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Eigentlich war es ja eher ruhig in und um das beschauliche Inselstädtchen Wyk auf Föhr. Das man einen Toten mit geöffnetem Brustkorb am Südstrand findet geschah von daher äußerst selten. Genaugenommen eigentlich noch nie. Kommissar Hansen und sein Team stehen nun vor der schwierigen Aufgabe, herauszufinden wer der Mann war, was er hier auf der Insel wollte, wer ein Motiv hatte, ihn zu töten und wer ihn schlussendlich auf so bestialische Art und Weise ermordet hat. Mit zunächst ungewollter Unterstützung vom Festland, viel Geduld und hin und wieder ein Stück Friesentorte gelingt es Knut Hansen am Ende ein gut gehütetes Geheimnis zu lüften und eine schreckliche Wahrheit ans Licht zu bringen. Man fühlt sich beim Lesen auf die Insel, die kleinen Gässchen und den Strand versetzt, kann den Tee und die Friesentorte schmecken und spürt den frischen Nordseewind in den Haaren!
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Seitenzahl: 233
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Corinna Weber wurde 1976 in Darmstadt geboren. Sie lebt mit ihrer Familie in dem beschaulichen Örtchen Wald-Michelbach im Odenwald.
Mit einer 24jährigen und einer 12jährigen Tochter an der Hand, ihrer kleinen Krawalli fest im Herzen und seit 27 Jahren einem Mann an ihrer Seite, der fest zu ihr steht, hat sie bis jetzt alle Stürme des Lebens (fast) erfolgreich gemeistert.
Sämtliche Personen der Geschichte, sowie Handlungen oder Ähnlichkeiten, sind frei erfunden und daher rein zufällig.
Neben dem aktuellen Roman entstammen die „MUDDI Zusammen schaffen wir alles“-Bücher sowie die Taschenbuch-Reihe „Ronjas Welt“ und der Roman „Auf Umwegen zur Hölle – Trottel mit Flügeln sucht neuen Job“ aus der Feder der Odenwälder Autorin.
Kapitel 1: Antonia und Paul
Kapitel 2: Jan
Kapitel 3: Sarah
Kapitel 4: Philip
Kapitel 5: Knut und Sarah
Kapitel 6: Kalle
Kapitel 7: Josefine Kimbacher
Kapitel 8: Theresa
Kapitel 9: Theresa und Nicklas
Kapitel 10: Knut und Kilian
Paul sah rüber zu Antonia, die gerade das Frühstücksgeschirr in die. Spülmaschine räumte. „Möchtest du wirklich nicht mitkommen mein Schatz?“
Lächelnd beobachtete er, wie ihre Hand immer wieder, fast wie unbewusst über ihren sich schon ganz leicht rundenden Bauch strich. Sie wussten erst seit Kurzem, dass sie in ungefähr sechs Monaten zum allerersten Mal Eltern werden würden. Und beide waren einfach nur überglücklich. Sie waren seit vier Jahren ein Paar und verliebt wie am ersten Tag. Vor drei Wochen waren sie vom beschaulichen Steindorf in Schwaben ins quirlige Berlin gezogen. Paul hatte als IT-Berater einen sehr gut bezahlten Job in einer großen Firma in Charlottenburg angeboten bekommen und Antonia gebeten, mit ihm nach Berlin zu gehen. Sie wollten in Berlin völlig neu durchstarten. Antonia hatte eine Stelle als Rechtsreferendarin in einer renommierten Kanzlei in Berlin Mitte gefunden. Dort würde sie bis zu ihrem Mutterschutz arbeiten können. Pauls Firma hatte den beiden angeboten, in eines der firmeneigenen Häuser in Charlottenburg zu ziehen. Zurzeit wohnten sie allerdings noch übergangsweise in Friedrichshain, einem lebhaften Stadtteil von Berlin. Antonia fühlte sich dort ziemlich wohl, die Menschen waren offen, herzlich, mit der fast schon berühmt-berüchtigten Berliner Schnauze. Mit Charlottenburg konnte sie sich gedanklich noch nicht so ganz anfreunden, sie war sich nicht ganz sicher, ob es die geeignete Umgebung sein würde, um ein Kind großzuziehen. Paul trat hinter sie und umfasste sie mit seinen Armen.
„Ich werde das Haus genauestens unter die Lupe nehmen, immerhin wird dort unsere kleine Prinzessin aufwachsen.“ Antonia musste lachen.
„Vielleicht wird’s ja auch ein kleiner Prinz, das wissen wir ja beide schließlich noch nicht. Ich bin mal sehr gespannt, was du nachher erzählst. Und ich erwarte natürlich, dass du mir ganz viele Bilder machst.“
Sie drehte sich zu ihm um und schlang die Arme um seinen Hals. „Ich werde später mal einen kleinen Ausflug in die umliegenden Geschäfte machen und gucken, mit was ich uns kulinarisch die nächsten Tage über die Runden bringen werde.“
Dann drückte sie ihm einen Kuss auf die Lippen und schloss den Geschirrspüler. Noch kannten sie sich beide hier in Berlin nicht wirklich gut aus, waren sich aber sicher, dass die Hauptstadt ein neues Zuhause für sie werden könnte. Sie waren noch verhältnismäßig jung und flexibel genug, um sich auf dieses Abenteuer fast unvoreingenommen einzulassen. Antonia war 28 Jahre, Paul 29 Jahre alt. Sie hatten sich in Stuttgart auf einem Konzert kennen gelernt und festgestellt, dass sie gerade einmal 20 Kilometer voneinander entfernt wohnten. Es war die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick. Antonia hatte sofort Schmetterlinge im Bauch beim Anblick des großen, dunkelhaarigen Mannes, dessen Augen sie so unglaublich sanft ansahen und dessen Stimme ihr eine Gänsehaut verursachte. Beide hatten vom ersten Moment an das Gefühl, in dem jeweils anderen seinen Seelenpartner gefunden zu haben. Sie hatten die gleichen Interessen, mochten die gleichen Filme, aßen am liebsten italienisch und zogen Spaziergänge und Blicke in den Sternenhimmel jeder Party vor. Nach gut einem Jahr Beziehung waren sie zu Antonias Eltern nach Steindorf in die Dachgeschosswohnung gezogen. Zwei Jahre später hatte Antonia ihr Staatsexamen als Rechtsanwältin in der Tasche und Paul hatte sich als IT-Berater nach oben gearbeitet. Die Worte „Hochzeit“ und „Baby“ fielen nun immer öfter, auch innerhalb der Verwandtschaft. Ihre Eltern hätten es nur zu gerne gesehen, wenn sich ihr Töchterchen mit dem gutaussehenden und sehr netten „Computermensch“ baldigst verloben, ihn heiraten und eine Familie gründen würde. Natürlich genau in dieser Reihenfolge. Die Mutter hatte sich sogar schon nach einem geeigneten Haus für das junge Glück in dem kleinen Örtchen umgesehen. Paul hatte dann allerdings, für alle recht unerwartet, ein Jobangebot einer großen IT-Firma in Berlin erhalten und wollte Antonia natürlich gerne mitnehmen. Und weil Antonias Eltern, allen voran ihre Mutter Hannelore eher konservativ eingestellt waren und so einem großen Schritt für ihre Tochter mit gemischten Gefühlen entgegensahen hatten Paul und Antonia beschlossen, noch vor dem geplanten Umzug wenigstens standesamtlich zu heiraten. So würde Antonia seinen Nachnamen tragen und die doch sehr katholische Mutter war zumindest ein Stück weit zufrieden gestellt. Als sie glücklich strahlend aus dem Standesamt in Steinbach traten wischte sich Hannelore verstohlen eine Träne von der Backe.
„Hach, nun geht die zweite Tochter auch aus dem Haus. Und auch wieder so weit weg von mir. Es ist schon sehr traurig, dass keine der beiden hier bei uns bleiben will. Nicht wahr Karl-Heinz? Dabei ist das Haus doch wahrhaftig groß genug, und ich hätte mich wunderbar um die Enkelkinder kümmern können!“
Sie stieß ihren Mann in die Seite. Der brummte nur leise. Er wusste, dass es für seine Frau nicht einfach zu verstehen war, dass die beiden Töchter nun mal groß und alt genug waren, um ihr eigenes Leben zu führen. Und dass sie alle fast schon aus dem langweiligen und tristen Schwabendorf flüchteten und sich woanders ein neues Leben aufbauten, konnte er sogar richtig gut verstehen. Er selbst war ein gebürtiger Münchner und nur seiner Frau zuliebe damals aus der Großstadt in dieses kleine, verschlafene Dorf gezogen. Es war ihre Heimat und für nichts und niemanden wäre sie jemals von hier weggezogen. Die ersten Jahre war das alles für ihn auch noch vollkommen in Ordnung gewesen. Sie waren frisch verliebt, bauten ein Haus und bekamen zwei wundervolle Töchter. Aber bald darauf merkte er, dass er im Grunde genommen nicht geschaffen war für diese dörfliche Spießigkeit. Die Dorfweiber ratschten und zerrissen sich die Mäuler über alles und jeden. Jeder mischte sich in alles ein, es gab eigentlich nichts, was man im Ort nicht über den jeweils anderen wusste. Und alleine diese Tratscherei ging ihm gewaltig gegen den Strich. Am liebsten wäre er vor vier Jahren mit seiner älteren Tochter Theresa nach Föhr gegangen. Sie hatte einen Insulaner kennengelernt und war mit ihm auf die Insel nach Nieblum gezogen. Sie hatten zwei Kinder bekommen und seine Frau jammerte ihm nun fast täglich die Ohren voll, dass sie ihre Enkelkinder ja so gut wie nie zu Gesicht bekäme. Und dass die Älteste ja bestimmt niemals ihr Elternhaus verlassen hätte, wenn da nicht dieser „Fischkopp“ aufgetaucht wäre. Das Theresa und auch Antonia die doch oft recht übergriffige Art ihrer Mutter ziemlich auf die Nerven ging behielt er für sich. Auch dass Theresa heilfroh war, dass sie endlich aus der Enge des Elternhauses und der aufdringlichen Art ihrer Mutter entfliehen konnte. Das hatte sie ihrem Vater in einer ruhigen Minute einmal heimlich anvertraut. Bis zu dem Job-Angebot war Paul für Hannelore eigentlich auch der Traum-Schwiegersohn schlechthin gewesen. Aber dass er nun vorhatte, ihre jüngste Tochter mit sich nach Berlin zu nehmen war der Mutter ein ziemlicher Dorn im Auge.
„Aber wenn irgendwann dann mal Kinderchen unterwegs sind dann kommt ihr wieder hierher zurück, nicht wahr? So eine Großstadt ist ja wohl überhaupt nicht dafür geeignet, um Kinder großzuziehen. Außerdem werde ich mich um die Kleinen kümmern, dann könnt ihr beruhigt wieder arbeiten gehen. Und hier bei Mama ist es doch am Schönsten, nicht wahr?“ Sie strahlte, schob Paul beiseite und hakte sich bei Antonia unter. Die verzog leicht gequält die Mundwinkel und sah zu ihrem Papa. Der zuckte ganz leicht mit den Schultern. Sie liebte ihren Papa abgöttisch und wusste, wie er insgeheim oft unter all dem hier litt.
„Mama, dass mit den Kindern wird wohl noch ein bisschen dauern, wir wollen erst einmal selbst in Berlin ankommen. Ich sage dir dann schon frühzeitig Bescheid, wenn wir in die Planung gehen.“ Sie befreite sich sanft aus dem Arm ihrer Mutter und schmiegte sich glücklich verliebt in die Arme ihres frisch angetrauten Mannes. Bis der Umzug nach Berlin soweit war genossen sie ihre Zeit zu zweit, unternahmen endlos lange Spaziergänge und saßen im Sommer bis in die späte Nacht draußen, um in einvernehmlicher Stille dem Zirpen der Grillen zu lauschen und den Sternen beim Funkeln zuzusehen.
Als sie kurz vor dem Umzug überraschend feststellten, dass Antonia schwanger war, war beiden von vorneherein klar, dass sie ihr kleines Geheimnis vorerst für sich behalten würden. Hannelore würde ein Riesentheater veranstalten und schleunigst auf eine kirchliche Hochzeit bestehen. Und natürlich darauf, dass Antonia nun besser hier bei ihr bleiben würde.
Antonias Eltern wussten also noch nichts von dem Nachwuchs, Pauls Eltern lebten in Australien und hatten Antonia bisher nur einmal kennenlernen dürfen.
Antonia strich sich energisch ihre rote Lockenpracht hinters Ohr. Ihre Haare waren eines der Dinge, die Paul sofort aufgefallen waren. Kupferrot, mit Locken bis weit über die Schultern. Mit ihren stechend grünen Augen und dem strahlenden, umwerfenden Lächeln hatte sie ihn sofort in ihren Bann gezogen. Sie war witzig, unglaublich liebevoll, hatte eine verschmitzte und lebensfrohe Art und war dabei noch sehr klug und zielstrebig. Alles Attribute, die er an ihr liebte und die sie für ihn zu einem ganz besonderen Menschen machten. Er nannte sie liebevoll „Toni“, nichts anderes hätte besser zu ihr gepasst. Er freute sich wie ein Schneekönig auf all das, was das Leben für sie noch zu bieten hatte und war sich sicher, dass er mit dieser Frau alt werden wollte.
„Ich nehme den Roller, ich denke mal, dass ich damit um einiges schneller bin als mit dem Auto.“
Paul nahm einen letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse und zog sich seine Jacke über. Er drückte Antonia im Vorbeilaufen noch einen Kuss auf die Wange und streichelte ihr über den Bauch.
„Tschüss meine beiden Prinzessinnen“ Er zwinkerte. „Wollen wir uns vielleicht nachher bei Franco auf eine Portion Pasta treffen?“
Antonia strahlte. „Eine fantastische Idee, ruf mich einfach an, wenn du soweit bist. Bis nachher mein Schatz, pass auf dich auf! “ Sie winkte ihm nochmal hinterher und machte sich dann auf den Weg unter die Dusche. Sie ahnte nicht, dass sich ihr Leben noch heute von dem einen auf den anderen Moment schlagartig ändern würde und ab da nichts mehr so sein würde, wie es bisher war…
Antonia war gerade dabei, die vollgepackten Einkaufstaschen auszuräumen und die Sachen in ihrer kleinen Einbauküche und der winzigen Vorratskammer zu verstauen, als es an der Tür klingelte. Sie wunderte sich. Außer zwei Arbeitskollegen von Paul kannte sie hier noch niemanden wirklich, und dass sie jemand spontan besuchen kam war in den letzten drei Wochen auch noch nicht passiert. Gespannt lief sie zur Tür und spähte durch den Türspion. Draußen stand ein älterer Herr und zwei Polizeibeamte in Uniform. Zögerlich öffnete sie die Tür. Bestimmt hatten sie Fragen zu dem Einbruch, der letzte Nacht in dem Kiosk ums Eck verübt worden war. Antonia hatte Lärm gehört und Glas splittern hören und daraufhin die Polizei verständigt. Kurze Zeit später hörte sie die Sirenen und sah in der Spiegelung ihres Schlafzimmerfensters das Blaulicht. Aber sie hatte nicht mehr erfahren, als das wohl Jugendliche einige Stangen Zigaretten und 250 Euro aus der Kasse entwendet hatte. Der ältere Mann in Jeans, Hemd und Mantel sprach sie an.
„Mein Name ist Dirk Lehmann, Hauptkommissar.“ Er hielt ihr ein Kärtchen unter die Nase. „Sind Sie Frau Steiner?“ Er sah sie mit einem ganz seltsamen Blick an. Antonias Hände glitten unwillkürlich hinunter zu ihrem Bauch, wo sie fast wie schützend liegen blieben. Kommissar Lehmann registrierte die Bewegung und drehte den Kopf leicht nach hinten. Leise flüsterte er dem hinter ihm stehenden Beamten zu: „Lasst mal einen RTW kommen, nur für den Fall“. Dann wandte er sich wieder Antonia zu, die weiterhin fast bewegungslos vor ihm stand. Dann fiel ihr ein, dass dieser Herr Lehman ihr ja eine Frage gestellt hatte.
„Ja, die bin ich. Antonia Steiner. Was kann ich für Sie tun? Geht es um den Einbruch heute Nacht?“ Der Kommissar trat näher zu ihr hin und fasste sie leicht am Arm. Diese unerwartete Berührung des fremden Mannes irritierte Antonia sehr und sie schwankte. Lehmanns Griff wurde fester.
„Können wir vielleicht kurz reinkommen?“
Er drehte sich zu den beiden Beamten um. Die nickten. Einer folgte den beiden, während der andere sich schnellen Schrittes durchs Treppenhaus entfernte. Antonia führte den Kommissar und den Beamten ins Wohnzimmer.
„Bitte entschuldigen Sie das Chaos, wir sind gerade erst vor drei Wochen hierhergezogen und ziehen wohl auch bald wieder um. Ich hoffe, Sie finden trotzdem einen Platz zum hinsetzen. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
Sie schlang die Arme um ihren Körper und wirkte leicht nervös. Kommissar Lehmann hatte auf einem der beiden Sessel Platz genommen, stand aber nun wieder auf und machte einen Schritt auf Antonia zu.
„Frau Steiner, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Er ist mit seinem Roller verkehrtherum in eine Einbahnstraße gefahren. Der entgegenkommende Fahrer hatte keine Chance mehr, ihm auszuweichen. Es kam zu einem Frontalzusammenstoß. Herr Steiner Verletzungen waren so schwer, dass er noch an der Unfallstelle verstarb.“
Der Kommissar stockte, als er Antonias Gesichtsausdruck bemerkte. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und ihr Mund formte einen lautlosen Schrei. Dann sackte sie geräuschlos in sich zusammen. Kommissar Lehmann fing sie auf und herrschte den Beamten an, der hilflos mitten im Raum stand: „Wo bleibt der Rettungswagen, verdammt nochmal?“ Er strich der jungen Frau über die Stirn, sie war kaltschweißig und atmete schwer und unregelmäßig. Dann begann sie mit einem Mal zu schreien. So laut, durchdringend und qualvoll, dass die Männer um sie herum zusammenzuckten und in der ersten Sekunde völlig erstarrten. Als die Sanitäter einige Sekunden später auf der Bildfläche erschienen war sie schon wieder bewusstlos. Dafür wurde Lehmann mit einem Male ziemlich panisch und hektisch. Er hatte Antonia mittlerweile auf den Boden gelegt und wollte Platz machen für die Rettungssanitäter. Als er nochmal einen Blick hinunter zu ihr warf fiel ihm ein grauenvolles Detail auf. Der Boden unter ihr war voll mit Blut. Er machte einen der Sanitäter darauf aufmerksam und meinte dann: „Sie ist schwanger, beeilt Euch!“
Als Antonia die Augen aufschlug wusste sie zunächst nicht, wo sie war. Ihr Kopf dröhnte und sie hatte schreckliche Unterleibsschmerzen. Sie sah sich um. Links neben ihr war ein Fenster, die Aussicht allerdings sagte ihr nichts. Außerdem war es schon relativ dunkel draußen. Ihr Blick schweifte über die weiße Bettdecke weiter nach rechts. Da saß ein Mann, der seinen Kopf in seinen Händen vergraben hatte. Antonia stöhnte leise auf und sofort hob der Mann den Kopf und starrte sie an. Er sprang von seinem Stuhl auf und spurtete zur Schwesternklingel. Erst dann wandte er sich an sie.
„Frau Steiner, wie geht es Ihnen?“ Antonia runzelte die Stirn, sie kam gerade weder darauf, woher sie den Mann kannte, und vor allem er sie. Noch wie sie hierherkam und was sie hier tat. Offensichtlich sah er ihr an, dass sie noch nicht wirklich bei sich zu sein schien. Er zog den Stuhl an ihr Bett und setzte sich langsam hin, „Erinnern Sie sich? Ich bin Hauptkommissar Dirk Lehmann. Ich war heute bei Ihnen in der Wohnung und musste Ihnen eine schreckliche Mitteilung machen…“
Lehmann rieb sich verlegen den Nacken, ihm war die ganze Situation schrecklich unangenehm. Vor Antonias Augen erschienen Bilder. Sie sah Paul, der sich freudestrahlend von ihr verabschiedete, vom gemeinsamen Frühstück, bei dem sie noch Pläne geschmiedet hatten, das Auftauchen der Polizei und den Moment, als sie spürte, dass ihr etwas die Beine herunterlief und ein Rettungssanitäter sich um sie kümmerte. Und genau in dieser Sekunde, als dieses letzte Bild vor ihren Augen erschien wurde sie sich einer grausamen Realität bewusst: Paul lebte nicht mehr!
Sie griff reflexartig hinunter zu ihrem Bauch, suchte nach der kleinen Wölbung, doch irgendetwas schien sich verändert zu haben. Der Kommissar neben ihr riss die Augen auf. Genau in dem Moment stürmten zwei Ärzte und eine Krankenschwester zur Tür herein. Ein älterer, sehr freundlich aussehender Arzt trat an ihr Bett und beugte sich über sie. Sein Blick war voller Wärme und Antonia nahm eine gewaltige Portion Mitleid in seinen Augen wahr.
„Mein Name ist Dr. Volker Brandt, wie geht es Ihnen Frau Steiner?“
Sie flüsterte: „Was ist mit meinem Baby?“ Der Arzt schloss für einen kurzen Moment die Augen, die Krankenschwester und der Kommissar im Hintergrund sahen sich betroffen an.
„Frau Steiner, es tut mir leid, aber wir konnten sie nicht retten. Durch den extremen Schock haben sie offenbar eine Fehlgeburt erlitten. Es war nichts mehr zu machen.“ Er sah sie an, wieder dieser warme, so mitleidvolle Blick. Die Schwester im Hintergrund putzte sich die Nase und Kommissar Lehmann rieb sich erneut völlig hilflos seinen Nacken. Antonia sah das alles nur wie durch eine Art Nebel. Die Worte des Arztes hallten in ihr nach, und doch hatte sie das Gefühl, als hätten sie gar nicht ihr gegolten. So, als wäre all das überhaupt nicht geschehen und sie sei aus einem ganz anderen Grund hier. Sie starrte die vier Personen an, die bis auf den Arzt versuchten, ihrem Blick auszuweichen. Ihre Augen suchten einen Punkt, an dem sie keine der Anwesenden mehr ansehen musste. Sie schaute zum Fenster hinaus, dann räusperte sie sich.
„Kann ich zu Paul?“
Dr. Brandt sah zu Kommissar Lehmann. Der nickte hastig. „Natürlich, jederzeit. Wenn Sie sich dazu bereit fühlen. Und wenn es von ärztlicher Seite kein Problem darstellt.“ Fragend sah er den Arzt an. Dessen Blick war immer noch auf Antonia geheftet. Er konnte es zwar noch nicht wirklich einschätzen, ging aber davon aus, dass ihr erst zu einem späteren Zeitpunkt bewusst werden würde, was heute alles geschehen war. Und spätestens ab dann würde das wahrscheinlich zum ganz großen seelischen Zusammenbruch führen. Er hatte das schon so oft während seiner langen Laufbahn als Mediziner erleben müssen.
„Können wir irgendjemanden für sie verständigen?“ Antonia drehte den Kopf ganz langsam in seine Richtung. Ihre Eltern würden durchdrehen, wenn sie das alles erfahren würden. Ihr Vater war herzkrank und ihre Mutter im Allgemeinen ein wenig labil vor allem psychisch. Sie würden ihr hier jetzt keine große Hilfe sein. Vielleicht Theresa?
„Danke, aber ich werde nachher meine Schwester anrufen.“
Zu der Krankenschwester gewandt fragte sie: „Könnte ich eventuell ein Telefon bekommen?“ Kommissar Lehmann lief zum Schrank an der Tür und holte eine Tasche hervor.
„Ist das Ihre? Ich habe mir erlaubt, das Handy das auf dem Küchentisch lag, einzupacken. Und Ihre Geldbörse habe ich auch da hineingetan. Ich hoffe das war in Ordnung?“
Antonia sah ihn dankbar an. Und fühlte sich mit einem Mal unglaublich erschöpft, ausgelaugt und leer.
„Würden Sie mich jetzt bitte alleine lassen?“ Dr. Brandt fühlte nochmal ihren Puls, dann strich er ihr sanft über die Hand.
„Ich würde Sie gerne bis morgen hierbehalten. Wenn es Ihnen dann körperlich soweit gut geht sind Sie aus ärztlicher Sicht entlassen. Sollten sie irgendetwas brauchen dann klingeln sie bitte, jederzeit!“
Die Schwester im Hintergrund nickte eifrig. Kommissar Lehmann rieb seine Hände, dann lächelte er zögerlich. „Ich lasse Ihnen meine Karte da. Sie dürfen mich jederzeit anrufen.“
Dann verließ er schnellen Fußes das Zimmer. Auch die Krankenschwester und die beiden Ärzte machten sich auf den Weg zur Tür.
„Dr. Brandt?“ Der Angesprochene drehte sich nochmal um. „Hatten Sie vorhin nicht gesagt „Wir konnten SIE nicht retten“? Oder habe ich da was falsch interpretiert?“
Volker Brandt atmete tief durch. Dann lächelte er mild und antwortete:
„Nein, es stimmt schon. Ihr Baby war ein kleines Mädchen… es tut mir so unendlich leid.“
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, brachen bei Antonia alle Dämme und sie weinte und schrie wie noch nie in ihrem Leben.
„Wie geht es jetzt weiter?“ Theresa sah Antonia fragend an. Sie hatte sich, ohne lange zu fragen ins Auto gesetzt und sich auf den siebenstündigen Weg von Föhr nach Berlin gemacht. Antonia hatte am nächsten Tag das Krankenhaus verlassen können und Theresa hatte sie abgeholt und in die kleine Mietwohnung nach Friedrichshain zurückgebracht. Hier irrte Antonia nun umher wie ein Geist. Sie lief von einem Zimmer ins nächste, berührte irgendwelche Gegenstände, nahm Bilderrahmen in die Hand, um sie in der nächsten Sekunde wieder hinzustellen oder sie starrte zum Fenster hinaus. Theresa hatte es aufgegeben, sie dabei zu unterbrechen. Irgendwann setzte sich Antonia neben sie auf die Couch und starrte ins Leere. Theresa ergriff sanft ihre Hand.
„Toni, magst du nicht wenigstens mal Mama und Papa Bescheid sagen? Sie müssen doch wissen was vorgefallen ist.“
Antonia schloss die Augen. Der Gedanke, ihrer Mutter sagen zu müssen, dass sie ihren Schwiegersohn und ihre Enkelin, von der sie noch nicht einmal gewusst hatte, verloren hatte, verursachte in ihr Übelkeit.
„Kannst du das nicht für mich übernehmen? Ich ertrage das gerade alles nicht.“
Theresa zweifelte sehr daran, dass Antonia darum herumkommen würde, ein paar Worte mit ihrer Mutter zu wechseln, aber sie nahm ihr Handy zur Hand und wählte die Nummer ihrer Mutter. Sie ging in die Küche, um ein wenig unbefangener reden zu können. Antonia hörte sie reden, verstand aber nicht, was sie sagte. Es war ihr auch egal. Sie hörte ihre Mutter durchs Telefon schreien und weinen und hielt sich die Ohren zu. Kurze Zeit später kam Theresa zurück und berührte sie an der Schulter.
„Und? Was hat sie gesagt?“ Antonia starrte ins Leere, eigentlich wollte sie gar keine Antwort von Theresa. Die setzte sich wieder neben sie und ließ sie Schultern hängen.
„Nun ja, du kannst dir ja bestimmt vorstellen, dass sie unglaublich erschüttert und sehr verzweifelt ist. Und dass sie nichts lieber tun würde, als auf der Stelle hierher zu kommen.“
Antonia sah erschrocken auf.
„Beruhige dich, ich konnte ihr das für den Moment ausreden. Aber sie will dich natürlich baldmöglichst sprechen.“
Antonia schlug die Hände vors Gesicht. Beide blieben regungslos und stumm nebeneinandersitzen. Dann straffte Antonia die Schultern.
„Ich will zu Paul. Jetzt!“ Sie griff nach ihrem Handy und suchte in ihrer Handtasche nach der Visitenkarte, die ihr dieser Kommissar gestern in die Hand gedrückt hatte. Theresa war einigermaßen irritiert von dem plötzlichen Bewegungsdrang und spannte ihren Körper abwartend an. Antonia wählte die Nummer und wartete, bis sich Kommissar Lehmann am anderen Ende der Leitung meldete.
„Hallo, hier Antonia Steiner. Sie hatten mir gestern gesagt, ich dürfte meinen Mann sehen, wann immer ich wolle. Ich wäre dann jetzt soweit.“
Sie lauschte seiner Antwort dann sagte sie: „Gut, dann in einer Stunde in der Pathologie. Bis dann!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie auf und atmete tief durch. Sie war grau im Gesicht und Theresa sah sie sorgenvoll an.
„Bist du sicher, dass das eine gute Entscheidung ist, Toni? Du hast gerade erst euer Baby verloren und bist noch schwach. Außerdem siehst du nicht gerade gesund aus. Ich werde dich auf jeden Fall begleiten!“
Sie stand auf und ging in die Küche.
„Ich mache uns jetzt erst einmal noch einen starken Kaffee. Und dann machen wir uns auf den Weg.“
Während Theresa an der Kaffeemaschine herumhantierte, zog Antonia mit ihrem Hochzeitsbild in der Hand schon wieder ihre Kreise im Wohnzimmer.
Eine dreiviertel Stunde später saßen sie Dirk Lehmann gegenüber.
"Frau Steiner, wie geht es Ihnen?“ Er hätte sich eigentlich auch die Frage sparen können, die junge Frau vor ihm sah erbärmlich aus. Aber er wusste sonst nicht, was er hätte sagen sollen. Antonia saß kerzengerade auf dem Stuhl, die Hände umklammerten die Sitzfläche.
Leise fragte sie: „Was genau ist gestern passiert? Ich will wissen, warum mein Mann sterben musste.“
Theresa sah erst ihre Schwester, dann den Kommissar skeptisch an. Ob das so eine gute Idee war, Toni mit den Unfalleinzelheiten zu konfrontieren?
Vorsichtig fragte sie ihre Schwester: „Bist du dir wirklich sicher, dass du das hören möchtest?“
Völlig unerwartet fuhr Antonia herum und fauchte sie an. „Und ob ich mir da sicher bin. Misch dich da nicht ein!“
Theresa und auch Dirk Lehmann sahen sie erschrocken an. Dann griff der Kommissar nach einer Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag.
„Nun gut, ich kann Ihnen Folgendes sagen: Ihr Mann fuhr mit seinem Roller in entgegengesetzter Richtung in eine Einbahnstraße. Ein Fußgänger wollte ihn wohl noch darauf aufmerksam machen und hat wild gewunken. Daraufhin war Herr Steiner wohl so abgelenkt, dass er das Auto übersehen hat, das ihm aus der Einbahnstraße entgegenkam. Der Autofahrer konnte nicht schnell genug reagieren, da der Unfall sich direkt an der Ausfahrt der Einbahnstraße ereignete und er natürlich nicht mit ihrem Mann gerechnet hatte. Er hat noch versucht auszuweichen, was aber in der engen Straße nicht wirklich möglich war. Es kam zu einem Frontalzusammenstoß. Ihr Mann wurde über die Motorhaube geschleudert und hat sich beim Aufprall auf die Straße das Genick gebrochen. Er war laut Gerichtsmedizin sofort tot. Ansonsten wäre er sehr wahrscheinlich an seinen inneren Verletzungen gestorben.“
Theresa räusperte sich vernehmlich. Sie hatte ihre Schwester während des ganzen Vortrags von der Seite beobachtet. Die schwankte nun leicht und war aschfahl. Kommissar Lehmann sah erschrocken zu ihr hin.
„Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?“ Antonia nickte. Während Dirk Lehmann nach dem Wasser eilte, fragte Theresa:
„Musst du das wirklich alles hören? Ist es nicht auch so schon grausam genug?“ Antonia blieb stumm und senkte den Blick Richtung Boden. Dabei drehte sie gedankenverloren ihren Ehering am rechten Ringfinger. Der Kommissar kam zurück und reichte Antonia das Glas. Die nahm dankbar einen Schluck und fragte dann: „Was passiert denn jetzt mit dem anderen?“ Sie sah Dirk Lehmann fast schon herausfordernd an. Der wirkte kurz verwirrt und hakte dann nach.
„Sie meinen mit dem Unfallgegner?“ Antonia lehnte sich zurück. „Wenn Sie ihn so nennen möchten, ja.“
Theresa runzelte die Stirn. Sie war sich nicht sicher, ob Antonia verstanden hatte, was eigentlich passiert war. Offensichtlich war Paul schuld an dem Unfall, der andere hatte ja schließlich noch versucht, ihn zu verhindern. Und wieder rieb sich Dirk Lehmann den Nacken, wie immer, wenn er verlegen war oder nicht wusste, was er sagen sollte.
„Nun, natürlich wird es zu einem Verfahren kommen. Aber ich gehe mal davon aus, dass dem Autofahrer, wenn überhaupt, nur eine Teilschuld zugesprochen wird. Er wollte ja noch ausweichen, was nun aber der Örtlichkeit geschuldet, kaum möglich war.“
Er stockte, als er Antonias Gesicht sah. Sie hatte eine ungesund rötliche Farbe angenommen, ihre Augen hatten eine Art fiebrigen Glanz.
„Das heißt also, er hat meinen Mann totgefahren und kommt ungeschoren davon??
Was soll der ganze Scheiß, wollen Sie mich gerade verarschen???“
Sie sprang von ihrem Stuhl auf und warf ihn dabei um. Theresa griff bestürzt nach ihrer Hand.
„Toni bitte, beruhige dich! Der Kommissar kann nichts dafür, er macht nur seinen Job.“ Sie stand auf, warf einen entschuldigenden Blick Richtung Lehmann und stellte den Stuhl wieder auf. Antonia setzte sich widerwillig wieder hin, wie sprungbereit vorne auf die Stuhlkante.
„Ich will jetzt zu meinem Mann. SOFORT!“
Kommissar Lehmann nickte und griff zum Telefonhörer. „Ich melde uns in der Pathologie an.“
Eine Viertelstunde später standen sie vor der Tür, die Antonia von ihrem toten Mann trennte.
„Willst du da wirklich alleine reingehen? Ich halte das immer noch nicht für eine gute Idee.“ Sie sah hilfesuchend zu Dirk Lehmann, der hinter den beiden Frauen stand. Der zuckte nur mit den Schultern. Antonia aber schien fest entschlossen.