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Zusammen schaffen wir alles, ein Satz der sich so einfach sagt. Doch für uns wurde er über die Jahre zum sprichwörtlichen Anker. Von öfter mal was neues über alles anders als geplant, von Svenja und der neue Hüftschwung zu Willkommen kleine Räubertochter, oder auch die Muddi wird zum Filmstar bis hin zum emotionalen Krawalli ist in diesem Buch alles dabei, was das Leben so zu bieten hat. Eine richtig gute Mischung aus Biographie, Drama, Liebesgeschichte, Komödie und sogar manchem kleinen Horror. Vor allem aber was zum Tränen vergießen, vor Lachen, aber auch vor weinen. Und das alles beruht auf einer wahren Geschichte: Der Geschichte unseres Lebens.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Über die Autorin:
Corinna Weber wurde 1976 in Darmstadt geboren. Sie lebt mit ihrer Familie in dem beschaulichen Örtchen Wald-Michelbach im Odenwald. Mit einer 20jährigen und einer 7jährigen Tochter an der Hand, ihrer kleinen Krawalli fest im Herzen und seit 23 Jahren einem Mann an ihrer Seite, der fest zu ihr steht, hat sie bis jetzt alle Stürme des Lebens (fast) erfolgreich gemeistert. Ihr erstes Buch erzählt von diesen Stürmen, den leichten Winden, aber auch der strahlenden Sonne. Von fünf Menschen, die das Leben und das Schicksal fest miteinander „verankert“. Und es gibt immer wieder genügend Stoff für Fortsetzungen…..
FÜR UNSERE KRAWALLI
Vorwort beziehungsweise LOS GEHT’S
Corinna & Thorsten
Der Anfang ist gemacht
Unglaublich, aber blöderweise wahr
Claudia
Neubeginn
Eine Hochzeit und ein Baby
Unsere Stammhalterin möchte raus…oder doch nicht?
Die MS und ich
Mach’s gut Papa
Kurze Pause, dann geht’s weiter & jetzt sind wir beide nur noch „halbe“ Kinder
Schon wieder Affolterbach
Alles anders als geplant
Ein Löwenbaby macht sich auf den Weg
Neues Leben, neues Glück
Endlich daheim, der Wahnsinn nimmt seinen Lauf
Hört das denn nie auf??
Heidelberg, oh Heidelberg
Öfter mal was Neues
Zwei Kinder, zwei Krankenhäuser, null Nerven
Alles muss raus…und wir schon wieder rein
Ein Abschied und ein neuer Anfang
Aschenputtel und ihre verflixten Schuhe
Endlich richtig Urlaub
kurzer Abstecher in die Vergangenheit
Lass es uns noch einmal wagen
Ein Jahr voller Glück beginnt
Der letzte Urlaub zu viert, eigentlich zu fünft, oder eigentlich zu sechst
Gut geplant ist halb geschnitten
Willkommen kleine Räubertochter
Es ist Samstagmorgen, der 02. November 2019. Draußen ist es noch dunkel, es regnet in Strömen und wir haben gerade mal halb fünf. Aufgrund jüngster Ereignisse kann ich die letzten vier Wochen kaum noch richtig schlafen. Ich liege seit halb vier hellwach und grübele. Und wie wohl einige wissen, sind Gedanken, die man sich nachts im dunklen Schlafzimmer macht, nicht immer die schönsten. Man neigt dazu, sich gedanklich völlig zu verzetteln, kommt an kein Ziel und wünscht sich einfach nur, man möge entweder wieder einschlafen oder die Nacht sollte nach Möglichkeit zügig vorbei sein.
Da aber gerade weder das eine noch das andere passiert sitze ich jetzt also hier in unserer Küche, rechts von mir eine schöne Tasse Kaffee, links von mir ein Stoffhase (dazu noch sehr viel später mehr) und vor mir mein Schreibgerät. Ich habe also beschlossen, aus meinem nächtlichen Gedankenkarussell auszusteigen und das anzufangen, was ich mir schon seit Jahren vorgenommen habe:
Meine bzw. unsere Geschichte aufzuschreiben.
Wie gut, dass ich vor ein paar Jahren noch nicht wusste, was noch alles auf mich zukommt, und welches Schicksal dieses Leben für uns bereithalten wird.
Aber erstmal ein bisschen was zu mir:
Ich bin „Muddi“, seit mehr als gut 15 Jahren sagt mein Mann nichts anderes zu mir (ich bin schon mehr als irritiert wenn er mich mit meinem richtigen Namen „Corinna“ anspricht. Wie Kinder, die wissen, dass sie was angestellt haben, wenn man sie bei ihrem vollen Geburtsnamen ruft). „Muddi“ war lange Zeit das höchste seiner Gefühle, Kosenamen wie „Schatz“, „Maus“, „Bärchen“ oder andere Tiernamen kamen ihm schwer über die Lippen (heute ist das anders!).
Mittlerweile ist der Name „Muddi“ hier Gesetz, alle unsere Freunde wissen das, und der ein oder andere übernimmt ihn sogar manchmal, wenn er von mir redet.
Aktuell bin ich 43 Jahre alt, nächstes Jahr im März werde ich 44. Ich bin verhältnismäßig klein, über Jahre hinweg war ich viel zu klein für mein Gewicht. Das hat sich jetzt, Gott sei Dank, innerhalb des letzten Jahres einigermaßen relativiert. Vom Ganzen her bin ich eher ein dunkler Typ, was meiner Herkunft entspricht (nein, ich stamme nicht aus Afrika, ich rede jetzt eher von Haaren und Augen).
Ich bin Mama mit Leib und Seele und Managerin dieser kleinen, verrückten Familie.
Ich werde euch die einzelnen Personen im Verlauf dieser Geschichte näher vorstellen, zunächst geht es erstmal um die zwei Menschen mit denen alles seinen Anfang nahm.
Ich nehme euch mit auf eine mehr als 20jährige Reise durch unser Leben. Es wird euch auffallen, dass ich immer mal wieder größere Zeitsprünge machen werde. Keine Angst, ihr habt dann nichts verpasst. Es ist nur einfach so, dass es sogar bei uns zwischendurch Jahre gab, in denen das „ganz normale Leben“ passierte, so wie es wahrscheinlich bei vielen Menschen der Fall ist.
Kleinere Katastrophen, die eigentlich der Rede nicht wert sind, wenn man sich den Rest betrachtet. Manche Kapitel werden verhältnismäßig wenig Dialoge enthalten, einfach weil das, was da passiert ist, schon ziemlich lange zurück liegt, und ich mich an vieles im Detail nicht mehr erinnern kann. Ich erzähle euch alles aus meiner Sicht der Dinge, und wie ich es damals alles erlebt habe.
Vieles davon wird euch Tränen in die Augen treiben, oft vor Lachen, manchmal aber auch vor Traurigkeit. Schnallt euch an, wir beginnen im Jahr 1997………
„Wollen wir wetten“? Was ich mit diesem kleinen, relativ harmlosen Satz, damals auslöste, und was er für Konsequenzen für mein weiteres Leben haben wird, ahnte ich da noch nicht im Geringsten. Wir saßen uns gegenüber, in einem kleinen verqualmten Pausenraum in dem Seniorenheim, in dem wir beide damals arbeiteten. Ich als Krankenschwester, er als Zivi. Wir kannten uns da schon ein paar Jahre, hatten zusammen mit ein paar anderen Freunden (inklusive meinem damaligen Freund!) eine Musikband, in der er Keyboard spielte und ich sang. Ich spürte schon länger, dass da mehr war als nur Freundschaft und der Spaß am gemeinsamen Musik machen. Nur war ICH da eben noch mit einem anderen zusammen, der blöderweise zu dem Zeitpunkt auch noch SEIN bester Freund war. Aber wie sagt man so schön: „wo die Liebe hinfällt“.
Da saßen wir also, jeder eine Zigarette in der Hand, einen Kaffee vor uns und redeten. Wir begannen zu flirten, so wie wir es schon öfter gemacht hatten, meistens im Spaß und unverfänglich. Dieses Mal war es irgendwie anders, ich spürte, dass ich diesen Mann da unbedingt haben wollte, ich musste ihn irgendwie dazu bringen, mich zu küssen. Ich wusste, dass er von alleine niemals auch nur den geringsten Versuch starten würde. War er sich doch darüber im Klaren, das hier auch eine jahrzehntelange Freundschaft auf dem Spiel stand. Aber ich spürte auch, dass er mich eigentlich genauso wollte, und so warf ich irgendwann diesen Satz in den Raum „wollen wir wetten“?“
„Ich wette darum, dass ich dich, ohne anzufassen, so durcheinander bringe das du nicht anders kannst, als mich küssen zu wollen“. Zugegebenermaßen sah er mich erstmal an wie ein Mondkalb, war aber dann doch ziemlich schnell dazu bereit, sich auf meine Wette einzulassen. „Das schaffst du nie, keine Ahnung wie du das anstellen willst“.
Bei diesem Satz zwinkerte er mir zu, blieb aber an Ort und Stelle sitzen und harrte der Dinge, die jetzt auf ihn zukommen sollten.
Ich begann mein perfides Spiel, nahm meine Kaffeetasse, führte sie langsam zum Mund, nahm einen Schluck und leckte mir über die Lippen. Danach spielte ich (in der Hoffnung, einigermaßen lasziv dabei zu gucken) mit meinen Fingern und meinen Haaren, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von ihm und seinen wunderschönen stahlblauen Augen abzuwenden.
Als ich merkte, dass ich fast am Ziel meiner Bemühungen war, und das Feuer in seinen Augen sah, stand ich auf. „Ich hoffe wir sehen uns später beim Mittagessen, ich muss jetzt erst mal wieder ein bisschen was arbeiten“.
Mit diesem Satz ging ich Richtung Tür.
„Na toll, erst heiß machen und jetzt hier sitzen lassen“. Ich sah ihm an, dass er eigentlich genau da gerne weitermachen würde, wo ich eben aufgehört hatte.
Ich zwinkerte ihm zu, er zwinkerte zurück, und dann ging ich tatsächlich erst mal wieder an meine Arbeit. Richtig konzentrieren konnte ich mich ab da, ehrlich gesagt, aber nicht mehr. Im Bauch machten sich Schmetterlinge breit und ich hatte ziemlich Herzklopfen. Ich stellte mir vor, was wäre, wenn wir weitergehen würden als bisher, was würde passieren, wenn wir uns wirklich ineinander verlieben würden? Entweder wir müssten das Spiel weiterspielen wie die ganze Zeit, als Freunde, mit unverbindlichen Flirts, oder wir würden zu unseren Gefühlen stehen müssen. Ich dachte mich durch alle erdenklichen Situationen, ohne mir überhaupt darüber im Klaren zu sein, was ER denn eigentlich WIRKLICH für mich empfindet. Es könnte ihm ja einfach nur Spaß machen mit mir zu flirten, ohne auch nur den Hauch einer ernsteren Absicht.
Versunken in diesem Gefühlswirrwarr verließ ich das Zimmer des Bewohners, dem ich gerade sein Essen gereicht hatte, und ging den Stationsflur runter Richtung Schwesternzimmer. Auf halbem Weg kam er mir entgegen, er hatte einen Tannenbaum unterm Arm und grinste (wie gesagt, es war Dezember, er hatte die Aufgabe überall im Haus Tannenbäume aufzustellen, die später geschmückt werden sollten).
„Na, immer noch im Wettfieber?“ feixte er. Ich legte den Kopf schief und lächelte ihn strahlend an. „Klar, ich hau doch keine Wette raus, die ich nicht gewinnen kann“. Ohne ein weiteres Wort zu sagen sah er mich lange an, zog mich dann in den Snoozelraum, vor dem wir gerade standen und……..küsste mich. Ab da wussten wir, das hatte mit Spielereien nichts mehr zu tun.
Wir hielten uns lange wortlos in den Armen, küssten uns immer wieder und waren uns fast schlagartig darüber im Klaren, das hier gerade was ganz Großes begann. Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit den Raum wieder verließen hatte ich einen schwarzen Handabdruck hinten links auf meiner weißen Hose und den Mann fürs Leben gefunden.
„Wette gewonnen!“
Wir haben recht schnell gemerkt, dass wir uns beide ziemlich ineinander verliebt hatten, und haben irgendwann beschlossen, dass es an der Zeit sei, meinem damaligen Freund und seinem besten Kumpel die Wahrheit zu sagen. Mein Freund und ich wohnten damals schon ein Jahr zusammen, eine Ortschaft weiter als die, in der Thorsten wohnte. Also nahm ich im Januar allen Mut zusammen und beichtete ihm, dass ich mich neu verliebt hatte, in seinen besten Freund. Ich bat ihn, auszuziehen und machte so einen klaren Schnitt für mich.
Dass das alles nicht ganz ohne Drama ablaufen konnte war mir von vornherein klar, immerhin hatte ich ihn nicht nur quasi betrogen, sondern ihm auch noch seinen Freund aus Schulzeiten weggenommen. Wir führten einige klärende Gespräche, die zur Folge hatten, dass mein Ex sich aus unserer gemeinsamen Clique völlig zurückzog, und den Kontakt zu Thorsten abbrach.
Thorsten ist dann verhältnismäßig schnell bei mir eingezogen, und wir beschlossen zusammen die erste „Verrücktheit“ unserer noch langen Laufbahn.
Im Mai fragte er mich „Wie wäre es denn, wenn wir uns verloben würden?“
Thorsten sah mich gespannt an. Ich musste eigentlich nicht lange überlegen und strahlte begeistert. „Tolle Idee, aber das sollten wir ein bisschen spektakulärer gestalten. Sich einfach so zwischen Tür und Angel die Ringe anstecken kann ja jeder“. Wir dachten beide nach und entschieden uns dann, es zu einer Überraschung für unsere Familien werden zu lassen.
„Wir fahren doch im Juli mit meinen Eltern ins Fichtelgebirge, das wäre eigentlich die beste Gelegenheit“.
Thorstens Idee klang nicht schlecht, nur hätte ich halt meine Familie auch ganz gerne bei unserer Verlobung dabeigehabt. Doch dann fiel mir ein, dass meine Eltern zu dem Zeitpunkt ebenfalls in Urlaub waren und auf ihrem Heimweg übers Fichtelgebirge fahren könnten, dort eine Nacht verbringen und wir vielleicht abends, in geselliger Runde, die Verlobungsbombe platzen lassen könnten.
Wir setzten eine Annonce auf, die genau an dem Tag in der Zeitung stehen sollte, an dem wir uns vorgenommen hatten, uns die Ringe anzustecken.
Wir fuhren an unserem geplanten Verlobungstag mit Thorstens Eltern in Urlaub, die Zeitung mit der Anzeige hatten wir morgens noch geholt.
Die wartete nun im Koffer auf ihren Einsatz.
Wir fuhren gute vier Stunden, bei unserer Ankunft in Fichtelberg regnete es.
Wir fingen an, auszupacken und haben dann auf meine Eltern gewartet, die waren auf dem Rückweg von ihrem Urlaub auf dem Weg zu uns. Die beiden kamen gegen Mittag an, und wir verabredeten uns für abends zum gemeinsamen Essen. Der Himmel klarte auf, und Thorsten und ich gingen noch ein bisschen auf Erkundungstour. Wir haben uns ein Museum für Holzschnitzerei angeguckt und waren in einem Spielzeuggeschäft (diese „Marotte“ sollte uns die nächsten 20 Jahre noch einiges an Spielzeug einbringen). An dem Tag haben wir uns vier Modellautos gekauft, Oldtimer, einer schöner als der andere. Die nächsten 15 Jahre standen besagte Autos, inklusive denen, die da im Laufe der Zeit noch dazu kamen, immer in unserer Sichtweite und haben uns oft an diesen Urlaub zurückdenken lassen.
Nach einem wirklich wunderschönen, entspannten Tag sind wir zurück in unsere Pension. Wir waren beide doch leicht nervös und ziemlich aufgeregt, schließlich wollten wir uns innerhalb der nächsten zwei Stunden verloben, und uns damit eigentlich das Versprechen geben, irgendwann zu heiraten und somit den Rest unseres Lebens gemeinsam zu verbringen. Soweit so gut.
Wir haben uns mit Thorstens und meinen Eltern in einer Gaststätte im Ort getroffen. Ausgestattet mit zwei schmalen goldenen Ringen, in denen jeweils unsere Namen und das Datum eingraviert waren, und der besagten Zeitung mit der Annonce haben wir einen günstigen Moment abgewartet, um unser Glück mit allen Teilen zu dürfen.
Weit gefehlt………das Essen war abgeräumt und wir haben die Gunst der Stunde genutzt, und haben zuerst meinen Eltern die Zeitung zum Lesen überreicht. Mit Ungeduld haben wir dem Moment entgegengefiebert in dem sie die Seite aufschlugen auf der, inmitten anderer Anzeigen, ziemlich deutlich und fett stand:
„wir verloben uns am 04.07.1998 in Fichtelberg Corinna & Thorsten“
Als meine Mutter endlich zu besagter Seite gelangte schaute sie lange darauf, überlegte und……. blätterte weiter. Okay, also da bestand wohl „Nachhelf-Bedarf“. Also habe ich sie aufgefordert, doch bitte noch mal zurück zu blättern, und sich die vorherige Seite genauer anzugucken. Sie tat wie geheißen, schaute tatsächlich dieses Mal genauer hin, und begann sich dann tierisch zu freuen
(DA hat sie sich noch über Thorsten als zukünftigen Schwiegersohn gefreut, nicht mal drei Jahre später sollte das ganz anders aussehen).
Sie rief ziemlich laut in Richtung meiner Schwiegermutter in spe, dass sie sich das unbedingt ansehen müsste, mit den Worten „guck mal, unsere Kinder wollen sich heute verloben“.
Auch mein Papa, eher der ruhigere Typ von beiden, hat sich ziemlich gefreut.
Da dachte ich noch „sehr schön, die freuen sich schon mal“ und hab mich innerlich schon im weißen Kleid zum Altar schreiten sehen.
Dann ging die Zeitung zu Thorstens Mutter, die schaute ebenfalls ziemlich lange drauf und……….war sauer. Und ich, zugegebenermaßen, erstmal ziemlich verwirrt. „Was ist hier denn jetzt so schiefgelaufen?“ dachte ich bei mir. Eigentlich war ich mir ziemlich sicher, dass sie mich richtig mochte und bisher auch nichts gegen unsere Beziehung hatte, im Gegenteil. Sie hat immer zu mir gesagt „ich wollte dich damals schon, als du immer auf den Weihnachtsfeiern Blockflöte gespielt hast“ (eine Geschichte, zu der ich später noch komme. Also nicht die mit der Blockflöte, sondern die, dass sie mich gerne „gehabt“ hätte).
Jetzt stand ich bzw. saß ich also ziemlich ratlos in Fichtelberg, und verstand ihren Unmut überhaupt nicht. Ich begann, vor lauter Verzweiflung, leise zu weinen, woraufhin meine Mutter ebenfalls sauer wurde. Allerdings nicht auf mich, sondern auf Thorstens Mutter, schließlich hatte DIE mich ja schlussendlich zum Weinen gebracht, und mir somit diesen „Moment voller Liebe und Versprechen für die Zukunft“ (ihr merkt schon, ich sorge hier für den nötigen „Schmalz“) erstmal gründlich verdorben.
Des Rätsels Lösung für die Aufregung meiner Schwiegermutter bestand dann darin, dass sie Thorsten zum Vorwurf machte, dass er es doch genau wissen müsste, dass bei solchen Momenten die GANZE Familie dabei sein sollte. Und Thorstens Bruder samt Familie war eben nun mal nicht da, sondern zuhause in Wald-Michelbach geblieben. Thorsten und ich überlegten ein paar Momente lang ob wir uns, im Angesicht dieser wohl größeren Tragik, trotzdem verloben sollten und entschieden uns einstimmig (also mehr zweistimmig) dafür.
Wir steckten uns gegenseitig unsere Ringe an, ich immer noch enttäuscht vor mich hinschniefend. Wir küssten uns und versprachen uns hoch und heilig, uns nie wieder zu trennen und für alle Zeiten glücklich zu sein.
In der Nacht haben wir noch lange geredet (ich weiß, dass jetzt der ein oder andere gerne sagen würde „warum redet ihr in so einer Nacht, gäbe es da nix besseres?“, aber so eine Nacht ist ja lang „zwinker“). Wir waren uns darüber einig, dass, wenn ein gemeinsames Leben schon so turbulent beginnt, es bestimmt nie langweilig werden würde. Da wussten wir noch nicht, WIE recht wir behalten sollten…….
Wieder Zuhause richteten wir uns unser gemeinsames Leben ein und wohnten erstmal, ziemlich glücklich und zufrieden, weiter in meiner Wohnung in Siedelsbrunn. Ich arbeitete mittlerweile als Nachtwache und stellvertretende Leitung in einem Seniorenheim in Affolterbach, meinem ursprünglichen Wohnort und Standort meines Elternhauses. Affolterbach ist ein Ortsteil von Wald-Michelbach und gerade mal sechs Kilometer von dort entfernt.
Um die folgende Geschichte, die sich AUCH noch 1998 abspielte, verständlich erzählen zu können, muss ich einen größeren Sprung in die Vergangenheit machen, also auf ins Jahr 1992……
Ich war süße 16 und hatte seit kurzem einen Freund aus Gadern, ein kleiner Ort gleich hinter Wald-Michelbach. Seine Mutter arbeitete damals in einem Friseursalon in Affolterbach, und er kam eines Tages mit dem Satz zu mir „meine Mutter hat erzählt bekommen du wärst adoptiert“ (Friseurinnen, Pastoren und Ärzte sind ja da ungefähr dasselbe, man erzählt ihnen gerne Dinge, die eigentlich sonst keiner wissen durfte oder sollte).
Nachdem er das in den Raum geworfen hatte war ich der Meinung, er müsse wohl am helllichten Tag besoffen sein, und so einen Quatsch hätte ich ja schon lange nicht mehr gehört. Schließlich sagten alle, wie ähnlich ich meinem Papa doch sähe, und das wäre ja wohl nicht möglich, wenn ich nicht SEIN Kind wäre.
Und doch, irgendwo tief in mir, begann ich nachzudenken. Konnte er recht haben? War an diesen „Gerüchten“ wirklich irgendwas dran? Und wenn ja, wie krieg ich das raus, ohne meine Eltern fragen zu müssen? Und WENN JA, warum haben sie mir in den letzten 16 Jahren nichts davon gesagt??
Fragen über Fragen, und meine Verunsicherung wuchs täglich.
Der Zufall spielte mir Tage später in die Hände. Der Bruder meiner Oma war für ein paar Tage aus dem Westerwald zu Besuch, und ich packte die Gelegenheit beim Schopfe. Ich dachte, wenn ich tatsächlich adoptiert bin, dann muss er es ja schließlich auch wissen. Also schnappte ich ihn mir in ein paar ruhigen Minuten und fragte rundheraus „Sag mal, stimmt das, bin ich wirklich adoptiert?“ Und er sah mich an und sagte, ohne auch nur einen Moment zu zögern……“Ja, das stimmt!“.
Da stand ich nun, mitten in meinem Zimmer, in meinem „Elternhaus“, mit einem Mann, der mir gerade, mit nur einem kleinen Satz, mein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf gestellt hatte.
Ich nahm mir zwei Wochen Zeit um diese, sehr direkte, Information zu verarbeiten. Dann kam ich zu dem Schluss, dass ich gerne wissen wollte, wo meine eigentlichen Wurzeln liegen und wer ich WIRKLICH bin. Und natürlich, warum meine Eltern es noch nicht geschafft hatten, mich über diesen, wahrhaftig nicht unwichtigen Teil meines Lebens, zu informieren.
Ich sollte wohl nicht unerwähnt lassen, dass meine Kindheit zum größten Teil sehr schwierig war. Meine Eltern waren beide starke Trinker, wobei meine Mutter schon immer erheblich mehr trank als mein Papa.
Ich habe es gehasst, wenn beide von ihren Kegelabenden heimkamen, einer voller als der andere, und sich dann lauthals angebrüllt haben.
Oft ist die Brüllerei in eine handfeste Prügelei übergegangen, und dann kam meistens meine Mutter in mein Zimmer und hat sich mit mir eingeschlossen.
Also war ich immer schön hautnah dabei, musste mitansehen, wie sie sich über die Jahre hinweg gegenseitig kaputt machten.
Schläge waren ein gängiges Mittel um mir „brav und gehorsam sein“ beizubringen, meine Mutter und meine Oma waren schnell dabei, erstmal zuzuschlagen bevor geredet wurde. Der einzige, der mich nie schlug, war mein Papa.
Schon Kleinigkeiten konnten meine Mutter völlig zur Weißglut und Raserei bringen. Ihre Wutausbrüche, inklusive aller gängigen Schimpfwörter, die Gott eigentlich verboten hatte, waren fast schon legendär und überall in der Straße zu hören. Ihre Trinkerei wurde mit der Zeit immer schlimmer, oft hat sie schon in der Früh mit einem kleinen Schnaps angefangen, im Laufe des Tages kamen meistens eins bis zwei Flaschen Wein und Bier dazu. Sie kümmerte sich selten bis nie um den Haushalt, das mussten mein Vater und meine Oma, die Mutter meiner Mutter, machen, die schon immer mit uns im Haus wohnte. Die kochte auch überwiegend für uns alle, und hat mich zu einem großen Teil mit erzogen. Eigentlich hatte ich zu meiner Oma immer einen besseren und intensiveren Kontakt als zu meiner Mutter. Sie war eben nur mit der Hand meistens schneller wie mit dem Mund, genau wie ihre Tochter.
Meine Mutter neigte dazu, mich überall in den Vordergrund zu drängen, und zwang mich oft zu Dingen, die ich so eigentlich für MICH nicht wollte. Aber als Kind war ich froh um diese „Anerkennung“, die ich damit erhielt und um die Aufmerksamkeit, die ich dadurch erlangte. So verbrachte ich einen Großteil meiner Kinder- und Teenagerzeit in Unterrichten, war in Ballett, Judo, Schießen, Tanzen und lernte schon früh Orgel spielen. Es folgten Klarinette, Saxophon, Kirchenorgel, und, nicht zu vergessen, Gesangsunterricht.
Noch heute ist Singen eines der Dinge, das mich von allem befreit, bei dem ich „ICH“ sein kann, und mit dem ich meine Gefühle zum Ausdruck bringen kann. Ich habe in Chören gesungen, ganz viel in Kirchen, auf Hochzeiten, Feiern, Beerdigungen………. ich habe es geliebt, etwas zu tun was ich wirklich gut konnte, und es war zum Schluss das Einzige, was ICH auch wirklich wollte.
Dank meiner Mutter war ich auch in zahlreichen Musikkapellen, und somit so gut wie kein Wochenende zuhause.
Ich sehe heute noch den Stolz in ihren Augen, wenn ich da oben auf der Bühne stand.
Und den Zorn und die Wut, wenn ich mich traute zu sagen, dass ich heute eigentlich keine Lust auf Klarinettenunterricht, Probe, Auftritt etc. habe.
Meistens setzte es in dem Moment erstmal eine Ohrfeige, und hin musste ich dann natürlich trotzdem.
Natürlich hatte ich auch viele schöne Momente, ich muss aber zugeben, dass diese im Laufe der Zeit verblasst sind, und den unschönen Erinnerungen immer mehr Raum gelassen haben. Einzig die Momente mit meinem Papa sind mir als schöne Erinnerungen geblieben.
Ich wurde ziemlich früh sehr selbstständig, bin mit 17 zuhause ausgezogen und ins Schwesternheim nach Erbach gegangen, um dort meine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen. Danach bin ich ja dann, wie schon erwähnt, mit meinem Ex nach Siedelsbrunn gezogen, bin also ab da nicht mehr nach Hause zurück. Für mich war das damals die beste Entscheidung, musste ich mich doch so nicht mehr ständig mit meiner Mutter auseinandersetzen und ihre üblen Launen ertragen und aushalten. Was in dieser Zeit alles Zuhause geschah, habe ich zum größten Teil erfolgreich ignoriert. Auch, dass mein Papa über die Zeit hinweg immer seltsamer und ruhiger wurde. Er litt schon jahrelang an Depressionen, über deren Ausmaß ich mir allerdings erst sehr viel später, eigentlich zu spät, bewusst werden sollte.
So, für den Anfang erstmal genug in der Vergangenheit rumgewühlt, kommen wir zurück an den Punkt der „Adoptionsgeschichte“.
Ich bin also zwei Wochen später zu meinen Eltern hin und habe ihnen gesagt, dass ich wüsste, dass ich adoptiert bin und was SIE jetzt dazu zu sagen hätten. Und dann kam der Satz meiner Mutter, den ich bis heute nicht vergessen habe: „Na Gott sei Dank, jetzt kann ich dich wenigstens in Zukunft ohne schlechtes Gewissen anschreien!“.
Ah ja, na da bin ich ja jetzt aber auch wirklich beruhigt, schließlich wollte ich doch nie, dass du dich wegen mir schlecht fühlst („Ironie aus“). Ich traute mich aber noch zu fragen, ob sie denn irgendetwas über meine leiblichen Eltern wüssten, wo sie wohnen, wie sie heißen oder sonst irgendetwas Nützliches.
Die Antwort war damals „Nein, leider wissen wir gar nichts von denen, wir haben weder Unterlagen noch Informationen“.
Heute weiß ich, dass das damals alles erstunken und erlogen war, aber mit 16 möchte man das erstmal glauben, und nimmt es halt dann auch so hin.
Und ich kannte ja auch nichts anderes als das, womit ich die Jahre über aufgewachsen bin.
Ich bekam auch nicht erzählt, WARUM sie mich damals überhaupt adoptiert haben. Wenn man dem Gerede der Anderen Glauben schenken darf hatte meine Adoptivmutter wohl mehrere Fehlgeburten, bis sie sich zur Adoption entschieden. Aber wie gesagt, von den beiden selbst hab ich nie etwas erfahren.
Mein damaliger Freund, und auch der danach, waren überhaupt nicht bereit, mich in irgendeiner Art und Weise darin zu unterstützen, mehr zu erfahren.
Und ganz allein, ganz ohne Hilfe, war das ein schier unmögliches Unterfangen.
Machen wir wieder einen Sprung in das Jahr 1998. Nun hatte ich Thorsten an meiner Seite. Der meinte irgendwann zu mir, warum ich denn so gar kein Interesse daran hätte, mal meine leibliche Seite kennenzulernen. Nachdem ich ihm unterbreitet hatte, dass ich schon lange gerne wissen wollte, wo meine Wurzeln liegen, meinte er nur „dann auf, lass uns auf die Suche gehen.
Wir schaffen das zusammen!“. Ein Satz, der uns über die vielen Jahre hinweg immer geholfen hat, alles was kam, zu überstehen, „zusammen schaffen wir alles!“
Ich wusste damals nur, dass ich über das Jugendamt Heppenheim, unserer Kreisstadt, vermittelt wurde.
Wir also dahin, gesagt wer ich bin und gefragt, ob es noch irgendwelche relevanten Informationen über das damalige Adoptionsverfahren von März 1976 gäbe.
Und siehe da, die Dame konnte so einiges aus ihren Unterlagen hervorkramen. Da gab es eine Geburtsurkunde von mir, auf der standen der Name meiner leiblichen Mutter und ihr damaliger Wohnort. Damit taten sich, was die Suche betraf, völlig neue Möglichkeiten auf.
Sie erzählte mir außerdem, dass ich schon mit 14 Tagen adoptiert wurde und meine Adoptiveltern 870 D-Mark für mich bezahlen mussten (für die jüngeren unter euch: D-Mark war die Währung VOR dem Euro). Thorsten meinte damals sehr charmant zu mir, ich sollte mir über diese Summe nicht allzu sehr den Kopf zerbrechen, schließlich wäre ich ja dafür heute unbezahlbar!
Was noch viel wichtiger und interessanter war: eigentlich hieß ich wohl gar nicht Corinna sondern Claudia! Diesen Namen hatte meine leibliche Mutter für mich ausgesucht. Meine Adoptiveltern haben mich dann kurzerhand umbenannt.
Voll von neuen Erkenntnissen und Informationen gingen wir zurück in unsere Wohnung nach Siedelsbrunn. Wir mussten über unsere nächsten Schritte genau nachdenken.
Wir hatten ja nun den Geburtsnamen meiner Mutter und den damaligen Wohnort, und so haben wir uns ein Telefonbuch geschnappt (ja, sowas gab es damals noch, Google und andere Suchmaschinen kamen, für uns jedenfalls, erst ein paar Jahre später). Wir haben „Lampertheim“ aufgeschlagen, eine Stadt westlich von uns, ungefähr 40 Kilometer weg von Wald-Michelbach.
Dort soll meine Mutter gelebt haben als sie mit mir schwanger war.
Geboren wurde ich damals in Darmstadt.
Wir mussten im Telefonbuch zum Buchstaben „F“, da der Mädchenname meiner Mutter so begann. Wie zu erwarten war, gab es einige, die mit Nachnamen so hießen wie sie damals. Was blieb uns also anderes übrig, als jeden einzelnen anzurufen, meine kleine Geschichte zu erzählen und zu gucken, ob sie irgendjemandem bekannt vorkam. Ich hatte bestimmt schon mit vier Menschen telefoniert, von denen drei sehr freundlich waren und mir weiter Glück wünschten. Eine fragte mich, ob ich noch alle Latten am Zaun hätte und wo die versteckte Kamera sei.
Beim mittlerweile fünften Anruf hatte ich eigentlich schon gar keine Lust mehr auf Erklärungen und blöde Fragen. Aber da dann nur noch zwei übrig waren hab ich alle Kraft zusammen gesammelt und die vorletzte Nummer in unserer Liste gewählt.
Eine Frau mittleren Alters meldete sich, sie klang freundlich und offen.
Ich erzählte ihr das, was ich schon allen anderen vor ihr erzählt hatte. „Ich bin auf der Suche nach meiner leiblichen Mutter. Sie hieß Annegret Fried und hat am 09.03.1976 in Darmstadt ein Mädchen namens Claudia zur Welt gebracht.
Das Mädchen wurde gleich nach der Geburt zur Adoption frei gegeben.
Meine Mutter wohnte wohl damals in Lampertheim. Sagt ihnen das Ganze irgendwas oder kennen sie sie vielleicht sogar?“
Ich muss noch dazu sagen, weil es wichtig ist für den weiteren Ablauf, das war an einem Freitagabend. Wir saßen nebeneinander auf der Couch, das Telefonbuch vor uns, ich den Hörer in der Hand, Thorsten gespannt wie ein Flitzebogen neben mir.
Es dauerte ein bisschen, ich merkte das die Frau am Telefon überlegte. Dann sagte sie „Ja, die Dame kenne ich. Das ist meine Schwester. Und dann bist du also Claudia, ihre Erstgeborene und meine Nichte.“
Ähhhh, ja, das bin ich dann wohl. Was mir in dem Moment alles durch den Kopf ging kann ich gar nicht mehr beschreiben. Ich war meinem Ziel, mehr über mich zu erfahren, plötzlich ganz, ganz nah. Ich fragte sie, ob wir uns vielleicht mal irgendwann treffen könnten, weil ich natürlich noch so viel mehr von ihr wissen wollte. Sie schien hocherfreut, und Thorsten neben mir (ein Mann der Tat!) flüsterte mir zu, ich solle sie fragen, ob sie nicht MORGEN gleich Zeit hätte. Im Ernst jetzt?? Ich wusste gar nicht, ob ICH das morgen schon wollte. Aber die Neugier siegte, und die Möglichkeit endlich mehr zu erfahren, war zu verlockend.
Wir verabredeten uns also für den Samstag, wollten gegen Mittag bei ihr sein. Ich war unfassbar aufgeregt.
Wir machten uns gegen zehn auf den ca. einstündigen Weg, und als wir endlich vor dem Haus standen, in dem sie wohnen sollte, wurde mir leicht übel.
Wir gingen drei Stockwerke über ziemlich ungepflegte Treppenhäuser und Flure, bis wir zu der Tür kamen, die sie uns am Telefon genannt hatte.
Ich atmete einmal tief durch und klingelte. Eine Frau öffnete, bekleidet mit einem speckigen Frotteekleid, ziemlich korpulent und mit offensichtlich seltenem Kontakt zu Wasser. Ich betete insgeheim, mich in der Tür geirrt zu haben, und wollte auf der Stelle wieder umdrehen. Da sagte sie zu mir, im schönsten Lampertheimer Dialekt „du bischt die Claudia, gell? Ach Godd , du siiescht aus wie die Tina“.
Ein Satz, und ein Name, mit dem ich zu dem Zeitpunkt noch so gar nichts anfangen konnte. Ich war aber viel zu irritiert, um weiter nachzufragen. Ich sagte einfach nur „Ja, die bin ich“, und wir wurden hereingebeten. Drinnen erwartete uns ein Mann auf der Couch, mit nichts an als der guten alten Feinripp-Unterwäsche. Von der Sauberkeit und dem Pflegezustand in etwa dasselbe Exemplar wie seine Gattin. Er wurde uns dann als mein Onkel präsentiert, quasi der Schwager meiner Mutter.
Die Wohnung war klein und ziemlich vollgestopft, irgendwo im Eck pfiff und krakeelte ein Vogel. Ich fühlte mich fehl am Platz und ziemlich unwohl. Sie forderte uns auf, Platz zu nehmen und bot uns was zu trinken an, was wir dankend ablehnten.
Dann begann sie zu erzählen: „Deine Mutter war noch ziemlich jung als sie mit dir schwanger wurde, und sie war mit deinem Vater auch noch nicht verheiratet. Dein Vater war ein jugoslawischer Zigeuner (ab da erklärten sich dann auch meine dunkleren Augen und Haare) und musste alle drei Monate zurück nach Jugoslawien. Als du auf der Welt warst wollte deine Mutter hier zu mir in die Wohnung mit dir. Aber das Jugendamt meinte damals, acht Personen auf 56 Quadratmetern wären zu viel, und die familiären Verhältnisse seien keine gute Voraussetzung für ein Baby. Und so wurdest du zur Adoption freigegeben“.
Jetzt kommt der Zeitpunkt, an dem ich noch folgendes erwähnen sollte:
Ich wurde also nach 14 Tagen freigegeben und nach Affolterbach gebracht.
Immer noch als „Claudia Fried“. So hieß ich auch noch eine ganze Weile, weil die Adoption zu dem Zeitpunkt noch nicht zu 100% in trockenen Tüchern war.
Das war der Punkt, an dem meine Schwiegermutter meinte, sie hätte mich auch gerne gehabt, also gerne adoptiert. Meine leiblichen Eltern haben zwischenzeitlich eilig geheiratet, weil mein leiblicher Vater mich sehr gerne wieder zurückgehabt hätte.
Also hieß ich nach der Heirat meiner Eltern erstmal eine Weile offiziell „Claudia Kumbarovic“, der Nachname meines jugoslawischen Papas.
Meine leiblichen Eltern waren wohl sogar zweimal in Affolterbach, und wollten mich persönlich wieder mit zu sich nach Hause nehmen. Beim ersten Mal hat mich mein Adoptivpapa nicht rausrücken wollen, und beim zweiten Mal waren sie zu spät. Die Adoption war durch und ich hieß ab dem Zeitpunkt, ganz offiziell, „Corinna Bonin“.
Jetzt saßen wir also hier in Lampertheim, im stickigen Esszimmer meiner Tante, und lauschten gespannt ihren Erzählungen.
Sie berichtete mir, dass es da noch mehr Schwestern und Brüder von meiner Mutter gäbe, also noch ganz viele leibliche Onkel und Tanten für mich.
Sie selbst habe schon vor Jahren den Kontakt zu meiner Mutter abgebrochen.
Es gäbe aber noch einen Bruder in Mannheim Gartenstadt, der hätte noch Kontakt, wüsste wie es ihr ginge und wo sie jetzt wohne.
Und den rief sie dann auch ohne Umschweife an. Sie schrie ins Telefon „Diedaaa, stell deer vor, die Claudia is dooo.“ Sie fragte ihn, ob er nicht mal herkommen könnte, weil er wüsste ja über die Annegret mehr als sie.
Und was soll ich sagen? Keine dreiviertel Stunde später stand besagter Onkel Dieter („Diedaaa“) vor mir mit dem Satz „ach Godd, du siiescht aus wie die Tina“. Super, noch einer der das behauptet. Wer war denn diese ominöse Tina? Vielleicht sollte ich mal fragen, dachte ich so bei mir. Bevor ich aber dazu kam wurde ich schon wieder mit Informationen regelrecht überhäuft, dieses Mal von meinem Onkel.
Meine Mutter wohnte wohl in Baden - Baden, er wisse auch genau wo, weil er sei ja der Einzige ihrer ganzen Familie der noch Kontakt zu ihr hätte.
Und wenn wir wollten, würde er gerne mal mit uns dahinfahren.
Hatte ich schon erwähnt das mein Mann ein „Mann der Tat“ ist? Und was fällt so einem Mann in so einem Moment ein? Natürlich, wenn der Onkel wollte, und Zeit hätte, würden wir gleich morgen mal nach Baden - Baden fahren.
Hallohooo?? Wer sagt denn, dass ICH das will? Ich fühlte mich grenzenlos überfordert. Natürlich wollte ich wissen, wo ich herstamme. Aber das ging alles irgendwie rasend schnell, und war für mich kaum gedanklich zu erfassen.
Zu dem wusste ich tatsächlich immer noch nicht wer diese „Tina“ war. Ich wandte mich an meinen Onkel. „Die Tina? Das ist doch deine Schwester, und der Bernd dein Bruder“.
Bäääng, das saß! Ich hatte also auch noch Geschwister!
Mein Kopf drehte sich sprichwörtlich im Kreis. Thorsten unterbrach mein gedankliches Getrudel und schlug vor, wir sollten morgen früh gegen sieben los, so um acht in Mannheim sein, Onkel Dieter abholen, und uns dann auf den Weg nach Baden - Baden machen.
Gesagt, geplant, gemacht. Sonntags gegen halb neun waren wir zu dritt unterwegs. Ungefähr eineinhalb Stunden später standen wir vor einem Haus, an einer unglaublichen steilen Strasse, in Baden - Baden.
Ich muss jetzt vorab mal was loswerden: ich stellte mir, seit dem Moment in dem ich erfuhr, dass ich adoptiert bin, vor, wie meine leiblichen Eltern aussehen würden. Wie sie sind, ob wir uns ähnlich sehen, wie sie auf mich reagieren würden. Und ich natürlich auf sie. Würden sie sich freuen? Wären sie enttäuscht? Wollten sie überhaupt irgendwas mit mir zu tun haben? Oder hatten sie mich vielleicht sogar schon vergessen?
Ich stellte mir vor, wie eine Frau und ein Mann mittleren Alters vor mir stehen würden, beide sympathisch, humorvoll, lustig, gepflegt……“normale“ Menschen halt. Wir würden uns weinend in die Arme fallen, und ich hätte von da an zwei Mütter und zwei Väter in meinem Leben.
Soweit meine Phantasie, die fünfzehn Minuten später einer unfassbar seltsamen Realität weichen sollte.
Mein Onkel unterbreitete uns, dass er meiner Mutter am Telefon NICHT erzählt hatte, was ihr heute bevorsteht. Er hätte ihr lediglich erzählt, dass er sie nach all den Jahren mal wieder besuchen wollte. Ich solle mich also nicht wundern, wenn sie etwas komisch reagieren würde. Die UNTERTREIBUNG DES JAHRES!! „Komisch“ war nicht der passende Ausdruck für das, was gleich passieren sollte. Er ging die unzähligen Stufen am Haus hoch zur Haustür, sagte uns, wir sollten hier unten auf der Straße auf ihn warten. Er würde jetzt meine Mutter rausholen. Ich machte mir fast in die Hosen vor Aufregung. Ich glaube, Thorsten neben mir ging es nicht viel anders. Er strich mir beruhigend über den Rücken, ich nahm es kaum wahr. Dann ging die Haustür oben wieder auf, mein Onkel kam raus, gefolgt von einer kleinen dünnen Frau in einer gelben Jacke und halblangen braunen Haaren. Mir wurde schlecht, mein Kopf war leer, mein Mund trocken. Nur noch ein paar Stufen und dann stand sie vor mir.
Sie war tatsächlich sehr dünn, ihr Gesicht eingefallen, tiefe Ringe unter den Augen. Die Haare hingen strähnig und ungewaschen auf den Schultern, und im Mund klaffte eine riesige Lücke, da wo normalerweise eine ganze Reihe Zähne stehen sollten. Ich stand völlig unter Schock!
Da stand ich nun vor der Frau, die mich auf die Welt gebracht hatte, die mir mein Leben geschenkt hatte und empfand……NICHTS. Außer vielleicht gerade ein bisschen Ekel.
Sie schien ein wenig verwirrt, hatte offensichtlich überhaupt keine Ahnung, was oder wer ich war. Dieter sagte dann zu Ihr „So, da isse. Deine Tochter.“
Und sie meinte „ja, das seh ich. Tina, was machst du hier, ich dachte du musst arbeiten?“ Da war sie wieder, diese Tina, meine Schwester, der ich wohl ziemlich ähnlich sehen musste. Dieter machte ihr dann klar, dass ich nicht Tina sondern Claudia sei. In dem Moment, in dem meiner Mutter bewusst wurde, WER da wirklich vor ihr stand, brachen bei ihr alle Dämme. Sie heulte, drückte mich, sagte immer wieder, dass sie das jetzt überhaupt nicht glauben könne und ich empfand…….. immer noch nichts. Sie tat mir in diesem Moment fast leid. Ich konnte ihre Freude und Emotionen weder teilen noch erwidern. Und ich roch ihre Alkoholfahne.
Sie bat uns mit hoch in die Wohnung und wir folgten ihr, ich seltsam ernüchtert, eher abwartend und unglaublich enttäuscht. SO hatte ich mir das wahrlich nicht vorgestellt. Meine Träume einer harmonischen „Zweitfamilie“ zerplatzten gerade wie eine schillernde Seifenblase.
Wir traten durch die Tür und waren beide schlagartig schockiert. Versteht mich bitte nicht falsch! Aber wir legen beide gesteigerten Wert auf Ordnung, Sauberkeit und Gemütlichkeit. Diese Wohnung hatte von alledem NICHTS! Es war eine Art Kulturschock. Wir standen in diesem kleinen Flur zwischen Küche und Wohnzimmer und trauten uns kaum, Luft zu holen.
Hinter uns stapelten sich Geschirrberge, aus der offenen Backofentür lugten uns festgebrannte Essensreste entgegen. Der Fußboden klebte, vor unseren Füßen lagen Zigarettenkippen, kleine Fliegen und eine tote Kakerlake.
Während ich noch wie versteinert das tote Tier auf dem Boden vor mir anstarrte ließ Thorsten seinen Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Da stand eine Couch mit einem Deckenknäuel drauf, und ein kaputter Schrank. Neben dem Schrank hing ein Bild. Thorsten deutete darauf und meinte, ziemlich verwundert, „Guck mal, da hängt ja ein Bild von dir, wie geht das denn?“
Tatsächlich sah die Frau auf dem Bild aus wie ich gerade, vielleicht etwas jünger, aber ansonsten unglaublich ähnlich.
Das war dann wohl Tina, fehlte nur noch irgendwo ein Bild von meinem Bruder Bernd. Meine Mutter war in einem Nebenraum verschwunden, die Tür dazu stand einen kleinen Spalt offen. Wir konnten zwei Matratzen auf dem Boden liegen sehen, darauf ein Mann, hektisches Gemurmel kam durch die Tür.
Wir standen immer noch wie angewurzelt im Türrahmen, da regte sich auf einmal der Deckenhaufen auf der Couch. Ein Kopf kam zum Vorschein, jung, schätzungsweise 15 Jahre alt. Meiner Vermutung, und allem Anschein nach, Bernd! Oben rum nix an, unten offensichtlich nicht viel mehr. „Ey Tina, was machst du denn hier?“.
Na toll, läuft ja prima. In dem Moment kam Annegret wieder zum Vorschein, einen blonden Mann im Schlepptau. Ich dachte noch so bei mir „Bisschen hell für einen jugoslawischen „Zigeuner“. Was er ja dann auch nicht war. Sie stellte ihn uns als ihren Lebensgefährten vor.
Ihr Mann, mein Vater und der meiner Geschwister, hätte vor fünf Jahren einen Unfall gehabt. Er sei Brückenbauer gewesen, und hatte während seiner Arbeit einen epileptischen Anfall. Dabei sei er von der Brücke gestürzt und so schwer verletzt worden, dass sie irgendwann entschieden habe, die lebenserhaltenden Maschinen abstellen zu lassen.
Ich war also fünf Jahre zu spät. Hätte ich etwas früher Unterstützung bei der Suche gehabt, und nicht erst mit Thorsten den Mann gefunden, der mir jetzt den Rücken stärkte, hätte ich noch die Chance gehabt, meinen leiblichen Papa kennen zu lernen.
Nun denn, angesichts der Tatsache, dass weder Thorsten noch ich länger in dieser Wohnung bleiben wollten haben wir vorgeschlagen, uns in einer halben Stunde in einem nahegelegenen Café zu treffen. Dieter kannte sich ein wenig dort aus und hatte das vorgeschlagen. Wir machten uns also erstmal zu dritt auf den Weg, und ich hatte die Möglichkeit, kurz durchzuatmen, und im Schnelldurchlauf das bisher Erlebte Revue passieren zu lassen. Da saßen wir also, in einem kleinen Café am Rand von Baden Baden, und warteten einfach ab. Zu mehr waren wir beide nicht in der Lage, zu sehr hatte uns das, was wir gerade gesehen hatten, verunsichert.
Die Tür ging auf, und nacheinander betraten meine Mutter Annegret, ihr Lebensgefährte und mein Bruder Bernd die Szenerie, nahmen rund um den Tisch Platz und bestellten erstmal Getränke. Mein Bruder orderte ein Bier (es war elf Uhr morgens und ich leicht irritiert, aber jeder wie er will, dachte ich mir). Der Rest trank Kaffee. Annegret meinte, sie hätte Tina erreicht.
Die wäre eh gerade hier irgendwo in der Nähe und wollte noch vorbeikommen. Ok, auf sie war ich wirklich mehr als gespannt.
Dann begann die große Fragerunde. Mein Bruder erzählte mir, nicht ohne gewissen Stolz, dass er schon mal im Knast gesessen hatte. Ich muss zugeben, ich weiss nicht mehr warum.
Aber ich muss auch zugeben, dass mir irgendwie nicht nur dieses „das ist meine Mutter“-Gefühl völlig fehlte, sondern auch das Gefühl, dass hier vor mir mein leiblicher Bruder saß. Und eigentlich sollte ich mich, als eingefleischtes Einzelkind, darüber freuen, doch noch Geschwister zu haben.
Doch das Gefühl wollte sich so überhaupt nicht einstellen.
Ich wurde gefragt, was ich denn so machen würde. Also erzählte ich, dass ich in einem Seniorenheim arbeite, gelernte Krankenschwester bin, eine eigene Wohnung und ein eigenes Auto habe.
Ab diesem Moment war ich der absolute König am Tisch. „Wie, du hast was gelernt und hast einen Beruf? Ehrlich? Und Du hast einen Führerschein UND ein Auto?? Wahnsinn was du aus deinem Leben gemacht hast!“
Jaaaa, echt Wahnsinn. Und noch aufregender war wohl, dass Thorsten das alles auch hatte. Beruf, Auto, Wohnung……. wir waren der Mittelpunkt am Tisch, an dem Menschen saßen, deren Leben in eine so ganz andere Richtung gelaufen war als meins.
Ich erfuhr erst viel später, dass meine Mutter und meine beiden jüngeren Geschwister, zusammen mit meinem Vater, eigentlich genauso ein Leben hatten, und mit seinem Tod alles den Bach runter ging.
Wir redeten und redeten, bis plötzlich die Tür aufging und eine junge Frau in einem weißen, enganliegenden, weit ausgeschnittenen Overall herein stürmte…. mit MEINEM Gesicht. Ich dachte, mich trifft der Schlag.
Sie war ziemlich auffällig geschminkt, trotzdem war die Ähnlichkeit deutlich zu sehen. „Hi, ich bin Tina, und du bist Claudia, richtig?“
Mit dem Namen „Claudia“ hatte ich so meine Schwierigkeiten, ich war ihn nicht gewohnt, er passte irgendwie nicht zu mir. Jetzt hörte ich seit gestern fast nichts anderes mehr, und wünschte mir gerade so sehr, wieder „Corinna“ sein zu können.
Ich wollte mehr von meiner Schwester erfahren, nachdem ich von ihr schon ziemlich ausgefragt worden war. Auch hier wieder mit unglaublicher Verwunderung über meinen „Werdegang“. Ich fragte sie, was sie denn so machen würde und wo sie arbeitete (immerhin war meine Mutter ja verwundert, dass ich vor ihr stand weil sie dachte, ich wäre Tina und wäre eigentlich arbeiten).
Ich bekam dann rundheraus an den Kopf geknallt „Ich bin Domina und arbeite in einem Studio in Karlsruhe“.
„Tief atmen, Frau Weber“ (bzw. damals noch „tief atmen Frau Bonin“) dachte ich. Damit hätte ich irgendwie rechnen müssen.
Ich muss dazu sagen, ich bin tatsächlich allem gegenüber mehr als aufgeschlossen. Thorsten und Sven, ein Freund von uns, hatten längere Zeit einen Internetshop, in dem sie Dessous, sexy Schuhe und andere Dinge, die Spass machen konnten, vertrieben haben. Ich bin damals durch diverse Sexclubs getingelt.
Im Anzug wohlgemerkt. Auch wenn ich dreimal gefragt wurde, ob ich meine Kleidung anlassen wolle, oder mich lieber auch ausziehen möchte. Ich habe jedes Mal dankend abgelehnt. Ich habe Werbung für die Artikel gemacht und Verkäufe getätigt. Es hat mir ziemlichen Spaß gemacht und ich hatte mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun. Swingerclub Besitzern, Puffmuttern, Prostituierten, alles unterschiedliche und tolle Persönlichkeiten. Ich bin daher auch ziemlich frei von sämtlichen Vorurteilen.
Trotzdem war ich erstmal kurz irritiert, und musste meine Gedanken sammeln. Dann sagte ich ihr, dass ich das vollkommen in Ordnung finde und sie entscheiden könne, was sie aus ihrem Leben macht. Ich dachte mir, dass sie das bestimmt gut findet, dass sie so eine tolerante „große“ Schwester hat.
Daraufhin sie „du sprichst irgendwie voll komisch, gar nicht wie wir.“ Ich musste ein paar Momente darüber nachdenken was sie meint, und wo jetzt gerade der Zusammenhang zu meinem Satz vorher bestand. Dann fiel mir auf, dass die Baden-Badener natürlich einen ganz anderen Dialekt haben als wir. Ich bin nun mal ein waschechter Odenwälder („Oureweller“ um genau zu sein) und das hört man nun mal gerne etwas raus, besonders wenn ich mich in Rage rede. Ich erklärte ihr, dass ich nun mal ganz woanders aufgewachsen bin als sie. Sie starrte mich an und meinte „aber du bist doch unsere Schwester, dann müsstest du doch trotzdem reden wie wir, oder nicht? Wir sind doch schließlich verwandt.“
Was soll ich denn jetzt dazu noch sagen? Ich beschloss, einfach die Klappe zu halten, auch wenn mein Hirn gerne was ganz anderes wollte. Aber das hatte eh die letzten zwei, drei Tage eher weniger zu sagen. „Denken“ war grad irgendwie Mangelware.
Dann fielen Sätze wie „Tante Bianka kommt auch noch“ und „bist du wahnsinnig, die fällt um, wenn sie Claudia sieht“ oder „wir müssten ja Oma und Opa Bescheid sagen, aber diesen Schock überleben die nicht“.
Und eigentlich waren meine Nerven da schon ziemlich aufgebraucht, und ich fühlte mich total erschöpft. Aber es sollte noch kein Ende nehmen.
Die Tür flog auf und eine kleine, schwarzhaarige, ziemlich runde ältere Frau polterte herein.
Anders kann ich es echt nicht beschreiben. Sie hat sofort die komplette Aufmerksamkeit an sich gerissen, mich fast plattgedrückt und laut gleichzeitig geweint und gelacht. Nach endlosem und heillosem Durcheinander stellte sich die Person als besagte Tante Bianka vor, eine Schwester meines Vaters.
Wie ich mittlerweile ja schon herausgefunden hatte, hatten meine Mutter und mein Vater beide ziemlich viele Geschwister. Und ich irgendwann, anhand dieser Fülle von Namen, überhaupt keinen Durchblick mehr.
Ich wollte nur noch heim, mir war alles zu viel!
Wir versprachen, bald wieder zu kommen, und dann auch die Eltern meines verstorbenen Vaters zu besuchen, die auch in Baden Baden wohnten.
Für dieses Wochenende war mein Bedarf an „Familie, die ich eigentlich gar nicht kenne“ mehr als gedeckt.
Wir waren dann tatsächlich insgesamt noch dreimal dort, einmal davon haben wir die Eltern meines Vaters besucht. Beide waschechte alte Jugoslawen, die ihre Wurzeln schon lange in Baden Baden geschlagen hatten.
Die Oma war eine kleine, leicht bucklige, schlanke Frau, mit schwarzen Kraushaaren. Der Opa ein südländisch aussehender älterer Mann, ziemlich dunkle Hautfarbe und immer ein breites Grinsen im Gesicht. Und einer Sauerstoffbrille in der Nase. Er war zu dem Zeitpunkt schon schwer lungenkrank, was genau er hatte weiß ich bis heute nicht.
Er hat uns damals voller Stolz einen Raum in der Wohnung gezeigt, der voll war mit Pelzjacken, Lederjacken, Anzügen, Schuhen und Uhren. Man sah jedem einzelnen Stück in dem Raum an, dass es nicht echt war. Er hat Thorsten eine „Rolex“ gegeben, und war so glücklich darüber, ihm was schenken zu können. Wir haben uns so herzlich für die Uhr bedankt, als sei sie echt.
Ich habe nicht gefragt, wo er das alles herhatte, es ging mich einfach nichts an. Ich hatte mit dieser ganzen Familie weiterhin so viel zu tun und gemeinsam wie der Papst mit einer Heavy Metal Band.