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Der große Faktencheck zur wohl sonderbarsten Geschichte des Christentums
Beschreiben die Berichte von der Auferstehung Jesu ein wahres Ereignis? Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen:
Die Passionsgeschichten standen in einem krassen Widerspruch zu dem, was die Menschen zur Zeit Jesu glaubten.
Niemand erwartete einen Messias, der starb und auferweckt wurde.
Die Mitglieder der Gemeinschaft um Jesus erlebten aber genau das: dass ihr Lehrer lebte und dass seine Botschaft weiterging. Wenn sie davon erzählen wollten, dann mussten sie auf Sachverhalte zurückgreifen, die im Umfeld ihrer Zeit anschlussfähig waren.
Darum geht es in diesem Buch. Wer kann dieser Judas gewesen sein, der Jesus verraten haben soll? Was hat es mit Pontius Pilatus auf sich und wie muss man sich einen Prozess und eine Kreuzigung vorstellen? Welche Vorstellungen gab es vom Tod und dem Danach?
Die Antworten auf diese Fragen vermitteln eine neue Perspektive auf eine sehr alte und doch immer neue Geschichte.
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Seitenzahl: 220
Kann ein Toter wieder lebendig werden? Beschreiben die Berichte von der Auferstehung Jesu in den Evangelien der Bibel ein »wirkliches« Ereignis? Wir wissen es nicht.
Was wir aber wissen: Die Passionsgeschichten erzählen von Personen und Dingen, die es in der damaligen Welt tatsächlich gegeben hat. Um diese geht es hier. Wer kann dieser Judas gewesen sein, der Jesus verraten haben soll? Was hat es mit Pontius Pilatus auf sich und wie verliefen ein Gerichtsprozess und eine Kreuzigung damals? Welche Vorstellungen hatten die Menschen damals vom Tod und dem Danach?
Faktensatt und unterhaltsam macht dieses Buch sichtbar, worauf die Erzähler der Bibel zurückgreifen konnten, als sie die Geschichte von Tod und Auferstehung Jesu schrieben.
Eine spannende Zeitreise in die jüdische und römische Welt vor 2000 Jahren und eine neue Perspektive auf eine sehr alte und doch immer neue Geschichte
Dr. Claudia Paganini
geboren 1978, wurde nach einem Studium der Theologie und Philosophie 2005 mit einer kulturphilosophischen Arbeit promoviert. 2001 publizierte sie ihren ersten Roman, dem weitere literarische Veröffentlichungen folgten. Derzeit ist Claudia Paganini an der Hochschule für Philosophie in München als Professorin für Medienethik tätig.
Dr. Simone Paganini
geboren 1972, studierte katholische Theologie in Florenz, Rom und Innsbruck. Nach Stationen in Wien und München ist er seit 2013 Professor für Biblische Theologie an der RWTH Aachen. Beide haben auf Science Slams schon ein großes Publikum begeistert und gemeinsam erfolgreiche Sachbücher veröffentlicht. Claudia und Simone Paganini sind Eltern von zwei Töchtern und einem Sohn.
Christian Wischnewski
geboren 1984, lebt und arbeitet als freier Illustrator und Künstler in Berlin und auf Usedom.
Simone und Claudia Paganini
Auferstanden, oder?
Der große Faktencheck zur Ostergeschichte
Mit Illustrationen von Christian Wischnewski
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Copyright © 2023 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81 673 München
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlaggestaltung und Illustrationen: © Christian Wischnewski
ISBN 978-3-641-30208-5V002
www.gtvh.de
Für Adriano
Inhalt
Aus der Unterwelt zurück ins Leben? Eine Einführung
1. Zwölf Jünger beim Abendmahl
2. Judas, oder: Verraten durch einen Kuss?
3. Kajaphas, sein Schwiegervater Hannas und das Synedrion
4. Pontius Pilatus, der Präfekt von Judäa
5. Barabbas und der König der Juden
6. Herodes Antipas, der Landesherr Jesu
7. Longinus und die Lanze
8. Maria und die anderen Frauen
9. Ein Gekreuzigter am Berg Golgotha
10. Simon von Kyrene und andere Besonderheiten in den letzten Stunden Jesu
11. Josef von Arimathäa, Nikodemus und das Grab Jesu
12. Maria Magdalena oder Petrus – wer war zuerst beim leeren Grab
13. Die Engel und die Frage nach dem Wie der Auferstehung
14. Ein Schwamm, ein Fußabdruck und jede Menge Kreuze – was nach der Himmelfahrt so übrig bleibt
Am Beginn steht der Glaube … und am Ende auch – das Ostergeschehen als bezeugte Erfahrung
Einige wichtige Begriffe
Aus der Unterwelt zurück ins Leben? Eine Einführung
Über die Auferstehung des Körpers und die Unsterblichkeit der Seele herrschte zur Zeit Jesu eine heftige Debatte. Von den Seelenvorstellungen, wie sie heute im christlichen Raum üblich sind, waren die Ansichten der Menschen von damals allerdings sehr verschieden. Aus den Schriften des Flavius Josephus gegen Ende des ersten Jahrhunderts nach Christi Geburt wissen wir recht genau, welche Überzeugungen die Gläubigen hatten. So berichtet er im Bellum Judaicum von drei Gruppen, den Pharisäern, Sadduzäern und Essenern, die sich die menschliche Seele jeweils ganz anders vorstellten. Das Thema war jedenfalls für diese religiösen Gruppierungen keine Nebensächlichkeit, sondern ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal.
Die Essener glaubten an eine unsterbliche Seele, die im Körper gefangen ist und sich durch den Tod befreien kann. Die Seelen der Gerechten würden dann jenseits des großen Sees weiterleben, die der Bösen hingegen seien zu einem ewigen Leben als Schattenwesen in der Unterwelt verurteilt. Ähnlich wie in der platonischen Philosophie wird der Tod als Befreiung vom Körper gedacht. Eine Auferstehung des Körpers musste vor einem solchen Hintergrund als eine Art Ungeheuerlichkeit, ja als ein Skandal angesehen werden.
Bei den Pharisäern gab es solche, die ebenfalls an die Unsterblichkeit der Seele glaubten, und andere, die überzeugt waren, dass die Seelen, die sich im Leben richtig verhalten hätten, einen neuen Körper erhalten würden. Wann und wie genau sich das ereignen sollte, war unklar, aber manche rechneten sehr wohl mit einer Auferweckung des verstorbenen Körpers in seiner besten Form.
Den Sadduzäern war hingegen die Vorstellung von einer unsterblichen Seele völlig fremd, die Auferstehung des Körpers in der Folge ein sinnloses Gedankenkonstrukt. Die Tatsache, dass in der Torah nirgends von der Auferstehung die Rede ist, war für die Sadduzäer der Beweis dafür, dass es keine leibliche Auferstehung geben konnte.
Die Pharisäer hingegen beriefen sich auf einen Text aus dem zweiten Buch der Makkabäer, wo die Geschichte von sieben Brüdern und ihrer Mutter erzählt wird, die gefoltert und hingerichtet werden. In dem Moment, als der letzte und jüngste Bruder seine Treue zur Torah – und damit zum wahren Glauben – mit dem Tod bezahlen muss, begehrt die Mutter gegen die Schergen auf: »Gott hat uns die Hoffnung gegeben, dass er uns wieder auferweckt! (…) Der König der Welt wird uns zu einem neuen, ewigen Leben auferwecken« (2 Makk 7,9). Das ist die einzige Passage im Alten Testament, wo eindeutig auf die Auferstehung eines einzelnen Menschen Bezug genommen wird.
Andere religiöse Schriften – wie die Bücher Henoch und Esra –, die damals großes Ansehen genossen haben dürften, jedoch nie in den verbindlichen Kanon der Bibel aufgenommen wurden, beschreiben die Auferstehung als eine Wiedervereinigung zwischen der unsterblichen Seele mit einem neuen, sterblichen Körper auf einer verwandelten Erde.
Im Talmud, einem Werk, das vor allem die pharisäische Tradition übernimmt, findet man schließlich ein Verständnis von Auferstehung, das zur Zeit Jesu möglicherweise weitverbreitet war: »In der kommenden Welt gibt es kein Essen und Trinken, keine Fortpflanzung und keine Vermehrung«, heißt es dort. »Die Gerechten sitzen vielmehr da, ihre Kronen auf den Köpfen, und genießen den Glanz der Herrlichkeit Gottes« (Traktat Berakot 34).
Dass ein Mensch mit seinem alten, verstorbenen Körper wieder lebendig wird, wie das von Jesus überliefert ist, der die Male der Kreuzigung trägt und zur Schau stellt, passt jedoch ganz und gar nicht zu den traditionellen Vorstellungen des Judentums. Natürlich ist die Entstehungsgeschichte dieses Glaubens heute nicht mehr zu rekonstruieren. Noch weniger lässt sich erklären, warum plötzlich eine Gruppe von Menschen damit beginnt, die Auferstehung einer einzelnen Person zu predigen, und damit noch dazu ungeheuerlichen Erfolg hat. Dieses Phänomen ist und bleibt ein Unikum der Religionsgeschichte.
Im Lukasevangelium finden wir aber einen Hinweis auf den Startschuss für diesen eigenartigen Glauben. Dort wird erzählt, dass die Jünger und Jüngerinnen am dritten Tag nach dem Tod Jesu in Jerusalem in einem Saal zusammengekommen seien – und dann plötzlich ihr verstorbener Lehrer unter ihnen erschienen sei. »Und er sprach zu ihnen: ›Was seid ihr bestürzt, und warum steigen Gedanken auf in euren Herzen? Seht meine Hände und meine Füße, dass ich es selbst bin; betastet mich und seht! Denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein, wie ihr seht, dass ich habe.‹ Und als er dies gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und die Füße. Als sie aber noch nicht glaubten vor Freude und sich wunderten, sprach er zu ihnen: ›Habt ihr hier etwas zu essen?‹ Sie aber reichten ihm ein Stück gebratenen Fisch; und er nahm und aß vor ihnen.« (Lk 24,38–43)
Jesus ist wieder lebendig, er trägt die Wunden der Kreuzigung, was bedeutet, dass er kein anderer sein kann als der Jesus, der drei Tage zuvor am Kreuz gestorben ist. Noch dazu nimmt er Speisen zu sich, d. h. er hat einen Körper, ist kein Geist oder sonst eine immaterielle Erscheinung. Ganz gleich, ob wir der Erzählung heute glauben wollen oder nicht, können wir davon ausgehen, dass die ersten Christen das getan haben. Ihr Verständnis von Auferstehung hatte seinen Ursprung also nicht in einer abstrakten philosophischen Theorie, sondern in der Erfahrung der Begegnung mit einem konkreten Menschen, mit einem Menschen, den sie gut gekannt hatten und der gewaltsam zu Tode gekommen war.
Selbstverständlich ist die Frage nach der historischen Glaubwürdigkeit dieser Begegnung legitim. Doch weder Scheintod-Erklärungen noch die These, die Leiche sei von Dritten entwendet und die Jünger folglich betrogen worden, reichen als Begründung für die Entstehung dieses Glaubens aus, eines Glaubens, der so stark werden sollte, dass er die religiöse Landschaft der Menschheitsgeschichte bis heute verändern sollte. Dazu kommt noch, dass die Geschichte vom leeren Grab erst später entstanden ist, ein Betrugsverdacht am Anfang der Botschaft von der Auferstehung also gar nicht ausgesprochen werden konnte. Und außerdem: Ein leeres Grab verursacht in erster Linie Angst und Verzweiflung, jedoch keinen Glauben.
Der Auferstehungsglaube beruht vielmehr auf positiven subjektiven Erlebnissen einzelner Menschen, die nicht mehr beweisbar sind. Man kann und konnte über sie sprechen, hat sie bezeugt und musste dafür in den Anfangstagen des Christentums in der Regel den Märtyrertod sterben, was übrigens das Schicksal vieler Zeugen des Auferstehungsgeschehens war. Es ist daher nicht möglich, die Ereignisse von damals zu überprüfen. Was sehr wohl einem Faktencheck unterzogen werden kann, ist der Kontext, in dem sich all das zugetragen hat und was über diesen berichtet wird. Zeit, Orte, Hauptprotagonisten und Nebendarsteller können durchaus kritisch in den Blick genommen werden, und zwar anhand moderner historischer wie literaturwissenschaftlicher Methoden.
Sehr viel wissen wir über die Autoren – und möglicherweise auch Autorinnen – dieser Texte allerdings nicht. Die Tradition spricht von vier Männern: Markus, Matthäus, Lukas und Johannes. Die ersten drei werden als Synoptiker (vom Griechischen mit einem Auge) bezeichnet, weil ihre Schriften sehr ähnlich sind und daher leicht miteinander verglichen werden können. Die vier Namen stehen aber nicht nur für die Verfasser der heutigen Evangelien, sondern für vier zum Teil durchaus unterschiedliche (religiöse) Gruppierungen, die zwar dieselbe Geschichte erzählen, sie aber, je nach ihren eigenen Interessen und Anliegen, um unterschiedliche, einander bisweilen widersprechende Details bereichern.
Außerdem ist da noch Paulus. Dieser hat – das beweisen außerbiblische historische Quellen – tatsächlich gelebt und zumindest sieben jener Briefe verfasst, die ihm im Neuen Testament zugesprochen werden. Er erzählt zwar nicht die Geschichte von der Auferstehung, wie das die vier Evangelisten tun, kennt aber diese Tradition und ist vor allem davon überzeugt, dem Auferstandenen begegnet zu sein. Alle fünf verstehen sich als Zeugen, entweder, weil ihnen der Auferstandene erschienen ist oder weil sie in engem Kontakt mit jemandem stehen, der von einer solchen Erfahrung zu berichten wusste. Ihre Texte geben daher Erinnerungen wieder und sind mit einem klaren Ziel verfasst worden. Sie sind nicht objektiv, wollen nicht als Tatsachenberichte verstanden werden und können dennoch dazu herangezogen werden, historisch glaubwürdiges Wissen zu generieren. Warum das so ist, werden wir im Lauf dieses Buches zeigen.
Eines sei aber bereits vorweggenommen. Das Bekenntnis zur Auferstehung Jesu bildet heute das Zentrum des christlichen Glaubens und wurde von Anfang an als solches gesehen. Damit aber kam es zum radikalen Bruch mit der ursprünglichen Religion Jesu, dem Judentum. Denn im ersten Jahrhundert nach Christus erwartete in Palästina niemand einen Messias, der am Kreuz sterben und nach drei Tagen wieder ins Leben zurückkehren würde.
Wenn wir diese Texte heute lesen, dürfen wir nicht vergessen, dass die Erzählungen der Evangelien in einem krassen Widerspruch zu dem standen, was die Menschen damals erhofften. Nicht nur für die kulturellen, sozialen und traditionellen Gegebenheiten, auch für die religiösen Vorstellungen und Erwartungen war der Auferstehungsglaube zunächst eine Zumutung. Anders als im 21. Jahrhundert erschien die Passions- und Ostergeschichte in den Anfangstagen des Christentums den meisten Menschen absurd, wenn nicht skandalös. Die Menschen, die sie dennoch predigten, wollten und mussten sie daher in erster Linie nachvollziehbar machen und nicht einen historischen neutralen Bericht abliefern.
1.
Zwölf Jünger beim Abendmahl
Als Ludovico Sforza, seinerzeit Herzog von Mailand, Ende des 15. Jahrhunderts Leonardo da Vinci beauftragte, im Speisesaal des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie ein Wandgemälde anzufertigen, ahnte er nicht, dass dieser ein Kunstwerk erschaffen würde, das an Bekanntheit nur von der Mona Lisa übertroffen werden sollte: Das letzte Abendmahl. Das mit einer Mischung aus Öl und Farbpigmenten auf einem trockenen Putz ausgeführte Werk, an dem der Künstler vier Jahre lang, von 1494 bis 1497, arbeitete, gilt heute als Höhepunkt von Leonardos malerischem Schaffen. Das Gemälde erweitert mit einer gewagten Perspektive die Nordwand des Saals und war in der damaligen Zeit in seiner Wirkung einzigartig: Nie zuvor war es gelungen, Emotionen, Bewegungen und Gefühle auf derart realistische Art und Weise darzustellen.
Aufgrund verschiedener Probleme mit dem Material schon im Entstehungsprozess nahm das Gemälde allerdings rasch Schaden. Als Mönche später einen Zugang zu einer neu errichteten Küche schaffen wollten, wurde der Durchbruch für die Tür genau dort vorgenommen, wo bis dahin die Füße Jesu zu sehen gewesen waren. Der Umstand, dass Napoleon den Speisesaal zu einem Stall für die Pferde seiner Truppen umfunktionierte und dass das Gebäude 1943 bei einem Bombardement der Alliierten getroffen wurde, trug nicht gerade dazu bei, die Haltbarkeit des Meisterwerks zu steigern. Schließlich wurden in der Nachkriegszeit Restaurierungsversuche mit ätzenden Lösungsmitteln vorgenommen, die das genaue Gegenteil des Angestrebten zur Folge hatten und den Zustand des Bildes zusätzlich verschlechterten.
Dennoch fasziniert das Gemälde auch heute noch: Der dramatische Höhepunkt am Vorabend der Passion – Jesus teilt seinen Freunden mit, dass einer von ihnen ihn verraten werde – ist derart lebensnah dargestellt, dass man beim Betrachten den Eindruck hat, selbst dabei zu sein. Medienwissenschaftler würden in diesem Zusammenhang von der Erlebnisfunktion des Bildes sprechen, von seiner emotionalen Dimension, die jene der Sprache deutlich übertrifft. Wer ein Bild oder eine Fotografie betrachtet und sich unmittelbar angesprochen fühlt, vergisst nämlich schnell, dass die Abbildung genauso eine Interpretation des Geschehenen ist wie ein Text, und fühlt sich – fälschlicherweise – als Augenzeuge. Wer ein Bild sieht, meint sich informiert, glaubt zu wissen, was geschehen ist. Und so war Leonardos Darstellung des letzten Abendmahls maßgeblich dafür verantwortlich, was die Christen nach ihm von diesem historischen Moment zu wissen meinten. Doch was wissen wir wirklich?
Mit wem hat Jesus zum letzten Mal gegessen?
Leonardo positioniert Jesus in der Mitte des Tisches, zu seiner Linken und zu seiner Rechten befinden sich sechs Apostel, die in je zwei Dreiergruppen angeordnet sind. Sehr wahrscheinlich wusste der Maler nicht, dass schon diese Aufstellung dem Bild, das die Evangelien von der Situation zeichnen, widerspricht. Im griechischen Originaltext der Evangelien ist nämlich von anakeísthai (Markus- und Matthäusevangelium) bzw. von anapíptein (Lukasevangelium) die Rede. Damit wird die zur Zeit Jesu verbreitete griechisch-römische Sitte bezeichnet, halbliegend zu essen. Von einem oder mehreren Kissen gestützt – wie es das Markusevangelium nahelegt (14,15) – ruhten Jesus und seine Freunde auf dem linken Ellenbogen und bedienten sich mit der rechten Hand. Das Essen mit der linken Hand zu sich zu nehmen galt nämlich als unanständig. Die Beine streckte man nach hinten, vom Tisch weg, aus, sodass sich mehrere Menschen zugleich von meist mehreren niedrigen Tischen, um die die Essenden sich gelagert hatten, bedienen konnten. Brot und Getränke standen meistens auf Schemeln bereit, die zwischen den Tischchen aufgestellt wurden. Alles das konnte Leonardo natürlich nicht wissen.
Im Hinblick auf die Zahl der Apostel orientierte er sich am Matthäusevangelium, das als einziges die Zahl zwölf nennt. Im Markus- und im Johannesevangelium ist dagegen nur ganz allgemein die Rede von Jüngern, im Lukasevangelium von Aposteln. Die Tradition des Matthäusevangeliums allerdings hat noch heute schwerwiegende Folgen. Unter Berufung darauf nämlich, dass beim letzten Abendmahl, in dessen Verlauf der Tradition nach Jesus die Priesterweihe und die Eucharistie stiftete, nur Männer anwesend gewesen sein sollen, wird Frauen in der katholischen Kirche nach wie vor die Priesterweihe vorenthalten (➝). De facto ist aber weder die Zahl noch die Identität der am Mahl teilnehmenden Personen historisch klar rekonstruierbar.
Zwar sollen die Zwölf – sofern man sich an den Evangelien und der Apostelgeschichte orientiert – Jesus während der Zeit seines öffentlichen Wirkens begleitet haben. Nach seinem Tod dürfte der Zwölferkreis aber rasch an Bedeutung verloren haben. So wird für Judas, den Verräter, noch ein Ersatzmitglied gewählt, danach wird von keiner Nachbesetzung mehr berichtet. Keine einzige antike Quelle spricht davon, dass in der frühen Kirche eine Zwölfer-Gruppe existiert oder gar davon, dass sich die Struktur der frühen Kirche an dem von Jesus bevorzugten Modell einer Leitung durch zwölf gleichberechtigte Männer orientiert hätte. Das ist eigenartig, denn genau diese Gruppe von zwölf Männern dürfte Jesus als Urstruktur der neuen Gemeinschaft, wenn nicht sogar des neuen Volkes Gottes angesehen haben.
Denn – so legt das Neue Testament nah – Jesus ging es um die Erneuerung des Gottesvolkes, um das Volk Israel, zu dem zwölf Stämme gehörten. Der Zwölferkreis wurde vermutlich vor diesem Hintergrund von Jesus selbst eingesetzt und durfte daher – sollte man meinen – nicht ohne Weiteres aufgelöst werden. Schließlich hielt man über die Jahrhunderte hinweg an vielen Dingen fest, die Jesus getan und gesagt hatte, die aber deutlich weniger wichtig waren als die Organisationsstruktur seiner Kirche; an dem aus zwölf Menschen bestehenden, gewissermaßen demokratischen Leitungsgremium dagegen nicht. Sind die Zwölf also vielleicht doch eine spätere literarische Hinzufügung, die nicht auf Jesus zurückgeht? Oder umgekehrt: Ist ihre Tilgung aus der Kirchengeschichte eine Entscheidung gegen die jüdische Symbolik der Zahl Zwölf?
Diese Fragen sind auch deshalb schwer zu beantworten, weil die Berichte über die Zwölf alles andere als einheitlich sind. Im Neuen Testament sind nämlich vier Listen mit zwölf Namen überliefert. Die Namen auf diesen Listen stimmen jedoch nicht überein. So führt das Johannesevangelium, das grundsätzlich zwar von den Zwölfen berichtet, eine Liste mit nur sieben Jüngern, von denen zwei anonym bleiben und einer den ansonsten nirgends belegten Namen Nathanael aus Kana trägt. Aber auch den anderen Evangelien und der Apostelgeschichte ist nur gemeinsam, dass Petrus stets an der ersten und Judas Iskariot an der letzten Stelle genannt wird (➝). Ansonsten variieren Namen, Beinamen und Reihenfolge der übrigen Jünger.
In der Gruppe selbst hat es wohl immer schon Spannungen gegeben; das jedenfalls berichten die Evangelien für die Zeit, in der Jesus noch lebte und mit den Jüngern umherzog. Nach seinem Tod dürften die Auseinandersetzungen weitergegangen sein. Insbesondere stritt man über Wichtigkeit, Funktionen und Aufgaben. Der größte Konflikt bestand aber im Hinblick auf den Ehrentitel Apostel. Paulus, der selbst sein ganzes Leben kämpfen sollte, um den Titel Apostel tragen zu dürfen, unterscheidet hier klar zwischen den Zwölfen und den Aposteln.
Wer also die Menschen waren, die das letzte Abendmahl feierten und sich – folgt man dem Johannesevangelium – von Jesus die Füße waschen ließen, ist heute nicht mehr mit Sicherheit zu rekonstruieren. Zugleich muss aber die klassische katholische These, dass bei diesem besonderen gemeinsamen Mahl keine Frau anwesend gewesen sein soll, als unwahrscheinlich gelten. Denn es gab eine Reihe von Frauen, die Jesus jahrelang begleitet und ihm gedient hatten und die bis zu seinem Tod bei ihm geblieben sind, selbst als die Jünger längst geflohen waren (➝).
Wann hat Jesus zum letzten Mal gegessen?
Soweit zum Wer der geladenen Gäste. Doch auch das Wann des Abendmahls ist nicht ohne Weiteres genau zu bestimmen. Grundsätzlich berichten alle vier Evangelien, dass Jesus an einem Freitag gestorben ist. Allerdings gibt es zwischen den drei synoptischen Evangelien (Markus, Matthäus und Lukas) und dem Johannesevangelium einen entscheidenden Unterschied. Dem Johannesevangelium zufolge ist dieser Freitag nämlich der Rüsttag, der Tag zur Vorbereitung des Passahfestes also, das immer am 15. des Monats Nisan gefeiert wird. Das Fest beginnt offiziell mit dem Sonnenuntergang am Vorabend und dauert eine ganze Woche. Am Abend des 14. Nisan findet nach jüdischer Tradition ein mehrstündiges rituelles Mahl statt, das rechtzeitig vorbereitet werden musste, denn am Feiertag durften fromme Juden nicht arbeiten und daher auch nicht das Passahlamm schlachten. Das letzte Abendmahl müsste dem Johannesevangelium zufolge also ein gewöhnliches Abendessen am Abend des 13. Nisan gewesen sein. Es wurde Wein getrunken und Brot gegessen, aber es fehlen die klassischen Speisen, die für Passah notwendig gewesen wären: bittere Kräuter, ungesäuertes Brot und vor allem das Lamm. Für die synoptischen Evangelien hingegen war dieser Freitag der erste Tag des Festes – also der 15. Nisan –, was aber bedeuten würde, dass es sich beim letzten Abendmahl um ein traditionelles Passahmahl gehandelt hätte. Dazu passt auch, dass diese drei Evangelien ausführlich schildern, wie Jesus zuvor zwei Jünger vorausgeschickt hat, um das Passah vorzubereiten.
So oder so lassen sich die unterschiedlichen Angaben nicht in Einklang bringen, auch wenn im Lauf der Jahrhunderte immer wieder komplexe Versuche unternommen worden sind, die Widersprüche zu erklären. Man argumentierte, die Synoptiker hätten den üblichen jüdischen Mondkalender verwendet, das Johannesevangelium hingegen den zum Beispiel bei den Essenern beliebten Sonnenkalender. Das ist allerdings nicht besonders glaubwürdig, denn die Kalender-Frage stellte damals im Judentum ein für die korrekte Ausübung der religiösen Rituale zentrales Problem dar. Hätte Jesus, wie die synoptischen Evangelien es nahelegen, eine Abweichung vom Üblichen gewollt, dann hätte das explizit thematisiert werden müssen. Außerdem passt die Verwendung des Sonnenkalenders mit der allgemein anerkannten Ein-Tag-Chronologie – Jesus wurde innerhalb eines Tages gefangen genommen, verurteilt, getötet und begraben – nicht zusammen. Insofern dürfte das Johannesevangelium ebenfalls den gewöhnlichen Mondkalender verwendet haben und mit seiner Erzählung tatsächlich etwas anderes behaupten als die synoptischen Evangelien, nämlich, dass das letzte Abendmahl gerade kein Passahmahl war, sondern am Vortag von Passah, dem Rüsttag, stattfand.
Dass die synoptische Tradition die tatsächlichen Geschehnisse wiedergibt, ist tatsächlich auch gar nicht so wahrscheinlich, denn die Erzählung vom Mahl selbst enthält keine Hinweise darauf, dass es sich hierbei um ein Passahmahl handelte. Traditionsgeschichtlich gesehen dürfte die Deutung des letzten Abendmahls als Passahmahl daher eine spätere Hinzufügung sein. Diese wurde dazu genutzt, die Einsetzung der Eucharistie als neues Passah zu inszenieren. Das war theologisch selbstverständlich äußerst relevant, ist historisch jedoch unhaltbar.
Alles in allem ist daher die Chronologie des Johannesevangeliums zu bevorzugen. Obwohl gerade dieses Evangelium deutlich später verfasst wurde und meistens eine klare theologische Absicht verfolgt, sind seine topographischen und chronologischen Angaben oftmals – und so auch in diesem Fall – präziser. Das Zusammenkommen der jüdischen Obrigkeit (➝). das Verhör bei Pilatus (➝) und die Befreiung von Barabbas (➝) sind am Rüsttag denkbar, am ersten Tag des Festes sind sie hingegen sehr unwahrscheinlich (➝). Und da Jesus de facto an dem Tag stirbt, an dem die Passahlämmer getötet werden, deutete man diesen Umstand dann in eine christologische Richtung: Jesus ist das neue Opferlamm. Die synoptischen Evangelien gehen genau umgekehrt vor: Sie wollen die Eucharistie als neues Passah deuten und bestimmen den Termin des letzten Abendmahls in diesem Sinn. Der Preis dafür ist, dass im Endeffekt eine unglaubwürdige Datierung zustande kommt.
Die Bestimmung des Todesjahres Jesu dagegen ist deutlich einfacher. Zunächst einmal kann man davon ausgehen, dass Jesus zwischen 26 und 36 n. Chr. gestorben sein muss, als Pilatus Präfekt in Judäa war (➝). Da Jesus – wie das Lukasevangelium in Kapitel 3,1 erzählt – sein öffentliches Wirken kurz nach der Taufe im Jordan begonnen hat, die im 15. Jahr der Herrschaft von Kaiser Tiberius stattfand (also zwischen 26 und 29 n. Chr.), und da dieses öffentliche Wirken ein bis drei Jahre gedauert haben dürfte, lässt sich das Zeitfenster weiter auf die Jahre zwischen 27 und 33 n. Chr. eingrenzen. Eine nochmalige Präzisierung lässt sich vornehmen, wenn man bedenkt, dass der 14. Nissan nur in den Jahren 30 und 33 n. Chr. ein Freitag und damit Rüsttag für das Passahfest war. Zwischen diesen beiden Daten ist schließlich dem Jahr 30 der Vorzug zu geben, weil das Jahr 33 ein zu langes Wirken Jesu voraussetzen würde. Nach dem gregorianischen Kalender, der heute in der westlichen Welt üblich ist, wurde Jesus folglich am 7. April des Jahres 30 hingerichtet. Am 6. April aß er mit einer Gruppe von Freunden und Freundinnen ein letztes Mal zu Abend. Es war ein ganz normales Abendessen mit Wein und Brot, aber ohne Lammfleisch.
Wo hat Jesus zum letzten Mal gegessen?
Der Raum des letzten Abendmahls, so wie ihn sich Leonardo vorgestellt hat, ist symmetrisch ausgerichtet und schmucklos. Die Perspektive führt den Blick in die Tiefe, die beiden Fenster und die Tür eröffnen den Horizont in Richtung einer nur angedeuteten grünen Landschaft mit blauem Himmel. Selbstverständlich entstammen all diese Details allein da Vincis künstlerischer Fantasie.
Darüber, wo der Raum des letzten Mahles, das Jesus mit seinen Jüngern hielt, historisch zu lokalisieren sei, ist sich die Forschung uneinig. Handelte es sich um eine Dachterrasse in Bethanien im Haus des Lazarus? Um einen vornehm eingerichteten Saal in der Jerusalemer Oberstadt oder um die ärmliche Wohnung einer befreundeten Familie in der Unterstadt?
Die synoptischen Evangelien erzählen, dass zwei Jünger nach Jerusalem geschickt wurden, wo sie einen Mann ausfindig machen sollten, der einen Wasserkrug trug. Dieser habe sie dann in ein großes Zimmer geführt. Doch ob es sich dabei um eine historische Information handelt, ist fraglich. Denn der griechische Begriff lautet katályma, dasselbe Wort also, das – allerdings mit Herberge übersetzt – in der Weihnachtserzählung des Lukasevangeliums den Geburtsort Jesu bezeichnet. Die symbolische Bedeutung dieser Stelle ist nicht zu übersehen: Geburt und Tod stehen in einem engen Zusammenhang. Als historische Ortsangabe ist er allerdings wenig geeignet.
Der Wasserträger selbst wurde vielfach mit einem Essener identifiziert. Denn das Wassertragen war damals eine Frauentätigkeit, die Männer nur dann verrichteten, wenn sie – wie die Essener – ohne Frauen lebten. Besagter Wasserträger könnte die Jünger den steilen Weg von der Schiloachquelle hinauf in das Essener-Viertel im südwestlichen Teil der Stadt Jerusalem geführt haben. Der Schwachpunkt dieser Hypothese liegt darin, dass sich das Essener-Viertel in Jerusalem nicht eindeutig identifizieren lässt. Und natürlich gab es in einer Stadt von 30 000 bis 40 000 Einwohnern, zu denen kurz vor den jüdischen Hauptfesten ein Mehrfaches an Pilgern hinzukam, eine Menge von armen Menschen, Dienern oder Sklaven, die den gut Situierten der Oberstadt die lästige Arbeit des Wassertragens abnahmen.
Die Analyse des Textbefundes liefert also höchstens den Hinweis, dass Jesus und seine Jünger irgendwo in Jerusalem gespeist haben. Die Beziehung zu den Essenern ist reine Spekulation. Ebenso wenig historisch sind die Räumlichkeit, die heute Pilgern und Touristen in Jerusalem als coenaculum – also als Ort des letzten Abendmahls – gezeigt werden. Diese liegen in der Nähe der Dormitio-Abtei auf dem heutigen Zionsberg. In dieser Gegend dürfte sich eine der ersten christlichen Gemeinschaften regelmäßig getroffen haben, wie eine Quelle aus dem 2. Jahrhundert belegt. Dort versammelten sich die Jünger und – laut der biblischen Darstellung – empfingen den Heiligen Geist. Da das laut Apg 1,13 in einem Obergemach