Das Rätsel von Föhr 2 - Corinna Weber - E-Book

Das Rätsel von Föhr 2 E-Book

Corinna Weber

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Beschreibung

Ein erneuter Mord auf der, für ihn schönsten Insel der Welt erschüttert Kriminalhauptkommissar Knut Hansen in seinen Grundfesten. So grausam und dieses Mal offenbar perfide gut durchdacht. Wer hat die alte Tilda Svensson auf dem Gewissen? Und vor allem, warum? Ein Geheimnis, das niemals ans Licht kommen sollte und eine Geschichte, die Knut und seinen Kollegen und Freund Kilian Brandner an den Rand ihrer emotionalen Kräfte bringt. Mit Hilfe von viel Tee, Friesentorte und dem unwiderstehlichen Charme der Insel Föhr und seinen Bewohnern können sie aber schlussendlich ein sehr lange verborgenes Rätsel lösen. Und am Ende fehlt Knut nur noch ein einziges Wort zu seinem Glück Der neue Krimi der Überwälder Autorin geht unter die Haut. Mit ihrer gewohnt humorvollen Art und der richtigen Portion Küstenkind im Herzen sorgt sie wieder mal für richtig viel Spannung und mörderisch gute Unterhaltung. Und dieses Mal nimmt sie ihre Leserinnen und Leser sogar bildlich mit an die Orte des Verbrechens. Absolute Leseempfehlung!!!

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Seitenzahl: 180

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über die Autorin:

Corinna Weber wurde 1976 in Darmstadt geboren. Sie lebt mit ihrer Familie in dem beschaulichen Örtchen Wald-Michelbach im Odenwald. Mit einer 24jährigen und einer 12jährigen Tochter an der Hand, ihrer kleinen Krawalli fest im Herzen und seit 27 Jahren einem Mann an ihrer Seite, der fest zu ihr steht, hat sie bis jetzt alle Stürme des Lebens (fast) erfolgreich gemeistert.

Sämtliche Personen der Geschichte, sowie Handlungen oder Ähnlichkeiten, sind frei erfunden und daher rein zufällig.

Die Orte und Locations entsprechen der Realität

Neben der neu entstandenen Krimi-Reihe „Das Rätsel“ mit dem ersten Band „Das Rätsel von Föhr“ mit Kommissar Knut Hansen entstammen der Roman „Auf Umwegen zur Hölle - Trottel mit Flügeln sucht neuen Job“, die biografischen „MUDDI Zusammen schaffen wir alles“- Bücher sowie die Taschenbuch-Reihe „Ronjas Welt“ aus der Feder der Odenwälder Autorin.

Inhaltsverzeichnis:

Kaapitel 1: Die Orgel

Kapitel 2: Knut auf der Suche

Kapitel 3: Wer bist du?

Kapitel 4: Auf der Suche nach dem Anfang

Kapitel 5: Seltsame Funde

Kapitel 6: Puzzleteile

Kapitel 7: Die Welt ist ein Dorf

Kapitel 8: Schatten der Vergangenheit

Kapitel 9: Der Kreis der Verdächtigen

Kapitel 10: Wo ist der Rest?

Kapitel 11: Wer warst du?

Kapitel 12: alte Fragen, neue Erkenntnisse

Kapitel 13: Das, was war wird bleiben

Kapitel 14: Das letzte Puzzleteil

Kapitel 15: Sie hat „JA“ gesagt

Kapitel 1 - Die Orgel

G unnar Lüttersen sortierte seine Notenblätter und richtete sie auf dem hölzernen Notenhalter an der Kirchenorgel aus. Der neue Pfarrer wollte zu Beginn des Gottesdienstes „Herr deine Güte ist wie Gras und Ufer“ mit der Gemeinde singen. Für Gunnar überhaupt kein Problem. Er war seit über 25 Jahren Organist in der Kirche St. Laurentii in Süderende. Orgelspielen war, neben seinen drei Enkeln, die absolute Passion des 63jährigen. Außerdem werkelte er mit seiner Frau Marga gerne im Garten und liebte Sonntage, an denen die ganze Familie bei Kaffee und Kuchen unterm Kirschbaum im Grünen saß und die gemeinsame Zeit genoss. Er war ein liebevoller, sehr agiler und aufmerksamer Mann, der immer für andere da war, und der sich auch für nichts zu schade war. Kurz bevor er seine Finger auf das obere Manual legte zog er die Nase hoch und schnüffelte wie ein Hund, der die Witterung eines Wildtieres aufgenommen hatte.

„Irgendwie riecht es hier heute seltsam“ dachte er bei sich.

Er konnte den Geruch nicht zuordnen, deswegen versuchte er zunächst einfach, ihn zu ignorieren. In einer halben Stunde würde der Erntedank-Gottesdienst beginnen und er wollte vorher nochmal alle Lieder durchspielen, die heute gesungen werden sollten. Das machte er schon immer so, außerdem liebte er den Klang „seiner“ Orgel. Er schloss kurz die Augen, dann spielte er die ersten Akkorde. Beim dritten B-Akkord stutzte er. Wieso hörte sich das denn heute so seltsam an? An ihm lag es nicht, dessen war er sich ziemlich sicher. Er griff nochmal in die Tasten und legte dabei angestrengt den Kopf zur Seite, um mit dem Ohr näher an die Orgelpfeifen zu kommen. Da! Da war es wieder. Dieses komische Geräusch. So, als wäre eine der Pfeifen verstopft. Er stöhnte auf. Das hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt. Er konnte sich noch lebhaft daran erinnern, dass es damals eine tote Maus gewesen war, die eine der kleineren Orgelpfeifen völlig lahmgelegt hatte, weil sie ungünstiger Weise darin steckengeblieben und elendig verendet war. Gunnar hatte sie erst Tage später gefunden, weil es damals ganz erbärmlich gestunken hatte. Und wenn er jetzt genau darüber nachdachte, roch es hier gerade fast so ähnlich. Seufzend rutschte er von der Orgelbank und machte sich auf den Weg nach hinten, um sich das Problem genauer ansehen zu können. Auf der Rückseite der Orgel befand sich eine Tür, über die man Zugang zu den Orgelpfeifen hatte, um sie zu warten, zu pflegen und bei Bedarf auszutauschen. Gunnar öffnete sie und lugte vorsichtig hinein. Er konnte ja vieles ertragen, aber bei toten Tieren hörte der Spaß für ihn auf. Seine Frau neckte ihn immer liebevoll, dass sein Herz eigentlich viel zu weich wäre für diese raue und grausame Welt. Wenn sein Kater Mikesch eine tote Maus oder einen Vogel anschleppte hätte er am liebsten mit ihm geschimpft, weil dieser das arme Tier getötet hat. Aber ihm war natürlich klar, dass sich der Jagdtrieb seines Katers nicht einfach wegen seiner eigenen, großen Tierliebe abstellen ließ. Bei Tierdokumentationen im Fernsehen musste er sich regelmäßig die Augen zuhalten und bei „Dumbo“ oder „Bambi“ kamen ihm die Tränen. Aber er konnte ja schließlich nicht jedes Tier auf der Welt retten, auch wenn ihm das am liebsten gewesen wäre. Er machte sich mit Hilfe seines Lichtes am Handy auf die Suche nach dem vermeintlich toten Tier. Dank seiner Erfahrung und seines guten Gehörs hatte er schon am Klang gehört, um welche der zahlreichen Pfeifen es sich handeln könnte. Er leuchtete also zielgerecht die Reihe der kleineren Orgelpfeifen an, um den stinkenden Übeltäter ausfindig zu machen. Und tatsächlich. In einem der mittleren Register steckte etwas im Aufschnitt. So nannte man die Öffnung, über die der jeweilige Ton entweichen konnte. Vorsichtig griff er hinein. Offenbar war es dieses Mal etwas Größeres als eine Maus. Er hatte das Gefühl, einen dicken fetten Rattenschwanz in den Fingern zu haben. Ratten gehörten nicht wirklich zu seinen Lieblingstieren. Aber hier drin steckenbleiben konnte sie natürlich auch nicht. Kurz schüttelte es ihn, dann zog Gunnar beherzt an dem fleischigen Etwas und zerrte es durch die schmale Öffnung. Aber zu seinem völligen Erstaunen hing kein toter Rattenkörper daran, es schien einfach nur ein abgetrennter Teil von einem Rattenschwanz zu sein. Er runzelte die Stirn und leuchtete seinen Fund genauer an. Dann schrie er auf, ließ alles fallen, was er gerade noch in der Hand gehabt hatte, rannte zu der schmalen Tür hinaus und erbrach sich über die Reling der Empore.

St. Laurentii Orgel

Kapitel 2 - Knut auf der Suche

K nut gähnte und blinzelte von seinem Liegestuhl aus ins herbstliche Sonnenlicht. Bald würde er die Gartenmöbel zum Überwintern in den kleinen Schuppen bringen müssen. Aber noch sollte es, laut Wetterbericht, einige sonnige, wunderschöne Tage geben, die er nur zu gerne draußen im Freien genießen wollte. Anita trällerte in der Küche vor sich hin, während sie das Frühstück richtete. Er musste ein wenig grinsen. Seit seinem sehr spontanen Heiratsantrag vor fünf Monaten war ihre gute Laune manchmal kaum noch auszuhalten. Sie hatte in einem Affentempo alle in ihrem Dunstkreis darüber informiert, dass sie bald die Frau des hiesigen Inselpolizeichefs werden würde. Und natürlich gab es seit diesem Abend des Antrags so gut wie kein anderes Gesprächsthema mehr. Sie blätterte nahezu täglich durch Hochzeitsmagazine, machte sich Gedanken, wen sie alles einladen wollte und wo die Feierlichkeit stattfinden sollte. Und natürlich hatte sie ständig neue Vorschläge, was er an diesem besonderen Tag anziehen könnte. Knut ließ sie erstmal gewähren und hielt die Füße still, er würde sich zu gegebener Zeit mit in die Planung einmischen. Jetzt rief sie ihn:

„Bärchen, willst du noch einen Tee oder Kaffee?“

Knut überlegte weiterhin, ob der mit dem „neuen“ Kosenamen zurechtkäme. Immerhin war „Bärchen“ erheblich besser als ihr vorher ständig so schrill gerufenes „Puschiiii“. Überhaupt erschien sie ihm insgesamt ein wenig ruhiger und vor allem erheblich ausgeglichener, als noch vor einigen Monaten. Die Reise in den Schwarzwald hatte ihnen beiden und auch ihrer Beziehung zueinander offenbar überraschend gutgetan. So gut, dass Knut danach beschlossen hatte dann doch den Rest seines Erdendaseins mit genau dieser temperamentvollen Frau verbringen zu wollen. Als sie im April vom Schwarzwald wieder zurück auf ihrer so geliebten Heimatinsel Föhr waren setzte Anita den geschmiedeten Plan bezüglich ihres beruflichen Neuanfangs zügig in die Tat um, und erzählte den Besuchern des Friesenmuseums zweimal wöchentlich etwas über die schöne Föhrer Tracht. Sie hatte sich so sehr mit diesem Thema auseinandergesetzt, dass sie sich oft in bildreichen erzählerischen Details verlor. Sie kannte jede Falte und jeden Stoff, erklärte, wie das Schultertuch und die Haube zu binden waren, und gab den Gästen somit ein Stück Föhrer Tradition und Kultur mit auf den Weg. Ihr zweites Standbein hatte sie sich im Museumscafé der „Kaffeewerkstatt“ des „Carl-Häberlin“ Museums geschaffen. Dort durfte sie am Wochenende ihre selbstgebackenen Kuchen und Torten verkaufen. Und da ihre Backkünste inzwischen weithin bekannt waren kamen immer mehr Besucher, die ihre traumhaft leckeren Gebäcke probieren wollten. Sie ging völlig in ihrer Arbeit auf und strahlte seitdem eine tiefe innere Zufriedenheit aus. Und Knut musste zugeben, dass er mächtig stolz auf seine Zukünftige war. Er reckte und streckte sich und wollte sich gerade auf den Weg zu Anita in die Küche machen, als sein Handy klingelte. Es war sein Assistent Claas Brockmeyer. Knut war völlig irritiert. Heute war Sonntag, Erntedankfest um genauer zu sein. Es war schönstes September-Wetter, die Sonne beschien das goldene Herbstlaub um ihn herum und er hörte von der Nordsee her die Möwen schreien. Was also könnte an so einem herrlichen Herbsttag passiert sein, dass ihn Brockmeyer offenbar dringend sprechen musste? Ihm wurde gewahr, dass er die letzten Sekunden regungslos auf sein Handy gestarrt hatte. Schnell schob er den Klingelbutton nach rechts und meldete sich.

„Moin. Haben Sie sonntags eigentlich nichts Besseres zu tun? Was ist denn so wichtig, dass sie mir den heiligen Sonntag versauen? Ist jemand von der Promenade in den Sand gefallen, oder hat man Oma Hinrichs das Fahrrad unter dem Hintern weggeklaut?“

Er kicherte. Das war etwas, was Claas Brockmeyer von seinem Chef nicht kannte. Kichern. Diese Eigenart hatte er erst entwickelt, als er von seinem Schwarzwald-Urlaub wieder zurück auf Föhr war. Offenbar hatte Knut Hansen die Zeit dort mit seiner Freundin echt gutgetan, zumindest wirkte er seitdem nämlich erheblich entspannter und nicht mehr ganz so knurrig, wie noch die letzten Jahre. Trotzdem war Claas Brockmeyer gerade heute auf „hab Acht“-Stellung, was die gute Laune seines Chefs betraf. Er ahnte nämlich, dass diese gleich binnen weniger Sekunden in den Keller rauschen würde.

„Also Brocki, was liegt an? Sie werden ja wohl nicht schon wieder irgendwo eine Leiche gefunden haben, oder?“

Jetzt lachte Knut aus vollem Hals. Der letzte Leichenfund auf seiner schönen Insel war nämlich genaugenommen noch gar nicht so lange her und er war sich ziemlich sicher, dass hier in den nächsten Jahrzehnten nichts mehr derart Vergleichbares passieren würde. Claas druckste ein wenig herum.

„Also eine Leiche so DIREKT haben wir nicht gefunden, nein.“

Jetzt wurde Knut dann doch langsam ungeduldig. Er hatte Anita immer noch nicht gesagt, ob er lieber einen Tee oder einen Kaffee gewollt hätte, und die stand nun im Türrahmen und sah ihn fragend und abwartend an.

„Himmel verdüwwelt nomool, kommen Sie endlich zur Sache Brockmeyer! Wir sind doch hier nicht bei „Rate mal mit Rosenthal“. Der ist nämlich schon seit 1987 tot und von „Sie sind der Meinung, das war Spitze!“ sind wir hier gerade ganz weit entfernt, befürchte ich.“

Für ein paar Sekunden verlor er sich in Gedanken an den früheren Moderator und Showmaster, der hier auf Föhr, genauer gesagt in Utersum, so gerne Urlaub gemacht hatte und sogar zum Ehrenbürger der Insel ernannt wurde. Er hatte ihn einige Male beim Einkaufen und auch auf der Promenade getroffen und sich immer sehr gerne kurz mit ihm unterhalten. Brockmeyer schien allerdings überhaupt keine Ahnung zu haben, von was Hansen da gerade redete.

Dementsprechend verwirrt antwortete er: „Also, dass der Finger einem Mann gehört glaube ich jetzt eher nicht. Dafür ist er zu klein und dünn. Außerdem ist da noch ein Ring dran, der sieht eher aus, als würde er zu einer Frau passen. Wobei man das ja heute gar nicht mehr so genau weiß oder sagen kann. Aber der Finger scheint schon älter zu sein, oder zumindest der Mensch, der da mal drangehangen hat. Und ich bin mir auch nicht sicher…“

Knut schwirrte der Kopf.

„Ahhhh, Stopp, aufhören. Ich kann Ihrem Geblubber keinen Meter folgen. Jetzt bitte einmal kurz, knapp, knackig und so, dass es der alte Mann hier auch versteht.“

Er schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Claas zögerte kurz, dann fragte er sehr vorsichtig nach:

„Chef, welcher alte Mann denn jetzt genau?“

Knuts Gesicht wurde erst weiß, dann puterrot, und im gleichen Augenblick riss sein sowieso schon arg desolater Geduldsfaden.

„BROCKMEYER!!“ brüllte er ins Telefon. Anita zuckte zusammen und griff sich ans Herz. Sie machte kurz „Ts“ und ging dann auf leisen Sohlen zurück in ihre Küche. Mittlerweile wusste sie, wann man Knut besser ein wenig in Ruhe lassen sollte. Sie schenkte sich einen Kaffee ein und hörte ihren Liebsten noch durch die angelehnte Tür von draußen brüllen. Was würden wohl die Nachbarn denken, gerade heute, am Erntedank-Sonntag? Wenn sie Glück hatte waren die meisten in der Kirche, und bekamen Knuts Wutausbruch gar nicht mit. Sie lauschte kurz, nahm dann ihre Tasse mit und machte sich auf den Weg zurück in den Garten. Dort saß Knut immer noch auf seinem Liegestuhl, nur seine Haltung und sein Gesichtsausdruck hatten sich völlig verändert. Er saß kerzengerade und stocksteif, seine Augen waren weit aufgerissen und sein Mund war so weit geöffnet, dass ein kompletter Apfel hineingepasst hätte. Anita eilte an seine Seite. Besorgt legte sie ihm eine Hand auf seine Wange.

„Was ist denn passiert? Schlechte Neuigkeiten?“

Knut sah sie an wie ein Gespenst, dann schüttelte er sich kurz. Jetzt hieß es aufpassen. Er wusste um Anitas Neugier und um ihre Bereitschaft, sofort alles mit Feuereifer weiter zu tratschen. Vorsichtig löste er sich aus ihrem Arm, den sie fürsorglich um seine Schultern gelegt hatte.

„Ich muss mal kurz weg, Brockmeyer holt mich gleich ab. Könnte ein wenig dauern, ich sag dir Bescheid, wenn ich wieder auf dem Rückweg bin, ok mein Engel?“

Normalerweise gingen ihm Kosenamen nicht ganz so leicht über die Lippen, aber gerade jetzt wollte er sie nicht misstrauisch machen. Erwartungsgemäß freute sie sich so sehr über diese kleine, verbale Liebkosung, dass sie nicht mehr genauer nachfragte. Knut war erleichtert, als er draußen an der Straße auf seinen Assistenten wartete. Er hätte nicht gewusst, wie er Anita bildhaft umschreiben hätte können, dass man in einer der Orgelpfeifen in der St. Laurentii einen abgetrennten Frauenfinger mit einem Ring gefunden hatte. Er hatte ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt und sich seine Jacke vom Stuhl geschnappt. Anita nannte dieses olivgrüne Etwas „Übergangsjacke“ und fand sie ausgesprochen schick. Sie war der Meinung gewesen, dass er auch mal etwas anderes bräuchte zum Anziehen als seinen graubraunen, zugegebenermaßen inzwischen leicht verschlissenen Parka. Knut war dieser Meinung zwar nicht, hatte aber des lieben Friedens willen im Geschäft nichts mehr dazu gesagt. Und mittlerweile musste er sich ganz klammheimlich eingestehen, dass er die Jacke sogar recht gerne trug. Sie war leicht, schützte ihn vor Wind und Regen und er fühlte sich gut drei Kilo schlanker, wenn der Reißverschluss geschlossen war.

Kirchengelände St. Laurentii

Kapitel 3 - Wer bist du?

K nut zwängte sich in den Raum hinter der Orgel, in dem Gunnar Lüttersen den Finger gefunden hatte. Für einen Moment hielt er fast ehrfürchtig die Luft an. Dieses Instrument, dessen Herzstück im Normalfall kein Normalsterblicher zu sehen bekam, war gigantisch. Er besah sich die Orgelpfeifen und das Türschloss genauer, konnte aber keinerlei Spuren daran feststellen. Nachdenklich verzog er die Mundwinkel. Wie kam ein Mensch nur auf so eine kranke Idee? Hinnerk „Plüsch“ Petersen lugte ums Eck.

„Also so richtig viel zu obduzieren hab ich ja dieses Mal nicht.“

Er feixte. Knut gab einen leisen verächtlichen Laut von sich, dann schloss er ächzend die Tür hinter sich. Hinnerk hatte den Finger schon in einer kleinen Plastiktüte verstaut und hielt ihn Knut nun unter die Nase. Ein kleiner, sehr schmaler und vor allem faltiger Finger mit einem kurzen, sehr gepflegten Nagel. Das Auffälligste aber war der Ring. Eine eckige, goldene Fassung, auf der Platte aus Elfenbein war eine Art Siegel eingraviert. Der Ring war augenscheinlich schon sehr alt, und Knut tat sich schwer, die Abbildung darauf zu erkennen. Er machte ein Bild mit seinem Handy und gab Petersen den Finger wieder zurück.

„Ich werde später die Gravur unter dem Mikroskop auswerten. Vielleicht hilft dir das weiter. Aber auf den ersten Blick würde ich jetzt mal behaupten, dass das hier keine Touristin ist. Ist aber erstmal nur ein Bauchgefühl.“

Knut verdrehte die Augen nach oben. „Hoffentlich, ich habe keine Lust darauf, schon wieder den gesamten Fährverkehr lahmlegen zu müssen.“

Sein Assistent wartete auf der Empore auf ihn. Knut stellte sich vor an die Balustrade und versank schlagartig in Erinnerungen. Vor mehr als 25 Jahren hatten er und seine Exfrau Karin sich hier das Jawort gegeben. Die wunderschönen Gewölbemalereien, der außergewöhnliche Taufstein, die Kanzel, der Flügelaltar aus dem 15. Jahrhundert, die liebevoll verzierten Kirchenbänke und nicht zuletzt die imposante Orgel zogen interessierte Besucher sofort in ihren Bann. Die ganze Kirche war erfüllt von einer unglaublichen Energie, die Knut auch dieses Mal wieder die ein oder anderen Gänsehaut über den Rücken jagte. Er sah sich und Karin vorne am Altar stehen, noch nicht wissend, dass diese Ehe nicht für die Ewigkeit gemacht worden war. Nun würde er bald wieder in den Hafen der Ehe einlaufen, dieses Mal hoffentlich nicht wieder mit einem Kriegsschiff. Diese zweite Ehe sollte für den Rest seines Lebens halten. Besser spät als nie. Er schloss kurz die Augen und als er wieder vor zum Altar blickte sah er dort sich und Anita stehen. Glücklich strahlend, mit dem Gefühl, endlich angekommen zu sein. Ein kleiner, fast schon seliger Gesichtsausdruck huschte über sein Gesicht. Bis Rita Kummert, die Leiterin der Spurensicherung, ihn radikal aus seinen schönsten Tagträumen riss. Er sah sie an und konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. Offensichtlich hatte man sie von irgendeiner privaten Festlichkeit her zitiert. Sie war so übertrieben zurechtgemacht, dass es Knut innerlich kurz schauderte. Ihre sonst zu einem unordentlichen Dutt zusammengewurschtelten, mausgrauen Haare waren in kleine Löckchen gelegt und mit Spangen aus dem Gesicht gesteckt. Sie sah ein wenig aus wie ein Chihuahua nach einem verunglückten Hundefriseurbesuch. Ihr Make-up war viel zu stark aufgetragen und hörte am Gesichtsrand abrupt auf. Ihr Gesicht hatte also die gesunde Farbe eines reifen Pfirsichs, während sie halsabwärts eher aussah wie eine Wasserleiche. Die Augen hatte sie mit einem giftgrünen Lidschatten bepinselt und die Wimpern so stark getuscht, dass sie in größeren Grüppchen zusammengeklebt waren. Ihre nicht vorhandenen Wangenknochen hatte sie plakativ mit einem rosafarbenen Rouge betont und die spärlichen Augenbrauen mit einem grauen Stift strichförmig nachgezogen. Ihr Kleid stammte offensichtlich aus dem Kleiderschrank ihrer Oma, es war übersät mit kleinen rosafarbenen Blümchen, knielang und mit kleinen, zarten Puffärmelchen, und wirkte auf den ersten Blick eher wie ein Nachthemd. Alles in allem erregte ihr stark verändertes Aussehen in ihm eher Mitleid als Bewunderung. Und er konnte es gerade noch so vermeiden, dass ihm der Satz „Ruft mal einer beim Roncalli an, da fehlt offensichtlich ein Clown!“ von den Lippen hüpfte. Er versuchte krampfhaft, ihrem Blick auszuweichen.

„Na meine allerliebste Spusifrau, gibt’s schon was Neues?“

Schlagartig hätte er sich auf die Zunge beißen können. Am heiligen Sonntag hatte man seinen Mitmenschen gefälligst mit offenem Herzen und Nächstenliebe zu begegnen. Obwohl, er hatte ja eigentlich gar nichts Schlimmes gesagt. Rita sah das offenbar ein wenig anders, ihr Blick glich kleinen Giftpfeilen, die sie unaufhörlich in Knuts Richtung abfeuerte. Sie blätterte in ihrem kleinen Notizblock.

„Der Zeuge Gunnar Lüttersen sitzt draußen vor der Tür und bekommt gerade von der Haushälterin des Pfarrers einen Kamillentee eingeflößt. Der hat den Fund nicht wirklich gut verkraftet. Wobei ich es ihm nicht mal verübeln kann. Der Finger wurde brachial abgesäbelt, gerade so weit unten, dass der Ring noch drauf steckengeblieben ist. Weder unten an der Kirchentür, noch hier oben an der Tür zur Orgel gibt es bisher brauchbare Spuren. Mein Team und ich werden allerdings die Kirche insgesamt einmal auf links drehen, irgendwo muss ja auch der Rest dieser bedauernswerten Frau sein.“

Sie sah gedankenverloren Richtung Altar. Knut blieb zum zweiten Mal an diesem Tag der Mund sperrangelweit stehen. Er befürchtete ein wenig, seine Ohren hätten ihm den Dienst versagt. Konnte das sein? Zeigte Rita Kummert, die sonst so völlig empathielose, kaltherzige und abgestumpfte KTU´lerin etwa gerade Gefühle? Er sah sie skeptisch von der Seite an.

Sachte fragte er nach. „Dir tut die Frau also leid, richtig?“

Vielleicht hatte er sich ja verhört oder sie falsch verstanden. Aber Rita wirkte weiterhin nachdenklich.

Sie starrte ins Kirchenschiff und antwortete leise:

„So einen Tod hat doch niemand verdient. Vielleicht hat sie Kinder, einen Mann oder ganz viele Freunde. Und jetzt wurde sie so barbarisch aus dem Leben gerissen.“

Knut kratzte sich ein wenig hilflos an der linken Schläfe. Er konnte Rita noch nie besonders gut leiden, aber diese offen gezeigte, sehr eigenartige Emotion, machte sie ein Stück weit sympathischer.

Bis sie ihn anschnarrte:

„Was glotzt du denn so doof? Ich habe noch zu tun, und ich glaube, auf dich wartet auch noch Arbeit!“

Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging Richtung Treppe. Sie lief in den, für sie offensichtlich ungewohnt hohen Schuhen ungelenk und unsicher wie ein neugeborenes Kalb. Kurz vor der ersten Stufe knickte sie leicht um und Knut sprang ihr im Reflex hilfreich zur Seite.

Sie zischte ihn an: „Pfoten weg, Hansen, ich kann das durchaus alleine.“

Knut hob sofort die Hände nach oben und deutete auf die Treppe.

„Bitte schön, dann brech dir doch ganz alleine dein verdorrtes Gestell!“

Er lief an ihr vorbei, knurrte noch „Zimtzicke, seltsame“ und machte sich dann auf den Weg zu seinem Zeugen. Der war zwischenzeitlich schon von Claas Brockmeyer verhört worden und hatte ihm alles bis ins kleinste Detail erzählt. Knut setzte sich neben ihn auf die Bank. Er und Gunnar kannten sich, sie hatten früher mit ihren Frauen zusammen gekegelt.

„Na? Wie isses?“