Auf Umwegen zur Hölle - Corinna Weber - E-Book

Auf Umwegen zur Hölle E-Book

Corinna Weber

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Beschreibung

da denkt man, man hat noch mindestens 30 Jahre zu leben und könnte seiner Frau das Leben noch so richtig schwer machen und dann? Steht urplötzlich ein Erzengel vor einem und ist der Meinung, die Zeit wäre nun abgelaufen und man hätte gefälligst mitzukommen! Aber so leicht und vor allem kampflos lässt das ein Jürgen Friedrichs nicht mit sich machen. Zunächst muss der eigene Tod gründlich diskutiert und abgestritten werden. Und wenn man dann doch zähneknirschend im Himmel angekommen ist, sollte man sich so aufführen, dass jeder Erzengel in kürzester zeit genervt und verzweifelt die Flucht ergreift. Leider muss Jürgen feststellen, dass das Leben auf der Erde wunderbar ohne ihn weitergeht und dass seine Charlotta ihr Witwendasein in vollen Zügen genießt. Schon bald aber wird ihm bewusst werden, was er in seinem Leben alles falsch gemacht hat. Stellt sich nur die Frage, ob er das genauso sieht, wie seine himmlischen Kollegen und nicht zuletzt Gott selbst. Und ob ihm das Ganze am Ende nicht doch zum Verhängnis werden wird. Ein unglaublich witziger Roman voller Fantasie, viel Liebe, einem Hauch Erotik und vor allem der Erkenntnis, dass es sich lohnt, zeitlebens ein einigermaßen guter Mensch zu sein!

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Über die Autorin:

Corinna Weber wurde 1976 in Darmstadt geboren. Sie lebt mit ihrer Familie in dem beschaulichen Örtchen Wald-Michelbach im Odenwald. Mit einer 22jährigen und einer 10jährigen Tochter an der Hand, ihrer kleinen Krawalli fest im Herzen und seit 25 Jahren einem Mann an ihrer Seite, der fest zu ihr steht, hat sie bis jetzt alle Stürme des Lebens (fast) erfolgreich gemeistert.

Sämtliche Personen der Geschichte, sowie Handlungen oder Ähnlichkeiten, sind frei erfunden und daher rein zufällig.

Neben dem aktuellen Roman entstammen die „MUDDI Zusammen schaffen wir alles“-Bücher sowie die Taschenbuch-Reihe „Ronjas Welt“ aus der Feder der Odenwälder Autorin.

FÜR MEINE KRAWALLI

Für immer an meiner Seite

Auf Umwegen zur Hölle – Trottel mit Flügel sucht neuen Job

Jürgen sah auf seine Armbanduhr. „Was machst du denn schon wieder solange da unten? Bring mal Bier mit hoch, wenn du schon so ewig im Keller rum machst. Essen gibt’s wohl heute auch nicht mehr, oder wie?“ Charlotta seufzte. Ihr Mann Jürgen war wieder einmal ein wahrer Ausbund an Freundlichkeit und Charme. Sein ewiges Gezeter und Gemaule hingen ihr schon so lange zum Hals heraus. Dabei kannten sie sich nun schon fast eine halbe Ewigkeit und man könnte meinen, sie hätte sich mittlerweile daran gewöhnt. Und es war ja auch nicht so, als sei er früher der absolute Märchenprinz gewesen und hätte sich dann erst mit der Zeit so sehr zum Schlechten verändert. Aber mit zunehmendem Alter wurden seine Sticheleien, seine kleinen Boshaftigkeiten und seine schier grenzenlose Blödheit fast schon unerträglich. Kennengelernt hatten sie sich vor 28 Jahren, da war Charlotta gerade mal zarte 17 Jahre alt. Jürgen war damals schon 26, also neun Jahre älter als sie und stand mit beiden Beinen fest im Berufsleben. Er war gelernter Maurer, und das durch und durch. Auch, was seine ziemlich derbe und sehr laute Art betraf. Damals hatte Charlotta sein burschikoses und männliches Auftreten sehr imponiert. Sie war fasziniert von dem muskelbepackten Mann, der keine Widerrede duldete, in keinem Bereich seines Lebens. Wenn er etwas behauptete, dann war das so, egal, was andere sagten. Wenn er behauptete, die Sonne leuchtet grün, dann war das eben so, da gab es nichts zu diskutieren. Vor 31 Jahren sah er allerdings wenigstens noch nahezu unverschämt gut aus. Er hatte dichtes, dunkelbraunes Haar, trug einen gepflegten Bart und hatte einen ziemlich beeindruckenden Körperbau. Und ganz zu Anfang behandelte er Charlotta ja sogar fast noch liebevoll, war aufmerksam und ein wirklich fantastischer Liebhaber. Ihre Eltern waren damals begeistert von dem adretten Mann, der sein eigenes Geld verdiente, ein kleines Häuschen von seinen Eltern in Aussicht hatte und genau wusste, wohin er im Leben noch wollte. Und offenbar hatte er ihre Tochter Charlotte nun dazu auserkoren, Teil dieses Lebens zu werden. Ungefähr eineinhalb Jahre nach ihrem Kennenlernen stand sie jedenfalls im elterlichen Wohnzimmer und verkündete strahlend: „Der Jürgen und ich werden heiraten!“ Schon ein halbes Jahr später fand dann die Hochzeit statt. Jürgen hatte sich zu Ehren dieses Tages in einen Anzug gequetscht und fühlte sich sichtlich unwohl. Das erzählte er dann auch lautstark jedem, der es hören wollte oder nicht, sogar dem Pfarrer in der Kirche. Charlotta war ständig peinlich berührt und wechselte fast minütlich ihre Gesichtsfarbe. Sie wirkte neben Jürgen in ihrem schmalen, langen, weißen Kleid wie eine zarte Elfe. Ihre langen, weichen dunkelbraunen Haare fielen ihr in weichen Wellen auf die Schultern und ihre Freundin Gabriele, auch Bibi genannt, hatte sie wirklich wunderschön geschminkt. Charlotta meinte sogar, eine gewisse Rührung in Jürgens Gesicht erkennen zu können, als er sie zum ersten Mal sah. Er wischte sich den Schweiß mit einem Taschentuch von der Stirn und meinte dann aber: „Den Putz im Gesicht hättest du dir sparen können, ich mag es nicht, wenn meine Frau rumläuft wie ein geschmückter Pfingstochse!“ Sie war wie vor den Kopf geschlagen, getraute sich aber nicht, etwas darauf zu erwidern. Ihr Vater lachte nur laut, schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter und feixte: „Recht so mein Junge, du musst ihr von Anfang an zeigen, wer der Herr im Haus ist. Die Weiber tanzen einem ja sonst völlig auf der Nase herum.“

Charlotta sah ihre Mutter an, die daraufhin nur resigniert mit den Schultern gezuckt hatte. Die Feier fand in einer stickigen Dorfkneipe in einem Außenbezirk von Frankfurt statt. Gerade mal 30 Gäste waren anwesend gewesen. Charlottas Schwiegereltern wirkten auf den ersten Blick recht sympathisch, aber gerade ihre Schwiegermutter hatte es fast schon faustdick hinter den Ohren. Wenn es nicht nach ihrem Willen ging wurde sie unleidlich, das absolute Ebenbild ihres Sohnes. Sie war sehr resolut und nicht wirklich gewillt, ihr Zepter über ihren einzigen Sohn so mir nichts, dir nichts aus der Hand zu geben und es ihrer Schwiegertochter zu überlassen. Ihr Mann glich Jürgen zwar äußerlich sehr, dafür war er aber eine Seele von Mensch. Stets freundlich, so gut wie nie schlecht gelaunt und immer für einen kleinen Spaß zu haben. Charlotta mochte ihn sehr, er war so ganz anders als ihr eigener Vater.

Der war eher einer von der harten Sorte, größere Gefühlsregungen waren bei ihm nicht an der Tagesordnung. Er behandelte seine Frau und seine Tochter wie seine Leibeigenen. Charlotta hatte also auch während ihrer Ehe jahrelang das Gefühl gehabt, es sei völlig normal, so herablassend und mitunter respektlos behandelt zu werden. Einzig ihre Freundin Bibi hatte irgendwann einmal zu ihr gemeint: „Mensch Charlie, das kann doch nicht dein Ernst sein, dass der dich so behandelt. Warum lässt du dir das gefallen, in aller Hergotts Namen?“ Charlotta und Jürgen waren damals noch kein Jahr verheiratet gewesen und Jürgen hatte in der Zeit einige unangenehme Eigenschaften entwickelt. So ließ er seine Frau beispielsweise abends nicht mehr alleine weg. Oder er verbot ihr, mit ihren alten Freunden Kontakt zu halten. Außerdem sah er es nicht gerne, wenn Charlotta Besuch bekam, während er zuhause war. Er fühlte sich dann vernachlässigt und stänkerte die ganze Zeit unablässig. Irgendwann blieben die Freunde weg, keiner wollte sich mehr den Launen dieses Egozentrikers aussetzen.

Einzig Gabriele war geblieben. Sie hatte sich von Beginn an widersetzt und ließ sich von Jürgen nicht den Kontakt zu ihrer langjährigen Freundin verbieten. Charlotta und Gabriele kannten sich schon fast von Kindesbeinen an, sie waren zusammen in der Schule, wohnten damals in der gleichen Straße und hatten schon so manches großes, kleines, lustiges und manchmal auch gefährliches Abenteuer miteinander erlebt. Das Abenteuer „Ehe“ hatte sich Gabriele allerdings erspart. Sie war ein Freigeist, wollte sich an nichts und niemanden binden und schon gar nicht so enden wie ihre Freundin. Sie besaß eine Agentur für Modedesign am „Gallus“, DEM Künstlerviertel der Stadt Frankfurt. Mit ihren 48 Jahren sah sie verdammt gut aus. Sie war sehr gepflegt, immer top gestylt und kannte einige der einflussreichsten Geschäftsleute in Frankfurt. Hie und da hatte sie natürlich auch einen Liebhaber, aber das war meistens nie von langer Dauer. Die längste Beziehung, die sie bisher gehabt hatte, hatte drei Jahre gehalten. Als ihr damaliger Freund dann aber mit einem Ring um die Ecke kam suchte sie fluchtartig das Weite und schwor sich, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Wenn sie merkte, dass es ernster zu werden drohte, schob sie dem Ganzen einen Riegel vor und machte sich schleunigst aus dem Staub. Charlotta beneidete ihre Freundin zutiefst um deren Freiheiten und den lockeren und ungebundenen Lebensstil, wollte das ihr gegenüber aber nie wirklich zugegeben. Bibi merkte natürlich sehr wohl, dass Charlotta oftmals todunglücklich zu sein schien, hielt sich dann aber irgendwann damit zurück, ihr gute Tipps zum Thema „Scheidung“ geben zu wollen. Charlotta wusste, dass ihr ihre Eltern niemals verzeihen würden, wenn sie Jürgen verlassen würde. Und einige Jahre später, als ihre Eltern beide schon gestorben waren, war es dann irgendwie zu spät, um nochmal ganz von vorne zu beginnen. Also schluckte sie so vieles herunter, ließ sich weiterhin rumkommandieren, anschnauzen und mies behandeln. Nachts, wenn sie dann mit offenen Augen im Bett lag, träumte sie sich an die Ostsee. Nach Rügen, beziehungsweise nach Binz. Dorthin wollte sie schon immer mal. Aber ihre bisherigen Urlaube hatten sie entweder im Schwarzwald oder auf Mallorca verbracht. Jürgen fand den Ballermann als Urlaubsort perfekt. Saufen, gröhlen, halbnackte Weiber begaffen und sogar antatschen und sich dann am nächsten Tag, noch vom Restalkohol benebelt, den Bierbauch in der Sonne verbrennen lassen. Charlottas Bitte, sich doch vielleicht auch mal das Landesinnere anzusehen, wurde mit einer abwertenden Handbewegung vom Tisch gewischt. „Lass mich mit so einem Schwachsinn in Frieden. Was willst du denn da? Irgendwelchen Inseltypen schöne Augen machen oder was? Kommt gar nicht in die Tüte. Und zieh dir mal was Anständiges an!“

In diesen Sätzen waren zwei der ganz großen Grundprobleme ihres Mannes verborgen: Er war unglaublich eifersüchtig und mochte es überhaupt nicht, wenn sie sich schick anzog. Also gab Charlotta es irgendwann auf, durch die Innenstadt Frankfurts zu bummeln, um sich vielleicht mal ein neues Kleid oder eine hübsche Bluse zu gönnen. Geschweige denn neue Schuhe. Sie erinnerte sich daran, dass sie vor Jahren einmal mit einem wunderschönen roten Kleid und ein paar Pumps nach Hause gekommen war. Bibi hatte ihr das Kleid aus einer alten Kollektion geschenkt, und Charlotta hatte sich in einem Anflug von Übermut die passenden Schuhe dazu gekauft. Als sie Jürgen voller Stolz das neue Outfit präsentierte sah er sie so dermaßen abwertend an, das Charlotta unwillkürlich schauderte. „Und wohin möchte Madame so gehen? Etwa vor die Tür? Das glaubst du ja wohl selbst nicht! Du siehst aus wie eine billige Nutte. Zieh den Fetzen aus, und pack ihn am besten sofort in den Altkleider-Container. Und warum wirfst du eigentlich mein hart verdientes Geld für so einen Schwachsinn aus dem Fenster? Ich brauche einen neuen Rasenmäher, der wäre ja wohl wichtiger gewesen als dieses hässliche Outfit.“ Charlotta zog den Kopf ein und schlug die Augen nieder. Leise antwortete sie: „Das Kleid habe ich von Bibi, das hat mich nichts gekostet. Und die Schuhe waren im Ausverkauf. Ich habe also nicht viel mehr ausgegeben, als du für eine deiner sinnlosen Fußballwetten. Wahrscheinlich sogar weniger.“ Jürgen schnaubte verächtlich: „Laber doch keinen Mist. Und außerdem geht es dich einen Scheißdreck an, was ich mit meinem Geld mache. Sieh du lieber zu, dass du jetzt in die Küche kommst, ich habe Hunger.“ Er schnappte sich eine Flasche Bier aus dem Kasten, der in der Küche stand, öffnete sie, nahm einen tiefen Schluck, rülpste laut und meinte auf dem Weg zu seinem Sessel im Wohnzimmer: „Die Schuhe bringst du morgen wieder zurück, sonst ziehe ich sie dir von deinem nächsten Haushaltsgeld ab.“ Geld war sowieso immer ein größeres Thema im Hause Friedrichs. Charlotta war eigentlich gelernte Einzelhandelskauffrau und hatte als solche lange in einem kleinen Supermarkt im Frankfurter Stadtteil Oberrad gearbeitet, wo sie später auch mit Jürgen wohnte. Als sie einmal von einer Betriebsfeier leicht angetrunken, und sehr lustig von einem Arbeitskollegen heimgebracht worden war, und Jürgen das beobachtet hatte, legte er ihr am nächsten Tag sehr eindringlich nahe, sofort und fristlos zu kündigen. Seitdem hatte er sie auch nie wieder arbeiten gehen lassen. Er verdiente das Geld, Charlotta wurde von dem Moment an zum Heimchen am Herd degradiert. „Sieh du einfach zu, dass immer genügend Bier da ist und das Essen auf dem Tisch steht. Für alles andere bist du ja nicht wirklich zu gebrauchen.“

Charlotta hatte die Story damals Bibi erzählt und die wäre beinahe explodiert.

„Meine Güte Charlie, BITTE! Verlass dieses Arschloch doch endlich. Du bist so eine tolle Frau, du könntest an jedem Finger zehn haben. Wenn der so weitermacht könnte es sein, dass ich mich demnächst mal vergesse!“ Charlotta hatte nur resigniert mit dem Kopf geschüttelt. Sie wusste, dass es aus dieser Ehe kein wirkliches Entrinnen gab. Nach dieser Aktion mit dem Kleid hätte Jürgen ihr natürlich auch nur zu gerne den Kontakt mit Gabriele verboten. Aber die ließ sich es genauso natürlich nicht nehmen, Charlotta zu besuchen, wann immer sich ihr die Möglichkeit bot.

Jürgen ging also unter der Woche arbeiten und an den Wochenenden fuhren sie entweder zu seinen Eltern, die sich inzwischen beide in einem Pflegeheim befanden, arbeiteten im Garten oder im und am Haus.

Ausflüge, wie sie sie beide noch ganz zu Anfang ihrer Ehe gemacht hatten, fanden schon eine Ewigkeit nicht mehr statt. Wie gerne wäre Charlotta einfach mal spazieren oder bummeln gegangen, irgendwo Kaffee trinken oder ein Eis essen, oder mal schön essen gegangen. Für Jürgen war das alles Humbug. Wenn er abends mit seinem Bier am Fernseher sitzen konnte und die Luft mit seinen Zigaretten vollqualmte war er mehr als zufrieden.

Sie hatten das kleine Häuschen nach dem Tod von Jürgens Eltern von den beiden geerbt. Es stand am Stadtrand von Frankfurt, im Stadtteil Oberrad. Charlotta fühlte sich hier eigentlich rundherum wohl. Dieser Stadtteil war perfekt für junge Familien. Viel Grün, ländlicher Charakter, der Ortskern bestand aus kleinstädtischen Wohn- und Geschäftshäusern. In knapp zehn Minuten war man mit der Straßenbahn im Zentrum Frankfurts, aber auch in Oberrad selbst befanden sich eine Vielzahl kleinerer Geschäfte, wo man sich bequem mit dem Nötigsten versorgen konnte. Im engeren Ortsbereich gab es einige kleine Gaststätten, die im Sommer zum draußen Verweilen einluden. Man konnte wunderbar am Mainufer entlang flanieren und sogar mit dem Rad am Main entlang bis in die Frankfurter City gelangen. Wie gerne hätte Charlotta da in den ersten Jahren ihrer Ehe einen Kinderwagen entlang geschoben. Aber offenbar hatten Kinder nie einen wirklichen Platz in Jürgens Lebensplanung. Als sie ungefähr ein Jahr verheiratet gewesen waren und gerade eine leidenschaftliche Nacht hinter sich hatten meinte Charlotta am nächsten Morgen am Frühstückstisch: „Wäre es nicht schön, wenn aus dieser Nacht jetzt ein Baby entstanden wäre?“ Jürgen sah sie fast schon entgeistert an. „Bist du des Wahnsinns fette Beute? Ich will doch nicht so einen kleinen Schreihals hier im Haus haben. Ich seh schon kommen, dass du dann überhaupt keine Zeit mehr für mich hast, weil du dich dann nur noch um dieses kleine, kackende Bündel kümmern wirst. Nein meine Liebe, soweit wird es nicht kommen. Du wirst in Zukunft die Pille nehmen, haben wir uns verstanden? Und dann will ich von dem Gequatsche über Kinder nichts mehr hören!“

Charlotta war wie vor den Kopf geschlagen. Eigentlich hatte sie sich immer Kinder gewünscht, schon als sie noch ein Teenager war. Aber sie wusste, dass sie sich dem „Befehl“ ihres Mannes jetzt zu beugen hatte. Sie weinte sich nächtelang in den Schlaf, war verzweifelt und wollte es wochenlang nicht wirklich wahrhaben. Irgendwann stand sie leichenblass bei Bibi im Atelier und heulte hemmungslos. „Er will keine Kinder, nie!“

Gabriele war entsetzt über diesen unerwarteten Gefühlsausbruch. Immerhin hatten sie sich einige Minuten zuvor noch über ihre neueste Kollektion unterhalten, auch wenn Bibi die ganze Zeit schon das Gefühl gehabt hatte, dass Charlotta nicht wirklich bei der Sache zu scheinen schien. Sie eilte um ihren Schneidetisch herum und nahm ihre Freundin fest in die Arme. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Mein Schätzchen, ich weiß ja echt bald nicht mehr, was ich dazu noch sagen soll. Nur soviel: Ich habe selten so ein Riesen-Idioten kennengelernt, wie deinen Mann!“ Charlotta machte sich frei und wischte sich über die Augen. „Ach, so schlimm ist er ja eigentlich gar nicht“ meinte sie nuschelnd.

„Ach nein?? Dann sag mir auf Anhieb EINE wirklich gute Eigenart von ihm.“ Gabriele verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte wütend durch die Nase. Charlotta fing an zu überlegen. Gabriele rollte die Augen nach oben. „Brauchst dir nicht dein Hirn zu verrenken, dir wird ja doch nichts einfallen. Ich hoffe nur für dich, dass du irgendwann mal aufwachst meine liebe Charlie.“

Auf dem Heimweg ließ sich Charlotta nochmal Bibis Worte durch den Kopf gehen. Was für gute Eigenschaften hatte ihr Mann denn tatsächlich? Sie überlegte angestrengt. Ganz zu Anfang war er noch einigermaßen liebevoll, dass allerdings hatte er mittlerweile komplett abgelegt. Unterstützung fand sie in ihm auch nicht wirklich, egal bei was. Selbst bei so banalen Dingen wie die Geschirrspülmaschine ausräumen oder mal den Müll rausbringen entbrannte fast jedes Mal ein heftiger Streit, bei dem Charlotta meistens schon nach ein paar Minuten resigniert nachgab. Irgendwann hatte sie es dann aufgegeben und erledigte den Haushalt eben allein. Aber auch bei solchen Dingen wie die Wahl der Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke für ihre Familien, Diskussionen mit Versicherungsvertretern oder Autowerkstätten konnte sie nicht auf seine Hilfe hoffen. Als ihre Oma vor zehn Jahren verstarb, suchte sie Trost in seinen Armen. Er stieß sie weg mit den Worten: „Ich verstehe überhaupt nicht, warum du da jetzt noch flennst. Die war doch eh schon alt.“

Und damit war das Thema für ihn erledigt. Nein, also emphatisch war er schon mal nicht. Humorvoll? Charlotta dachte nach. Er hatte den Humor eines klischeebehaftenden Handwerkers, derb, frivol und meistens frauenverachtend. Zärtlich? Sie hatten zwar noch Sex, aber oft nahm er sich einfach das, was er wollte. Ein Vorspiel gab es schon lange nicht mehr, Küsse fanden nur zwischen Tür und Angel statt. Charlotta wünschte sich schon so lange etwas mehr Sinnlichkeit, mehr Erotik und nicht einfach nur immer dieses stupide „Rein-Raus“. Aber oft genug hatte er nur dann Lust auf sie, wenn er wieder mal stockbesoffen vom Fernseher nachts ins Bett kam, und sich dann einfach bediente wie an einem „All you can eat“ - Buffet. Sie hatten zwei Fernseher, und wenn Jürgen im Wohnzimmer seinen Fussball schaute oder sich irgendwelche Dokumentationen über Autos ansah zog sie sich ins Schlafzimmer zurück, um in aller Ruhe ihrer Vorliebe für Romanverfilmungen zu frönen. Wenn sich der Held im Film in Zeitlupe über seine traumschöne Auserwählte beugte, ihr tief in die Augen sah und sie dann zärtlich und fordernd küsste, seufzte Charlotta vorm Fernseher ganz tief und träumte sich an die Stelle der Hauptdarstellerin. Sie wusste, so etwas würde ihr niemals mehr in ihrem Leben passieren. Wenn sie morgens nach der Dusche in den Spiegel schaute, sah ihr eigentlich eine wirklich attraktive Frau entgegen. Sie hatte sich eine gute Figur beibehalten, an der sogar Jürgen nichts auszusetzen hatte. Ihre Augen waren groß und tief braun, ihre langen Haare waren dunkelbraun, nur an vereinzelten Stellen hatte sie schon die ein oder andere graue Strähne. Einzig ihr Mund, der früher immer so gerne gelacht hat, hatte über die Jahre einen harten Zug bekommen, die Mundwinkel hingen leicht herab. Fast so, als hätten sie keine Kraft mehr, sich in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Manchmal versuchte Charlotta, ihrem Spiegelbild zuzulächeln, merkte aber schnell, dass ihr Grinsen zu einer Maske wurde und es sie schon nach ein paar Sekunden anstrengte. Sie war es schlicht und einfach nicht mehr gewohnt, zu lachen. Sie musste selbst zugeben, dass sie mit gerade einmal 45 Jahren die verhärmten Gesichtszüge einer alten Frau besaß.

Jürgen sah mit seinen 54 Jahren schon lange aus wie ein alter Mann. Er hatte kaum noch Haare auf dem Kopf, durch seinen zügellosen Bierkonsum hatte er eine richtige Plauze angesetzt und seine Augenringe reichten fast schon bis auf die Oberschenkel. Er hatte einen unglaublich ausgeprägten Stiernacken und sein ewiger Drei-Tage Bart wirkte gräulich und ungepflegt. Alles in allem war er schon längere Zeit ziemlich weit weg von Charlottas Idealbild eines Traummannes. Und die Tatsache, dass er Zuhause fast nur noch in seiner speckigen Jogginghose und einem Unterhemd herumlief, machte ihn in Charlottas Augen auch nicht wirklich zum „Sexiest Man Alive“. Aber sie hatte sich damit abgefunden, so wie mit allem in ihrer ziemlich trostlosen Ehe. Sie träumte sich in jeder freien Minute weg von all dem hier und in die Arme eines zärtlichen Mannes, der in ihren Träumen aber so gut wie nie ein Gesicht hatte. Und sie steckte viel Energie in ihr kleines Häuschen. Es hatte gerade mal 100 Quadratmeter, verteilt auf drei Stockwerke. Wenn man zu der Haustür hereinkam stand man in einem kleinen, sehr hellen Flur mit einem alten Bauernschrank, der Charlottas und Jürgens Jacken beherbergte. Die erste Tür gleich links führte zur Gästetoilette, wenn man weiterging stand man in der offenen Küche mit angrenzendem Wohn-und Essbereich. Charlotta hatte die Räume alle in Eigenleistung tapeziert und gestrichen, komischerweise hatte Jürgen ihr dabei damals völlig freie Hand gelassen. Die Räume waren durch seine Eltern damals alle sehr altmodisch eingerichtet gewesen und ziemlich heruntergewohnt. Und als sie das Haus dann vor gut 19 Jahren, nach dem Tod beider Elternteile kurz nacheinander, übernahmen, war es mehr als renovierungsbedürftig. Charlotta hatte Spass daran gehabt, den kleinen Räumen neues Leben einzuhauchen. Sie malte schon immer sehr gerne und hatte ein wirklich gutes Gespür für Farben und Dekoration. Jürgen ließ sie gewähren und meinte zwischendurch nur immer mal:

„Solange du mir nicht Unsummen für den ganzen Kram rauswirfst, kannst du machen, was du willst. Aber der Keller und das Gartenhäuschen wird meins, davon lässt du die Finger, dass wir uns da verstehen.“ Charlotta war der Keller sowieso ziemlich egal, sie hatte sich ein kleines Räumchen unterm Dach auserkoren. Es hatte zwei kleinere Dachfenster und war somit hell genug, um dort ihre Staffelei aufzustellen. Hier hin konnte sie sich zurückziehen, wenn Jürgen mal wieder zu viel Bier getankt hatte und danach versuchte, ihr das Leben schwer zu machen. Meistens suchte er dann Streit, fing an, grundlos über Belangloses zu diskutieren und warf ihr schlussendlich immer vor, nahezu unfähig zu allem zu sein. Charlotta kannte diese Stimmungsschwankungen zur Genüge. Am Anfang hatte sie sich noch gewehrt, Widerworte gegeben und sich verteidigt. Irgendwann aber hatte sie kapiert, dass das alles wenig Sinn hatte und ab da einfach den Mund gehalten, wenn sie merkte, dass Jürgen mal wieder in absolut schlechter Stimmung war.

Im oberen Stock befand sich ein lichtdurchflutetes Bad mit einer freistehenden Wanne und einer Dusche, gleich daneben war ihr Schlafzimmer. Die Möbel im ganzen Haus waren eher schlicht, massiv und dienten ihrem Zweck. Charlotta wünschte sich schon ewig ein Boxspringbett mit einem ganz edlen, grau-bordeauxfarbenem Rückenteil. Sie hatte es beim Einkaufen zufällig im Schaufenster eines großen Möbelhauses in Frankfurt gesehen und sich sofort verliebt. Ganz aufgeregt hatte sie Jürgen abends im Bett davon erzählt. „Und? Was kostet der Spass?“ Charlotta wusste, dass das seine erste Frage sein würde und wusste eigentlich auch schon die Antwort. Als sie leise „3800,-Euro“ nuschelte verdrehte Jürgen die Augen und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Ich sag's ja, du hast echt nicht alle Latten am Zaun. Ich bezahle doch nicht so einen Haufen Geld für so ´ne moderne Furzmulde. Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen, unser Bett tut´s ja wohl noch ne ganze Weile. Ich kann dir gerne mal zeigen, was das noch so alles aushält…“ Mit diesen Worten fing er an, an ihr herum zu fummeln. Sein bierschwerer Atem flog ihr dabei entgegen und sie schloss die Augen, um es schnellstmöglich hinter sich zu bringen.

Der Garten war ihr ganzer Stolz. Sobald der letzte Schnee geschmolzen war und die Frühjahrssonne anfing, kräftigere Strahlen zur Erde zu schicken, war sie dort am werkeln. Sie setzte Blumenzwiebeln, bepflanzte ihr kleines Gewächshaus, mähte den Rasen und holte die Gartenmöbel und die Hollywoodschaukel aus dem Winterschlaf. Sie liebte es im Sommer bis spätabends dort zu sitzen, den Grillen zuzuhören, den Sommerduft zu genießen und die Sterne zu beobachten. Manchmal saß Jürgen mit ihr draußen. Sie bei einem Glas Wein, er bei seinem obligatorischen Bier und dann kam es vor, dass sie sich ganz kurz fühlte wie zu Beginn ihrer Ehe. Ein Zustand, der leider meistens nicht lange anhielt.

Wann immer sie Zeit fand, zog sie sich in ihr kleines Atelier unterm Dach zurück. Hier war sie in ihrer eigenen Welt. Hier konnte sie mit Farbe und Pinsel Dinge erschaffen, von denen sie insgeheim träumte. Sie malte blühende Felder voller Sonnenblumen, Sonnenuntergänge und Gärten mit schönster Blumenpracht. Aber am liebsten malte sie das Meer. Stürmisch, wild und ungezähmt. Auf ihren Bildern ahnte man die Sehnsucht nach Freiheit, man bekam das Gefühl, das Meer fast rauschen zu hören und riechen zu können. Manchmal malte sie ganz im Hintergrund einen kleinen Kutter, den die Möwen umkreisten, in der Hoffnung auf Futter. Wie gerne würde sie das alles einmal live erleben dürfen… Ihre Freundin Gabriele war ganz verliebt in ihre Bilder und hatte ihr schon das ein oder andere für kleines Geld abgekauft, um damit ihr Atelier zu verschönern.

„Ich muss morgen nach Mühlheim auf eine Baustelle, da kann's spät werden. Mach mir mal mindestens vier Brote und dann kannst du mir noch von der Wurst vom Metzger Knapp einpacken. Und noch ne zusätzliche Kanne Kaffee.“ Jürgen gähnte, es war mittlerweile schon fast halb zwölf abends. Charlotta richtete ihm seit Jahren morgens das Frühstück zum mitnehmen auf seine Baustellen. Sie nickte. „Bier auch, oder hast du noch im Auto?“

Sie wusste, dass er nach Feierabend mit seinen Kollegen gerne mal ein Bierchen zischte. Und wunderte sich jedesmal, dass er auf dem Nachhauseweg noch nie von der Polizei angehalten worden war. Bei der Menge, die er noch auf der Baustelle konsumierte, wäre er für Monate seinen Lappen los gewesen. Aber da waren sämtliche Argumente so gut angebracht, als wenn man sprichwörtlich einem Ochsen ins Horn petzte.

„Nein, ich hab noch einen Kasten von Ralle, der reicht für morgen. Aber fürs Wochenende brauchen wir dann wieder, die Jungs kommen zum Fußball schauen. Sieh also zu, dass mindestens drei Kästen da sind. Und mach von deinen Buletten und dem Kartoffelsalat, das kommt immer gut an. Ich geh schlafen, kommst du mit oder bleibst du noch hier sitzen?“ Jürgen erhob sich und schlurfte Richtung Treppe, während der sich gähnend die rechte Arschbacke kratzte. Charlotta sah ihm leise kopfschüttelnd hinterher. „Ich komm gleich, ich will noch einen Moment frische Luft schnappen.“ Sie öffnete die Tür zum Garten und trat hinaus. Es war eine laue Juli-Nacht. Irgendwo her wehte ein schwacher Duft von Gegrilltem, sie hörte Menschen lachen und sah die Sterne über sich glitzern.

Und wünschte sich wieder einmal ganz weit weg, an ihr geliebtes Meer…

„Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst mir die restliche Wurst vom Knapp noch mit einpacken??“ Jürgen grollte durchs Telefon. Seine Stimme überschlug sich fast vor Ärger und Zorn. Charlotta war im Getränkemarkt und wuchtete gerade den dritten Bierkasten auf den Wagen. Sie stellte ihn ab und atmete tief ein. Mist, das hatte sie heute morgen tatsächlich völlig vergessen. Zerknirscht antwortete sie: „Oh, das tut mir echt leid, das ist mir vor lauter Buletten und Kartoffelsalat völlig aus dem Kopf gekommen.“ Sie bekam Herzklopfen, weil sie wusste, dass das wieder tagelangen Ärger bedeuten würde. Jürgen liebte es, auf ihren kleinen Fehlern herumzuhacken und konnte sich darüber ewig und drei Tage lang aufregen. „Das war ja wieder mal klar. Die Madame hat ihren Kopf auch echt nur für die Frisur. Zu mehr ist der ja wohl nicht zu gebrauchen. Hast du wenigstens an das Bier gedacht?“ Er zeterte immer noch wie ein altes Waschweib. Charlotta hasste es, wenn er so respektlos mit ihr umging.

„Ja, ich muss nur noch zur Kasse. Ich hoffe, dass ich die Kästen alle in „Anton“ reinbringe.“

„Anton“ war ihr alter VW Käfer. Er war weiß, Baujahr 1961 und neigte an einigen Stellen zum Lochfrass. Aber er begleitete sie nun schon, seit sie 19 Jahre alt war, auf ihn war immer Verlass (ganz im Gegensatz zu Jürgen). Der fand es absolut lächerlich, einem Auto einen Namen zu geben und nannte ihn deshalb immer völlig verächtlich „Schrottkarre“, wenn er über Charlottas heiß geliebten Käfer redete. Dieses Stück Blech war für sie ein klitzekleines Stück Freiheit. Wenn sie im Auto saß und Richtung Frankfurter Innenstadt fuhr malte sie sich oft aus, dass sie einfach weiterfahren und auf die Autobahn abbiegen würde. Und von dort aus dann immer Richtung Norden. Sie kurbelte die Fenster weit herunter, ließ ihre braunen Haare im Wind fliegen, drehte die Musik ganz laut fühlte sich für einen Moment lang ganz frei.

Wieder Zuhause angekommen wuchtete sie die drei Bierkästen in den Keller und räumte die Waschmaschine aus. Das Wetter war herrlich, wenn sie die Wäsche jetzt noch in den Garten hängen konnte würde sie bis heute Abend trocken werden. Jürgen würde heute wahrscheinlich erst später nach Hause kommen, er wollte nach dem Arbeiten noch bei einem seiner Freunde vorbei. Charlotta mochte Jürgens Freunde alle nicht, sie waren ihm zu ähnlich. Derbe, grobschlächtige Männer, die allesamt keinen Respekt vor Frauen hatten. Aber sie war froh um jede ruhige Minute, die sie alleine Zuhause hatte. Gegen vier Uhr nachmittags machte sie sich einen Kaffee, setzte sich einen Moment in die Hollywoodschaukel und ließ die Beine baumeln. Draußen fuhr ein Auto vor. Sie hörte zwar, dass es in der Nähe ihres Hauses parkte, dachte sich aber nichts dabei. Sie bekam so gut wie nie Besuch, ging also gar nicht erst davon aus, dass derjenige zu ihr wollte.

Umso erstaunter war sie, als es kurze Zeit später bei ihr an der Haustür klingelte. Sie ging zurück in den Flur, und spähte durch das kleine Fenster neben der Haustür. Dort stand eine etwas ältere Frau, und eine Frau und ein Mann in Polizeiuniform. Verwirrt öffnete Charlotta die Tür. „Ja bitte?“ Die ältere Dame fragte: „Sind sie Frau Friedrichs?“ Charlotta nickte. „Mein Name ist Doris Wedemayer. Dürfen wir kurz reinkommen?“ Alle drei sahen sie sanft, fast mitleidig an. Charlotta wurde von Sekunde zu Sekunde unsicherer. Sie ließ die drei Herrschaften ins Haus und schloss die Haustür. Dann ging sie voraus ins Esszimmer und bot Platz und etwas zu trinken an. Nachdem alle verneint hatten bat Frau Wedemayer sie darum, sich zu ihnen zu setzen. „Frau Friedrichs, heißt ihr Mann Jürgen mit Vornamen und ist am 23. Juli 1968 geboren?“ Charlotta nickte, sie wusste nicht wirklich, was sie sagen sollte. Frau Wedemayer holte tief Luft und sagte dann ohne größere Umschweife: „Frau Friedrichs, es tut mir leid, aber ihr Mann hatte auf seiner letzten Baustelle offenbar einen Herzinfarkt und hat es leider, trotz mehrmaliger Reanimations-Versuche nicht geschafft. Mein aufrichtiges Beileid.“ Charlotta hatte zwar sehr gut verstanden, was diese Frau gerade zu ihr gesagt hatte, aber sie lachte nur. „Ach, da müssen Sie sich täuschen. Mein Mann wollte nach dem Arbeiten noch zu seinen Freunden, davon lässt er sich normalerweise nicht abhalten.“ Sie schaute Frau Wedemayer sanft an. „Er wird heute also später nach Hause kommen als gewöhnlich, wenn Sie möchten können wir hier gerne alle auf ihn warten. Ich mache uns mal einen Kaffee.“ Charlotta stand auf und wollte schon ganz geschäftig in die Küche marschieren. Die Polizistin stand ebenfalls auf, nahm sie am Ärmel und sah zu Frau Wedemayer hin. Die schüttelte den Kopf. Die junge Polizistin nahm ihre Hand wieder weg, blieb aber neben Charlotta stehen.

„Frau Friedrichs, setzen Sie sich bitte wieder zu uns. Ich kann ja verstehen, dass das für Sie jetzt gerade ein Schock sein muss. Ich bin staatlich anerkannte Seelsorgerin und möchte Ihnen gerne helfen und Sie unterstützen.“ Doris Wedemayer klopfte auf den Stuhl neben sich, als wolle sie ein Kind dazu bewegen, sich neben sie zu setzen. Charlotte ging wie in Trance auf den Stuhl zu und ließ sich fallen. Ihr Blick war teilnahmslos und die Seelsorgerin befürchtete schon das Schlimmste. Sie kannte solche Situationen nur zur Genüge. Im ersten Moment verfielen die Angehörigen in eine Art Schockstarre und im nächsten Moment rasteten sie völlig aus. Sie hatte deshalb immer zwei Polizeibeamte bei sich und einen Arzt auf Abruf. Diese Frau hier schien aber nun, bei näherem Hinsehen, seltsamerweise äußerst gefasst zu sein. Ihr Blick wurde mit einem Mal fest und sie hatte nun offenbar doch ziemlich schnell verstanden, warum diese Leute alle in ihrem Haus waren. Vorsichtig fragte Frau Wedemayer sie: „Können wir irgend etwas für Sie tun Frau Friedrichs? Sollen wir noch jemanden verständigen, haben Sie Kinder?“

Charlotta schüttelte den Kopf. „Oder gibt es sonst noch Angehörige, die Bescheid wissen sollten? Wir unterstützen Sie da sehr gerne.“ Abermals ein Kopfschütteln. Dann formulierte Charlotta den ersten vernünftigen Satz, seit diese drei Menschen bei ihr an der Haustür geklingelt hatten.

„Das ist sehr nett von Ihnen, aber wir haben beide keine Angehörigen mehr. Und Kinder haben wir auch nicht. Ich habe noch eine sehr gute Freundin, die werde ich nachher aber selbst verständigen. Wie geht es denn jetzt weiter?“ Sie blickte mit wachen Augen in die Runde. Frau Wedemayer war zunächst etwas argwöhnisch, antwortete dann aber freundlich: „Ihr Mann kommt wahrscheinlich gerade in die Gerichtsmedizin, es muss natürlich ausgeschlossen werden, dass nicht irgendetwas Anderes Ursache für sein plötzliches Ableben war. Hatte Ihr Mann denn Herzprobleme?“ Charlotta dachte nach. „Nicht, dass ich wüsste. Aber er war sehr kräftig, hat viel geraucht und getrunken. Von einer gesunden Lebensweise konnte man bei ihm wirklich nicht sprechen. Und er hat sich sehr schnell über alles aufgeregt, sein Blutdruck war dementsprechend immer viel zu hoch. Sein Hausarzt hat ihn immer ermahnt, an seine Gesundheit zu denken. Er hat ihm sogar prophezeit, dass er irgendwann mal an einem Herzinfarkt sterben würde. Aber Jürgen hat das als Quacksalberei abgetan und ist danach auch nicht mehr wirklich oft zu ihm hin.“ Charlotta wirkte jetzt sehr klar und auch leicht abgebrüht, das fiel selbst ihr auf. Aber sie war gerade zu keiner echten Gefühlsregung in der Lage, etwas in ihr fühlte sich in diesem Augenblick sehr kalt und seltsam an. Die junge Polizistin sah sie sehr skeptisch an, Charlotta hatte sie im Augenwinkel beobachtet. „Die muss mich ja für einen furchtbar emotionslosen Mensch halten“ kam Charlotta in den Sinn. Da redete aber diese Frau Wedemayer schon wieder. „Naja, dann kann das Herz natürlich durchaus die Ursache gewesen sein. Ja, also wenn die Untersuchungen alle abgeschlossen sind dann wird Ihr Mann freigegeben und Sie können sich um die Beisetzung kümmern. Wenn Sie wollen stehe ich Ihnen da auch gerne mit Rat und Tat zur Seite.“ Charlotta holte tief Luft. Irgendwie ging ihr diese ganze fürsorgliche Masche gerade gewaltig auf die Nerven. Am liebsten wäre sie jetzt alleine gewesen und überlegte fieberhaft, wie sie das den Personen, die sie weiterhin so mitleidig ansahen, beibringen konnte. Dann entschied sie sich rigoros für die Wahrheit. „Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, aber ich wäre jetzt gerne alleine. Vielen lieben Dank für Ihre Bemühungen und Ihre Freundlichkeit. Aber ich muss das glaube ich erstmal für MICH verarbeiten.“ Sie stand auf. Frau Wedemayer und die beiden Polizeibeamten sprangen fast von ihren Stühlen.

„Natürlich Frau Friedrichs, selbstverständlich. Ich lasse Ihnen meine Karte da, Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Sie Hilfe brauchen oder Ihnen nach reden ist: Ich bin immer für Sie da.“ Charlotta nahm das Kärtchen und legte es auf den Tisch. Dann lief sie vor zur Haustür, öffnete sie und blieb im Türrahmen stehen. Sie hatte das Gefühl, als könne sie die drei jetzt nicht schnell genug aus dem Haus bekommen. Frau Wedemayer reichte ihr die Hand. „Auf Wiedersehen Frau Friedrichs, und nochmal mein herzlichstes Beileid.“ Dann ging sie zum Wagen. Die junge Polizistin und der Polizist nickten ihr zu und stiegen vorne ins Auto ein, während Doris Wedemayer hinten Platz nahm.

„Kann es sein, dass die das gar nicht so schlimm fand, dass ihr Mann tot ist?“ fragte die Polizistin, während sie sich anschnallte. Frau Wedemayer sah durch das Seitenfenster zur Haustür, die Charlotta gerade eilig hinter ihnen verschlossen hatte. „Doch, natürlich ist sie sehr traurig. Der wahre Schmerz kommt erst noch, wartet mal ab. So eine tapfere Frau.“ Schweigend fuhren die drei zurück zur Dienststelle, während Charlotta hinter der Haustür noch minutenlang auf dem Boden saß und Löcher in die Gegend starrte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit rappelte sie sich auf und schlurfte langsam zur Couch. Dort ließ sie sich erneut fallen wie ein nasser Sack, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und versuchte, dem Gedankenwirrwarr in ihrem Kopf Herr zu werden. „Jürgen ist tot!“ Diesen Satz murmelte sie nun mindesten zum zehnten Mal leise vor sich hin. Und merkte skurrilerweise, wie sich mit steigender Gewissheit auch noch ein anderes Gefühl in ihr breitmachte… Erleichterung!

Und dafür schämte sie sich gerade zutiefst. Sie konnte sich doch jetzt nicht über den Tod des Mannes freuen, der nun mehr als ihr halbes Leben lang an ihrer Seite war. Andererseits… er hatte sie so oft schon mies behandelt, sie gedemütigt und klein gehalten, dass Charlotta sich innerlich gerade wie befreit fühlte. Sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte, beziehungsweise musste. Sie setzte sich aufrecht hin und griff nach dem Telefonhörer.

„Hallo Bibi. Störe ich dich gerade bei etwas Wichtigem?“ Gabriele war verwirrt. Charlotta rief sie sonst nie um diese Uhrzeit an, weil Jürgen da meistens schon Feierabend hatte. Und der konnte es ja partout nicht leiden, wenn Charlotta dann auch noch ewig mit ihr oder anderen telefonierte. Früher hatten die beiden Frauen das ein paarmal versucht, aber nachdem Jürgen immer wieder dazwischen geraunzt hatte mit solchen Sätzen wie „wo ist mein Bier?“, „wann gibt’s endlich was zum Essen?“ oder „dauert euer Gequatsche noch lange?“ hatten sie es irgendwann aufgegeben. Umso mehr wunderte sich Gabriele jetzt. Auch über Charlottas seltsamen Unterton.

„Natürlich störst du mich nicht, Süße. Ist was passiert?“ Gabriele zupfte an dem Stoff, den sie gerade auf der Schneiderpuppe drapiert hatte. Charlotta druckste ein wenig herum, dann sagte sie: „Vielleicht solltest du dich besser mal hinsetzen. Ich muss dir etwas sagen.“ Jetzt wurde Gabriele doch neugierig und auch leicht nervös. Sie setzte sich auf die Schreibtischkante und lutschte an ihrem Bleistift. „Also dann, ich bin ganz Ohr. Willst du dich etwa endlich scheiden lassen?“ Bibi lachte heiser. „So ähnlich… Jürgen ist tot!“ Sekundenlang war es still in der Leitung. Dann schnappte Gabriele nach Luft. „Sag das bitte nochmal!!“ Jetzt musste Charlotta doch schmunzeln und rügte sich in Gedanken dafür sofort selbst. „Er hatte wohl einen Herzinfarkt auf der Baustelle. Die Polizei und eine Seelsorgerin waren gerade bei mir. Ich bin nun zugegebenermaßen etwas durcheinander und weiß nicht genau, was ich jetzt machen soll.“ Gabriele am anderen Ende der Leitung lachte laut auf. „Da fragst du noch? Stell den Sekt kalt, ich bin auf dem Weg!“

Mindestens zwanzig Leute standen betroffen rund um den Mann, der regungslos vor ihnen im Dreck auf der Erde lag. Sie murmelten leise miteinander. Otto, der langjährige Arbeitskollege und Freund von Jürgen schniefte leise vor sich hin. Jürgen bahnte sich einen Weg durch die Menge und drängelte sich nach vorne. „Was ist denn hier los? Habt ihr alle nix zu tun oder warum haltet ihr hier maulaffenfeil?“ moserte er einen der Passanten an. Der schien ihn allerdings völlig zu ignorieren, also sprach er seinen Kumpel an, der vorne in der ersten Reihe stand. „Sach ma, was issen das hier für ein Aufstand? Und wieso steht denn der Rest vom Trupp auch hier rum? Hat schon einer den Gong zum Mittagessen geläutet, oder was soll der Rabatz hier?“ Aber Otto schien ihn auch nicht zu hören, also wedelte Jürgen ihm kurzerhand mit der Hand vorm Gesicht herum. „He Trantüte, hast du heimlich was geraucht oder dir ein Bier zu viel genehmigt? Würdest du mir vielleicht mal antworten?“ Als der so Angesprochene aber immer noch nicht reagierte, drehte sich Jürgen achselzuckend herum, um sich selbst ein Bild von der Situation zu machen. Er betrachtete den Mann, der da vor ihm lag und erstarrte. Der sah ja aus wie sein Zwilling! Was war das denn für ein übler Scherz? Panisch drehte er sich zu den anderen um. Keiner von ihnen nahm Notiz von ihm. Dabei musste doch auch den anderen auffallen, dass das hier zwei fast identische Menschen waren. Ziemlich laut rief er in die umstehende Menge: „Weiß einer von euch, wer das da ist? Kennt den vielleicht einer?“ Wieder keine Antwort, nicht einmal eine Reaktion. Jürgen wurde es schön langsam zu bunt. „Habt ihr alle Tomaten auf den Ohren? Kann mir vielleicht mal einer antworten?“ Urplötzlich stand neben ihm ein jüngerer Mann, den er bis vor einer Sekunde nicht bemerkt hatte. Er trug einen sehr langen, beigefarbenen Umhang und hatte die Hände in den Taschen vergraben. Und er sprach ihn direkt an. „Würdest du jetzt mal aufhören, hier so sinnlos herum zu brüllen? Glaubst du denn wirklich, dass dich noch irgendjemand hören kann?“ Der Mann schaute leicht genervt, was wiederum Jürgen sofort auf 180 brachte.

„Was willst du denn, du Vogel? Aus welcher Einrichtung bist du denn abgehauen? Mach dich vom Acker, am besten dorthin, wo du gerade herkommst. Und hör auf mich von der Seite zuzulabern.“ Der Angesprochene rollte mit den Augen. „Mir wurde schon gesagt, dass du ein eher schwieriger Fall werden würdest. Es wäre mir aber recht, du würdest dich nicht so im Ton vergreifen, wenn ich bitten darf.“ Jürgen lachte höhnisch. „Ich bin also ein schwieriger Fall, ja? Wer behauptet denn sowas? Und vor allem: Was willst du denn eigentlich von mir, du Clown?“

Ohne eine Antwort abzuwarten drehte er sich wieder um und beobachtete nun, wie der Mann auf dem Boden mit einer Plane abgedeckt wurde. Er schüttelte den Kopf. „Arme Sau. Ja, so schnell kann es vorbei sein. Wenn ich nur wüsste, warum der mir so verdammt ähnlich sieht…“

Jetzt zupfte ihn die Gestalt neben ihm am Ärmel. Jürgen fuhr herum und blitzte ihn zornig an. „Aber schleunigst die Pfoten weg, sonst rauchts!“ Kam es ihm nur so vor, oder schimmerte der Mann plötzlich? Jürgen kniff die Augen zusammen und fasste sich an den Kopf. „Dieses Bier vom Heinz hat es echt in sich, ich habe offenbar schon Halluzinationen.“ Jetzt stemmte der Mann die Hände in die Hüften und schien schwer genervt zu sein. „So, Schluss jetzt mit den Spirenzien! Du kommst jetzt gefälligst mit, wir werden schließlich erwartet. Ich habe dir schon mehr Zeit gegeben, als es eigentlich angedacht war.“ Jürgen sah sich den Mann nun genauer an. Dessen Gesicht strahlte eine seltsame Wärme und Güte aus, gleichzeitig hatten seine Züge soviel Würde und Strenge, dass Jürgen unwillkürlich erschauderte. Lauernd fragte er: „Und wo genau gehen wir beide denn hin, he?“ Jetzt schien dem vor ihm stehenden die Hutschnur zu platzen. „Was ist denn das für eine Frage? In den Himmel natürlich, Gott unser Herr wartet schon sehnsüchtig auf unsere Rückkehr!“ Dabei faltete er andächtig die Hände.

Jürgen wurde zunächst kreidebleich und leicht panisch. Dann begann er, wie irre zu lachen.