Friesisch herb Friesisch tot - Nick Stein - E-Book

Friesisch herb Friesisch tot E-Book

Nick Stein

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Beschreibung

DER TOTE IM BIER

 

Mitten in der Urlaubszeit wird in einer Brauerei in Jever ein Toter im Gärbehälter entdeckt. Alles spricht für Mord. Der Tote ist ein reicher Chinese aus Wilhelmshaven, der dort eine große Import-Export-Firma betreibt. Da die Kripo Jever auf einer Fortbildung ist, muss LKA-Mann Lukas Jansen übernehmen. Der Fall ist ein großes Rätsel; wie ist der Mann dort reingekommen? Der Amtsarzt entdeckt Faserspuren im Mund und Urinspuren im Magen. War der Tote Opfer eines widerlichen Urinboardings?
Als Lukas auf der Suche nach Zeugen in Holland eine chinesische Reisegruppe vernimmt, wird in der gleichen Brauerei in Jever ein weiterer Toter in der Kläranlage entdeckt, völlig geschreddert und wohl schon länger tot. Auch er arbeitete in der Importfirma aus Wilhelmshaven. Doch Zusammenhänge zur Brauerei erschließen sich nicht.
Doch dann steht plötzlich der Verfassungsschutz in Lukas' Büro und nimmt ihm den Fall weg; übergeordnete Interessen.
Wer Lukas Jansen kennt, weiß, dass er das nicht so einfach hinnehmen wird. Er nutzt die Verfolgung von kleineren Fällen, die sich am Rande ereignet haben, zur weiteren Spurensuche.
Alle warnen Lukas: Das ist ein paar Nummern zu groß für dich, Lukas.
Folgerichtig findet er sich bald gefesselt im Kofferraum eines Autos wieder. Wo es hingehen soll, kann er sich nur ausmalen. In ein feuchtes Grab auf dem Grunde der Nordsee? Verscharrt in irgendeinem Moor?
Ihn erwartet etwas noch viel Schlimmeres. Er findet sich inmitten einer Aktion wieder, die alles über den Haufen werfen soll, was er kennt und was ihm lieb und teuer ist. Und nur er allein kann großes Unheil verhindern – wenn er es schafft, alle Zweifel abzuschütteln und alles auf eine Karte zu setzen ...

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Nick Stein

Friesisch herb Friesisch tot

Frieslandkrimi

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Kapitel 1

 

PROLOG

 

ETWAS BERÜHRTE meinen Nacken oberhalb des Atlaswirbels. Kalter, runder, harter Stahl. Ich nahm den Geruch von Waffenöl wahr. Direkt vor der Mündung lag mein Stammhirn; ein Schuss hätte mich auf der Stelle getötet.

Eine zweite Bewegung war sanfter. Jemand schob mir von hinten langsam etwas in mein Holster. Ich spähte vorsichtig mit den Augen nach unten; eine Glock 17.

»Ganz still stehenbleiben«, ermahnte mich kühl und stählern die Stimme hinter mir, die vorher so angenehm verständnisvoll und warm geklungen hatte.

»Öffnen Sie die Tür. Langsam.«

Ich stand vor einer Stahltür, wie sie in Fabriken üblich war. Was hatte ich für Optionen? Meine Waffe greifen, mich blitzschnell umdrehen und den Mann hinter mir erledigen, einen trainierten und hellwachen Major, wie ich wusste?

Das hätte der siebzehnjährige Lukas Jansen zweifellos getan und sein winziges Überraschungsmoment genutzt. Der Oberkommissar Jansen war vorsichtiger. Immerhin hatte er eine wunderbare Frau und zwei geniale Kids, die zu Haus auf ihn warteten.

»Okay.« Ich griff in Zeitlupe zu dem Stahlgriff, drückte ihn herunter und zog vorsichtig die Tür auf.

Vor mir tat sich eine Szene auf, wie ich sie nur aus dem Kino kannte. In einem verkommenen Waschraum mit zerschlagenen Waschbecken und blinden Spiegeln, der nach Ratte stank, stand ein Stuhl in der mir gegenüberliegenden Ecke, mit einem großen und massiven Mann darauf, dessen Hände hinter seinen Rücken führten und dort wohl gefesselt waren. Über seinen Kopf war eine schwarze Stoffhaube gestülpt, ganz wie bei Jason Bourne. Sollte ich den jetzt etwa erschießen?

Der Mann hatte eine Arbeitshose und ein schmuddeliges Doppelripp-Unterhemd an, unter dem Stuhl war eine große Plastikdecke ausgebreitet. Für das Blut, das gleich fließen würde, und zum Einwickeln der Leiche?

Mein Magen revoltierte. Ich ahnte, was auf mich zukam. Das wollte ich nicht, einen wehrlosen Mann erschießen. Aber sollte ich mich selbst dafür erschießen lassen? Das wollte ich erst recht nicht.

»Reingehen«, bellte die Stimme hinter mir. »Stellen Sie sich einen Schritt vor ihn. Er hört nichts, unter seinem Sack läuft laute Musik. Rammstein, glaube ich. Los.«

Ich tat wie geheißen, sogar noch langsamer, als es nötig war. Mein immer noch von den Drogen aufgeputschtes und euphorisches Gehirn versuchte, einen Ausweg zu finden, leider nur mit halber Kraft, denn was immer mir diese Leute gegeben hatten, wirkte nach, und auch all das, was sie mir eingebläut hatten. Wovon sie mich mehr oder weniger überzeugt hatten. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was richtig war. Befehl und Gehorsam, hatte er gesagt, so funktioniert das, anders nicht.

Mein Darm meldete sich und drängte sich die Speiseröhre hinauf. Mein limbisches System wollte da nicht mitmachen, was ich auf mich zukommen ahnte. Mein Herz schlug gefühlt mit 180, ich musste mit offenem Mund atmen, der Widerstreit zwischen dem, was kommen musste, und meiner inneren Einstellung wurde zu groß. Ich begann zu hyperventilieren.

»Und nun die Waffe ziehen. Langsam.«

Ich tat auch das in Zeitlupe und sah mir dabei den Delinquenten an. Sein massiver, muskulöser und gleichzeitig fetter Oberkörper war voller Tattoos. Einige davon erkannte ich. Einen Kreis aus Blitzen. Ein »HH«, das bestimmt nicht für Hansestadt Hamburg stand, Odinsrunen. Und auf dem rechten Oberarm eine halbnackte Frau, die ich schon mal gesehen hatte; genau! Jetzt wusste ich es wieder. Das war der Glatzkopf, der mich im Haus am Moor niedergeschlagen hatte. Ein Ultrarechter, der mich fast getötet hatte.

Klar. Da kam der Wunsch nach Rache hoch, Wut, der Drang, zuzuschlagen. Ich hätte ihm gern eine Faust in die Fresse gedroschen, mehr aber auch nicht, denn noch lieber hätte ich ihn vor Gericht gebracht und dann hinter Gitter. Aber erschießen?

»Der Mann ist ein Verräter. Er hat für einen fremden Geheimdienst gearbeitet und dafür viel Geld erhalten, durch ihn sind vier Kameraden ums Leben gekommen.«

Las der Mann hinter mir etwa ein Urteil vor?

»Das Volk hat ihn zum Tode durch Erschießen verurteilt. Legen Sie an, Herr Jansen.«

Ja, sagte eine Stimme in mir. Das ist genau das Richtige, das musst du jetzt tun, leg das Schwein um, einen Feind des Volkes, einen Verräter, tu, was dir befohlen wird, du stehst auf der richtigen Seite. Ich hob langsam die Waffe, hielt den Lauf aber noch steil nach oben, den Finger vor dem Abzugsbügel, nicht darin.

Ich dachte kurz an Lisa und die Kurzen. Würden sie stolz auf mich sein, oder würden sie mich vom heutigen Tag an als Verräter verachten?

Kapitel 2

 

Die Kurzen gingen jetzt zur Schule und hatten Fragen. Zu viele Fragen für einen müden Oberkommissar beim LKA in Wittmund.

»Nein, Onno. Der Kreis Friesland liegt im Osten, Ostfriesland liegt im Westen.«

Sohnemann zog eine Schnute. »Aber das ist doch verkehrt! Dann müssen wir doch Westfriesland heißen und Jever müsste in Ostfriesland liegen, oder?« Er und seine Zwillingsschwester Ella sahen mich fragend an. Ihre heile Welt war gerade komplett in sich zusammengebrochen.

»Nein, Onno. Westfriesland liegt in Holland, südlich von Friesland, in Nordholland, Onno. Das ist alles friesisches Geheimwissen«, behauptete ich. »Damit unsere Gegner sich verlaufen. Das war schon gegen die Römer so, und damals haben wir immer gewonnen.«

Ellas Stirn zog sich zusammen. Ich konnte fast sehen, was sie dachte. Friesland kann doch nicht in Nordholland und gleichzeitig im Osten von Ostfriesland liegen. Aber sie überraschte mich.

»Papa, das heißt Niederlande, nicht Holland. Das weiß doch sogar ich. Und…«

Zum Glück klingelte mein Handy. Das Display zeigte den Namen von Erika Meier, der Ersten Hauptkommissarin aus Wittmund.

»Jansen, Sie müssen sofort nach Friesland«, sagte sie unvermittelt. »Da liegt etwas im Argen. Genauer gesagt, im Bier. Ein toter Chinese. Ich kann hier nicht weg, und die Kripo-Kollegen aus Jever sind zu einer wichtigen Fortbildung.«

Mir gingen verschiedene Antworten durch den Kopf. Ich bin beim LKA, nicht bei der Mordkommission. Welches Friesland meinen Sie? Das in den Niederlanden? Hatte der Tote vielleicht einfach nur Durst gehabt? Die gönnen sich doch sonst nichts, die Chinesen. Aber ich ahnte schon, dass ich bei der klugen und ernsthaften Frau damit nicht durchkommen würde.

»Im Friesisch Herben?«, fragte ich zurück. Ich ahnte bereits, dass es sich nur um die berühmte Großbrauerei handeln konnte. Es gibt noch weitere Brauereien in der Gegend, aber die waren viel kleiner, machten dafür aber meist extrem gutes Bier. In Varel zum Beispiel. Aber dort war niemand umgebracht worden, sonst wäre ich da sofort hingefahren.

»Wo sonst? Machen Sie hin, Jansen, die wollen weiterbrauen, und das wollen Sie doch nicht, dass die deswegen ihre Pilsproduktion für längere Zeit unterbrechen müssen, oder?«

Sie hatte mich an meiner bekannt schwachen Stelle erwischt. Nein. Das wollte ich bestimmt nicht. Ich lugte aus den Augenwinkeln in die Ecke hinter dem Kühlschrank. Da stand noch eine fast volle Kiste vom Friesisch Herben, was mich minimal beruhigte.

»Bin schon unterwegs«, sagte ich und legte auf. Meine beiden Zweitklässler sahen mich an wie die zukünftigen Ermittler, die sie bestimmt einmal sein werden.

»Kinder, ich muss leider los. Nach Friesland. Da hat ein Chinese zu viel Bier getrunken.«

»Siehst du!«, sagte Ella triumphierend. »Mama sagt dir das auch immer!«

»Welches Friesland?«, wollte Onno wissen. »Südfriesland?«

»Nee. Das liegt im Süden von Sylt und damit in Nordfriesland«, erklärte ich ihm. »Ist doch logisch, oder?«

Ich nutzte das kurze Protestgeheul meiner Kurzen, um meiner entzückenden Frau Lisa einen Kuss auf die vollen Lippen zu drücken, mich für den Rest des Sonntagnachmittags zu entschuldigen, obwohl es später noch Ostfriesentorte geben sollte, die zu verpassen eine unverzeihliche Sünde war, und machte mich auf den Weg.

Als ich mich in Jever den blauen Türmen der Brauerei näherte, hatten die Streifenpolizisten bereits den ganzen Bereich mit rotweißen Flatterbändern abgesperrt. Einer von ihnen, Volker Volkerts, wartete geduldig, bis ich mein E-Auto ordnungsgemäß geparkt hatte, und hielt dann das Band für mich hoch.

»Komm mit«, sagte er. »Wir müssen in den Gärkeller.«

Volkerts führte mich durch die Brauerei, die ich mir gern mal in Ruhe angesehen hätte, zu einer Halle mit riesigen Edelstahltanks, die anders als erwartet gar nicht mal im Keller lag. Heute war zwar Sonntag, trotzdem wuselten noch etliche Mitarbeiter durch die Brauerei, nur im oberirdischen Gärkeller war es bis auf zwei weitere Uniformierte menschenleer.

»Hier rauf.« Wir erstiegen eine Treppe aus Stahlgittern und gelangten auf ein Gerüst. Vor uns ragte ein Kran empor, von dem ein Deckel herabhing, der auf einen Kessel von einer Größe passte, in dem man Zaubertrank für ganze friesische Stämme hätte brauen können. Was in gewisser Weise ja tatsächlich zutraf. Die Friesen hatten genau wie die Gallier ganze römische Legionen in Klump gehauen, auch wenn es diesen speziellen Zaubertrank damals noch gar nicht gegeben hatte. Oder doch? Bier wurde ja schon seit Jahrtausenden gebraut. Vermutlich hatten die Friesen das sogar erfunden, wundern würde mich das nicht.

Halb bedeckt von hellbraunem Schaum trieb rücklings ein nackter Mann mit schwarzen Haaren und Mandelaugen, der selbst im Tod noch glücklich aussah. Kein Wunder, dachte ich, eine schönere Todesart hätte er sich kaum aussuchen können.

»Können wir ihn jetzt rausholen?«, fragte ein Mann in einer Schürze, auf welcher der Schriftzug Jever prangte. »Ich muss das leider alles ablassen und reinigen. Das Bier ist leider verdorben.«

Volkerts warf ihm einen kritischen Blick zu. Der Mann auch, sagte sein unausgesprochener Kommentar. Wie kann man denn die ganze Zeit nur an Bier denken?

Ich nickte. »Ja. Holt ihn da raus. Vielleicht sind da noch andere Dinge mit drin, Bekleidung, ein Handy. Können Sie das so ablassen, dass nichts Größeres verloren geht?«

Der Mann, auf dessen Schürze ein Namensschild aufgestickt war, das ihn als Jonas Janssen auswies, rieb sich das Kinn. »Natürlich. Ich frage ich bloß, wer der Kerl ist und wie der da reingekommen ist. Eigentlich ist das völlig unmöglich.«

Er griff zu einer Art Ruder mit Löchern und pullte den Leichnam damit vorsichtig an den Rand. Als er nahe genug herangetrieben war, griffen er und Volkerts zu und zogen. Der Tote platschte wie ein nasser Sack auf den Gitterboden des Gerüstes, auf dem wir standen, und verbreitete einen stechenden Geruch nach Hefe und Bier.

Volkerts fühlte ihm aus Sicherheitsgründen den Puls und schüttelte den Kopf. »Ruf einen Leichenwagen«, empfahl ich ihm. »Der muss in die Gerichtsmedizin. Ich sage gleich meiner Frau Bescheid.«

Mein altes Problem. Lisa ist die Gerichtsmedizinerin für Ostfriesland, und wenn ich mal wieder irgendwo eine Leiche ausbuddelte, musste sie ran, und dann war niemand bei den Kiddies. Also musste ich auch noch meine Mutter in Carolinensiel anrufen, damit sie zu Hause auf die kleinen Friesen aufpasste.

»Kennen Sie den Toten?«, fragte ich den Braumeister, nachdem ich meine Telefonate erledigt hatte. »Wer hat hier Zugang? Wie kann der hier in diesen Tank kommen? Und wann und wie haben sie den entdeckt?«

Janssen machte sich an einem Bildschirm zu schaffen, der Bierspiegel sank wie in Zeitlupe nach unten, der Schaum am Rand blieb an den Wänden haften. »Schade um das schöne Bier«, konnte er sich nicht verkneifen. »Tja, wie ist der da wohl reingekommen? Entweder hat jemand den Deckel abgehoben, das geht aber nicht einfach so. Oder durch das Mannloch da.« Er zeigte auf ein rundes Loch im Deckel, das ich vorher gar nicht bemerkt hatte. »Da muss er vorher das Sichtglas aufschrauben, das dauert. Und das ist zu, also war er auf keinen Fall allein. Ein Zufall war das nicht, wenn Sie mich fragen, Herr Kommissar. Der ist da von anderen reinbugsiert worden.«

Ich dachte das durch und stieß noch auf eine andere Möglichkeit. »Er könnte auch selbst da reingestiegen sein und hat die Öffnung offenstehen lassen. Ein Brauereimitarbeiter hat das dann geschlossen, ohne ihn zu bemerken. Passt das?«

Jetzt überlegte er und schüttelte dann den Kopf. »Theoretisch schon. Wir lassen die Tanks aber niemals offenstehen. Und falls das mal jemand vergisst, würde der Nächste auf jeden Fall reinschauen, was los ist. Halte ich für sehr unwahrscheinlich.«

Das hatte ich mir schon gedacht. Dennoch, Nachlässigkeit konnte ich nicht völlig ausschließen.

»Wo läuft das ganz Bier jetzt eigentlich hin?«, fragte ich. Wenn das in das Grundwasser geriet, würde sich Friesland in das Land der Glückseligen verwandeln, wie ein kleiner Teil von mir insgeheim hoffte.

»Wir haben eine eigene Kläranlage für solche Fälle«, erklärte Janssen. »Das Jungbier wäre ein Festessen für alle möglichen Mikroben, und das Wangerland bekäme eine wunderschöne Schaumkrone. Ins Meer kommt davon nichts, Herr Kommissar, seien Sie da mal ganz beruhigt.«

Mir ging bei der Polizei ja ein Ruf als Umweltschützer voraus. Nicht ganz unverdient, wie ich fand. Trotzdem, daran hatte ich gerade gar nicht gedacht.

Ich hatte mir schon eine schön krustige Scholle in Biersoße ausgemalt. Ich merkte mir das für alle Fälle, wenn ich mit Kochen dran war. Für die Kleinen und mich, Lisa aß keinen Fisch. Und kein Fleisch. Bier trank sie allerdings.

Wir wandten uns wieder der Leiche zu, nachdem Volkerts uns mit mehrfachem Hüsteln an ihre Existenz erinnert hatte.

Janssen erinnerte sich an meine Frage. »Ach so, nee, den kenne ich nicht, den Herrn. Der ist doch höchstens dreißig, oder? Chinese oder Japaner oder Vietnamese, würde ich sagen. Arbeiten tut der bei uns nicht, habe ich noch nie gesehen, den Kerl.«

Ich wandte mich an Volkerts. »Habt ihr hier alles abgesucht, Volker? Klamotten, Spuren, Ausweise, Brieftasche?«

»Wir haben die Spurensicherung informiert«, murmelte er. »Wir wollten ja nichts kontaminieren.«

Er hatte sich mit anderen Worten noch nicht selbst umgesehen. Die Ausrede hatte ich selbst schon oft benutzt.

»Schaut euch trotzdem schon mal um. Auf dem Gitterrost werden wir sowieso keine Spuren finden. Der ist doch bestimmt nicht nackig hier in die Brauerei marschiert. Hier sind doch genug Ecken, wo man Kleidungsstücke, Handy, Uhren und so weiter verstecken kann.«

Er ging runter und teilte sich die Aufgabe mit seinen beiden Kollegen.

»Wie lange kann der schon hier drin gelegen haben, Herr Janssen?«, stellte ich meine nächste Frage.

Der Braumeister überlegte einen Moment, dann blitzte es in seinen Augen auf. »Tja. Lange kann der noch nicht hier drin gewesen sein. Das Pils war noch am Hochkräusen, also in der ersten Phase der Gärung, länger als ein paar Stunden ist es hier noch nicht im Tank. Beim Pils ist das natürlich lange nicht so heftig wie bei Obergärigem, aber ich kann das lesen wie eine Uhr. Also ein paar Stunden, maximal acht, mehr nicht.« Das war schon mal etwas. Damit konnte ich den Tatzeitpunkt auf Samstagnachmittag bis Sonntagmorgen eingrenzen.

Janssen kratzte sich am Kopf. »Falls das eine Art Wette war, dass einer es schafft, hier im Bier ein Bad zu nehmen, dann war das vielleicht nur ein tragischer Unfall. Sauerstoff ist da keiner mehr drin, alles voller Kohlendioxid, der wäre sofort erstickt. Das könnte ich mir vorstellen, so eine dämliche Wette. Fragt sich nur, wie der hier reingekommen ist und wo dann seine Wettgenossen sind.«

»Das wird die Spurensicherung rausfinden. Sagen Sie, wie kommt das Bier hier rein? Was, wenn der schon drin lag, bevor das Bier eingelaufen ist?«

Er zeigte auf ein Bündel von Rohrleitungen an der Wand. »Da durch. Alles vollautomatisch. Aber der Gärtank wird vorher gereinigt, und die Hygiene und alles wird jedes Mal akribisch gecheckt. Halte ich für so gut wie unmöglich.«

So gut wie war für mich der Hinweis, dass es doch möglich war. Nichts ist unmöglich, nicht nur bei der japanischen Automarke. War der Tote etwa Japaner?

Ich war versucht, dem Toten auf den Bauch zu drücken, um zu sehen, ob er Bier im Magen hatte. Wenn es eine Wette war, wollte er während des Bades vermutlich so viel wie möglich trinken. Aber das hätte mir eine ordentliche Standpauke von Lisa eingebracht, also zückte ich lieber mein Handy und machte eine Reihe von Fotos von der Leiche.

Der Mann war bis auf sein eindeutig asiatisches Gesicht völlig unauffällig und ohne besondere Merkmale. Keine Narben, keine Tattoos, kein Schmuck oder Spuren davon. Ringe hinterlassen meist weiße Stellen und Abdrücke in der Haut. Er hatte nichts davon. Er sah aus wie ein Mensch vom Fließband. Er war etwa eins siebzig groß, vielleicht fünfundsechzig Kilo schwer, schätzte ich. Kurze schwarze Haare, kurz geschnittene Fingernägel, nur ein leichter Bauchansatz. Die dunkelbraunen Augen standen offen, Wimpern, Brauen und Haaransatz waren nur eines: normal und mit Bierschaum verklebt. Der leicht geöffnete Mund zeigte unauffällige, ziemlich weiße Zähne in einer ebenen Reihe. Vermutlich hatte er mit seinen vielleicht dreißig Jahren noch nicht viele Zahnärzte gesehen. Schon mal schlecht für den Erkennungsdienst.

Ich sah mich nach den Kollegen um, ob sie was gefunden hatten, und in den Tank, ob das ablaufende Bier vielleicht etwas freilegte, und nutzte die Zeit zum Überlegen.

Wenn Janssen recht hatte, konnte der Asiate kaum ohne fremde Hilfe in den Tank gelangt sein. Dass er selbst reingeklettert war und nicht wieder rausgekommen war, vielleicht bei einem Versteckspiel mit besoffenem Kopf, hielt ich für zu unwahrscheinlich. Außerdem war der Deckel ja zu, und Janssen hätte sicher eine Meldung erhalten, wenn ihn jemand von den Mitarbeitern geschlossen hätte.

Entweder waren seine Kumpels geflohen, als sie sahen, dass der Spaß danebenging, oder er war ermordet worden. Für diese Vermutung sprach, dass keine weiteren auffälligen Spuren hinterlassen worden waren; wir sollten den Mann nicht identifizieren können. Andererseits hätten seine Mittrinker auch bei einem tödlichen Unfall seine Sachen mitgehen lassen, um den Vorfall zu vertuschen und Ärger zu vermeiden. Dagegen sprach, dass alle Öffnungen verschlossen worden waren. Meine Arbeitshypothese lautete auf Mord oder zumindest Totschlag.

Lisa würde mit Sicherheit mehr finden, das war so klar wie ein gutes Pilsner.

Volkerts kam zurück. »Da ist nichts, wir haben alles abgesucht, so gut aufgeräumt, wie es hier ist, kann man auch schlecht was verstecken. Sorry, Lukas.«

Ich nickte nur, das hatte ich irgendwie erwartet. Langsam leerte sich auch der Tank; unten blieben nur klebrige, schaumige Reste und eine Schmierschicht von der Hefe übrig.

Der Braumeister legte den Kopf schief und sah mir in die Augen. »Spricht irgendetwas dagegen, den Tank jetzt säubern zu lassen? Ich möchte den Verlust so schnell wie möglich ausgleichen. – Trinken Sie eigentlich Bier? Möchten Sie vielleicht eines?«

Ich nickte kurz auf seine erste Frage und verneinte mit Bedauern seine zweite. »Bin im Dienst, sorry.« Dann traf ich eine Entscheidung. »Innen können Sie bald säubern, spricht nichts dagegen, denke ich. Sobald die Spurensicherung hier war und alles freigegeben hat. Wenn Sie selbst trotzdem noch irgendetwas finden, rufen Sie mich bitte sofort an.«

»Sollte passen«, fand Janssen. »Wenn sich das nicht zu lange hinzieht. Ich schicke Ihnen auch gern eine Kiste zu, wenn wir bald weitermachen können.«

Mir schoss sofort ein Gedanke durch den Kopf. Wenn ich Sie gleich weitermachen lasse, gehen dann auch zwei Kisten? So schön die Idee war, das durfte ich leider nicht. Vorteilsnahme im Amt, das waren selbst zwei Kisten Jever nicht wert.

»Warten Sie auf jeden Fall, bis die Spurensicherung hier durch ist, bevor Sie mit der Reinigung anfangen«, ermahnte ich ihn nochmals. »Die wissen besser als ich, worauf zu achten ist. Die Leiche wird auch irgendwann abgeholt werden. Dauert sonntags alles ein wenig länger. Ihre Mitarbeiter müssen leider noch warten, bis wir die Halle freigeben. Kommen Sie mit, Sie müssen auch draußen warten, bis es so weit ist.« Ich atmete durch. »Eine Kiste Bier darf ich leider nicht annehmen. Habe ich aber selbst zu Hause. Vielleicht trinken wir abends mal ein Glas zusammen, wenn ich noch Fragen habe, Herr Janssen.«

Ich musste mich hier selbst noch etwas umsehen. Schade, dass Jackie nicht hier ist, dachte ich. Mein Kommissar Spürnase, der meinen letzten Fall praktisch im Alleingang gelöst hatte, durch seine feine Terriernase und sein gutes Gespür. Er hätte hier gleich Spuren gefunden, selbst auf dem Stahlgitter, und hätte mir zeigen können, wo der oder die Täter rein- und rausgekommen waren, wenn nicht noch mehr.

Aber ein Hund durfte hier in die Brauerei vermutlich nicht rein, außerdem hatte ich ihn gar nicht mitgenommen. Also blieb mir nichts, als die Augen aufzusperren und selbst nach Hinweisen zu suchen.

Ich fand keine.

Ich stellte mir verschiedene Szenarien vor. Entweder war der Asiate selbst hier eingedrungen, dann musste er da schon nackt gewesen sein. Schwer vorstellbar, außerdem hätte dann jemand anderes den Deckel zumachen müssen und den Mann vermutlich schon dann entdeckt. Da wir keine Sachen gefunden hatten, fiel diese Möglichkeit ohnehin flach.

Also war definitiv jemand anderes beteiligt gewesen. Der oder die Täter mussten den Mann hier reingeschleift oder reingetragen haben, vermutlich noch angezogen, denn ein nackter Chinese mitten in Jever hätte durchaus einiges Aufsehen auf sich gezogen, auch wenn die Friesen hier ansonsten so ziemlich alles schon mal gesehen hatten und abgebrüht waren wie sonst kaum jemand.

Also hatten die Täter – ich einigte mich mal auf mehrere, denn einer allein hätte es schwergehabt, das alles zu bewerkstelligen – ihn hier drinnen entkleidet, ihn irgendwie in den Tank gesteckt, den geschlossen und waren dann mit seinen Sachen abgehauen. Für eine Wette sprach das nicht, denn solche vermutlich schon vorher betrunkenen Leute wären achtloser gewesen und hätten mehr Spuren hinterlassen. Hier handelte es sich eindeutig um ein Verbrechen, sagte mir mein LKA-Verstand.

Trotzdem, die Spurensicherung oder Jackie würden hier immer noch Faserspuren und anderes auffinden. So gründlich konnte niemand saubermachen, denn hier wurde auch sonntags gearbeitet, wenn auch nicht in voller Stärke. Es konnte jederzeit jemand in die Halle kommen, also hatten die Täter schnell arbeiten müssen. Das würden wir bald herausfinden.

»Volker, du passt hier weiter auf, dass niemand etwas anrührt oder säubert, bevor ich es sage. Okay?«

Der Uniformierte mit seinem grauen Dreitagebart nickte. »Geht klar, Lukas. Bis die Spusi übernimmt.«

Ich ging nach draußen. Wenn sich hier jemand am Samstagabend oder Sonntagmorgen reingeschlichen hatte, musste er von draußen reingekommen sein, durch den Haupteingang der Brauerei am Elisabethufer. Oder? Ich wandte mich an den Braumeister.

»Gibt es noch weitere Ein- und Ausgänge zur Brauerei, Herr Janssen? Fürs Personal, Lieferantenausgänge, Zugänge für LKW?«

»Klar«, bestätigte er. »Mehrere. Hier ist immer Betrieb, man kann hier schon unbemerkt reinkommen, vor allem, wenn man Arbeitsklamotten anhat. Wir können ja nicht jeden Einzelnen überprüfen, aber im Großen und Ganzen kennen wir die Abholer schon. Die Mitarbeiter auch. Und die Besucher, na ja, gestern am Samstag war eine große Gruppe zur Besichtigung und zum Probieren da. Hatten wir auch schon mal, dass da eine Bierleiche in einer Ecke lag. Also ein Besoffener, kein Toter. Auf dem Klo lag mal so einer.«

Das ließ mehrere Möglichkeiten offen. Man konnte sich hier als kleinere Gruppe verbergen, wenn man wollte. Man konnte als LKW-Fahrer reinkommen, als Besucher, als Prüfer irgendeiner Behörde, dem Veterinäramt beispielsweise, das die Hygiene überprüfte, oder als Arbeiter im Blaumann. Zu viele Möglichkeiten.

»Gibt es Listen von den Teilnehmern an solchen Besichtigungen?«, fragte ich Janssen. »Müssen die sich vorher anmelden?«

»Ja. Alles nach Anmeldung, manchmal aber nur als Gruppe, nicht mit Namen«, grübelte er laut. »Soll ich die Liste von gestern mal holen? Wir hatten zwei Gruppen da, ist ja Wochenende.«

»Jau«, sagte ich. »Genau die brauche ich jetzt.«

Ich ging solange nach draußen, mit meinem Handy bewaffnet, mit dem ich ein gutes Porträtfoto des selig ertrunkenen Mannes aufgenommen hatte. Vielleicht hatte irgendwer ihn und seine Gruppe gesehen, jemand, der den Hund ausführte, früh zur Kirche ging oder spät von einer Zechtour nach Haus kam. Eine Witwe, die ihre Zeit am Fenster verbrachte und alles sah. Ein LKW-Fahrer, der Bier abholte und dem merkwürdige Gestalten aufgefallen waren. Die Kneipiers in der Nähe, wo vielleicht eine Wette abgeschlossen worden war oder die Täter sich getroffen hatten, womöglich auch mit dem Opfer. Eine Gruppe chinesischer Touristen, breit wie der Ärmelkanal.

Viel Hoffnung machte ich mir dabei nicht.

Zwei Minuten später kam Janssen zurück, mit einem Ausdruck und zwei Glas Bier in der Hand. »Hier«, sagte er und drückte mir ein Bier und die Liste in die Hand. »Zum Wohl. Auf dass Sie den Fall bald gelöst haben.«

Es war spät geworden. Ich beschloss, am nächsten Tag weiterzumachen, und schloss die Untersuchung für heute mit einem guten Schluck ab.

 

 

Kapitel 3

Um halb zehn kam die Spurensicherung, nachdem ich am Montagmorgen dreimal ergebnislos um die Brauerei getigert war und Leuten das Foto der Bierleiche gezeigt hatte. Die Lokale hatten alle noch geschlossen, dort konnte ich später noch hingehen.

Werner Reemtsma, der Leiter der Spurensicherung, sah für einen Montagmorgen ziemlich zerzaust aus und roch säuerlich. »Hätte der nicht an einem anderen Tag sterben können?«, fragte er. »Meine Tochter hat gestern geheiratet, eigentlich wollte ich heute mal richtig ausschlafen, Lukas.«

Johanna Kleinschmidt dagegen strahlte. »Moin, Leute. Was für ein wunderschöner Tag. Was hast du für uns, Lukas?«

Reemtsma und ich sahen uns wissend an. Wer so eine hübsche Freundin hatte wie Johanna, hatte wohl auch einen erholsamen Schlaf. Sie war früher mit einer sommersprossigen Polizeimeisterin liiert gewesen, inzwischen machte sie Paarlauf mit einer ostfriesischen Eiskunstläuferin, die angeblich Chancen auf eine Olympiateilnahme hatte.

»Tja, Werner. Der Mann war leider nicht James Bond, sonst hätte das mit Stirb an einem anderen Tag vielleicht geklappt. Ich habe hier einen sehr unauffälligen Leichnam für euch, der im Gärbehälter lag und keine Verletzungen aufwies. Aber das wird Lisa klären. Uns« – ich machte eine weite Bewegung, die auch Volkerts und Janssen miteinschloss – »ist nämlich schleierhaft, wie der Mann da reingekommen ist. Der schwere Deckel war zu, das Sichtfenster auch. Also Fremdverschulden. Wir haben da nichts angefasst, ihr findet bestimmt etwas. Und wir müssten wissen, auf welchem Wege er hier reingekommen ist. Die Halle bleibt so lange abgesperrt, bis ihr hier durch seid. Falls ihr Jackie braucht, lasst es mich wissen, dann hole ich ihn.«

»Kommissar Spürnase?«, fragte Johanna. »Ja. Hol ihn doch einfach. Der ist so süß!«

Werner Reemtsma sah mich leidend an. Vermutlich hatte sie ihn schon unterwegs mit süßen Sachen auf Youtube und anderswo oder von ihrer liebreizenden Freundin vollgesülzt.

Vielleicht war das ja trotzdem eine gute Idee, schoss mir durch den Kopf. Denn Geruchsspuren fanden Menschen nicht, er schon. Obwohl er gern Bier schlabberte und womöglich von der speziellen Umgebung hier abgelenkt wurde.

»Ich lasse euch erstmal allein hier. Ich mache inzwischen mit Befragungen weiter.«

Inzwischen war auch der Produktionsleiter eingetroffen, ein Jos Tammen aus Schortens, der mich sehr besorgt in sein Büro führte. »Das ist ja nicht auszudenken, der Rufschaden, den wir dadurch erleiden können«, jammerte er, während er mir einen Platz anbot und automatisch ein Bierglas mit Goldrand vor mich hinstellte, auf einem Bierdeckel mit der Aufschrift Radeberger.

»Was darf ich Ihnen anbieten?«, fragte er noch im Stehen, mit einer Hand an der Kühlschranktür unter seinem Schreibtisch.

»Einen Kaffee, wenn Sie haben, ersatzweise ein Wasser«, bat ich. »Kein Bier im Dienst. Selbst wenn es so gut ist.«

Er entblößte eine makellose Zahnreihe und nahm ein Glas Wasser aus seinem Schrank und goss mir ein, bevor er sich setzte.

»Entsetzlich, so etwas«, fand er. »Wer ist der Mann? Wie kommt der bei uns rein? Wer tut so etwas? Schlimm genug, dass uns das alle Pläne über den Haufen wirft, aber ein Selbstmord im Bier? Oder sind Sie etwa von der Mordkommission?«

»Ich bin vom Landeskriminalamt und helfe nur aus. Bei der Kripo in Wittmund, und die ist nicht mal zuständig, aber die Jeveraner sind auf einer Fortbildung auf Helgoland. Und wieso Selbstmord? Was wissen Sie über den Fall?«

Er sah mich erstaunt an, als ob das sonnenklar wäre. »Na was denn sonst? Wenn ich mich umbringen würde, dann bestimmt auch im Bier. Das kriegt man dann doch gar nicht mit.«

»Haben Sie vielleicht jemanden einen Tipp gegeben?«, fragte ich und legte mein Handy mit dem Porträtfoto des Toten vor ihn auf den Tisch. »Und kennen Sie diesen Mann? Haben Sie vielleicht mit dem über Suizid gesprochen?«

Er beugte sich mit seinem langen Oberkörper über das Foto und schob das Gerät zurück zu mir. »Aber das ist doch ein Chinese, oder? Nee, tut mir leid. Den habe ich noch nie gesehen. Aber vielleicht war er mit auf einer Führung durch die Brauerei, erst gestern hatten wir erst ein paar harmlose Leute aus dem Ruhrgebiet und dann eine Gruppe aus Shanghai hier, angeblich wollten die gleich die ganze Brauerei kaufen, haben dann aber nach der Besichtigung so viel getrunken, dass das wohl gar nicht mehr zur Sprache kam. Ich glaube, das war fake, die wollten nur saufen.«

Ich notierte mir das in meinem kleinen roten Büchlein.

»Eine Liste habe ich schon von Herrn Janssen bekommen, Ihrem Braumeister. Da standen allerdings nur die Nachnamen der Teilnehmer drauf. Ich brauche die kompletten Namen und Adressen der Teilnehmer, Kontakte und so weiter, auch von anderen Gruppen, die vorgestern oder gestern hier waren. Herr Janssen sagte mir, dass gestern noch weitere Leute da waren. Und ich brauche die Namen von allen Personen, die gestern und heute hier Dienst hatten, die Kontaktdaten von allen anderen, die Zugang hatten, also Abholern, Lieferanten, Kontrolleuren, Reinigungskräften, was weiß ich, allen, die hier irgendwie rein konnten. Und ich bräuchte alle Aufzeichnungen von Kameras, wenn Sie welche haben.«

Tammen legte den Kopf schräg nach hinten und sah zur Decke. »Hmm. Das könnten eine ganze Menge Leute sein, das muss ich erst zusammenstellen lassen. Wir haben zwar eine mehr oder weniger vollautomatische Fertigung, aber trotzdem sind natürlich meist Leute da, Qualitätskontrolle, Elektriker, wegen der Pumpen, bei Waren der Ein- und Ausgang, die Braumeister und ihre Leute, die Leute von der Reinigung, und das nicht zu knapp. Brauen ist vor allem dreierlei: Säubern, Reinigen und Desinfizieren, Herr Jansen.«

»Wann kann ich die Listen haben?«, fragte ich. »Wir müssen mit allen Besuchen, Mitarbeitern und sonstigen Kontakten sprechen. Sie selbst dürfen Ihre Mitarbeiter auch gern schon mal befragen, wer etwas gesehen hat, das könnte helfen.«

Er sah auf seine Uhr. »Morgen Mittag. Was Lieferanten und so angeht, eher morgen Abend. Wir sind eine große Brauerei. Aber wer war denn nun der Tote? Und wie kommt der in unseren Gärtank?«

»Wir ermitteln in alle Richtungen«, sprach ich den Satz aus, den ich nach dem Ansehen von vielen Tatort-Krimis schon immer mal hatte sagen wollen. »Gegenwärtig kann ich Ihnen darüber keine Auskunft erteilen.«

»Und wissen Sie schon, wann der gestorben ist? Und wie er da reingekommen ist? Eine Wette vielleicht?«

Etwas Hoffnung blitzte in seinen Augen auf, was mich stutzig machte. »Wieso Wette? Läuft hier so etwas? Herr Janssen hat mir das Gleiche gesagt. Gibt es so was wie einen heimlichen Wettbewerb, wer unbemerkt irgendwo reinkommt?«

»Janssen? Echt?«, fragte er zurück. »Nee. Nicht dass ich wüsste. Aber das hört man doch überall. Jever. So ein geiles Pils, da würde ich gern mal drin baden. Kennen Sie das nicht?«

»Nee, sorry. Habe ich noch nie gehört. Ich würde das dann auch nicht mehr trinken, wenn da welche drin baden würden, ehrlich.«

»Ach so.« Tammen wirkte enttäuscht. »Unsere Marketing-Abteilung hatte da so eine Idee, ein Preisausschreiben. Gewinnen Sie eine Wanne voll Bier, prickelt nicht nur in Ihrem Bauchnabel, so was in der Art. Dann war das wohl nichts. Aber wie soll jetzt ein toter Chinese ins Friesisch Herbe kommen, frage ich Sie?«

»Das frage ich Sie, Herr Tammen. Wir müssen davon ausgehen, dass es sich um Mord handelt, und als Erste kommen Ihre Mitarbeiter in Betracht.« Ich stand auf. »Wenn wir nicht schnell weiterführende Hinweise bekommen, werden wir den Betrieb im Gärkeller wohl für eine längere Zeit schließen müssen.«

Er stand ebenfalls auf und erinnerte mich von seiner Gesichtsfarbe nun an ein Pale Ale, das ich vor kurzem mal von dieser Bio-Brauerei aus Varel probiert hatte. »Wann brauchen Sie die Listen? Nützt Ihnen in einer Stunde etwas?«

Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als ich ihm meine Karte reichte. »Schicken Sie das alles an meine Mail-Adresse, Herr Tammen. Also alles über die Mitarbeiter, die Zugang hatten, Lieferanten, Abholer, externes Personal, Besuchergruppen, also einfach alles. Und packen Sie die Videos von allen Kameras im Betrieb bitte in eine Cloud und schicken mir den Zugang. Wir werden das heute noch analysieren. Morde in Ostfriesland sind ja schon schlimm genug, aber ein toter Chinese im friesischen Bier? Da hört doch einfach alles auf, nicht wahr?«

Jetzt sah er aus wie ein Softeis, das gerade auftaute. Etwas verschwommen und formlos, aber glücklich. »Genau. Da hört sich doch alles auf.«

Ich verabschiedete mich und marschierte zurück in den Gärkeller. »Habt ihr was?«, fragte ich schon von weitem. Reemtsma pinselte gerade eine Stelle auf dem Deckel des Gärbottichs ein, Johanna Kleinschmidt winkte mir zu, als sie mich sah. »Klar, Lukas. Wir finden immer was. Jede Menge Fingerabdrücke, einen Knopf, verschiedene Faserspuren, Dreck auf dem Gitterrost hier, mit verschiedenen Sorten Erde dran und noch frisch, und eine Kontaktlinse. Außerdem noch zwei leere Flaschen Bier. Und eine winzige Blutspur hier oben.« Sie zeigte auf eine Stelle am oberen Rand des Bottichs. »Und wir haben gerade erst angefangen.«

»Die Abdrücke müssen wir mit denen des Personals abgleichen. Ich bekomme nachher die Liste und lade die alle vor. Ich hole jetzt Jackie«, kündigte ich an.

»Macht mal so weiter«, empfahl ich den beiden. »Ich bin in einer Stunde wieder da.«

*

Meine Mutter war schon aus Carolinensiel angekommen, um auf die Zwillinge aufzupassen, als ich zu Haus in Burmönken ankam. Ich nahm Lisa beiseite und erzählte ihr, was wir bisher rausgefunden hatten. Über den Fall selbst und ihre Aufgabe hatte ich vorher schon am Telefon mit ihr gesprochen. Sie war nicht glücklich über diese zusätzliche Belastung. »Da hätte sich auch ein Mediziner aus Jever drum kümmern können«, moserte sie. »Nicht mein Beritt. Ich hatte mich so auf einen ruhigen Tag zu Hause gefreut.«

Ich ließ mich auf keine Diskussion ein. Ich wusste genau, dass ihr Interesse wiedererwachen würde, sobald sie die geheimnisvolle Leiche auf dem Tisch liegen hatte. Da war sie ganz Entdeckerin.

Jackie lag zusammengerollt vor dem Kamin und sprang auf, als ich hereinkam, als ob er geahnt hätte, dass ein Job auf ihn zukam. »Komm, Hund, du musst einen Mörder finden«, erklärte ich ihm. Er war bereits an der Tür, bevor ich den Satz beendet hatte, und sprang sofort vorn auf den Autositz, die Pfoten am Türfenster, um hinaussehen zu können.

Bei unserem letzten Fall hatte er den Täter auf diese Weise sofort erspäht und weiterverfolgt. Wir Menschen waren zu langsam für ihn und sein Gespür gewesen, aber er hatte es geschafft, uns mit subtilen Hunde-Methoden und seinem Geruchssinn auf die richtige Spur zu bringen. Jetzt war er schon wieder Feuer und Flamme.