Auf der Suche nach den goldenen Äpfeln der Hesperiden - Klaus Grunenberg - E-Book

Auf der Suche nach den goldenen Äpfeln der Hesperiden E-Book

Klaus Grunenberg

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Beschreibung

Im ersten Teil dieser Trilogie erzählt ein Kind aus seiner Sicht vom zu spürenden Kriegsende 1945 in seiner Heimat Pommern, von einer sicheren Evakuierung und von einer seltsamen Zurückführung nach Kriegsende in offenen Waggons in ein erlebtes Chaoswieder über die Oder. Von hoffnungsvoller Zeit in einem katholischen Konvikt in Speyer berichtet es, mit beginnender Kritik an christlichen Glaubensdogmen. Alles wurde jetzt im Alter aufgeschrieben, wobei sich Einiges wie mit dem realen Horrorfilm in Osteuropa von 2022 verbindet. Deshalb ist auch der Antikriegs-Text auf Seite 682 so wichtig für ein Verständnis des Buches und eine Warnung vor Wiederholungen. Der zweite Teil ist dem Lebens-Glück verbunden, das wie wartend am Meeresstrand steht, in einer Frau und einem Mann verborgen, in Drama und Komödie, wobei auch schon mal ein Krug zerbricht. Der dritte Teil ist wie der Blick durch ein Kaleidoskop, vieles spiegelnd, in Gedankengängen einem starken Deutschland in Europa verbunden. Das Buch ist endlich aber auch ein bunter Erzählstrauß teils skurriler Episoden aus einer erlebten immer noch närrisch- religiösen süddeutschen Welt in fränkischen Regionen, meiner neuen Heimat. Der Untertitel Kalles Welt deutet es an. Klaus Grunenberg

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Bilder aus Deutschland

Kalles Welt

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung zum ersten Buch

Prolog

Erstes Bild

Zweites Bild

Drittes Bild

Stargarder Marienkirche

Witwenschrei

Viertes Bild

Fünftes Bild

Sechstes Bild

Siebentes Bild

Bettellied

Achtes Bild

Berlin wird im Flug genommen

Neuntes Bild

Abschied

Erneute Begegnung mit dem Zeitgeist und mit einem Engel

Zweites Kinderlied

Zehntes Bild

Elftes Bild

Drittes Kinderlied

Zwölftes Bild

Friedliche Kindheit

Dreizehntes Bild

Vierzehntes Bild

Viertes Kinderlied

O sacrum convivium

Trient

Es spricht der Hirte

Es spricht der Narr

Fünfzehntes Bild

Epilog

Nachwort

Anhang

Klaus Grunenberg - Glücksweg

Einleitung

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Frankenmädchen

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Frühe Zeit

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Unterwegs

Auf dem Rundweg - Eine Sammlung von Texten

Auf dem Rundweg

Manchmal leuchtet ein seltsamer Schein

Alles soll immer mehr werden

Ein gutes Gespräch

Fränkische Medaillons

Sechs eigene Gedichte

Enorm der Kriegsdruck im Jahr 2002

Morgen

Morgenstunde innerhalb der laufenden Woche

Generationen

Karneval der Gefühle

Verbündet – Verfeindet - Verschwägert: Bayern und Österreich, Band I und Band II, THEISS

Die Krise darf nicht sterben

„Das Geheimfach ist offen: Über Literatur“, von Ina Hartwig, S. FISCHER

„Gott braucht dich nicht: Eine Bekehrung“, von Esther Maria Magnis, Rowohlt

Ein interessantes Gedicht wird betrachtet

Mein Freund, der Sohn des Imams

Eine Gedichtbetrachtung

Noch eine Gedichtbetrachtung

Betrachtung eines besonderen Gedichtes

Besprechung eines besonderen Buches

Das Spiel mit der Mauer (I)

Das Spiel mit der Mauer (II)

Ein ganz entzückendes Buch

„Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst“ von Mario Vargas Llosa, Suhrkamp

Gedicht mit Hintergrund

Neues Jahr

Charles Baudelaire

Eine weitere Gedichtinterpretation

Was uns der Herr Jauch alles erzählen lässt

Vom glücklichen Leben oder hundertdreißigtausend steuerfreie Startups

Ein Gedicht gegen das andere Ostersonne

Analyse

WAS GESAGT WERDEN MUSS

Eine weitere Buchbesprechung

Noch ein Gedicht mit Interpretation

Der Geist weht, wo er will

Rom macht süchtig

Rom

Schatz, was meinst du?

Entlassung der Kinder

„Small is beautiful“

Schön durchs Land fahren

Wochenaufwasch vor dem Konklave im März 2013

Im Traum verarscht

Was bedeutet Religion für uns?

Heutiges Grundvertrauen in Bezug zur Politik gestört

Immer, wenn…

Karneval hoch drei

Beim letzten „Angelus“ im Februar 2013

Eine letzte Buchbesprechung

Auf den Spuren der Literatur-Teil 60

Ein schönes Gedicht wird bewundernd auseinandergenommen

Der Zauberlehrling

Drei eigene Gedichte nee

Es rundet sich das Bild mit Blick zum Anfang des Geschehens

Der Weihnachtsvogel

Etwas zu Lyrieleison, einer ausgewählten Lyrik, im ehemalige Bürgerforum READERS EDITION

Lyrieleison 98

Kritik

Lyrieleison 99

Kritik

Lyrieleison 100

Kritik

Eine letzte Erklärung zum Thema Bürgerforum READERS EDITION

Unsere kleine Stadt

Eine letzte Gedichtinterpretation

Ein wunderliches Tollhaus unsere Welt

Sinn des Lebens

Wanderer auf dem Rundweg

Eine neue Zeit scheint anzubrechen

Von Träumen, naivem Denken und wie man gelegentlich zum Philosophen mutiert.

Vorwort

Nachdem die Einzelbände „Eine Kindheit und Jugend im 20.

Jahrhundert“ und „Glücksweg“ erschienen sind, in denen sich

Heimatverlust, Flucht und neue Bewegung im Leben begegnen,

hat es sich angeboten, beide Bände mit einem weiteren Teil zu

einer Trilogie zu vereinen, die mit der Verwendung der

Metapher „goldene Äpfel der Hesperiden“ als Glückssuche

erkennbar ist.

Durch die Zusammenführung der drei Bände wird die Idee

verdeutlicht, dass Wege oftmals Rundwege sind oder Fluchtwege

und auch heutzutage ihre verwirrende Eigenart nicht verloren

haben. Vielleicht kann so aus der Vergangenheit Einiges zum

Verständnis der Zeit entstehen, in der wir momentan leben.

Die Gesamtausgabe beginnt mit einer abenteuerlichen Flucht,

der Kindheit und Jugend des Autors.

Heimat

Die Heimat niemals gänzlich verloren, mit bunten Glasmurmeln spielend längs des Rheins, als in Jugendjahren aufblühten Reben und sich Wohlstand abermals zeigte,

Da alles im Sommerlicht wieder, und vorher war Einstmals. Doch, als sie sich auftat erneut vor meinen Augen, die herrliche Stadt meiner Kindheit:

Oh, Wanderer, du in Bitternis Wandernder, ein Einsamer bist du, bittend um Wasser und Brot!

Eine Kindheit und Jugend im 20. Jahrhundert

Von Klaus Grunenberg

Für meine Frau, meine Kinder und Enkel

Einleitung zum ersten Buch

Das ist die abenteuerliche Geschichte eines Kindes im verdämmernden Deutschland der Jahre 1942 bis 1946 und darüber hinaus. Sie berichtet über eine als wunderschön erlebte Kindheit in Nähe des sagenhaften Madüsees, nicht weit von meiner geliebten Geburtsstadt Stargard bei Stettin entfernt, über eine chaotische Vertreibung nach der größten Erniedrigung Deutschlands bis hinüber in die als sicher, aber irgendwie auch unehrlich empfundene Zeit in einem katholischen Heim und weit hinein in eine neue unsichere Wirklichkeit der Aufbaujahre nach dem zweiten Weltkrieg, wiederum voll von heimlichen Lügen, eine neue Sicherheit vorgaukelnd..

Die Ereignisse erscheinen mitunter schemenhaft und wurden jetzt aufgeschrieben, um sie in einzelnen Bildern zu schildern.

Unvermeidlich, dass ab und zu der Eindruck entsteht, als läge Nebel über allem, doch der helle Schein des Erlebten gibt der Wahrheit oft Futter

Diese Neuauflage enthält ein neugestaltetes zehntes Kapitel („Zehntes Bild“), in dem sich die Zukunft erschreckend aktuell mit der Vergangenheit spiegelt.

Klaus Grunenberg

Prolog

Den Heimatlosen tragen Traumes-Wellen und legen sorgsam sich an seine Seite,

Um dann im Traum wie wandernde Gesellen die Ruhe ihm zu bringen aus der Weite.

Und näher kommen Haus und Feld, der See, die Mutter und die wunderschöne Stadt,

Ein Birkenwald wird sichtbar, dann der Strom, der singt und eine grüne Stimme hat.

Vorgestern Nacht erst war ich wieder da, es neigte sich mein Blick der Heimat zu,

Dort, wo noch blüht die alte Herrlichkeit, und wiegte mich und gab mir schöne Ruh.

So wie ein Vogel war ich in der Luft, so leicht und froh und unwahrscheinlich frei

Und flatterte bald über unserm Haus und sah die Kindheit, Frühling und den Mai.

Wie traut das Ganze mir, die Menschen dort am Ort und auch das Kind,

Das neben seinem Vater läuft, so wie als Kind an seiner sich`ren Hand auch ich.

Erstes Bild

(Wie das Kind mit Bleisoldaten spielt und echte Soldaten vorbeiziehen)

Seid gegrüßt, meine toten Freunde, die ihr liegt in den

Weiten der Steppe,

die ihr liegt in der Ferne der Heimat, begraben oder

verscharrt nur,

die ihr liegt auf den Gründen der Meere, umsäumt vom

Getier!

Und ihr, die ihr noch lebt hier und dort, die ihr träumt

Tag und Nacht von der Gefährlichkeit des Seins

und es beschreibt in Tagebüchern,

damit wir wachen,

Heil euch auf umrundeter Erde, vom beschienenen Mond

erleuchtet!

Für eine Weile beleuchtet für eine Weile.

Heil euch und weinet nicht mehr!

Ich hatte sie doch sicher aufgestellt, meine kleinen Soldaten. Es standen vor mir, absolut gesichert, alle Bleisoldaten, silbrig glänzende und auch die farbigen aus Zinn. Und mein Held wollte aus Stettin herüber nach Stargard kommen. Ich schwor mir, dass er keine freie Minute haben würde, auch nicht mit Mutter.

Da war ein schöner Tag aufgegangen. Irgendetwas lag in der Luft und Mutter war wie aufgedreht, als wir uns feinmachten und in die Stadt gingen, zum Bahnhof. Ein Polizist mit glänzendem Tschako auf dem Kopf kam uns entgegen und meine Wollmütze war weg. Ich drehte mich um und meine Augen fragten Mutter warum, aber sie gab keine Antwort. Es schien, als lachte sie heimlich. Doch mein Held kam nicht, wir waren zu früh dran.

Als wir uns eine kleine Weile später zum zweiten Mal auf den Weg machten, stand die Sonne schräg hinter uns und die Bäume an der Seite der Straße, die zum Bahnhof führte, warfen ihren hellen Schein zu uns her. Wieder der Kerl mit dem Tschako. Als er langsam herbei schritt und an uns vorüberging, war meine Mütze zurück auf dem Kopf. Mutter lächelte. Und auf einmal sah ich ihn. Er kam in einem sportlichen Anzug, mein sportlicher Held und versteckte sich hinter den schönen Bäumen mit ihrem hellen Glanz. Immer wieder war er deutlich zu sehen und die kleine Familie ging aufeinander zu: Vater, Sohn (und heiliger Mützenklau) umarmten sich glückselig und das lachende Kind segnete alles.

Alleluja und Heil im kleinen Zelt,

Viel Segen und Ernte in Sicht.

Alleluja und Heil in heiler Welt,

Viel Segen im Haus und Licht.

Dann sperrten sie mich weg, als ich zum fünften Mal nacheinander ins Haus hineinwollte und wieder hinaus und wieder hinein und sie dachten, sie seien vor mir sicher. Aber ich schlug mit dem Fuß gegen die Badezimmertür; sie hatten mich dort wirklich eingesperrt für eine Weile. Es dauerte nicht lange und sie lachten, als sie die beschädigte Tür aufmachten und mein Tränengesicht sahen.

Ihr aber, die ihr gelebt in Freuden auf Erden, umgeben von Freunden, von Gärten, umsäumt von Mutterliebe, Vaterstrenge, umgeben vom Lehrerblick, ihr tratet an, um gen Osten zu reisen.

Da kamen sie. Tag und Nacht stampften sie vorbei. Nachts hörte ich sie in meinem Bettchen und die an der Wand hängende flache Kaspergesicht-Uhr leuchtete phosphorgelb auf. Nachts aber bemerkten sie mich nicht und tagsüber betrachtete ich sie von der Straßenseite her, meist auf meinem kleinen Dreirad sitzend. Auch auf Pferden kamen sie und ritten sie im Trab. Es waren schöne Pferde und sie taten mir leid. Eines von den Tieren aber lahmte und tagelang wurde es behutsam geleitet, bis es, weil noch jung und folgsam, mit den anderen trabte und genau so froh dahinlief wie die anderen.

„Fol und Wotan fuhren zu Holze, da ward Balders Fohlen sein Fuß verrenkt.“

(Anhang 1)

Rutenstreiche erlebtet ihr zur Genüge in eurer Jugend und das, ja, das hat euch verführt, die ihr unters Dach ginget so gerne als Kinder und mit den Raupen spieltet, aus denen weiße Schmetterlinge aufflogen über euer geheimes Dach, unter dessen Schutz ihr gewahr wurdet der Sehnsuchtsliebe im Mai. Und damals, da wart ihr glücklich.

Da euch aber ein Kommando befahl, zu marschieren unter Schweiß, der aus den Helmen rann, da marschiertet ihr nun. In offenen Waggons wurdet ihr gefahren und einer, der spielte vielleicht auf der Ziehharmonika und ihr sangt dazu in die heiße Luft. Aber die Angst sangt ihr nicht hinweg, die begleitete euch für eine lange Zeit. Und tausend Kilometer setztet ihr den Fuß vor und sprangt auf Maschinen, die aber versprangen euch oftmals und es schmerzten die Füße und es gab kein Zurück vorerst.

Damals, als ich mein Holzgewehr gegen euch erhob, warf keiner einen Blick auf mich.

Es kamen andere, in ausgewaschenen herbstlichgrünen Uniformen, mit einer Sprache, die aus der Kehle kam. Gefangene mit Lumpen an den Füßen wackelten heran und sie hoben die Arme empor, wenn ich mit meinem Spielzeuggewehr auf sie zielte, lachend, freundlich und einer von ihnen versprach mir Rübenschnitzel und Tabak für ein Stück Brot.

Und immer wieder sprach ich mit euch, Freunde, die ihr mit hartem Tritt an mir vorbei schrittet in euren genagelten Stiefeln, doch ihr hörtet mich nicht und kein Blick fiel auf mich, denn mein Dreirad war winzig und ihr schwitztet und eure Augen waren nach Osten gerichtet, da war es kalt.

Dann wieder war es heiß zur Sommerzeit und die Luft zitterte, wenn Panzer vorfuhren und einer, der war immer freudig erregt und ihr hießet ihn: „Schneller Heinz“.

Heute nun spreche ich zu euch und ihr hört mir zu.

Kaum, dass ihr in der Steppe wart, fiel einer von euch und ein zweiter sodann und es folgte noch mancher. Bald war erledigt das ehrenvolle Begraben-Werden mit Schüssen über den kleinen, verzweifelten Hügeln und zu Hause weinten wohl welche, die konnten euch nicht trösten. Und heiß löste kalt ab und Tag die Nacht und Frühling den Winter und Hunger die Läuse.

Gar bald waren da weder Freund noch Gatte, noch Vater, weil fort oder tot sie, noch war ersehnte Aussicht auf Erfolg, der aber war überhaupt nicht vorhanden, denn anfangs bereits lachte ein Totenkopf euch vorweg und ihr sangt sein Lied:

"Und morgen die ganze Welt“, so sangt ihr und es schallte durchs Doofdorf und durch Doofstadt und ein Doofland fand das schön. Ihr, die ihr das Handwerk des Soldaten auszuführen hattet, habt auch die Lieder auf Befehl gesungen. So habt ihr getan, was befohlen wurde und es war kein Wunder, dass ihr, weil ihr auf Befehle getrimmt wart, auf Kugel geben oder Kugel nehmen, in ein Risiko ranntet, mit und ohne Lieder. Selbst die Granate, die euch traf, kam auf Befehl.

War die geschichtliche Erinnerung an ein treues deutsches Soldatentum, wie etwa das im ausgehenden Mittelalter - als Landsknechte tapfer fochten und sangen -, ein Vorbild für euch, bei dem Risiko? Bei den neuen Waffen, den bekannten und noch unbekannten fürchterlich zersplitternden Granaten fortan und bei der Führung?

Ein Führer, der in Männerheimen hauste, nie eine richtige Arbeit hatte, keine Wohnung, keine Familie. Der im ersten Weltkrieg unter deutschen Unteroffizieren Meldung machen durfte, sich das erste Mal in seinem bisher verkorksten Leben angenommen fühlte und dachte: "So geht das!", später bei vornehmen Damen das rechte Kaffeetrinken lernte, das richtige Halten von Messer und Gabel, und der jetzt mit seinen selbstgefälligen Offizieren und Industriellen, die ihm den Hintern leckten, seine dankbaren Landser ins Risiko schickte, in den sicheren Tod, "wie in einen Gottesdienst!"

Und hielt - der Todessüchtige - zuvor Paraden ab, lud die halbe Welt dazu ein, und die geblendete Welt ließ ihn gewähren, gab ihm das nötige Geld zu seinem Todesrisiko, an das er sich nun mit Seinesgleichen zu wagen anmaßte und gab nun zurück, was er seinem brutalen Vater schuldete, wurde dadurch frei, wir aber nicht.

Jetzt aber hatte er sich wahrhaftig ins Narrenkleid geworfen, hielt der genarrten Nation närrische Reden und wie im Traum zogen genarrte Narren in die Fremde, nur, weil es närrisch war, zuhause zu bleiben und fleißig zu arbeiten.

Und eines Abends sangt ihr das schöne Lied vom Argonnerwald, es schwebte von weitem her zu mir. Da lauschte ich lange hinter der Ligusterhecke.

Es lachte jetzt mancher Feind in der Ferne und es lachte mancher Feind in der Nähe, denn nun erkannten sie euch als Todbringer und die Lieferung wurde geliefert: Zu töten. Ein Todesstoß wurde vorbereitet, der musste sitzen wie vom Degen des Toreros, und er saß.

Ich spreche nun zu euch, Freunde, weil sich immer mal wieder jährt ein Ereignis, da nämlich des ersten Weltkriegs gedacht wird - als Ursache des darauf gefolgten größeren Unheils - und von Wundern geredet wird. Von der Marne und so, und dass sich damals an Weihnachten 1914 Soldaten in den Gräben trafen, die sangen und dass einer dabei war, der alles später einmal als Friedensfürst (?) rächen würde - den versprochenen und nicht errungenen Sieg - versteht sich. Und der tat es, zusammen mit der in Schieflage geratenen Nation, ihr wisst es, als es nach der Niederlage im ersten Weltkrieg und der Entmachtung des Adels Raum gab, viel Leerraum für alles Mögliche, auch für Verrückte. Aber ich meine jetzt im Moment die auf hartem Befehl nach dem gemeinsamen weihnachtlichen Singen erledigten Millionen Toten damals und nicht den lockenden Frieden, der leise an die schon halb offenen Türen ihrer Seelen pochte, als sie zu Weihnachten 1914 in den Gräben sangen, ihr versteht! Denn die weihnachtliche Friedensbotschaft sollte nicht wirken. Das aber verboten die Generäle damals, das verbieten sie immer, denn sie lachen über Friedenslieder, genau wie über ihre scheußlichen Witze im Kasino.

Jetzt aber wart ihr an der Reihe, dass der Tod euch traf wie auf Befehl. Denn der Krieg ist ein Spielzeug für Jungen und Männer.

Meine aufgestellten Blei- und Zinnsoldaten standen derweil weiterhin stramm. Ich blätterte in alten Büchern, voll von Schlachtenlärm und bemalt mit fliehenden Pferden, von denen grimmige Husaren mit Säbeln herunterschlugen. Eine Spielzeug-Artillerie bekam ich als Geschenk zu Weihnachten. Die schoss genau auf etwa fünf Meter mit einem Korken in einem exakten Bogen, den ich im Kopf korrigieren konnte. Ich traf damit viel in unserer Wohnung, auch die Birne unserer Deckenlampe in der Küche und die Artillerie war danach weg. Lange weinte ich ihr nach.

Und eines Tages, da legte ich einige dieser winzigen Orden für den privaten Anzug von meinem Helden an und lief in den Straßen von Stargard herum. Es war da einer, der schimpfte mich von einem schicken Panzerspähwagen herab, mit seiner soldatischen Schirmmütze am Kopf und dem gewaltigen Kopfhörer am Ohr. Doch er hatte mir nichts mehr zu sagen, denn ich leitete inzwischen den Krieg. Ganz ruhig sagte er, wir sollten die Stadt verlassen, aber schnell! Das gefiel mir.

Zu spät weinten die, die zur Wehr sich entschlossen in eurem Fall, zu spät, und hätten genug Zeit gehabt als sie lernten - in Potsdam - Kriege zu führen und zu vermeiden (Clausewitz, wozu hast du geschrieben?). Und einer betrat verzweifelt den schützenden Wald, zog zu Rate die singenden Vögel, wie weiland Siegfried, doch zu spät. Und Gesang kam nicht auf, nicht innerer Wohlklang, der Seelen tröstet, nur ein Schuss vielleicht aus eigener Pistole, vergebens alle Gebete. (Clausewitz, ach Clausewitz, wozu hast du geschrieben?).

Seid nun getröstet nach all der Zeit und gedenken sollen wir Euer in Ehren, wenn auch in Trauer ob des verlorenen Glücks als da weinte die junge Witwe und das wissende Kind und die Welt sich drehte im Staub, wie in einem verdorbenen Tanz.

Zweites Bild

(„Wo die schönen Trompeten blasen“ und das Kind eine wunderliche Musik hört; wie es fühlt und denkt, kindlich stolz ist und seinem Helden nicht alles glaubt)

Laut schmetternder Weltenklang

Und stille die Welt, vor dem Haus das Feld

liegt unter der Sonne und wartet und wartet.

Da schlagen dumpfe Töne den Tag,

da kommt es heran das Leben in Fülle.

Das Herz schlägt vor Freude den gleichen Takt

und jähes Laufen, bis nahe genug, wo

Männer mit goldenen Hörnern spielen.

Sie tönen und singen ein seltsames Lied,

Jauchzen und plötzliche Ruhe und dann:

eine andere Mannschaft, ein anderer Chor und

wieder das Pfeifen, das Rühren der Trommeln,

ein Schmettern, das einsetzt und Mut in der Luft und

Stunde um Stunde am Rand bei den Männern, die

freundlich mir winken und Freude zuhauf.

Freunde, lasset uns fragen, was es bedarf, Kriege zu verhindern; wir ahnen es, dass es nicht sobald aufhört, denn auch jetzt, (sogar am 5. Juli 2014, derweil ich mein Geschriebenes korrigiere und Mats Hummels gestern Abend diesen herrlichen Kopfball ins Netz von Frankreichs Torwart lenkte), wird weiter geschossen, wird Rache genommen irgendwo auf unserer Erde. Wir fragen uns immer wieder: warum? Und wir tragen es in uns, vererben es den Kindern als gefährliche Erbschaft, wie Nichtnutz. Hatte nicht Carl von Clausewitz in seinem fragmentarischen Buch "Vom Kriege", das seine Frau posthum herausgab, die Verteidigung als die stärkste Kampfform ausgelobt, hatte er nicht den Krieg als politische Kraft, also als vom Menschen gezielt benutzt, eingeschätzt und wurde es nicht an den Kriegsakademien überall gelehrt?

Und erleben wir nicht immer noch überall die Aufzüge eines Wachbataillons mit Militärmusik, mit Kommandos, übernommen aus vergangener Zeit, wie aus der Luft gezauberte Elemente, fragwürdig durch seltsame Rituale, historische Zapfenstreiche ohne ausführliches Eingehen auf Mut, Freude, Elend und Tragik dessen, was wir Tradition nennen? Traditionen, die überholt sind, weil sie altes und grausames Heldentum zum Vorbild nehmen, weil sie beschwichtigen, weil sie eine erfolgreiche Erfüllung von Wünschen vorgaukeln: Sommerglück, Kinderglück, Siegerglück. Schnell aber zurück in eine Zeit, die wie durch Nebelschwaden sinkt und durchlässig wird für das, was mühsam zu erkennen. Kann ein Kind sich zurückerinnern bis in seine früheste Kindheit, vielleicht bis zu seinem dritten Geburtstag oder seinem vierten?

Ein samtener Anzug, Bolero-Jacke mit kurzer Hose in weinroter Farbe und hinaus geht es in die Freiheit oder zu den kleinen Freunden, deren Vater ebenfalls im Krieg sich befindet. Ein Feld vor dem Haus, bestellt mit Getreide, in dem Kornblumen stehen und locken.

„Geh nicht ins Feld hinein, die Kornmuhme holt dich!“

Und eine Kaserne dahinter, wohin ich mit meinem Helden einmal zum Friseur ging. Der fragte mich, was ich später einmal werden wolle. Ich: „Soldat“ und mein Vater darauf: „Nein, kein Soldat, du wirst mal ein guter Sportler.“ Und als wir zusammen langsam vom Friseur zurück nach Hause schreiten, ich stolz an seiner Hand, kommt uns eine Rotte Hitlerjugend entgegen. Der Anführer ruft ein lautes Kommando und hebt mit seinen Jungen den Arm, während mein Held nur militärisch kurz grüßt. Ich bin sehr erstaunt und schäme mich ein wenig. Gefangen vom Geist der Zeit, vom schönen Wahn und träumend von einem fernen Sieg:

Schämte mich und konnte nichts sagen, es kam zum Tragen das Ungefähre

von Hohem, von Edlem, Tamtam und von Lüge, als wenn, als wenn es sicher mich trüge.

Und immer wieder die tönende Musik, die das Kind heranlockt. Angst bläst sie weg. In Abständen von Wochen die aus der Ferne zu vernehmenden lockenden dumpfen Schläge der großen Trommel und darauf das Einsetzen eines frühlingshaften Schmetterns, vollgestopft mit Süßigkeiten. Eine Wundertüte für Kinder, und dann nichts wie hin!

Da stehe ich nun und kann nicht anders, ihr Lieben, und höre euch mit offenem Mund zu, kann auch unterscheiden, ob gut oder schlecht gespielt wird.

Und es blitzt etwas auf hoch oben in der Luft, wenn ihr marschiert, und das Kind ist fasziniert von diesem Zauber und vom edel einherschreitenden Zauberer davor.

Eleganter, bodenlanger Flaggenschmuck im Vorfrühling und lautes röhrendes Reden aus Lautsprechern an einem Abend. Und Paraden, dass es als Echo von den Häusern zurückschlägt. Die Instrumente mal feldmarschmäßig in grüngraue Überzüge gehüllt: „Frei weg!“ und dann wieder total schwarze Uniformen, von denen man vor allem die blanken Stiefel sieht, und von wegen Sportler, da weiß das Kind genau, was es einmal werden will.

So war es und ihr sollt es verstehen heute, alle, die ihr hier wohnt in diesem Land.

Denn es ist wichtig, dass ihr es heute wisst.

Aber es floss eine zu spürende Angst aus den Körpern der Männer, besonders derer in den honiggelben Uniformen, während sie diese schöne Musik spielten, oft waren es SA-Männer. Ich roch es, als ich zwischen ihren Beinen umherlief und ich merkte es während der Spielpausen als sie ihr Bier tranken und schwitzten, denn sie hatten Angst. Angst vor der Zukunft hatten sie und diese Angst wollten sie wegblasen, aber es gelang ihnen nicht. Immer blieb ein Rest zwischen ihnen hängen und der reichte aus, um ebenfalls unsicher zu sein.

Und als mein Vater, mein Held, von der Front kam und seine Ausbildung in Stettin beendet hatte und wieder zur Front ging und ab und zu wiederkam, um sich von seinen Wunden zu kurieren, da setzte er mich abends einmal zu sich in die Badewanne.

Er hatte auf der einen Seite unter den Rippen diese grässlichwulstige Narbe, über die das Kind jetzt mit seinem Händchen vorsichtig tastete. Da fuhr ein Stromstoß in meinen Kopf, ein Ungetüm wie ein grausamer Berg öffnete sich und schrie die furchtbarste Gefahr heraus in meine kleine Welt.

Und das Kind fragte, ob es denn gefährlich sei, ein Soldat zu sein, und sein Held lachte und meinte, dass er sich damals schnell weggedrückt hätte, als es richtig gefährlich wurde und er jede Kugel kommen höre und so mache er es immer. Doch das Kind glaubte es nicht und wurde im Moment hart wie ein Kiesel und es weinte nach innen, aber man sah es nicht.

Drittes Bild

(Wie das Kind beglückt lebt, wandert, zuweilen schwimmt oder auch einmal Rad fährt, wie es zu Weihnachten das große Weinen erlebt und seine Mutter eine Witwe wird)

Als Kind zufrieden und meist glücklich, `ne Kinderkrone auf dem Haupt und eine Mutter, die mich in Frieden ließ, wenn ich meines Weges ging.

Ging in die Häuser links und weiter links in der Yorckstraße. Zum Fenster rein ganz hinten in der Häuserreihe, im eigenen Haus im ersten Stock zu einem kleinen Mädchen, mit dem ich spielte und der ich zum Geburtstag eine Kette schenkte. Eine braune Kugelkette, die mir meine Mutter besorgt hatte.

Kuchen essen und dann spielen auf dem kleinen Platz vor unserem Haus. Auf einmal Streit, weil sie die Kette nicht rausrücken wollte, ein Ruck von mir und die Kügelchen spritzen auf dem Gehweg hin und her. Wir sammelten alle auf. Weinen. Sie tat mir leid.

Das immerwährende Abenteuer auf dem Feld, direkt vor unserem Haus machte Spaß. Nicht nur im Sommer, wenn Weizen oder Roggen standen. Wenn Kartoffeln gelegt wurden und im Herbst geerntet und wenn dann in selbst gebastelter Tabaks-Pfeife aus einer Kastanie der Zunder nicht brennen wollte und doch sollte, dann war alles schön, nur schön. Und immer mal wieder aus der Ferne urplötzlich die dumpfen ersten Schläge der großen Trommel. Dann war ein anderes Leben angesagt und es gab kein Halten. Einmal kam ich erst spät am Abend zurück und wurde gemaßregelt, allerdings hatte ich Bauchschmerzen und trottete deswegen missmutig heimwärts, sonst wäre ich länger fortgeblieben.

Dass die Geburt eines Brüderchens nahte, merkte ich irgendwie, denn ich wurde im heißen August 1942 nach draußen geschickt, um zu spielen. Es lag etwas in der Luft, das spürte ich. Musste lange warten und immer wieder warten und das eben konnte ich nicht, genau wie heute. Ging in den Garten und lenkte mit einem kleinen Spiegel helle Flecken ins Schlafzimmer, bis Oma drohend winkte und immer wieder vor sich hin schimpfte. Hörte aber nicht auf. Da kam sie überraschend schnell heraus und gab mir eine Ohrfeige. Meine Lieblingsoma gab mir eine Schelle! Da merkte ich, dass ich wirklich störte und trabte mürrisch vor unser Haus; wartete weiter, bis kleine Vögel aufs Dach flogen, die mir mein Brüderchen bringen sollten. Es waren eine Menge Spatzen zugange, was mir sehr gefiel. Auf einmal durfte ich hinein und Oma war wieder gut gelaunt. Im Kinderbettchen lag etwas Kleines und plärrte. Aber nicht lange, denn ich stopfte seinen Plärr-Mund mit Schokoladenpapier, wofür ich diesmal aber wirklich gerügt wurde und man erklärte mir laut, dass das kleine plärrende Ding fast erstickt wäre.

Aus dem Radio, das wir besaßen, erklang nun tagelang Marschmusik, Stunde um Stunde. Das fiel mir auf, war mir aber nicht unangenehm. Doch die Längen, diese Dauer, die Wiederholungen, das immer Ähnliche, da stimmte etwas nicht. Gut, es war halt volkstümlich und das ist auch heute wieder in. Mir war es egal, ob es Frühling, Sommer, Herbst oder Winter war, die Zeit arbeitete für mich und würde mir weitere Abenteuer bescheren. Im kalten Winter aber fror ich oft an meinen Fingern, selbst in Handschuhen.

Vor unserer Straße, also auf der gegenüberliegenden Seite, baute man neue Häuser und gefangene Russen kamen zum Arbeitseinsatz. Einer von ihnen war mein Freund, er bekam Brot von mir und ich von ihm Rübenschnitzel, die nach Tabak dufteten. Das war ein Tausch, das war ein Abenteuer jedes Mal, bis Mutter dahinterkam und es strikt verbot. Aber ich hörte nicht auf sie und machte heimlich weiter.

Der Frühling war köstlich. Dann war das Feld grün vor dem Haus und die gelben Butterblumen, denen ich nachging, lockten mich weit hinein in den Wald, der sich hinter der neuen Kaserne bis hin zum Madüsee erstreckte.

„Musst du denn nicht nach Hause gehen?“

Kopfschütteln.

„Wer ist denn dein Vater?“

„Der ist im Krieg.“

„Und deine Mutter?“

„Die ist zuhause.“

„Wo wohnst du denn?“

„Gleich hinter der Kaserne in der Yorckstraße 1.“

„Na, dann geh mal schnell zu deiner Mutter.“

Ich sehe ihn noch heute vor mir, einen ernsthaften Offizier in Lederhandschuhen. Er machte sich spürbar Sorgen um mich, um sich selbst wohl nicht, da war er wie fest gemauert in der Ehre für sich und in seiner Haltung, für seine schöne Uniform und für seine dunkelbraunen Lederhandschuhe. Er störte mich in meiner Ruhe; ein richtiger Aufpasser.

Dann bekam einer meiner Freunde in unserer Straße ein Fahrrad geschenkt und sein Vater, der gerade auf Urlaub zu Hause war, lehrte ihn das Fahren. Ich wollte gerne auch einmal dieses Fahrrad ausprobieren und auf die Frage, ob ich es denn schon könne, das Fahren nämlich, nickte ich nur. Erst ging es ziemlich gut und dann ließ dieser Mensch doch wirklich das Rad los, einige Meter lief es noch leidlich, aber dann…

„Sieh mal, sieh mal, sieh mal, ich kann fahr`n, ich kann fahr`n,

Sieh mal, sieh mal, sieh mal, ich kann fahr`n, ich kann fahr`n.

Mit dem Rad kann ich fahr`n, mit dem Rad, mit dem Rad,

Sieh mal, sieh mal, sieh mal, ich kann fahr`n mit dem Rad!“

Hoffentlich hält mich der Alte noch ein bisschen fest,

Denn ich spüre schon, dass er mich richtig fahren lässt,

Aber besser ist es, wenn er weiter hält das Ding,

Eine schöne Klingel, die macht wirklich klingeling.

Refrain: „Sieh mal, sieh mal, sieh mal!“…

Jetzt lässt er doch wirklich los, das wird was, ich muss seh`n,

Dass ich einfach oben bleibe, ja, dann wird es geh`n,

Wackelt schon ein wenig, glaube gar, es zieht nach links,

Rechts wär` es mir lieber, denn dann könnt ich es, dann ging`s.

Refrain: „Sieh mal, sieh mal, sieh mal!“…

Da kommt meine Mutter auch noch aus dem Haus gelaufen,

Will sie nach mir sehen oder geht sie zum Einkaufen?

Und sie schreit jetzt wirklich durch die Straße zu mir hin:

Rums, die Fahrt ist aus, weil ich vom Rad gefallen bin.

Refrain: „Sieh mal, sieh mal, sieh mal!“…

(Statt: „Sieh mal!“, könnte auch: „Guck mal!“, oder noch kürzer und wie geplättet:“ Kumma, kumma, kumma, ich kann fahrn mit dem Rad!“ gesungen werden)

Ich erinnere mich an schöne Sommertage. Wir fuhren mit dem Rad an den Madüsee, manchmal auch, wenn mein Held zu Hause war, doch meistens ohne ihn. Ich vorne auf der Stange bei ihm oder hinten auf dem Gepäckträger bei Mutter. War er da, gab es am Sommersee Bier, das im Glas schäumte und ich durfte den Schaum lecken. Der aber war bitter. Ins Wasser laufen mit den anderen Kindern, mit Helga und Gerdchen und dann tauchen, langsam im seichten Wasser umherstaken und klitzekleine Fische beobachten und erste Schwimmversuche unternehmen. Dann die Heimfahrt auf dem Rad und der Anblick meiner schönen Stadt, der schönsten Stadt meiner kleinen Welt, in der Ferne aufscheinend auf leicht erhöhtem Hügel.

Was noch zu sagen wäre, klingt traumhaft. Das kleine Kind fährt mit seiner Hand einer großen Nase nach, einem starken Mund und wird von seiner Mutter zurückgerissen. Es zeichnet mit seiner Hand einen grotesken Kopf nach, fährt den Konturen eines Menschengesichts entlang. Das Gesicht ist ein gemaltes Bild, ein Hetzplakat und die Macher hatten vergessen, dass ein Kind in den Zügen des kuriosen Bildes vielleicht etwas von sich selbst erkennt und damit spielen will. Das hatten sie vergessen, die Macher, die Künstler, ein Hass-Bild entworfen und das Kind war darüber sehr erstaunt.

Ähnlich überrascht war das Kind von den sich eigenartig wiegenden jungen Menschen in einer Kirche, worin es seine Großmutter mitgenommen hatte. Elfengleiche menschliche Wesen bewegten sich in langen grünen Kleidern tänzerisch über dem Boden. Das Kind meinte, diese schönen jungen Menschen schwebten dicht über der Erde und seien vielleicht Engel, aber es waren Ministranten in grünweißen Ministranten-Röcken. Es war das erste Mal, dass das Kind einen Wink bekam aus einer anderen Welt, aber es verstand noch nicht.

Stargarder Marienkirche

Die Großmutter war in ihrer Art wenig geruhsam und schnell genug, Und wenn sie kam, besuchte sie manchmal mit mir die hohe Marienkirche.

Dort einzutreten erschien mir immerhin wie ein Ereignis, das zu glauben kaum,

Von seitlich oben, wie aus fernen Welten, fiel schönes Licht herein in unsern Raum.

Und Kinder, etwas älter schon als ich, betraten tanzend eine Bühne dort, Wo auch ein Mann in seinen bunten Kleidern, sie ähnelten den Tänzern, seltsam spielte.

So eigenartig rauschte die Musik und Männer standen oben am Balkon, Sie hielten lange Ketten in den Händen. Das sind Franzosen, sagte meine Oma.

Im letzten Frühling war zur Maienzeit ich wieder dort, erwartete es kaum, Sah Männer, die am Boden knieten, trat hinein, es drehte sich der Raum.

Dass es langsam kritisch wurde, merkte man an den Gesprächen der Erwachsenen, die mit ihrem Fernglas am Auge oben in der Sommerluft die kurvenden feindlichen Flugzeuge beobachteten. Doch auch jetzt ist es manchmal recht kritisch, meint ihr nicht auch, wenn man bedenkt? Wenn man bedenkt, ist es richtig kritisch auch heute und nicht nur damals in Stargard, als im heißen Sommer die feindlichen Flieger kurvten. Diese warfen silbrig glänzende Schnipsel herunter und ab und zu auch kleine Tafeln Schokolade. „Geh da nicht ran, nicht aufheben, die sind vergiftet!“, hieß es.

Dann die beliebten Verdunkelungen abends und in der Nacht das Brummen der Flieger aus der Ferne. Stettin bombardierten sie, man hörte und spürte es im Keller wartend und den blutigen Schein konnte man nachher sehen, wenn man nach der Entwarnung vor die Haustür ging. Das war erschreckend schön wie später die Mär von der Hölle.

An Weihnachten 1942 aber, als Mutti, der kleine Dieter und ich mit Freunden zusammen waren, mit Helga und Gerdchen, mit deren Mutter und Großmutter (nicht weit von uns) und der Weihnachtsbaum angezündet wurde, da weinten plötzlich die Erwachsenen und ich wusste zuerst nicht, was da war, denn sie sagten es nicht. Ich dachte, sie weinten, weil wir so schön sangen, doch es war wegen Stalingrad, das erfuhr ich aber erst später. Mein Held und der Vater meiner beiden Freunde waren in der gleichen Kompanie, sie lagen in der Kälte vor Leningrad.

„Zwei Engel sind hereingekommen und haben sich nicht gut benommen, sie sangen laut und tröteten, anstatt dass sie schön beteten.“

Im Jahr 1943 kam wieder Hoffnung auf im Sommer und Siegesfanfare ertönte. Doch die Hoffnung war nicht überall zu spüren. Wenn ich zum Beispiel ganz hinten in unserer Yorckstraße bei meinen Freunden spielte und den Gesprächen der Großen zuhörte, war da eine vorsichtige und ernste Kritik zu hören. Mutti und ich waren anderer Meinung, aber unsicher waren wir ebenfalls. Siege oder gar ein Endsieg, das war jetzt nicht mehr möglich, aber ein Ende der zu spürenden furchtbaren Beengung vielleicht. Was dabei jedoch außerdem zu spüren war, ging in eine Richtung, die heute vielleicht nicht richtig erfasst werden kann. Die Menschen, so denke ich, waren damals überzeugt, dass Deutschland in großer Gefahr war und man sich gegen "Böses" verteidigte. Den ersten Weltkrieg hätten sie - so meine ich es aus ihrem Verhalten heute zu erklären -, nicht als wirklich verloren registriert, sondern als verraten und somit wie zu Unrecht verloren. (Gut, das ist jetzt im Juli des Jahres 2014 meine Meinung).

In der Sommerzeit 1943 erklang aus dem Radio immer wieder etwas, das war wie aufgeblasener Mut, gemischt mit Unsicherheit. Verzweiflung war es noch nicht, aber eine zunehmende Angst war zu spüren. Ich hatte inzwischen wieder einmal mit einem der russischen Arbeiter Freundschaft geschlossen, der jenseits unserer Straße den Boden für einen Neubau aushob. Für Brot gab er mir, genau wie sein Vorgänger, die geliebten Rübenschnitzel, gemischt mit Tabakresten. Mutter sah es zwar immer noch nicht gerne, aber ich war meinem Freund gegenüber treu. Mein Held kam noch einmal auf Urlaub nach Hause, wurde in Stettin zum Leutnant ausgebildet und verabschiedete sich nach Weihnachten 1943.

Danach war alles irgendwie anders. Vati hatte sich, wie gesagt, verabschiedet. In einer kalten Nacht trennte er sich von Mutti und wäre da eigentlich nicht mehr siegessicher gewesen. Das sagte sie mir später und dass er noch dazu sehr traurig gewesen wäre. Diese Nachricht erfuhr ich wirklich erst viele Jahre später. Er hätte wegen seiner erneuten Verwundung vielleicht nicht an die Front gehen müssen. Aber die Kameraden warteten, hätte er gesagt, und außerdem musste wohl jeder nach seiner Genesung wieder zur Verfügung stehen, Punkt.

Typisch für meinen Helden. Ein Held muss nicht unbedingt Sieger sein, es genügt, wenn er tapfer ist und seine Pflicht tut. Das aber erfuhr ich auch ebenfalls erst viel später, im Deutschunterricht der Oberstufe des Staatlichen Gymnasiums in Speyer. Da kamen wir im Rahmen der Besprechung des Hildebrandsliedes auf die germanischen Tugenden, auf den Begriff der Ehre zu sprechen und es ging mir ein Licht auf. Dieses Licht aber war wie ein Irrlicht. So furchtbar kann Krieg entbrennen, Krieg, als Vergeltung, als Rache, als Überbleibsel unserer unseligen Evolution: als " Vater aller Dinge"?

Nun weinte in unserer Nähe so manche Frau und traurige Gespräche wurden geführt, auch früher schon, als zum Beispiel die Nachbarsfrau ihren Mann, einen schönen und stolzen hochdekorierten Soldaten, verloren hatte und Mutter ganz besorgt war. Und mein Held meinte damals, dass dieser Kamerad vielleicht etwas unvorsichtig gewesen wäre und Mutter wurde richtig wütend und schrie, er solle sich nicht versündigen. Er aber winkte nur ab. Dann also ging er wieder an die Front zu seinen Kameraden in die gnadenlos umkämpfte Gegend vor Leningrad und wir waren jetzt allein gelassen, unter uns, nachdem er zuvor noch einen Hasen abgezogen hatte. Ganz feierlich war es, als wir ihn abends aßen.

So war es und ihr sollt es wissen: das schöne Gefühl des Zusammenseins, denn Einigkeit ruhte mitten im Raum an einem Abend. Den ganzen Nachmittag zuvor verbracht mit dem Wunder eines überraschenden Besuches. Ein Kübelwagen fuhr vor und heraus sprang ein Mann, der ein Paket ablieferte, in dem ein Hase lag und daneben eine große Imkerdose voll mit Waldhonig. Staunen darüber und eine Einladung zum Kaffee, aber der junge Mann musste bald wieder gehen. Dann zog Vati den Hasen unten in der Waschküche ab und ich musste den Honig probieren, der harzig und fremd schmeckte. Am frühen Abend gab es schon etwas vom Hasen; das schmeckte köstlich und duftete lange nach in den Räumen. Dann schmausten wir am folgenden Abend zusammen in der Küche und die Eintracht beobachtete uns lange, führte uns in selige Umarmungen wie in ein versprochenes Glück, das sich bis hinein in mein kleines Bettchen zog.

Es folgte eine Zeit, in der die Meldungen aus dem Radio gar nicht gut klangen und eines Morgens - ich sage jetzt mal - im kalten Februar 1944 wachten wir durch einen deutlich zu hörenden scharfen Knall auf. Mutti redete mich aus ihrem Bett heraus an, ob ich es auch gehört hätte. Ja, ich hatte den scharfen kurzen Knall gehört und wir waren uns später immer wieder klar darüber, dass Vati wohl genau in diesem Moment getroffen worden ist. Ich meine sogar, meine Mutter hätte genau den Termin nachgerechnet, nachdem später die Nachricht vom Tode eingetroffen war.

Denn eines Tages kam ein Bote in Uniform mit einem Brief. Ich spielte draußen. Nach einer Weile schrie Mutti, die vor kurzem erst ihr drittes Kind, Jörg, geboren hatte, laut auf und ich wurde hereingeführt. Und sie schrie: “ Er ist tot, er ist tot, unser Vati ist tot!“ So schrie sie. Und sogleich hatte ich wieder diese sandige, schokoladenbitter schmeckende Schuld im Mund. Ganz voll war mein Mund und die Kehle schnürte sich langsam zu, denn ich hatte es geahnt und schon vorher heimlich gewusst und ihn nicht genügend gewarnt - damals in der Badewanne – und nun war es geschehen, deshalb habe ich Schuld, bis heute. Dann lief ich hinaus und erzählte es allen.

Witwenschrei

Schreie, nichts als Schreie in mir.

Am Tag und zur Nacht nichts als Schreie.

Die Hälfte des Seins zerschmettert im Nu

Und kein Abend, kein Morgen nur Schmerzen im Arm,

Es erbarmt sich keiner, der helfen kann und nur Schmerzen

Im ganzen Körper und müde bin ich, nur müde.

Der Sommer in Jahr 1944 war anders. Er war heiß und eigentlich schön, nur die laut schmetternde Musik erklang nicht mehr so oft. Eigentlich gar nicht mehr, außer von Franzosen. Diese waren nicht nur sonntags in der Kirche zu sehen (mit Rosenkränzen in den Händen!), sondern sie marschierten auch, aber schneller und zügiger als ihr, meine Lieben, auf der Straße vor unserem Haus vorbei, die kurzen goldenen Hörner schwingend. Und sie schleuderten den Sieg in die Luft, einen Sieg, der nicht mehr zu erringen war, aber sie hatten ihn in ihren Instrumenten versteckt.

Mutter meinte zwar, das nütze nun auch nichts mehr, aber sie waren da und verteidigten unsere Stadt und unser Land. Irgendwann las ich dann später einmal in Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“, dass es wirklich stimmte. Und einer von ihnen, ein junger frischer Mann, hatte Gefallen an meiner schönen Mutter gefunden und sie ebenfalls und auch ich selbst mochte ihn gern, weil er mit mir redete. Er richtete mitten im Sommer 1944 eifrig einige Sachen für die Abreise in den Westen her. Ich erinnere mich an große Seesäcke, die gefüllt wurden. Doch diese frühe mögliche Evakuierung wurde abgeblasen. Ich weiß noch genau, wie enttäuscht ich war und denke, dass unsere Organisatoren damals irgendwie nicht ganz richtig im Kopfe waren, oder einfach nur Angst hatten vor der Reichs-Kanzlei in Berlin. Eine rechtzeitige Evakuierung zu ermöglichen, das wäre es gewesen.

Im Herbst und im Winter 1944 kamen sie dann, die Flüchtenden. Mit Pferden und Wagen, mit kleinen zottigen Pferdchen und größeren zogen sie an unserem Haus vorbei in Richtung der Oder und es schneite immer wieder tüchtig.

Die Menschen liefen mit ihrer Habe westwärts an unserem Haus vorbei und sie senkten den Kopf. Genau wie ihr, meine Lieben, doch sie waren mir irgendwie fremd, geschlagen und ganz bekümmert und sie froren. Einige fanden den Weg in unsere Wohnung und baten um Handschuhe oder heißen Tee.

Doch Mutti war jetzt hart, sie hatte einen kleinen Revolver für alle Fälle, wahrscheinlich von meinem Helden. Auch winzige Munition aus Messing war vorhanden. Diese spülte sie eines Tages durch die Toilette, nachdem sie mich danach gefragt hatte, ob sie es tun soll. Danach ich war zufrieden.

Viertes Bild

(Das Kind trifft als alter Mann seinen Vater im Traum)

Nachts im Traum erscheint mir mein Vater und ich höre seine Stimme. Ich lausche genau wie damals, als ich als kleines Kind an seinen Lippen hing und er mir morgens im Bett mit seiner etwas heiseren Stimme erzählte, wie Fuchs und Wolf sich an der Nase herumführten und ich nicht genug bekam von seinen Geschichten, auch wenn sie sich wiederholten:

„Was soll aus mir werden, was soll aus uns werden im Feld hier, da alles so grau und verlassen vom Sieg? Und die Hoffnung, sie schwindet: so viele schon tot und die tägliche Mühe und nächtlichen Schläge immer und immer!

Wo ist sie, die Hoffnung auf Sieg, sie war doch nah und klar in den ersten Tagen im Sommer damals, als wir im Rausch - und voll mit tausend Sicherheiten in der Tasche – in den Osten fuhren, vornweg die Stukas in der Luft und unten die Panzer mit den kräftigen Ketten, die alles zermalmten, alles überwanden, sogar den Schlamm?

Wo ist sie, die innere Freude, die in uns wohnte beim ersten Morgengrauen, als es begann und wir Menschen uns sammelten, Menschen in Haufen, wir konnten uns nicht einmal zählen und mein Zug marschierte nach vorn mit all den guten jungen Burschen und den Älteren, die sich mühten am Tag bis tief in die Nacht? Und als es nach Wochen zum Stillstand kam, da war doch noch Hoffnung! Da war doch noch Siegesfanfare im Radio in unserem schäbigen Bunker und mit Orden bedachten sie uns und auch mich und der Kommandeur trat vor die Kompanie und sagte Dank im Namen des Führers für besondere Tapferkeit und alle waren stolz auf mich, als ich das goldene deutsche Kreuz bekam, doch ich war gesammelt, ganz ruhig war ich und in mir drinnen war ich sehr fest und zugleich war da ein inneres Summen, das mich warnte, eine weite und große Stimme war da, die sprach und ich hörte genau hin, denn sie sprach als Donnerstimme in mir und ich war berauscht von der Klarheit und grüßte sie.

Und weiter ging es und von der Newa mussten wir zurück und dann wieder vorwärts und wir sahen Leningrad in der Ferne und mussten wieder zurück und wir waren doch zu Anfang schon ziemlich weit im Osten bei Tichwin und mussten wieder zurück, weil der Russe angriff - gleich zu Anfang schon -, als wir von Scharfschützen aus den Baumwipfeln beschossen wurden und nicht vorwärtskamen, da uns die schwere Kompanie raus hauen musste.

Und ich ließ alle meine Gefallenen und Verwundeten heraustragen in Sicherheit und war beunruhigt ob der Grausamkeiten und verlangte sodann nichts Unmögliches mehr von ihnen, denn sie waren mir lieb und ich nahm es auf meine Kappe und machte es wett mit meinem Mut und dann war es gut.

So war es, und schnell ging der erste Sommer dahin, als es kalt wurde und kälter als wir es zuvor dachten und uns die Zehen abfroren und wir einen besonderen Orden dafür bekamen, aber keine warme Kleidung zunächst und wir waren trotzdem immer dabei, verwundet und unverwundet, frierend und auch mal im Urlaub oder im Lazarett und wieder dabei, als es weiterging im nächsten Frühjahr. Herrschaft noch einmal, wie uns der LKW einmal mitten im kalten Winter fast absoff auf dem Eis, als wir dachten, das Eis müsste halten, aber nein. Wie haben unsere braven Jungs das Ungetüm bloß wieder herausbekommen? Und endlich, endlich bekamen wir gerade noch rechtzeitig weiße Kleidung im Winter und darunter war es schön warm.

Doch was sich da alles hinter unserer Front ereignet, das lässt einen kalt in unserem Grimm und auch wieder nicht und man will die schrecklichen Gerüchte nicht glauben, einfach nicht glauben, aber tief drinnen, da rumort es und nagt es und es ist ein lautes Geschrei dabei, der Tod schreit einen an. –

Manchmal denke ich, das darf ich keinem sagen, was wir hier eigentlich suchen. Das ist doch ein derart großes Land und die Menschen verteidigen es tapfer. Das ist doch kein schneller Blitzkrieg, da stimmt doch etwas nicht. Und das Land gefällt mir. Immer öfter denke ich, wie schön es hier ist im Frühjahr und im Spätsommer, sogar im Winter, wenn der Schnee knirscht unter den Stiefeln. Ein richtiges Jagdgebiet, aber doch kein Kriegsgebiet für Idioten! Und die Seen, die schönen weiten Wasserflächen! Dort möchte ich mit meinem Großen gerne einmal im schaukelnden Boot fahren und er wird mir dabei singen mit seinem Stimmchen, wie er es gerne tut, das wäre schön. –

Und Heini, unser Jüngster, der soll nun bald an die Westfront, da muss er hin mit seiner Kamera und alles abbilden und später erzählen. Das soll er. Und Notizen machen und ein Buch schreiben über unser nutzloses und tapferes Treiben und meinem Ältesten vielleicht alles berichten später einmal, damit nichts verloren geht von dem ganzen traurigen und mutigen Treiben, vom Getriebenwerden, vom Müssen und Wollen und dem Wirrwarr, den Menschen angerichtet haben und den wir auszustehen hatten, glücklos oder glücklich, friedlos oder geprägt mit dem Wissen und Willen, es anders zu machen in Zukunft, wenn wir hier nur rauskommen.

Meinen gefangenen Kommissar muss ich nachher abgeben: der hat mir sein Kartenmaterial dagelassen und ich weiß, dass es unmöglich ist, hier noch irgendwie zu siegen und seinen Kameraden, der aus dem Erdbunker unsere Handgranaten zweimal wieder herauswarf und dann todwund am Ende aufgefunden wurde, dem habe ich die Hand gehalten und ihm „Kamerad“ zugeflüstert, bis er starb und keiner hat mich dafür gerügt, ich hätte ihn wohl sonst erschossen, so fertig war ich.

Aber jetzt, hier im Winter vierundvierzig, da sind wir ganz schön am Arsch der Welt, da hilft uns keine neue Pak, kein neuer Panzer, da wird verteidigt das Leben, das letzte Stück Leben und die Tapferkeit geht einen Schritt weiter auf ein etwas größeres Risiko zu, das ist der bittere Tod, ja, das ist der Tod. Und wie wird es meiner Frau ergehen, meinen lieben Jungen, von denen der Älteste mich fragend angeschaut hat das letzte Mal, als ich verwundet zu Hause war und doch wieder gehen musste und ich wusste, dass es diesmal nicht so glimpflich abgehen würde.

Da dachte ich einen Augenblick, dass ich doch in der Heimat vielleicht als Ausbilder hätte bleiben können, bei meinen Verwundungen, aber die Kameraden im Osten, dachte ich und die Bluthunde da oben, aber das darf man ja nicht denken, da darf man bloß nicht dran denken, sonnst nimmt man das MG und mäht sie nieder. Aber jetzt, hier im Bunker ist es schön warm, trotzdem muss ich nachsehen, was mein dritter Zug macht, wie der Angriff nachher vorwärtsgeht, wir haben ja schon wieder viel Land gewonnen gestern und heute, obwohl, was bringt das schon. Jetzt gehe ich aber mal raus und, ach Gott, was ist das, bin über unserm Haus, seh` meine Frau, meine Kinder und so wohl ist mir auf einmal, hab kein Gewicht mehr und jetzt ein kommendes, anwachsendes, zerreißendes, stärker anwachsendes Rauschen wie eine Welle und groß und größer das Rad und die Wucht und bin bei euch…bei euch… da bin… ich.“

Als ich aufwache, wundere ich mich nicht mehr. Klar ist jetzt alles.

Fünftes Bild

(Das Kind erlebt seine erste größere Reise, es wird mit vielen Jungen und Alten in die schöne Stadt Stralsund gebracht)

Als die laute Stimme rief damals in Stargard, rief sie laut und dunkel. Durch die stille Stadt lief die Stimme eines Morgens und suchte die letzten Bewohner der halbleeren schönen Gebäude. „Letzter Aufruf“, hieß es, ja, so hieß es. Und immer wieder sagte die Stimme aus dem Lautsprecher: „Zum letzten Mal, morgen am Bahnhof!“ Es klingelte an der Tür und Tante Anna, die Schwester von Mutter, stand flugs im Raum. „Wo kommst Du her“, so die erstaunte Frage, aber es war keine Zeit für lange Reden, es war höchste Zeit. Tante Anna war bei uns, sie begleitete uns auf dem Weg ins Ungewisse, denn sie ahnte wohl, was kommen sollte.

Es kamen viele zum Bahnhof, alte und junge Frauen und Kinder, Opas und Omas. Sie fragten dies und das, aber nicht lange. Und alle stiegen folgsam ein. Auf Stroh wurden wir gebettet als die Fahrt begann. Sauberes Stroh in Güterwägen, die aber waren rundum geschlossen und warm. Dunkel begann die Reise in den geschlossenen Güterwägen, behütet von Rotkreuzschwestern. Der Schlaf wiegte mich ein. Wie von guten Mächten geschützt waren wir, die schutzlos dahin glitten auf Schienen und durchfuhren doch mögliche Todesgewitter, die jählings vernichten konnten. Mitte März 1945 war es wohl, und ab und zu schien die Sonne durch die Ritzen der Wagen und als wir ausstiegen in Stralsund, führte man uns sorgsam. Bis hin zum Markt führte man uns und die Häuser waren mal so, mal so.

Eine verlorene Trümmerstadt, in sauberen Ziegeln ausgeführte Häuser und doch schon entzwei die einen Gebäude und die anderen daneben fast noch heil. Manche Toilette und ab und zu eine Badewanne sah man in den weggesprengten Mauern. Das schrie in die Welt. Bis hin zum schönen Marktplatz führten sie uns, wo bunte Papierschnipsel auf uns herabfielen als der Redner endlich geendet hatte. Lauter rotweiße Fähnlein mit den beliebten schwarzen Hakenkreuzen in der Mitte. Es war, als wenn es schneite, und man sah Ähnliches viel später im Fernsehen bei Paraden in New York: ein wirbelndes Durcheinander auf Menschenmassen, das mich seither immer wieder mal faszinierte.

Musik erklang, als wenn ein Sieg noch möglich wär`, ein kalter Wind schlich spürbar von der Seite her.

Ein Kind ist nicht so leicht zu betören, ein Kind fühlt, wenn gelogen wird. Inneres Lachen ob dieser schwebenden Lächerlichkeit aus dem Lautsprecher, die ein Mann vom Balkon des Rathauses auf uns nieder prasseln ließ (die Leute murrten), denn Tage darauf erbrach sich der Schrecken nachts. Nachts flogen sie Angriffe auf die Stadt. Über die schon halbwegs zerstörte, immer noch schöne Stadt, über die zitternden Dächer kamen sie. Das aber war alles sehr nah und gefährlich und laut war es und kreischend und meine kleinen Brüder zitterten. Ich zerrte einen, den Jüngsten von ihnen aus seinem Gitterbett, dass es laut schepperte, hinüber in unser gemeinsames großes Bett, denn Mutter war gerade nicht da.

Und Hunger hielt Einzug in unserer kleinen Familie. Er war so fürchterlich, dass wir eitrige Pusteln bekamen und der Kleine von uns hatte überhaupt, so schien es, nicht genug Nahrung, nicht das Geeignete zur Verfügung, vor allem keine Milch. Und wenn es heiße Kartoffeln gab und Mutter sie herein trug in unser Zimmer, dann rastete er förmlich aus, lachte fröhlich, schlenkerte mit den Ärmchen und verschlang die ihm gereichten warmen Kartoffeln immer kräftiger lachend. Heute noch, wenn es Kartoffeln gibt, nehme ich mir manchmal eine heiße davon zur Seite und verzehre sie mit Anteilnahme, auch ohne Butter, einfach so mit Salz und meine Frau weiß dann nicht, wo meine Gedanken sind.

Der Hunger war mächtig, war schleichend. Manchmal bemerkte ich ihn nicht und manchmal doch. Dann gingen Mutter und ich zu einer Stelle, wo es vielleicht etwas zu essen gab. Dort wurde Brot verteilt, wenn welches vorhanden war und vor allem ein süßes Etwas, das wie Honig aussah, aber es war kein Honig, sondern mehr heller Zuckerrübensirup. Brot mit diesem süßen Zeug beschmiert, eine Delikatesse.

Mutti fuhr bis kurz vor Kriegsende zweimal mit dem Zug nach Stargard zurück, um noch zu retten, was möglich war. Das erste Mal kam etwas dabei heraus, Bettwäsche und etwas zum Anziehen. Das zweite Mal war für die Katz. Mitten in unserem Wohnzimmer lag die Hakenkreuzfahne und obendrauf ein Haufen getrockneter Scheiße. Wahrscheinlich gab es vorher um die Stadt einen starken Abwehrkampf, der hin und her ging für einige Zeit, bis endlich Ruhe eintrat. Alles in allem eine komische Situation im sich ankündigenden Monat Mai, wo die Sonne heller schien und ich zum Geburtstag sogar noch eine runde Handtasche bekam, die ich mir um den Hals hängen konnte und die nach Teer roch, super!

Eigentlich waren in dieser Zeit nur Frauen zu sehen, kleine und größere Kinder und alte Männer. Die jungen Männer waren weit weg. Keiner, der schützen konnte, nur die Menge schützte uns, sie war der Mantel, die wärmende Decke, denn die Väter waren alle weg.

Sie waren erschossen, ihr wisst es, oder in der Gefangenschaft, obwohl sie vor nicht langer Zeit noch da waren, ordengeschmückt und randvoll mit diesem aufgesetzten Mut. Ihr wisst es!

Dann aber war in Stralsund der Krieg zu Ende nach dieser langen nächtlichen Luftschlacht und vier stocksteife russische Soldaten, in sauberen Uniformen in einem noch steiferen dunkelgrünen Militärwagen kamen von der Straße herab direkt auf mich zu und in der Kurve, kurz vor dem Garten, in dem ich stand, kippte der Wagen. Alle purzelten wie bestellt heraus, schön! Kein Wort des Erschreckens zu hören, nur dumpfes Gemurmel, entschiedenes Aufstehen, sich Schütteln und Staub abklopfen, den Wagen wieder flottmachen, Einsteigen und Weiterfahren. Das gefiel mir. So also sahen Sieger aus: strahlende, ordengeschmückte Schönheiten, stolze Steifheit in wodkavoller Disziplin, alle bis hin zum Rand gefüllt mit Schnaps und Erfolg.

Denn anders waren sie als ihr, meine geliebten Brüder mit den Helmen, unter denen ihr schwitztet und geradewegs in den Tod ranntet, und anders als die Wankenden mit erdigen Stiefeln oder Lumpen an den Füßen, die Gefangenen, die lachend die Hände hoben, wenn ich mit meinem Spielzeuggewehr auf sie zielte.

Die Sonne ging auf und ich wurde 6 Jahre alt.

Sechstes Bild

(Wie das Kind noch einmal in die Heimat zurückkehrt und doch wieder wandern muss)

„Die Bauersfrau dort in rosiger Frische spricht:

Wohin hat Gott uns verschlagen?

Wehe uns frohen Gesellen!“

(Anhang, Nr. 2)

Jetzt also war der Krieg zu Ende und was nun? Der Hunger wurde immer schlimmer, das heißt, es gab auch mal gar nichts und deshalb gingen Mutter und ich in die Umgebung, um zu betteln oder um Reste zu suchen. Reste von Brot oder Büchsen, die in Unterständen irgendwo im Wald manchmal zu finden waren. Es war gefährlich, denn die Russen hatten Ausgang, waren nicht immer in ihren Unterkünften und sie waren nicht zimperlich, deshalb ging man gerne in Gruppen mit Sichtkontakt, weil es einfach so sein musste. Beim Betteln bekam man wenig. In manchen versteckt liegenden Unterständen im Wald aber, wo eben noch deutsche Soldaten hausten, waren frische Holzbänke und Gestelle zu finden, wo auch schon mal eine Dose versteckt lag oder am Boden herum kullerte. Oft aber gärte der Inhalt und die Dose hatte einen dicken Bauch und man trat, wenn man nicht aufpasste, in Scheiße, war somit vollends in der Realität. Das reichte dann wieder für eine kurze Zeit, um nicht weiter zu suchen. Und dann kamen aus der Ferne womöglich einige Russen und wir nahmen meist unsere Beine in die Hände und trollten uns. Wenn man bedenkt, eine scheußliche Zeit voll von eigenartiger Hoffnungslosigkeit, die einen auch noch richtig stresste. Ganz weit her aus dem Versteck meiner Erinnerungen erkennend meine ich auch, dass wir einmal mit dem Zug auf die Insel Rügen gefahren sind und das riesige Monster PRORA gesehen haben, die Kreidefelsen und die dunkelbaue Ostsee mit ihren rollenden und schäumenden Wellen durch grüne Bäume war ein Bild, das wohltut, auch heute noch.

Bald nach dem Kriegsende kam die Weisung, sich wieder einzufinden, zu sammeln am Bahnhof in Stralsund. Zurück ging eine seltsame Reise nun wieder in den Osten, in offenen Waggons ging es überraschend wieder in die Heimat, als wären die Verantwortlichen dafür noch immer im Vernichtungselement. Am Tag brannte die Sonne in die mit Menschen vollgestopften Waggons. Nachts war es oft unruhig. Keine Stunde ohne Abenteuer. Wenn aber der mehr dahinzuckelnde als zügig fahrende sehr lange, jetzt oben offene Güterzug anhielt und auch, wenn er weiterfuhr oder wenn er glaubte, weiterfahren zu müssen, war es richtig abenteuerlich. Dann rannten diejenigen verzweifelt hinterher, die im Moment nicht mehr im übervollen Waggon waren, weil sie vielleicht beim Austreten in den Büschen saßen oder sich unter die Waggons gelegt hatten, um Schatten zu finden gegen die stechende Sonne. Und der Notdurft-Eimer wurde oft herumgereicht und einer oder meistens eine schüttete ihn dann hinunter auf die heimatliche Erde. So düngten wir unsere Heimat, voller Hingabe.

Am Abend, wenn der Zug irgendwo hielt, gingen wir Kinder in die Wiesen hinaus und lasen verloren herumliegende Munition auf, die wir einem der wachhabenden, lässig herumstehenden Russen in erdfarbener Uniform freundlich überreichten, damit er in die Luft schießen konnte.

Da lachten sie alle, der Schütze und die jubelnden Kinder und die Munition zog einen goldenen Bogen über das schöne Land hinweg und segnete es.

Als es irgendwann einmal zu Ende war mit der abenteuerlichen Reise nach etwa einem Tag und einer Nacht, nahm uns eine Schule auf in einem Ort; der Name des Dorfes klang wie Heimat, es war Hansfelde, heute heißt es wohl Tychowo. Es ist diese eigenartige, leicht hügelige schöne Gegend, rechts der Oder und polnische Bauern, die bereits hier waren, fuhren nun polnische Zuckerrüben umher, von denen einige vom Wagen flogen. Diese lasen wir auf und steckten sie unter die Decke, bis sie, das heißt, bis der Schnitt, der mit dem Messer gezogen wurde, blau anlief. Die versteckte Zuckerrübe war so etwas, wie ein Bonbon, wie ein Rettungsanker, wie eine Zuflucht, aber es würgte und man kotzte und würgte wieder, bis uns der Hunger später nochmals übermannte. Aber um den schäumenden See zu laufen mit einem lebensfrohen polnischen Freund und einkehren in dessen Hof, den sie jetzt hier besaßen, das war ein kindhaft schönes Erleben, an das ich mich heute noch gerne erinnere.

Auf einmal stand diese stämmige rotbäckige Bauersfrau vor mir und meinem jungen Freund und sagte sinngemäß: „Wir sind nur Gäste hier, ihr kommt bestimmt wieder“. Die aus dem Stall kommenden Männer murrten zwar, doch sie ließ nicht locker und ich hatte erste Ahnung von lauterer Tapferkeit und warmer Weiblichkeit, weil auch die Töchter wie die Mutter freundlich blickten, flink waren sie und lebenswarm.

Unruhige Nächte und ängstliches Flüstern unserer jungen Frauen im kleinen Lager, der örtlichen Schule, es waren ja nur wenige und zudem ältere Männer anwesend, keine Beschützer von Bedeutung. Und oft das versuchte Eindringen der lauten wodkaverliebten Russen nachts, im Streit mit den polnischen Hausherren, die jetzt eigentlich das Sagen hatten. Wie oft, ich weiß es nicht.

Und einmal schon wieder das nächtliche Gemurmel, Unruhe und russisches Begehren aus der Ferne, dann polnisches Beruhigen aus der Nähe. Ich konnte es erkennen, und an den Sprachen unterscheiden, wer gewann. Oft setzten sich die tapferen polnischen Bauern durch.