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Eigentlich hatte ich ja gedacht, dass es irgendwann nicht mehr allzu viel zu erzählen gibt. Das es ruhiger, einfacher und normaler werden würde bei den Weber`s. Aber dann komme ich wieder recht schnell zu der Erkenntnis, dass ich anscheinend die letzten 23 Jahre nicht wirklich viel dazugelernt habe. Hier fällt wirklich JEDEM IMMER etwas ein. Und natürlich bleiben auch dieses Mal wieder die ganz großen Emotionen nicht aus. Zu ziemlich trockenem, teils derbem Humor, unendlicher Sehnsucht, liebevollem Miteinander, furchtbarer Angst, vielen Tränen und berechtigter Hoffnung gesellen sich nun auch noch Unverständnis für die Dummheit mancher Menschen und die Hilflosigkeit den eigenen Gefühlen gegenüber. Wir lichten also unseren Anker und nehmen Euch mit auf die Reise durch das Jahr DANACH. Und unsere Geschichte hat noch lange kein Ende.
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Seitenzahl: 368
Über die Autorin:
Corinna Weber wurde 1976 in Darmstadt geboren. Sie lebt mit ihrer Familie in dem beschaulichen Örtchen Wald-Michelbach im Odenwald. Mit einer 20jährigen und einer 8jährigen Tochter an der Hand, ihrer kleinen Krawalli fest im Herzen und seit 23 Jahren einem Mann an ihrer Seite, der fest zu ihr steht, hat sie bis jetzt alle Stürme des Lebens (fast) erfolgreich gemeistert. Ihr Bücher erzählen von diesen Stürmen, den leichten Winden, aber auch der strahlenden Sonne. Von fünf Menschen, die das Leben und das Schicksal fest miteinander „verankert“. Und es gibt immer wieder genügend Stoff für Fortsetzungen…..
Viele Gedanken, Herzmenschen und ein kleines bisschen Wunderlampe
„Deja vu“, ein unfassbarer Hohlkopf und „besser nicht einatmen“
Sieh`s positiv, mein Leben mit der Hibbelgruppe und die Muddi geht an den Start
ein seltsamer Geburtstag, ich kann Heidelberg nicht sehen und „Zwerg Nase“
Karla, Ela und die Sache mit dem Essen
bekannt aus Film, Funk und Fernsehen... gute Presse, böse Presse und die Geburt von Ronjas Welt
„Muddi on Tour“ und der fast ganz große Knall
Küchenexperimente, nachhaltige Begegnungen und ein Stück furchtbare Endgültigkeit
hoher Besuch, das „Fische-Desaster“ und Zweifel an der Menschheit
ein unbekannter neuer Weg, viele kleine Wege und ein „Engelgeburtstag“
der Herbst und seine Folgen, ein dritter Geburtstag und eine wichtige Erkenntnis
Es geht weiter, wer hätte das gedacht? Manche werden jetzt sagen „klar geht’s weiter, es geht immer weiter…“ Ja, das stimmt schon. Bei mir stellt sich da nur die berechtigte Frage „WIE?“.
Ich erzähle Euch wieder ein bisschen was von dem, was in der Zeit so passiert ist, in der ich dieses Buch schreibe. Und gleich zu Beginn des Jahres ist etwas ziemlich Heftiges passiert. Manchmal sollte man wirklich aufhören zu fragen, wie blöd man denn sein kann. Einige sehen das, glaube ich, als Herausforderung. Ich fange an diesem ziemlich stürmischen Dienstagnachmittag an, wohin mich die Reise bis Ende des Jahres führt kann ich also selbst noch gar nicht wirklich sagen. Ich hoffe nur, uns bleiben die richtig großen Katastrophen einfach mal erspart und wir können über all die anderen Dinge einfach nur herzhaft lachen, oder zumindest schmunzeln. Wobei ich Euch jetzt schon verraten kann, dass es die ersten drei, vier Monate noch nicht wirklich viel zum schmunzeln gab. Einige werden sich vielleicht später beim Lesen daran erinnern (Jedenfalls hoffe ich jetzt mal, dass der momentane Zustand bis zum Erscheinen dieses Buches nur mehr eine Erinnerung sein wird.)
So, bevor ich jetzt schon ins schwadronieren komme lege ich besser los. Begleitet mich, bzw. uns, auf unsere Reise durch das Jahr 2020, ihr wisst ja, bei der „MUDDI“ wird’s nie langweilig. Viel Spaß und bleibt gespannt……
Der Januar begann wie der Dezember geendet hatte. Mein Hirn machte noch lange nicht das, was es wirklich sollte. Ständig hatte es massive emotionale Aussetzer, immer noch hatte ich ziemliche Probleme, das Geschehene in meinem Kopf irgendwo einzusortieren. Ich hatte mich zwar an sich recht gut im Griff, aber ganz oft „Aufblitzer“ vor meinen Augen, mit denen ich überhaupt nicht zurecht kam. Meistens war es der Moment auf der Straße, in dem ich mein Kind auf dem Bauch liegend vorgefunden hatte, sie umdrehte und in ihre toten Augen sah. Diese Sekunden sehe ich immer und immer wieder, sie sind wie eine Dauerschleife in meinem Hirn festgebrannt. Und immer noch kam ich, viel zu oft, ohne Tavor weder über den Tag, geschweige denn über die Nacht. Auch wenn ich es auf ein Mindestmaß runter reduziert hatte. Schlaf war überwertet, ist er stellenweise heute immer noch. Und wenn ich wach wurde musste ich raus, liegen bleiben war ein absolutes „No go“, da machte mein Kopf Spirenzien, die ich mitunter den ganzen Tag nicht mehr los wurde. Ich suchte mir ständig Beschäftigung, meine Hände brauchten dauernd etwas zu tun. Der Januar dümpelte vor sich hin, ich schrieb weiter an meinem ersten Buch. Auch wenn mich das mehr Kraft kostete als ich Anderen, und noch viel weniger mir selbst gegenüber, zugeben mochte. Immerhin versperrte ich mir damit, einigermaßen erfolgreich, jegliche Art von Erinnerung. Nur so konnte ich irgendwie überleben. Den zweiten Teil von meinem Buch zu schreiben brachte mich allerdings den Erinnerungen wieder so nah, als würde ich alles nochmal und immer wieder durchleben. Thorsten sagte oft „Muddi, dann hör doch auch mal auf. Mach Pause, das kann nicht gut sein was du da machst.“ Meistens sagte er das dann, wenn er mich wieder schniefend und tränenüberströmt in der Küche am Pad vorgefunden hatte. Viele haben mich danach gefragt, ob das eine Art der Verarbeitung für mich gewesen sei. Dazu kann ich nur Folgendes sagen: DEFINITIV nein! Man „verarbeitet“ so was irgendwie nicht, und wenn, habe ich das Gefühl, wird das Jahre dauern. Solange einen diese Flashbacks immer wieder ungefragt und überall einholen hat man keine Chance, seinen Gemütszustand zu stabilisieren. Also jedenfalls ging es mir so.
Mein Psychotherapeut, zu dem ich seit letzten Oktober ging, war irgendwann mit mir und meinen Geisteszuständen ziemlich überfordert und bat mich darum, mir eine geeignete Traumatherapie zu suchen. Was ich dann auch tat. Im Februar, genauer gesagt am Valentinstag, hatte ich dort meinen ersten Termin.
Bevor ich da aber zum ersten Mal aufschlug lösten wir Ela`s Weihnachtsgeschenk ein. Am 18. Januar fuhren wir mal wieder nach Stuttgart, wir hatten Karten von ihr bekommen für Disneys „Aladdin“. Wir fuhren wie immer ziemlich früh morgens los und waren gegen halb zehn im „Breuningerland“ in Ludwigsburg um wie immer zunächst dort zu frühstücken. Und auch dieses Mal hielt ich es dort nicht lange aus. Hier waren definitiv viel zu viele Kinder. Wir fuhren also weiter Richtung Stuttgarts Innenstadt und ließen uns dort mit der Menge treiben. Gegen halb drei begann es zu schneien und wir fuhren ins SI-Centrum, wo ich unser übliches Zimmer mit der Nummer „649“ gebucht hatte. Dann gelangten wir zu der ersten Herausforderung des Tages…. Essen gehen. Vielleicht erinnert Ihr Euch noch: wir gehen dort immer ins „Schwabenbräu“ und hatten auch dieses Mal wieder einen Tisch dort reserviert. Aber was genau sollte ich denn essen ohne das die Gefahr bestand, dass ich Aladdin heute nicht sehen würde, sondern mir stattdessen ein Stuttgarter Krankenhaus von innen ansehen würde? Ich beschloss, um ein Gespräch mit dem Chefkoch zu bitten. Ein paar Minuten später fand ich mich vor einem ziemlich jungen, charmanten Mann wieder der sich meine „Essensleidensgeschichte“ kurz anhörte um dann kurz und bündig zu kommentieren: „Wow, da hast du ja echt voll die Arschkarte gezogen“ (O-Ton!). Ja, so konnte man es natürlich auch ausdrücken. Er grillte mir ein Putenschnitzel mit Pfeffer und Salz und warf mir ein paar ungewürzte Pommes auf den Teller. Nein, es sah NICHT schön aus, aber es war wirklich lecker und mir ging es danach auch richtig gut. Eigentlich stand also einem entspannten Abend nichts im Wege. EIGENTLICH.
Ich war natürlich mal wieder völlig weit weg von „entspannt“. Obwohl ich hier wirklich nichts mit meiner kleinen Ronja verband vermisste ich sie schrecklich und musste aufpassen, dass ich Thorsten nicht auch noch den Abend versaute, weil ich ständig kurz vorm heulen war. Also beschloss ich mal wieder, mir eine Tavor einzuwerfen und eine halbe Stunde später wurde ich endlich ruhiger und dieser grausame Schmerz ließ ein wenig nach.
Das Musical war okay, vielleicht war ich einfach nicht in der Lage mich drauf einzulassen und mich darüber zu freuen das ich hier war.
Eigentlich gingen wir ja seit Jahren immer nach dem Musicalbesuch in „unsere“ Hotelbar. An diesem Abend hatten wir beide keine Lust dazu, vor allem weil wir ja auch beide keinen Alkohol mehr tranken, aus verschiedenen Gründen.
Wir setzten uns also ins „Wiener Café“, eine Location im Hotelkomplex unserem gegenüber, in der schon „Undercover Boss“ gedreht worden war. Dort hatten wir noch einen wirklich schönen Abend (ich war dank meiner Tavor wieder völlig geerdet) und sind dann verhältnismäßig früh auf unser Hotelzimmer zurück. Am nächsten nach dem Frühstück haben wir die Heimreise angetreten. Mich zog es zurück, dorthin wo ALLE meine Kinder waren.
Ziemlich bald danach ereignete sich etwas, was mir heute noch ab und zu einen leichten Schauer über den Rücken jagt, und ich könnte mit dem Kopfschütteln nicht aufhören, wenn ich daran denke. Darüber erzähle ich euch gleich. Vorher möchte ich aber noch ein ganz anderes Thema anschneiden: FREUNDE!
Ich hatte ja schon am Ende meines zweiten Buches erwähnt, was für unglaublich tolle Menschen ich um mich habe. Solche, die ungefragt immer für mich da sind, die nicht fragen müssen wie es einem geht, weil sie Dir direkt ins Herz sehen können. Menschen, die einen spontan in den Arm nehmen, jeden Mist mit einem durchstehen, sich zum hundertsten Mal, ohne mit der Wimper zu zucken, dein Gejammer anhören, also Personen, die dich kennen und TROTZDEM mögen. Zwei dieser ganz besonderen Persönlichkeiten möchte ich hier unbedingt hervorheben und Euch vorstellen. Sie werden im Laufe meiner Geschichte immer wieder irgendwo eine Rolle spielen. Zum einen ist da Ina. Wir kennen uns schon wirklich ziemlich lange. Sie kennt die gesamte Familie Weber schon von klein auf. Wir hatten uns schon immer gut verstanden, waren aber über die Jahre hinweg nie mehr als gute Bekannte. Nun ist sie da und nimmt seit November 2019 einen ganz festen Platz in meinem Leben ein. Mit so unglaublich viel Herz, Verstand, Mitgefühl und Verständnis. Sie hört mir zu, ich höre ihr zu. Wir erzählen uns so viel voneinander, ich hatte bei ihr das Gefühl, eine Vertraute im Geiste gefunden zu haben.
Ich weiß meine Probleme und Sorgen bei ihr gut aufgehoben und so manchen Tag hat sie mir bisher mit Kleinigkeiten und Gesten versüßt und gerettet.
Sie war eine der Ersten, die sich ein paar Sätze aus „Muddi“ Teil 1 anhören und beurteilen durfte, und die mich immer angetrieben und ermutigt hat weiter zu machen. Noch heute bin ich immer froh und dankbar, wenn sie spontan bei mir vor der Tür steht, einfach so, auf einen schnellen Latte macchiato. Sie hat sich innerhalb des letzten halben Jahres zu eine meiner engsten Vertrauten und Freundin entwickelt und ich bin ihr dankbar für ihre Freundschaft.
Und dann gibt es da Katharina, „Moi Herzkersch“ (ich weiss nicht genau, wie ich das übersetzen soll, genau genommen heißt es „Meine Herzkirsche“, aber das klingt erstens mal sehr seltsam wenn man sich nicht gerade als Frau zu anderen Frauen hingezogen fühlt. Zweitens drückt es auch nicht wirklich DAS aus, was ein Odenwälder damit sagen will.) „Herzkersche“ sind Menschen, die einem ganz besonders am Herzen liegen, süß und unglaublich lieb. Wobei ich zugeben muss, dass unser Start ziemlich holprig war.
Im Jahr 2016 zog sie mit ihrer Familie in das Haus gegenüber. Vorher wohnte dort ihre Schwester mit ihrer Familie. Mit denen hatte ich mich gut verstanden, war also vom Prinzip her schon mal ziemlich traurig, dass sie weg zogen. Dachte aber noch, na gut, vielleicht sind die Neuen ja auch nette Menschen, auch wenn sie um einiges jünger sind als wir. Die ersten Monate sahen wir uns aber kaum, sie waren so gut wie nie draußen und wir gewannen immer mehr den Eindruck, als wollten sie gezielt NICHTS mit uns zu tun haben. Ich rief damals Brigitte an, die Schwester, die vorher drin gewohnt hatte und fragte, ob sie wüsste was ihre Schwester und ihr Mann gegen uns hätten. Ich konnte mir diese offensichtliche Ablehnung nicht wirklich erklären. Wir hatten ja bisher noch gar nichts groß miteinander zu tun gehabt. Also nein, man muss mich nicht zwangsläufig gut finden, nur weil man mir gegenüber wohnt. Aber wenn ich schon seltsam rüberkomme dann will ich wenigstens wissen warum.
„Da darfst du dir nicht allzu viel draus machen“, kam die prompte Antwort auf meine Frage. „Der Tobias (Katharinas Mann) arbeitet mit einem ehemaligen Nachbarn von dir zusammen, und scheinbar hat der da ein paar Dinge über dich erzählt, die komisch waren. Dass das im Nachhinein dann aber doch nicht ganz so war habe ich dann erst im Laufe der folgenden Monate herausgefunden.
Wir, also vor allem ich, sind sehr gesellige Menschen und waren von daher zunächst sehr irritiert. Ich beschloss sie bei der nächstbesten Gelegenheit einfach drauf anzusprechen. Der Zufall wollte, dass ich kurze Zeit später eine meiner berüchtigten Putzmittel-Partys schmiss, und kurzerhand meine neue Nachbarin inklusive ihrer jüngsten Schwester dazu einlud. Der Abend wurde wie erwartet ziemlich lustig und unterhaltsam. Katharina und ihre Schwester fügten sich ziemlich gut in meinen bisherigen Freundeskreis ein. Ein paar Tage später saßen beide bei mir im Wohnzimmer auf der Couch, wir köpften zwei Flaschen Wein und unterhielten uns prächtig über die anderen Nachbarn.
Und dann sah ich den passenden Moment gekommen.
„Habt ihr eigentlich vom Prinzip her was gegen uns? Ihr redet wenig bis gar nichts und guckt sogar weg, wenn wir irgendwo draußen sind. Haben wir irgendetwas falsch gemacht?“ Ja, ich weiß, wenn man dank zwei Flaschen Wein die Welt eh schon etwas bunter sieht, dann sollte man solche Fragen eigentlich gar nicht stellen. Aber da dachte ich mir „wenn nicht jetzt, wann dann?“ Sie sah mich ziemlich erschrocken an.
„Ach was, wir haben überhaupt nichts gegen euch, im Gegenteil. Wir sind nur nicht so die Menschen, die gut auf andere zugehen können. Aber ernsthaft, wir haben NULL gegen euch, wir freuen uns, dass ihr unsere Nachbarn seid.“
Ich habe mich sehr gefreut über ihre Worte, bin ich doch ein Grund auf friedvoller Mensch. Ich kann Streitigkeiten und Zwietracht nicht ausstehen und versuche, solchen Situationen nach Möglichkeit schon von vorne herein aus dem Weg zu gehen. Lieber schlucke ich so manche Äußerung herunter, bevor es zum Krach kommt. So war ich schon immer, und so werde ich wahrscheinlich auch immer bleiben. Ich gehe Konfrontation nicht direkt aus dem Weg und stelle mich auch den unangenehmsten Situationen. Aber Streit provozieren liegt nicht in meiner Natur. Also war ich umso froher darüber, ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis aufzubauen. Das daraus aber eine der wichtigsten Freundschaften meines Lebens entstehen sollte wusste ich damals auch noch nicht. Katharina und Tobi waren bei unseren Adventsfeiern dabei (vielleicht erinnert ihr Euch), und Katharina und ich saßen ab da des Öfteren bei mir auf dem Sofa mit einer Flasche Wein oder Hugo. Als mir meine kleine Krawalli von der Seite gerissen wurde war sie ein paar Tage später da, ungefragt, voller Herz. Und sie war es auch, die im Februar eine der unglaublichsten, frechsten, dümmsten und unverschämtesten Momente mit mir erlebt hat, die ich die letzten Jahre erleben musste.
Und sie hat sich dabei fast mehr aufgeregt als ich. Davon gleich mehr, wie schon erwähnt.
Schwanger war ich immer noch nicht, ich tat aber so ziemlich alles dafür, was in MEINER Macht lag.
Aber auch das wird ein ganz eigenes Kapitel werden, ihr glaubt gar nicht, was einem da alles so einfallen kann.
Und ich hatte bisher auch immer noch keinerlei Kontakt zu Chantal und Jonas.
Ihr seht also, viel verpasst habt ihr bisher nicht.
Richtig spannend, beziehungsweise eher nervenaufreibend und anstrengend, wurde es dann aber schon im Februar….
Über das, was ich Euch jetzt erzähle, könnte ich mich heute manchmal noch wahnsinnig aufregen. Ich werde die Person, die uns das angetan hat, in meiner Erzählung „umtaufen“müssen, auch wenn ich mir wünschen würde, ich könnte alle vor ihr warnen. Ich werde sie „Hohlkopf“ nennen, nichts anderes passt und beschreibt besser den Geisteszustand dieser „Person“.
Alles begann am 06. Februar. Wobei, wenn man es genau nimmt, ging es schon am Tag zuvor los. Ich bekam gegen drei Uhr nachmittags einen Anruf von Annette, eine der Lehrerinnen von Svenja. Svenja hätte vorhin in der Schule überraschend ziemlich heftig erbrochen. Es wäre ihr danach eigentlich aber auch wieder ziemlich schnell besser gegangen, die Krankenschwester hätte nach ihr geschaut. Ich sollte mich aber nicht wundern, sie hätten ihr für die Heimfahrt vorsorglich eine Nierenschale mitgegeben. Und im übrigen hätte fast zeitgleich in der Nachbarklasse noch ein Junge erbrochen. Ich war also schon mal „voralarmiert“. Bei Svenja ist ja, wie sich vielleicht manche noch erinnern können, dass mit dem Erbrechen so eine Sache. Klar kann es immer ein simpler Magen-Darm Infekt sein, wie es Kinder immer mal wieder haben. Es könnte aber auch immer mit ihrem Kopf und dem dort befindlichen Shunt zu tun haben. Etwas angespannt erwartete ich von daher ihre Rückkehr. Aber, siehe da, anstatt vollgek…. Nierenschale erwartete mich ein strahlendes Kind beim Öffnen der Schiebetür des Johanniter Busses. Sehr gut!
„Wie geht es dir?“ fragte ich sie misstrauisch, noch bevor ich sie überhaupt abgeschnallt hatte. „Alles gut Mama, ich hab nur vorhin in der Schule gebrochen, jetzt aber nicht mehr. Und die Krankenschwester hat schon nach mir geguckt. Aber mir geht’s wirklich wieder gut. Kann ich jetzt Fernsehen?“ Eine ganze Litanei an Sätzen, da hatte ich sie noch nicht richtig aus dem Auto und auf dem Arm.
Und dachte so bei mir „wunderbar, der Schnabel funktioniert einwandfrei, also wohl doch nur einfach etwas Falsches gegessen.“ Da war ich noch ziemlich erleichtert und fing an, das Abendessen zu planen. Ich und planen, dämmert es da dem Einen oder Anderen? Vor allem muss man ja folgendes dazu sagen: Meine Allergien wurden zu dem Zeitpunkt nicht unbedingt weniger und besser.
Ich hatte also beschlossen, an dem Abend etwas völlig „allergiekompatibles“ (eines meiner neuen Lieblingswörte) zuzubereiten.
Es sollte selbstgemachte Burger geben, wenn ich die Pattys selbst machte funktionierte das perfekt. Einzig die Burgerbrötchen blieben mir natürlich verwehrt (und der Rest wie Ketchup, Tomaten, Senf etc auch). Also für die restlichen drei am Tisch gab es Burger, für die Muddi gabs halt simple Frikadellenbrötchen. Ich machte mich am Hackfleisch zu schaffen, knetete, formte, schnitt Tomaten, putzte Salat und brachte Zwiebeln gekonnt in Ringform. Dann briet ich die Klopse an und deckte den Tisch. Ich hatte mir MEINE Frikadellen schon mal auf die Seite gelegt. Das machen wir öfter so, mein Essen wird von dem anderen Essen getrennt. Mittlerweile habe ich sogar meine eigene Butter, beschriftet mit „Muddi“. Keiner will hier auch nur im Entferntesten irgendetwas mit mir riskieren (meistens schaffe ich das aber auch ganz alleine). Ich hatte also ALLES vorbereitet und holte Svenja rüber ins Esszimmer. Ich setzte sie in ihren Therapiestuhl und legte ihr ihr Handtuch zum Essen um. Ela und Thorsten hatten schon Platz genommen und freuten sich auf eine gescheite Mahlzeit. Immerhin gabs das bei uns nicht mehr allzu of. Seit ich ständig irgendwo anschwoll hatten wir uns auf ein paar wenige, gefahrlose Gerichte eingeschossen. An dem Abend hätte es also seit langem mal wieder etwas „Richtiges“ gegeben.
Also zurück zum eigentlichen Punkt. Alles stand auf dem Tisch, Svenja saß im Stuhl, ich setzte mich, der Rest saß und…… Svenja fing an zu brechen. Aber fragt nicht nach Sonnenschein! Über ihren ganzen Stuhl, das Parkett und fast den gesamten Tisch. In einer unglaublichen Menge. Und das Gruselige war noch, dass sie das fast völlig lautlos tat. Ohne Vorwarnung, ohne Geräusche und auch danach war ganz schnell fast alles wieder in Ordnung. Außer, dass ab der Sekunde im Esszimmer Ausnahmezustand herrschte.
Im ersten Moment waren wir alle erstarrt, damit hatte eigentlich niemand gerechnet. Svenja war es den restlichen Tag, seit sie zuhause war, wirklich gut gegangen. Ich rannte nach Handtüchern und legte erstmal den Boden aus. Bevor jetzt einer denkt „hättest dich besser erst mal um dein Kind gekümmert“ dem sei gesagt: Svenja ging es gut, Ela stand bei ihr und ich wollte nicht, dass man die Bescherung durchs ganze Haus verteilte. Nachdem der Fußboden quasi „abgesichert“ war machte ich Svenja notdürftig sauber und Ela ging mit ihr ins Bad. Sie wollte sie frischmachen, während ich nach Lappen, Eimer und Desinfektionsmittel flitzte.
Keine drei Minuten später rief es aus dem Bad „Mama komm mal schnell!“ Also Lappen fallen lassen und ins Bad sprinten. Svenja fing gerade wieder an zu würgen, ich riss sie hoch ins Sitzen und hielt sie fest, während Ela ein Handtuch unter Svenjas Kinn hob.
Als sie fertig war sah ich sie mir etwas genauer an. Sie schielte fürchterlich. Der geneigte Leser wird sich erinnern, dass sie das ja manchmal sowieso tut.
Das Kontrollieren ihrer Augenmuskulatur fällt ihr an manchen Tage ziemlich schwer, ich war den Anblick eines ab und an abdriftenden Auges also durchaus gewohnt. Aber das war wirklich extrem. Bei mir schrillten alle Alarmglocken. Ich bat Ela, auf sie aufzupassen und sie nach Möglichkeit schon mal umzuziehen. Ich wollte schnell ihre Kinderärztin anrufen. Ich hatte deren private Handynummer weil sie wusste, dass ich sie niemals unnötig belästigen würde. WENN ich schrieb oder anrief dann war Not am Mann, beziehungsweise meistens an Svenja. Sie empfing mich am Telefon mit den Worten „Hallo Corinna, was ist passiert?“ Ich schilderte ihr Svenjas Gesundheitszustand und meine Beobachtungen bezüglich der Augen und sie meinte nur „Da würde ich nicht lange überlegen oder warten. Klar hast du Recht und es könnte auch ein Infekt sein, aber riskieren würde ich da nichts. Und das mit den Augen klingt verdächtigt. Holt einen Krankenwagen, da seid ihr auf der sicheren Seite, falls sie unterwegs nochmal so stark erbricht.“
Gesagt, getan. Ich ging zurück zu den beiden Mädels ins Bad und bereitete Svenja behutsam auf die Ankunft eines Rettungswagens vor. Woraufhin Ela begeistert rief „Kann ich da mitfahren?“ (Ich erinnere, das Kind arbeitet als „BuFdi“ beim DRK, weiß also eigentlich sehr wohl, wie so ein Krankenwagen von innen aussieht. Aber des Menschen Willen ist ja bekanntlich sein Himmelreich). Der Krankenwagen kam ein paar Minuten später, ich hatte mittlerweile das Nötigste zusammen gepackt. Svenja ging es soweit ganz gut, bis auf das das sie immer noch extrem schielte. Man wusste überhaupt nicht, wen oder was sie gerade anguckte.
In meinem Kopf machten sich Szenarien breit, die der Mensch nicht braucht. Von sediertem Kind bis hin zur Not Operation am Shunt war da mal wieder alles dabei.
Ela setzte sich zu Svenja nach hinten und fachsimpelte mit dem Rettungssanitäter, ich setzte mich vorne neben den Fahrer. Thorsten wollte mit dem Auto nachkommen. Schon die Fahrt „triggerte“ mich unglaublich.
Wir fuhren am Neckar entlang, genau DIE Strecke, die Thorsten, Silke und ich damals gefahren waren, als wir nach Ronjas Unfall nach Heidelberg rasten.
Ich atmete schwer und musste mich stark zusammenreißen, dem Fahrer nicht die Ohren voll zu heulen. Der fragte mich aber irgendwann, ob alles in Ordnung bei mir sei. Ich versuchte ihm zu erzählen, warum ich gerade so labil war und er sagte DEN Satz, den ich die letzten drei Monate schon zigfach gehört hatte: „Oh mein Gott, IHR Kind war das? Das tut mir so entsetzlich leid.“
Wieder mal spürte ich, wie sehr die Menschen von überall her mitgefühlt hatten, wie sehr sie unser Schicksal betroffen machte. Und das war nicht einfach so daher gesagt. Er war selbst Vater eines zweijährigen Jungen und wir unterhielten uns den Rest der Fahrt über bedingungslose Elternliebe und unwissentlich gemachten Fehlern. Als wir uns in Heidelberg an der Kinderklinik verabschiedeten, hatte ich das Gefühl, einen sehr nachdenklichen Mann zu hinterlassen.
Wir meldeten Svenja an und mussten dann zunächst wieder mal ewig warten, bis ein Arzt erschien. Svenja hatte mittlerweile fast 39° Fieber. Noch nicht besorgniserregend hoch, aber eher untypisch für eine „Shunt Dysfunktion“. Beruhigter war ich deswegen natürlich nicht. Dann hieß es, nach ein paar Untersuchungen „Also, da wir bei ihrer Tochter natürlich jetzt erst mal nicht ausschließen können, dass etwas mit dem Shunt nicht in Ordnung ist muss sie natürlich hierbleiben. Wir könnten heute Nacht noch ein Notfall MRT veranlassen, aber dazu müsste Svenja rüber in die Kopfklinik. Und wir müssten sie in Vollnarkose legen, dass heißt natürlich unter Intubation.“ Ich atmete schon wieder schwer, dieses mal aber mehr aus dem Gedanken heraus „das darf doch wohl nicht wahr sein.“ Der Arzt sah mir meine, nennen wir es mal „Unentschlossenheit“ wohl an und meinte dann „ich werde veranlassen, dass Svenja gleich morgen früh als Erste hier in der Klinik ins MRT kommt, dann wie immer unter einfacher Sedierung. Zur Zeit sieht es ja doch eher nach einem Magen-Darm Infekt aus. Sollten sich die Nacht vermehrt Hirndruckzeichen zeigen können wir immer noch kurzfristig handeln.“
Gut, das klang nach einem Plan. Wir verließen das Aufnahmezimmer und trafen Thorsten draußen im Flur an den Aufzügen.
Ich berichtete kurz und das Erste was er sagte war „Muddi, bist du dir sicher, dass du hier bleiben kannst?“
Zur Erinnerung: wir waren in der KINDERklinik, also gab es hier natürlich massenhaft KINDER. Für mich ja weiterhin ein absolutes Drama. Aber ich wollte stark sein, auch Svenja zuliebe. „Ja, ich bleibe hier bei ihr.
Ela muss morgen arbeiten und falls sie morgen früh wirklich gleich ins MRT kommt will ich dabei sein.“ Wir fuhren mit dem Fahrstuhl in den ersten Stock. Svenja im Rehabuggy, Ela, Thorsten und ich. Auf der Station empfing uns eine freundliche Schwester und brachte uns in ein Zimmer. Sie sagte noch auf dem Gang „Bei Ihnen liegt noch ein vierjähriger Junge mit seinem Vater, ich hoffe, das stört sie nicht.“ Ich wusste, sie bezieht das auf den Vater. Aber ich hatte während unserer ganzen Krankenhauslaufbahn schon so oft mit den Vätern in einem Raum schlafen müssen, dass mir das sowieso völlig egal war. Etwas mehr Sorgen machte mir da schon der Junge. Auch Thorsten sah mich mittlerweile besorgt von der Seite an. Aber noch war ich der Meinung „ich bin stark, ich schaffe das.“ Keine zwei Minuten später wusste ich: ich hätte mir die Kraft sparen können. Die Krankenschwester öffnete die Tür und genau in meinem Blickfeld lag ein kleines Kind, mit dem Rücken zu mir. Und sah von hinten genauso aus wie meine Ronja. Klein, blond, zusammengerollt, friedlich schlafend. Der Vater blinzelte kurz, während ich geschockt und leise schluchzend aus dem Zimmer flüchtete. Thorsten kam mir nach. „Ich kann das nicht, der sieht aus wie Ronja. Ich schaff das nicht, es tut mir so wahnsinnig leid.“ Die Krankenschwester kam dazu und fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Thorsten erklärte ihr, warum ich gerade so reagierte. Und auch hier, das selbe Gesicht, fast der gleiche Spruch. Anteilnahme aus tiefstem Herzen, die mir gut tat. Ela kam aus dem Zimmer. „Kannst du hier bleiben? Die Mama schafft das nicht, das muss nicht sein.“ Thorsten sah Ela fragend an. Die überlegte kurz. Hierbleiben war nicht das Problem. Aber sie musste am nächsten Tag sehr früh arbeiten. In dem Zeitraum machte sie gerade ein Klinikpraktikum an einem Heidelberger Krankenhaus und hatte um sieben Uhr Dienstbeginn. Außerdem hatte sie natürlich kein Auto dabei. Mir war das Ganze ziemlich unangenehm, nur weil ich so eine „empfindliche Piense“ war hatte Ela jetzt solch organisatorischen Probleme. Also sagte ich, wenn auch etwas halbherzig „ich bleib da, das ist doch sonst viel zu umständlich für dich.“ Aber Ela und Thorsten widersprachen mir sofort und ziemlich energisch.
„Nein, du bleibst nicht hier, dass gibt nur Quälerei, das machen wir nicht.“ Wir beratschlagten also den weiteren Ablauf. Wir würden am nächsten morgen gegen halb sieben da sein, dann müsste Thorsten Ela zu ihrer Arbeitsstelle bringen und ich würde bei Svenja bleiben.
Ich hoffte, am Tag würde mein Hirn verstehen, dass der Zimmergenosse ein JUNGE war und somit (und im Allgemeinen) NICHTS mit meiner Ronja zu tun hatte.
Ich sagte also Svenja noch Tschüss und versprach ihr, morgen früh ganz früh bei ihr zu sein. Ich gab ihr einen Kuss und fühlte, dass sie ganz heiß war. Beim Verlassen der Station bat ich die Schwester, nochmal Temperatur zu messen.
Sie nickte und nahm mich kurz fest in den Arm. Dann machten Thorsten und ich uns auf den Heimweg. Als wir zuhause ankamen war es halb eins, mitten in der Nacht. Und das Esszimmer sah natürlich immer noch katastrophal aus. Ich schnappte mir Handschuhe, Eimer, Lappen und Desinfektionsmittel und legte los.
Bis ich total erschöpft ins Bett fiel war es schon halb drei. Den Wecker hatte ich mir für halb fünf gestellt, ich wollte noch duschen und in Ruhe einen Kaffee trinken, gegen halb sechs mussten wir spätestens los. Die Nacht war also jetzt nicht sonderlich lang, von „ausgeruht und erholt“ war ich dementsprechend ziemlich weit entfernt. Thorsten ging es nicht viel anders.
Und natürlich machten wir uns Sorgen, was der Tag noch so bringen würde.
Wir waren pünktlich um halb sieben wieder auf der Station in der Kinderklinik. Svenja schlief noch tief und fest, Ela natürlich auch. Ich weckte sie leise, der Vater im Bett gegenüber regte sich. Dann verließ ich wieder das Zimmer und setzte mich zu Thorsten auf den Gang. Zwanzig Minuten später tauchte Ela auf, ihr Gesicht sprach Bände. Nächte im Krankenhaus sind nun mal nicht zum Schlafen gemacht. Ich hätte wohl besser ein Bügeleisen mitgebracht, ihr Gesicht war dermaßen zerknittert, dass ich für eine selbstständige Entfaltung des Selbigen schwarz sah. Wobei, ich sah wahrscheinlich nicht viel besser aus. Svenja hatte wohl über die Nacht immer wieder Fieber gehabt, gegen morgen war es leicht gesunken. Thorsten fuhr Ela arbeiten, ich ging ins Zimmer und schaute nach Svenja. Aber dort schlief noch alles, also beschloss ich mir zunächst einen Kaffee zu holen und dann auf dem Flur zu warten. So richtig zog es mich ja eh nicht in dieses Zimmer. Als Thorsten wiederkam war ich schon dreimal nachschauen gewesen, so langsam regte sich etwas. Thorsten hatte noch einige Telefonate zu führen, ich entschied mich dazu, die Schwestern ein wenig zu nerven. Also eigentlich nicht direkt, aber es war mittlerweile schon fast neun Uhr.
Und bis jetzt hatten wir noch nichts bezüglich des geplanten MRT gehört.
Svenja musste nüchtern bleiben, sie hatte nur nochmal mitten in der Nacht etwas zu trinken bekommen.
Die Sedierung würde sie ungefähr eine halbe Stunde vorher brauchen. Und da bisher noch keiner da war, um uns zu informieren wann es losging, musste ich ja nachhaken. Die Antwort war folgende:
„Wir wissen leider noch von gar nichts. Aber die Ärztin kommt ja nachher sowieso zu Ihnen, vielleicht weiß die schon etwas mehr.“
Diejenigen, die mich kennen werden jetzt sofort denken „Oje, das findet die Muddi eher semigut.“ Stimmt, fand ich. Aber ich entschloss mich, entgegen meiner sonstigen Einstellung, vorerst mal die Klappe zu halten. Jedenfalls mal bis die Ärztin da war. Die kam ungefähr eine halbe Stunde später ins Zimmer, mit ihrem gesamten Gefolge. Sie kümmerten sich zuerst um unseren kleinen Bettnachbarn.
Der hatte, im Hellen betrachtet, tatsächlich überhaupt nichts mit meiner Krawalli gemeinsam und war von daher für mich einigermaßen erträglich.
Auch wenn ich es weiterhin vermied, ihn länger anzusehen. Es ging ihm überhaupt nicht gut. Mittlerweile hatte ich auch einige Worte mit dem Vater gewechselt. Der kleine Mann hatte schon länger eine Lungenentzündung und seine Sauerstoffsättigung war besorgniserregend. Im Laufe des Vormittags wurde er dann auch auf die Intensivstation verlegt. Dann kam die Ärztemannschaft zu uns. Kurze Bestandsaufnahme, freundliche Auskunft meinerseits bis ich sagte „so, wie geht das denn jetzt weiter? Gestern Abend hieß es, sie sei heute morgen die Erste im MRT, also wahrscheinlich gleich gegen acht. Falls man heute noch handeln müsse. Und Svenja ist seit gestern nachmittag nüchtern.“ Die Ärztin sah mich an, und ich spürte, dass ich nicht wirklich ihre heutige Lieblingsmutter werden würde.
„Also ich weiß ja sowieso nicht, wie man Ihnen das gestern Abend versprechen konnte. Der diensthabende Arzt weiß doch gar nicht, was heute morgen im MRT los ist. Und bis jetzt sieht es ja auch nicht mehr so aus, als wäre Svenja ein Notfall. Oder wie sehen sie das?“
Puhh, mit einer „Löwenkind-Mutter“ zu diskutieren, die fast nicht geschlafen hat und sich in einer emotionalen Ausnahmesituation befindet, ist vielleicht nicht gerade die beste Idee.
„Also ICH sehe das so, dass weder Sie noch ich beurteilen können, was gerade in Svenjas Kopf vorgeht. Und sollte sich der Anfangsverdacht bestätigen, dass der Shunt vielleicht nicht richtig funktioniert, dann sollte ja heute auch noch dementsprechend gehandelt werden können.
Sollte sich die ganze Sache hier aber ewig hinziehen, dann bin ich mal gespannt, was passiert, wenn es wirklich noch zu einer OP kommen sollte.“ Ich funkelte sie an, sie funkelte zurück.
„Fakt ist, ich kann Ihnen noch nichts sagen. Ich werde mich mit dem MRT in Verbindung setzen und sag Ihnen Bescheid, wenn ich was neues weiß.“
Sprach´s und verließ (leise kopfschüttelnd, ich hatte es gesehen!) das Zimmer. Svenja war mittlerweile völlig wach und nicht unbedingt in der besten Stimmung. Sie hatte Durst, sie hatte Hunger und was noch viel schlimmer war: ihre Ronja war wohl nicht da. Ich war ungefähr so entspannt wie ein Stahlträger. Es war halb zehn, als die Ärztin erneut ins Zimmer rauschte und meinte „also vor zwölf wird das auf alle Fälle nichts.“ Wisst Ihr noch? Atmen Frau Weber, atmen. Ich entschied, Svenja etwas zu trinken zu geben, das nahm ich jetzt völlig auf meine Kappe. Danach fühlte sie sich auch wirklich etwas besser. Die Temperatur war fast völlig im Normalbereich und sogar ihre Augen hatten wieder so ziemlich das gleiche Ziel. Also wohl wirklich ein stinknormaler Infekt. Aber wenn wir jetzt schon mal hier waren wollten wir das MRT gleich mitnehmen.
Wir hatten ja eigentlich einen Termin im Mai, aber je früher umso besser. Ich machte mir nur so ganz langsam Gedanken um den weiteren Ablauf. In Rücksprache mit der Ärztin hatten wir beschlossen, Svenja zur Sedierung Tavor zu verabreichen. Von allem anderen würde sie erfahrungsgemäß noch ziemlich lange weggeschossen sein und das wollte ich ihr nicht antun. Je später aber das MRT stattfinden würde, umso weniger Hoffnung hatte ich, heute wieder mit ihr heim gehen zu können.
Thorsten hatte mittlerweile entdeckt, dass jedes Bett einen eigenen Fernseher hatte. Svenja war schon fast glücklich. Sie hatte ab da „KIKA“, sie hatte uns und keiner wollte was von ihr. Aber genau das war MEIN Problem: Keiner wollte etwas von ihr. Und zwar, um das Ganze hier komplett abzukürzen, bis nachmittags um vier Uhr!
Trotz mehrmaligem Nachfragen, Druck machen, Bitten und Verständnis haben: es passierte NICHTS. Svenja war zwischenzeitlich wieder völlig die Alte. Thorsten und ich hatten jeder gut eine halbe Stunde verteilt in Svenjas Zimmer geschlafen, während Svenja ferngesehen hatte. Er auf Ela`s Liege, ich an Svenjas Fußteil gelehnt. Wir waren fix und fertig und beschlossen, Svenja auf eigene Verantwortung wieder mit nach Hause zu nehmen. Wie gesagt, wir hatten einen Termin im Mai, und wenn tatsächlich vorher noch irgendetwas sein sollte wären wir sowieso wieder schneller da wie wir wollten.
Dass das BALD sein würde wusste ich da ja noch nicht, war auch besser so. Ich hielt nochmal mit der Ärztin Rücksprache, der war das Ganze nun dann doch nicht so recht. Sie hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen, versicherte mir aber, dass sie nun mal leider nichts dazu konnte. Nichtsdestotrotz packten wir um halb fünf Sack, Pack und Svenja und trafen uns draußen auf dem Parkplatz mit Ela. Die hatte mittlerweile Feierabend und hatte sich von Valentin herfahren lassen. Sie würde mit uns nach Hause fahren. Svenja saß in ihrem Auto Sitz und strahlte über alle verfügbaren Backen. Und JETZT kommt der Moment an dem der, im Anfang des Kapitels, erwähnte „Hohlkopf“ ins Spiel kommt. Ela fragte mich „du sag mal, kennst du eine ……. (hier könnt ihr einsetzen, wen ihr wollt, aber es sollte jemand sein, dessen Höhe seines IQ´s man auf einem Thermometer ablesen lassen könnte). Ich war leicht verwirrt, woher kannte die denn meine Tochter?
Aber ich erkläre besser erst kurz, woher ICH diese Person kenne. Sie wohnte früher in Wald-Michelbach, hat auch einen Freund, dessen Eltern von hier sind. Mittlerweile wohnt sie woanders, ist auch wesentlich besser so (für sie). Ich kenne sie von meiner ehemaligen Friseuse und vom Kindergarten. Wir hatten bis dahin noch keine 20 Sätze miteinander gewechselt. Sagen wir’s mal so: sie gehörte schon immer mehr zu der Gattung Menschen, die nicht so ganz meins sind. Ich kam mit ihrem Lebensstil und ihrer Art noch nie richtig klar. Musste ich ja auch nicht, schließlich hatten wir kaum etwas miteinander zu tun. Und dann kann ja jeder Mensch so sein, wie er will. Ich suche mir „meine“ Menschen aus, die sich in meinem engsten Umkreis befinden dürfen. Und sie gehörte da mit Sicherheit nicht dazu. Jetzt hatte sie mich aber auch schon den ganzen Tag auf dem Facebook Messenger zugetextet, ich solle mich mal GANZ DRINGEND bei ihr melden. Sie hätte da was für mich. Da ich aber mit sehr viel wichtigeren Dingen beschäftigt war, habe ich die Nachrichten erst mal ignoriert. Bis Ela, wie gesagt, im Auto sagte, ob ich die kennen würde. Ich sagte ja und fragte warum. Ela antwortete „weil die mich schon den ganzen Tag zuschreibt. Ich wäre doch deine Tochter und du würdest nicht auf ihre Nachrichten reagieren. Ich wusste jetzt nicht, ob du die wirklich kennst, deshalb habe ich jetzt auch noch nicht reagiert.“
Ich verdrehte genervt die Augen. Die kam mir heute genau richtig. Was hatte die denn für ein Problem, dass sie quasi jeden von uns so nerven musste? „Ja, ich melde mich später bei ihr, jetzt fahren wir nach Hause, dann sehen wir weiter.“ Als wir zuhause waren schrieb ich ihr zurück. Sie antwortete:
„Können wir mal kurz telefonieren? Ich muss dir unbedingt etwas sagen!“ Also gut, mittlerweile war ich ja doch ziemlich gespannt, was sie von mir wollte. Also schickte ich ihr meine Nummer und fünf Minuten später klingelte das Telefon. Ich erzähle Euch im Folgenden das, was sie mir erzählt hat. Und Ihr dürft euch auf der Stelle wundern, warum ich auch nur eine Sekunde daran geglaubt habe. Nur fragen dürft Ihr mich nicht, dass weiß ich nämlich selbst nicht mehr. Ich schiebe es einfach mal auf meinen ziemlich desolaten Geistes- und Gemütszustand. Also, ich fasse zusammen (ich entschuldige mich jetzt schon, falls jemand das Wörtchen „hätte“ beim Lesen gleich zum Hals rauskommt):
Zum einen täte ihr das, was uns passiert ist, so ganz arg fürchterlich leid. Sie hätte selbst vor einiger Zeit ihr 18 Monate altes Kind verloren, es sei am „plötzlichen Kindstod“ verstorben. Und sie hätte damals keinerlei Hilfe und finanzielle Unterstützung von außen bekommen. Vor lauter Verzweiflung hätte sie angefangen zu trinken. Ihre beiden größeren Kinder seien in der Zeit bei ihrem Bruder untergebracht gewesen.
Um ihre Kinder wieder zu bekommen hätte sie eine Entziehungskur gemacht. Und noch während dieser Kur hätte sie angefangen, für uns Spenden zu sammeln.
Überall hätte sie angerufen oder wäre persönlich dort gewesen. Bei Sparkassen, Volksbanken, Privatleuten, Geschäften und Firmen. Summa summarum wären jetzt 6800 Euro zusammen gekommen. Und das wäre noch nicht alles: Außerdem hätte sie noch mit der AOK Baden-Württemberg telefoniert und hätte dort unsere Geschichte erzählt. Und die wiederum hätten sich bereit erklärt, uns einen Gutschein für ein behindertengerechtes Fahrrad auszustellen.“
So. Das darf jetzt jeder, der gerade genau so bescheuert guckt, wie ich damals, nochmal durchlesen, dann machen wir weiter. Fertig? Ok, dann erzähle ich Euch, wie es weiterging.
Ich war sprachlos. Also tatsächlich völlig ohne Worte. Während sie am Telefon immer lauter heulte, wir hätten das ja so sehr verdient. Niemand anders als wir, mit so einem unfassbar grausamen Schicksal. Und sie will nun mal nicht, dass sich irgendjemand jemals so alleine und verlassen fühlt, wie sie sich vor einiger Zeit. Sie möchte uns gerne den Gutschein und das Geld zukommen lassen, da müssten wir nur noch besprechen, wie. Und eigentlich dachte ich noch beim telefonieren „hat sie sich eventuell wirklich geändert? Meint die das ernst, was sie grad von sich gibt?“ Sie klang mütterlich besorgt, ernsthaft betroffen und erschüttert. Und ich bin nun mal ein kleines Seelchen, dass zunächst in jedem Menschen nur das Gute sehen möchte (solange, bis man mich richtig verletzt oder enttäuscht, dann ist ziemlich schnell der Ofen aus). Ich sagte ihr, ernsthaft perplex und völlig verwirrt, dass ich jetzt erst mal mit meiner Familie reden möchte und wir morgen nochmal telefonieren oder schreiben. Da hatte sie mir schon über eine Stunde die Ohren vollgejammert. Ich legte also auf und berichtete Ela und Thorsten von diesem überaus seltsamen Telefonat. Und selbst Thorsten sagte „Hm, könnte ja vielleicht wirklich was dran sein. Warten wir’s einfach mal ab, was passiert.
Das wäre schon geil, so ein Fahrrad für Svenja.“ Er freute sich regelrecht. Und so ein bisschen freute ich mich ja eigentlich auch. Sie schrieb Abends noch bestimmt 15 Mal. Sie hoffe, sie habe keinen Fehler gemacht, weil sie doch überall unseren Namen angegeben hätte und sie hätte es ja nicht böse gemeint, im Gegenteil. Sie hoffe so sehr, ich sei ihr jetzt nicht böse, weil sie wollte ja nur helfen….. ein Riesen Bla Bla. Ich fühlte mich leicht „belästigt“ und hatte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, weil ich dachte „du böse Frau, da tut jemand so wunderbare Sachen für uns, und du bist genervt.“
Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen!
Am nächsten Tag schrieb sie natürlich wieder, und immer noch in diesem selben „ich habe das alles nur gut gemeint und hoffe, ich habe keinen Fehler gemacht“-Modus. Mir kamen ganz langsam leichte Zweifel an ihrer Geschichte.
Katharina saß bei mir und bei einem Kaffee erzählte ich ihr von der fast unglaublichen Story. Und von meinen leisen Bedenken. Jetzt sollte man erwähnen, dass an Katharina ein kleiner Sherlock Holmes verloren gegangen ist. Sie kennt überall jemanden, der jemanden kennt, der jemanden fragen könnte. Wir begannen also gemeinsam, den „Hohlkopf“ zu stalken. Wir stöberten auf ihrem Facebook Profil und googelten nach ihr. So richtig erfolgreich waren wir aber dann nicht. „Hohlkopf“ hatte mich auch einen Tag später immer noch im Visier. Mittlerweile erzählte sie mir etwas von einer Stiftung in Lützelsachsen, die die Spendensumme verwalten würde.
Und sie bräuchte die Geburtsdaten und die genaue Adresse von Thorsten, Svenja und mir wegen dem Gutschein der AOK. Und sie würde sich wieder bei mir melden. Dann passierte erst mal über die kommenden Tage nichts. Das wiederum machte mich umso stutziger. Immerhin hatte sie ja von einer nicht unerheblichen Summe geredet und von Svenjas Fahrrad hatten wir auch nichts mehr gehört. Also schrieb ich sie an. Dann hieß es (Achtung, ab jetzt wird’s immer abstruser): sie hätte sich mit der Stiftung in Verbindung gesetzt und dort hieß es, sie würden nur 2000 Euro ausbezahlen, den Rest würden sie für ein dringend erforderliches neues Kirchendach einsetzen. Und spätestens ab da gingen mir einige, ziemlich helle Lichter auf. Ich tat so, als glaubte ich ihr den Schwachsinn, den sie gerade verzapfte und sagte zu ihr „da musst du dich aber dringend noch mal mit der Stiftung auseinander setzen. Wenn die komplette Summe für Svenja angelegt ist, dann dürfen die da nicht einfach so was weg nehmen.“ Und sie „ach, nicht? Das wusste ich nicht. Ja, dann werde ich mich da nochmal erkundigen.“
Wieder saß Katharina zu dem Zeitpunkt bei mir. Wir hatten uns schon die ganze Zeit darüber unterhalten, „Hohlkopf´s“ Aussagen nahmen unerwartete, unglaublich dumme und unverschämte Ausmaße an. Es war an einem Dienstagnachmittag, als ich ihr dann komplett und endgültig auf die Schliche kam. Ich telefonierte zunächst mit der AOK und schilderte, was „Hohlkopf“ mir alles erzählt hatte. Der nette Mann am Telefon sagte mir dann Folgendes:
„also erstens kennen wir diese Dame gar nicht und haben auch von der Geschichte noch nichts gehört. Zweitens würden wir niemals über eine dritte Person ihre Daten erfragen lassen. Drittens vergeben wir keine „Gutscheine“ über so große Hilfsmittel. Es grenzt schon an unglaublicher Frechheit, Ihnen so etwas aufzutischen.“
Ein Satz, den ich eine halbe Stunde später nochmal zu hören bekam. Nämlich von der Dame bei der Stiftung in Lützelsachsen. Die selbstverständlich AUCH von nichts wusste. Katharina saß während meiner ganzen Telefoniererei neben mir und regte sich fast mehr auf als ich. Dann versuchte ich, „Hohlkopf“ telefonisch zu erreichen um ihr klar zu machen, dass ich ihre beschissene Aktion durchschaut habe. Vorher aber schrieb ich noch mit einer gemeinsamen Bekannten. Ich war mir fast sicher, dass „Hohlkopf“ kein Kind verloren haben konnte. Das musste ich noch in Erfahrung bringen, bevor ich zur großen Aufdeckung ansetzte. Ich kannte sie ja wie gesagt vom Kinder