte, in seine Hände und hielt ihn vor seinen Schoß.
»Anschließend werden wir einen Drink gebrauchen können, dachte ich. Soll da nicht gut aussehen. Drinks gehen auf mich.«
Er sah sie wieder direkt an und hielt ihrem Blick diesmal stand.
»Also?«
Ilka Eichner stand auf und schnaubte durch die Nase. Es war Freitagnachmittag, sie hatte Dienst im Dezernat elf und war somit verantwortlich. Lust auf eine gammelige Tote hatte sie nicht. Sie seufzte.
»Na gut, Jonas. Wir sehen uns das mal an. Wir nehmen meinen Wagen, ich setze dich dann an deiner Kneipe ab. Ich treffe nachher noch jemanden.«
Dass sie ein Date mit ihrer Schwester hatte, musste sie ihm nicht auf die Nase binden.
Sie schnappte sich den Ordner und gab ihn zurück. »Du kannst mir das unterwegs im Auto vorlesen. Ist die Spusi noch vor Ort? Wer von denen war dort? Ich will das alles wissen, wenn wir da sind.«
Auf dem Weg zum Auto lag ihr etwas auf der Zunge. Da war etwas gewesen. Richtig, sie hatte es.
In Salzburg hatte vor Kurzem ein Mann vor Gericht gestanden. Er hatte ein Preisausschreiben gestartet. Eine der zu lösenden Aufgaben war es gewesen, herauszufinden, wenn man sich Säuren in verschiedenen Konzentrationen auf den Körper applizierte.
Die anderen Aufgaben waren harmlos gewesen. Für die Frauen hatte es so ausgesehen, als ob sie leicht an einen Gewinn kommen würden. Hauptpreis war ein Mercedes 500 gewesen. Angeblich.
Der Mann hatte auf Youtube überzeugend gewirkt; insgesamt war er in vier Fällen angeklagt und später verurteilt worden, sieben weitere Versuche waren bekannt geworden. Gestorben war zwar niemand, in einigen Fällen hatte jedoch nicht viel gefehlt.
Der Mann war aktenkundig, sein Pseudonym auch.
Sie wandte sich an ihren Kollegen.
»Hör zu, es gab einen anderen Fall vom letzten November. Ein Mann hat sich als Fernsehmann des österreichischen Fernsehens ausgegeben. Er hat über Youtube ein Preisausschreiben gestartet, bei dem man etwas gewinnen konnte, wenn man mehr über den eigenen Körper herausfand. Seine Opfer sind ihm blindlings gefolgt, der muss sehr überzeugend gewesen sein.«
Sie waren beim Auto angekommen. Ilka war froh, dass ihr das eingefallen war. Wissen und Intuition, damit hatte sie schon viele Fälle lösen können.
»Besorg dir mal die Infos aus Salzburg. Frag dich notfalls durch, noch vom Auto aus. Falls wir hier einen Trittbrettfahrer haben, müssen wir alles über den Fall wissen.«
Sie selbst hatte über den Fall aus der Presse und über Twitter und Facebook erfahren. Während ihr Kollege telefonierte, stellte sie sich vor, wie diese Berichte auf andere männliche Sadisten gewirkt haben mussten.
Aha, da gab es Frauen, die sich zu so etwas überreden ließen, zu Hunderten. Sie wunderte sich gleich, dass es nicht noch mehr Nachahmer gegeben hatte, so etwas zog diese Leute an wie Scheiße die Fliegen.
Halt, sagte sie sich. Du hast das bereits eingegrenzt, auf männliche Sadisten. Das machte zwar Sinn, die einzige Möglichkeit war es aber nicht. Was, wenn eine andere Frau dahintersteckte, die sich das Wissen um den angeblichen Quizmaster aus Salzburg zu Nutze machte und damit die Kripo ablenken wollte?
Sie sah hinüber zu Jonas Altmann. Gerade solche Macho-Typen hatten oft Minderwertigkeitskomplexe, die sie kompensieren wollten. Mit Cowboyhüten zum Beispiel. Mit einer Waffe, die sie legal tragen durften. Viele Polizisten waren nur zur Truppe gestoßen, weil sie endlich mal Macht haben wollten.
Sie selbst war schon mal von einem ehemaligen Klassenkameraden gestoppt worden, der nach der Realschule zur Polizei gegangen war, während sie noch studierte; der hatte sie bei einer Verkehrskontrolle gestoppt und ihr zehn Euro Strafe aufgebrummt, weil sie angeblich zu schnell gefahren war. Er hatte sie mit Frau Eichner angesprochen und auf ihr Kalle gar nicht reagiert.
Kalle war immer der schlechteste in der Klasse gewesen und hatte wegen seiner Pickel nie Chancen bei den Mädels gehabt.
Ihr Kollege mit dem Hut hatte studiert wie sie, in Hildesheim. War er auch so einer wie Kalle, im Herzen?
Altmann kompensierte das mit Frauengeschichten, wie sie gehört hatte. Wenn keine Frauen in der Nähe waren, prahlte er mit seinen Eroberungen. Er war auf seine Weise attraktiv, er war groß und sportlich und sah männlich aus, bestimmt kriegte er damit viele rum.
Aber warum blieb er dann nicht bei einer? Warum musste er sich immer wieder beweisen, mit immer neuen Frauen? War das seine Droge?
Altmann hatte gerade aufgelegt.
»Warum quälen Männer Frauen, Jonas? Kannst du mir das sagen?«, fragte sie ihn direkt.
»Ist das eine Art Rache?«
Er lachte. »Die quälen sich selbst, wenn sie einer nicht mehr erträgt und sie sitzen lässt«, grinste er. Dann wurde er wieder ernst und sah sie schräg von der Seite an.
»Du meinst diesen Fall und den Mann in Salzburg, nicht?«
Er legte den Kopf nach hinten an die Kopfstütze, wobei ihm sein Hut in den Schoß fiel. Er ließ ihn liegen.
»Tja. Macht über andere, das passt eher als Rache, finde ich. Nach den Akten hat der Typ es genossen, dass die Frauen ihm gefolgt sind und sich selbst weh getan haben, mit Säuren, wieder und wieder, auch wenn es sehr schmerzhaft war. Einige sind dabei bewusstlos geworden, für Stunden. Beim nächsten sogenannten Quiz über Youtube haben sie es dann trotzdem wieder gemacht.«
Er rutschte nach unten und setzte sich den Hut wieder auf. »Ich mache mir eher Gedanken über diese Frauen. Warum machen die das? Das weiß doch jeder, dass Säure gefährlich ist. Der hat die an ihrer Wertschätzung gepackt, denke ich. Die hätten etwas im Quiz gewinnen können, das hat sie heiß gemacht. Sie hatten eine tolle Chance, etwas zu gewinnen. Das und die Neugier, oder?«
Er sah sie wieder an, Ilka sah auf die Straße vor sich.
»Wir haben doch alle schon mal an uns rumprobiert, oder? Uns ausgetestet, wie weit man gehen kann, ob etwas weh tut, ob man das aushält. Wir machen Mutproben mit, als Kinder, auch dabei kann man sich verletzen oder sterben, hatten wir doch oft genug, oder Ilka?«
Sie sah ihn mit einem Seitenblick an. »Und?«
»Die Frauen hatten eine Chance, Geld zu gewinnen. Und ihre Grenzen auszutesten. Eine Mischung, die zusammen mit überzeugenden Worten wohl immer gezogen hat. Und nach Fifty Shades of Grey kommt Masochismus ja bei Frauen auch ganz gut an, soweit ich weiß.«
Er lehnte sich zufrieden zurück und nahm seinen Hut wieder ab.
»Okay, das erklärt vielleicht die Bereitschaft der Frauen, sich so etwas auszusetzen, obwohl ich das sehr beunruhigend finde«, gestand Ilka.
»Wir suchen aber keine Opfer, Jonas, wir suchen den Täter. Macht, sagst du, ein Trick, die Leichtgläubigkeit der Frauen auszunutzen, damit sie tun, was man ihnen sagt, und sich dabei verletzen. Das allein kann es nicht sein. Da gehört noch mehr dazu. Sadismus. Der Wunsch zu verletzen, zu quälen. Aber warum will jemand Frauen quälen? Was sagst du als erfahrener Mann dazu?«
Jonas sah sie gequält an, nahm den Cowboyhut wieder ab und biss fragend in die Krempe. Er dachte einen Moment nach.
»Du musst da vorne abbiegen«, empfahl er Ilka.
»Weiß ich. Lenk nicht ab.«
Jonas beugte sich vor und stülpte sich sein wichtiges Bekleidungsstück wieder auf.
»Du hast vorhin Rache erwähnt. Wegen Zurückweisungen, würde mir dazu einfallen. Enttäuschte Liebe. Wenn du den alten Freud bemühen willst, die Strafe dafür, dass die Mutter den Sohn verlassen hat. Ihn aus dem Haus gejagt hat. Dafür, dass die Frauen den Männern nicht geben können, was sie wollen. Dass sie selbst zu viel von den Männern wollen und nicht bereit sind, sich unterzuordnen. Dass sie einen eigenen Willen haben und ihre eigenen Interessen über die der Männer stellen, so was in der Art. Das würde dazu passen, dass der Täter seinen Opfern seinen Willen aufzwingen will. Dass er sie zu etwas bringt, was sie eigentlich nicht wollen können.«
Er lehnte sich wieder zurück.
»Ich weiß auch nicht. Ist doch alles Scheiße, was diese Perversen im Kopf haben.«
Ilka brachte den Passat zum Stehen und griente ihren Beifahrer spöttisch an. »Sehr aufschlussreich, Jonas. Schauen wir uns das Opfer mal an.«
Die Tote hatte im vierten Stock gewohnt. Unten am Hauseingang stand ein Kollege, der nur die Anwohner durchließ, vor ihm standen zwei Pressevertreter, die ins Haus wollten.
»Sorry, das sind laufende Ermittlungen. Da kommt die Hauptkommissarin, fragen Sie die doch.«
Ilka funkelte den Streifenpolizisten an und wandte sich an die Reporter.
»Sorry, ich bin hier gerade erst angekommen. Sobald ich wieder raus bin, kann ich Ihnen gern Auskunft erteilen. Setzen Sie sich am besten in Ihre Fahrzeuge, es ist kalt draußen, und Sie halten den Anwohnerverkehr auf. Danke.«
Schon im Treppenhaus konnten sie riechen, was die Beamten gemeint hatten. Es roch nach vergammeltem Braten, der ein paar Tage zu lange im eigenen Saft im Backofen gestanden und zu stinken angefangen hatte, mit einer Note von verwesendem Fleisch. Altmann hielt sich die Nase zu.
In der Wohnung, in der es bestialisch ätzend stank, saß eine Frau von der Spurensicherung, die Ilka kannte. Kirsten Warnecke, die aber nicht sie, sondern den Cowboy neben ihr ansah.
»Hi, Johnny«, begrüßte sie ihn, bevor sie Ilka wahrnahm. »Hallo, Ilka. Gut, dass ihr kommt.«
Ilka sah sich um. Bevor sie etwas fragen oder sagen würde, wollte sie sich selbst einen Eindruck verschaffen und im Geist durchspielen, was hier passiert war.
Die Spurensicherung war fertig, wie sie an den zahlreichen Markierungen feststellen konnte. Auf dem Küchentisch, hinter dem Kirsten Warnecke saß, lag ein Bericht des Amtsarztes, Warnecke selbst tippte ihren in einen Laptop, wobei sie ab und an ins Wohnzimmer spähte, wo die Tote in ihrem Kreideumriss lag.
»Die Leiche wird in einer halben Stunde abgeholt und zur Rechtsmedizin gebracht«, informierte sie die Kommissarin. »Die Wohnung haben wir für weitere vierundzwanzig Stunden gesperrt, bis der Tatortreiniger kommt.«
Ilka trat ins Wohnzimmer, Jonas Altmann im Schlepp. Der Geruch war gerade noch zu ertragen. Altmann empfand das wohl anders; er eilte ins Bad und schloss die Tür hinter sich, Ilka hörte ihn trotzdem stöhnen.
Gut so, dachte sie, die Mimose lenkt mich sowieso eher ab.
Sie sah sich die Tote an.
Die Frau war splitternackt, ihre Sachen hatte sie auf einem Stuhl abgelegt und über die Lehne gehängt.
Sie lag auf einer Art Zeltplane. Das sollte wohl die Flüssigkeiten daran hindern, in das darunterliegende Parkett einzusickern.
Die Leiche sah unförmig und fleckig aus. Dunkle Leichenflecken wechselten sich mit anderen Flecken ab, vor allem an Bauch und Brust und im Bereich des Unterkörpers. Die Haut dort war aufgeworfen, blasig und knallrot.
Die Frau musste hübsch gewesen sein, dachte Ilka. Sie hatte lange, blonde Haare, die jetzt auf dem Teppich ausgebreitet lagen. Ihr Gesicht sah ebenmäßig aus. Wo jetzt die Maden verschiedener Fliegenarten krabbelten, waren einmal rote Lippen und braune Augen gewesen.
Sie sah an die Wände und suchte dort und auf Tischen und Schränken nach Fotos der Toten. Sie fand zwei.
Die Frau war in der Tat attraktiv gewesen. Ein Foto zeigte sie im Urlaub, im Bikini.
Ilka fiel das Gesicht auf. Sie hatte große, braune Augen gehabt, eine leicht gebogene Nase und hübsche Ohren und Haare, über einer passablen Figur.
Nur der Mund passte nicht. Die Mundwinkel zeigten auf beiden Fotos nach unten, als ob die Frau permanent unzufrieden gewesen wäre, enttäuscht.
Sie wusste nichts über das Opfer, ihre Beziehungen, ihre Familie, ihr Leben. Das würde sie nach der Beschau nachholen.
Jonas kam aus dem Bad und sah sich die Tote an.
»So sehen wir auch mal aus«, neckte Ilka ihn. »Sieh schon mal genau hin, Johnny.«
»Bäh«, sagte er. »Ich nicht. Ich lasse mich sofort verbrennen. Das ist doch widerlich, oder?«
»Erkundige dich bitte nach ihrem Umfeld, Jonas. Kirsten wird dir sicher schon einiges sagen können. Namen, Alter, Familienstatus. Du weißt schon.«
Er ging aus dem Zimmer, froh, sich diese fortgeschrittene Verwesung nicht länger ansehen zu müssen.
Ilka betrachtete die Container und die anderen Dinge wie die Schläuche. Sie verbanden die Flüssigkeiten miteinander, es gab sogar einen Dreiwegehahn, mit dem die Frau wohl die Konzentration verändert hatte. Am Ende des Schlauches saß eine Art Spritze, mit einem Schild daneben und der Ziffer 14 darauf.
Neben der Spritze lag ein Handschuh. Damit hatte die Frau das alles gehandhabt. Damit sie sich die Hände nicht an der Säure verbrannte. Dass die Auswirkungen auf ihre anderen Körperteile noch viel schlimmer sein würden, hatte sie anscheinend in Kauf genommen.
Die Hand der Frau lag nach wie vor auf der Spritze.
Ilka ging zu der Spurensicherungsfrau hinüber. »Gab es da nicht noch andere Kanülen und eine Art Einlauf?«, fragte sie.
Die Frau in Weiß nickte. »Ja. Da waren Reste von Körpergewebe dran. Halb aufgelöst von der Säure. Kannst du dir in der Rechtsmedizin ansehen.«
Altmann hatte neben der Frau von der Spurensicherung Platz genommen, sehr eng an ihrer Seite. Den linken Arm hatte er auf ihrer Stuhllehne liegen. Er sah sie entschuldigend an.
»Die Frau heißt Marietta Wesemann«, berichtete er. »Sie ist siebenunddreißig, ledig, arbeitete als Bankangestellte hier in Hannover. Ihre Familie lebt in Memmingen, ist schon informiert worden. Von Freunden ist bisher nichts bekannt, das haben die Kollegen schon mit der Bank und den Kollegen abgeklärt.«
Er nickte bestätigend zu seinen eigenen Worten.
»Jonas?«
»Ja, Ilka?«
»Ich brauche alle ihre Kontakte. Soziale Netzwerke, Kollegen, Klubmitgliedschaften, Freundinnen, Nachbarn. Alles. Okay?«
Altmann nickte grimmig und nahm den Arm von der Lehne.
Ilka wandte sich an die Frau. »Was ist mit ihrem Handy? Frau Wesemann hatte doch bestimmt eines, oder?«
»Haben die Kollegen mit aufs Revier genommen.«
»Den Laptop wirst du dann mitnehmen, richtig?«, fragte sie weiter. Warnecke nickte. Ilka wandte sich an Altmann.
»Frag nach, ob das Handy geöffnet werden kann, wenn nicht, setzt jemanden darauf an, Jonas«, bat sie den großen Mann. »Jetzt gleich?«
Altmann hatte auf den Bildschirm vor Kirsten Warnecke gestarrt, als ob er die Informationen mit ihr teilen wollte. Er stand widerstrebend auf und nickte mürrisch.
Ilka hatte noch eine Frage an die Frau in Weiß. »Kann man ohnmächtig werden, für längere Zeit, wenn man sich Säure einführt?«
Die Frau nickte. »Der Schmerz schaltet alles ab. Der Schock kann durchaus zum Tode führen.«
Sie ging zurück ins Wohnzimmer, diesmal gefolgt von Altmann.
»Komm mal hier rüber«, bat sie ihn. »Zum Laptop.«
»Stell dir vor, du säßest am anderen Ende eines Chats oder Programmes, ein Spiel vielleicht, das die Frau über den Computer empfängt und über die VR-Brille sieht«, forderte sie den Cowboy auf. »Was siehst du?«
Er sah sie mit einem Ausdruck an, als ob sie ihn veräppeln wollte.
»Was ich sehe? Die Frau da? Das Mordopfer?«
»Während des Gespräches. Du bist online, die Brille ist an, ihr redet über VR. Was macht die Frau gerade?«
»Ach so. Du willst das nachstellen.«
Altmann trat hinter den Laptop und sah sich im Raum um.
»Also. Die Frau saß auf dem Sofa. Angezogen, trank einen Kaffee.«
Er zeigte auf eine leere Tasse auf dem Couchtisch.
»Sie quatschen. Der Täter erzählt ihr eins vom Pferd, kriegte sie dazu, sie auszuziehen und auf den Teppich neben das Sofa zu legen. Hat sie mit irgend etwas heißgemacht.«
Er kratzte sich seine Barthaare in der Kinnfurche. Ilka fragte sich, was passieren würde, wenn die Stoppeln dort auf der jeweils anderen Seite eindrangen. Würden sie dort Wurzeln schlagen, wenn er sie nicht alle paar Stunden abschabte?
Altmann ging in den Tätermodus über.
»Irgendwann habe ich sie so weit, dass sie bereit ist, mit Säure zu experimentieren. Ich habe ihr das Blaue vom Himmel versprochen, was passieren kann. Irgendwelche Geschichten, dass Leute durch den schockierenden PH-Wert hochintelligent geworden sind. Und dass das nur ganz schwache Säure ist. Den sie sogar noch dimmen kann, also alles auf der sicheren Seite. Und dass sie damit eine Frage lösen kann, deren Antwort sie dem Mercedes näherbringt.«
Er sah zu der Frau hinüber.
»Die Rechtsmediziner werden uns sagen, wo die Säure entlanggeflossen ist. Wenn ich mir das so ansehe, konzentrieren sich diese weißen Flecken rings um den Mund und um die Scham. Und auf den Weg dazwischen.«
Er schluckte und sah seine Vorgesetzte an. Muss ich jetzt weiterreden, entnahm sie seinem Blick.
»Und?«, fragte Ilka. »Wie weiter?«
Altmann zog die Nase hoch und schluckte erneut.
»Also, sie hat erst schwache Säuren auf sich geschüttet. Vielleicht anfangs getrunken, im Mund spürt man, ob der Körper das verträgt. Für alles andere, die Brustwarzen zum Beispiel, hat sie dann vielleicht schon höhere Dosen genommen. Weil die nicht so empfindlich sind wie die Zunge.«
Er sah sie erneut fragend an. Die Hauptkommissarin nickte ihm ermunternd zu.
»Ich nehme an, sie hat sich zum Schluss eine große Dosis eingeführt. Sich damit begossen.«
Er zog eine Grimasse.
»Ich denke mal, an die Klitoris.«
Ilka zog die Augenbrauen hoch und nickte mehrmals auffordernd.
»Ich erzähle der Frau was von einem besseren, ach was, einem phänomenalen Orgasmus, den sie dann kriegt, wenn sie sich an die Säure gewöhnt hat. Der ihr durch Mark und Bein geht. Dass sie kommt wie niemals zuvor. Dass sie das dann auch später verspürt, wenn sie mit einem Mann zusammen ist.«
»Wie kommst du darauf, Jonas?«, fragte Ilka nach.
Er sah weg von der Frau und Ilka Eichner an.
»Sie war schon etwas älter und unverheiratet. Von einem Freund ist nichts bekannt. Dabei sah sie vermutlich gar nicht mal so schlecht aus. Ich nehme an, sie hatte Probleme im Bett. Soll es ja geben.«
Ilka sah, dass er langsam errötete. Hatte er sie etwa auch im Verdacht, und es war ihm peinlich, dass es ihr peinlich sein könnte?
Sie wiegte den Kopf hin und her. »Na ja. Könnte passen. Was sagt uns das über den Mann? Du hast dich gerade in ihn hineinversetzt. Was ist er für einer? Was treibt ihn um? Was kann er, worin ist er gut, was ist sein Problem? Hat er das nötig, sich so zu befriedigen, sieht er vielleicht schlecht aus, oder hat direkt kein Glück bei Frauen? Nimm seine Rolle an und sag es mir.«
JOHANNA
Neues Hotel