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Zwischen Ego und Erlösung - das etwas andere Jesusbild
Wenn wir uns den historischen Jesus – zum Beispiel im Film – vorstellen, dann gerne als milden, freundlichen Heiland, mit langem Haar und ansprechendem Äußeren.
Wie überraschend anders die Menschen am Beginn des Christentums den Mann aus Nazareth deuteten, machen Simone und Claudia Paganini auf freche und unterhaltsam Weise wieder sichtbar. In den ersten Jahrhunderten nach Jesu Tod sah man im Messias alles andere als einen feinen und frommen Kerl. Der Botschafter des Reiches Gottes wurde als launisch, rechthaberisch und laut, dann wieder als verzagt, ein bisschen jammerlappig und leicht verpeilt beschrieben. Ein ungezogenes Kind und halbstarker Jugendlicher war er ohnehin.
Dieses Buch zeigt den himmlischen Erlöser als den, der die Menschen zu seiner Zeit begeisterte: Zu einem irdischen Menschen mit sehr besonderen Ecken und Kanten.
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Seitenzahl: 194
Seine Lehren haben unzählige Menschen inspiriert, seine Botschaft zeigt, wie Zusammenleben vielleicht gelingen kann. Wenn wir uns den historischen Jesus – zum Beispiel im Film – vorstellen, dann gerne als milden freundlichen Heiland.
Doch stimmt dieses Bild mit dem Leben und Wirken der historischen Person eigentlich überein?
Claudia und Simone Paganini präsentieren eine überraschend andere Sicht auf den Erlöser der Welt.
Kundig und unterhaltsam aus den Quellen erzählt
Dr. Claudia Paganini,geboren 1978, wurde nach einem Studium der Theologie und Philosophie 2005 mit einer kulturphilosophischen Arbeit promoviert.
2001 publizierte sie ihren ersten Roman, dem weitere literarische Veröffentlichungen folgten. Derzeit lehrt und forscht Claudia Paganini als Professorin für Medienethik in München und Innsbruck.
Dr. Simone Paganini, geboren 1972, studierte katholische Theologie in Florenz, Rom und Innsbruck. Nach Stationen in Wien und München ist er seit 2013 Professor für Biblische Theologie an der RWTH Aachen.
Beide begeistern regelmäßig auf Science Slams das Publikum und haben gemeinsam bereits mehrere erfolgreiche Sachbücher veröffentlicht. Claudia und Simone Paganini sind Eltern von zwei Töchtern und einem Sohn.
Simone und Claudia Paganini
Der unbekannte Messias
Die Ecken und Kanten des Jesus von Nazareth
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagzeichnung: Caroline Klasen, Aachen
ISBN 978-3-641-32208-3V002
www.gtvh.de
Inhalt
Zum Gebrauch dieses Buches
TEIL A
Einführende Fragen
Eine historische Gestalt wird »historisiert«
Auf der Suche nach (brauchbaren) Quellen
Glaube und (historische) Wahrheit: die »Erfindung« Jesu
TEIL B
Familie, Freunde, Flausen
»… von nun an werden mich glückselig preisen alle Generationen!« (Lk 1,48)
Sohn einer nicht gerade bescheidenen Mutter
… da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum. (Mt 1,20)
Sohn eines planlosen Vaters
»Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht …« (Lk 2,48)
Sohn von überforderten Eltern
… und Jesus fand Gefallen bei Gott und den Menschen … (Lk 2,52)
Ein unerträglich begabtes Kind
… er saß mitten unter den Lehrern und hörte ihnen zu. (Lk 2,46)
Als Schüler ein Enfant terrible
Es sprachen nun seine Brüder zu ihm: »Zieh von hier fort …« (Joh 7,3)
Bruder von entnervten Geschwistern
»Was habe ich mit dir zu schaffen … Frau?« (Joh 2,4)
Ein unhöflicher, liebloser Sohn
TEIL C
Der messianische Wanderprediger
»Selig, wer an mir nicht Anstoß nimmt!« (Mt 11,6)
Einer, der die Konfrontation sucht
»Denkt ihr, ich sei gekommen, Frieden zu bringen? Nein, sondern vielmehr Zwiespalt!« (Lk 12,51)
Der kämpferische Pazifist
»Nie mehr in Ewigkeit soll jemand Frucht von dir essen!« (Mk 11,14)
Am Ende mit den Nerven
»Bindet ihm Füße und Hände und werft ihn in die Finsternis hinaus, da wird Heulen und Zähneklappern sein.« (Mt 22,13)
Der unbarmherzige Vollstrecker
»… und es gibt Kastrierte, die sich selbst kastriert haben wegen des Reiches der Himmel.« (Mt 19,12)
Liebhaber mit Ansprüchen
»Selig sind die Brüste, die keine Milch gegeben haben!« (ThEv 79)
Macho unter Gleichgesinnten
»Die Söhne des Reiches werden hinausgeworfen in die äußerste Finsternis!« (Mt 8,12)
Gutmensch oder Rassist?
»Bringt das gemästete Kalb her und schlachtet es, und lasst uns essen und fröhlich sein!« (Lk 15,23)
Tierrechtsaktivist avant la lettre?
Da schnaubte er tief auf und sagte: »Was fordert diese Generation ein Zeichen?« (Mk 8,12)
Ein unmotivierter Wundertäter
Und sofort nötigte er seine Jünger, in das Boot zu steigen. (Mk 6,45)
Messias auf der Überholspur
»Die Armen habt ihr immer bei euch […], mich aber habt ihr nicht immer« (Mk 14,7)
Liebling der Frauen
»Begreift und versteht ihr denn immer noch gar nichts?« (Mk 8,17)
Führer einer Gruppe von eingebildeten Männern
Wie war Jesus wirklich?
Ein Schlusswort
Zum Gebrauch dieses Buches
Der älteste christliche Autor, ein jüdischer Pharisäer namens Paulus, schrieb um das Jahr 55 an die Mitglieder der Gemeinde von Korinth einen Brief. Er selbst hatte die Gemeinschaft einige Jahre zuvor gegründet. In seinem Brief berichtete er, dass er Jesus begegnet sei (1 Kor 9,1). Niemand schien damals diese Begegnung in Frage zu stellen, obwohl jedem klar gewesen sein muss, dass Paulus Jesus zu Lebzeiten weder in Jerusalem noch in Galiläa, wo dieser am längsten gewirkt hatte, getroffen haben konnte. Worauf Paulus sich in seinem Schreiben bezieht, ist eine mystische Begegnung mit dem auferstandenen Jesus (1 Kor 15,8). Dennoch dürften weder die Menschen, die sich der Jesus-Gemeinschaft angeschlossen hatten, noch deren Gegner damals in Zweifel gezogen haben, dass eine solche Begegnung einem tatsächlichen Zusammentreffen mit dem konkreten historischen Jesus in nichts nachstand. Eine mystische Begegnung in Form einer Vision oder einer Erscheinung hatte den gleichen Stellenwert und die gleiche autoritative Bedeutung.
Paulus war zutiefst davon überzeugt, in einem Naheverhältnis zu Jesus zu stehen, gab in seinen Schriften auch Worte des Heilands wieder, die nur er kennt und die in den später verfassten Evangelien nicht vorkommen. Er erklärte das Wirken, ja die Göttlichkeit Jesu in einer Weise, die einzigartig war und die christliche Theologie prägen sollte. Natürlich griff Paulus auf schriftliche Quellen zurück, die er in seinen Briefen verarbeitete, doch in erster Linie war er inspiriert von seiner geheimnisvollen Erfahrung mit dem auferstandenen Christus. Wie viel Zuverlässiges er dank dieser spirituellen Begegnung aber über den historischen Jesus sagen konnte, schien für Paulus weitgehend irrelevant. Denn er war von »seinem« Jesus inspiriert, dem Christus, der ihm erschienen war und über den er fortan predigen und schreiben sollte.
Die Evangelien, die später verfasst wurden als die Briefe des Paulus und neben diesen einen zentralen Teil des Neuen Testaments ausmachen, arbeiten sehr ähnlich: Autoren bzw. Autorengruppen geben Episoden aus dem Leben Jesu sowie Sprüche und Predigten wieder, die in den ersten christlichen Gemeinden bisher mündlich weitererzählt worden waren. In den auf diese Weise entstandenen Texten spielt einerseits die persönliche, mystische, spirituelle Begegnung eine wichtige Rolle, andererseits basieren sie auf historischen Überlieferungen und drittens sind sie mit Blick auf ein ganz konkretes Publikum, nämlich die Gläubigen der damaligen – nicht der heutigen – Zeit niedergeschrieben worden.
Im Lauf der ersten Jahrhunderte der Entwicklung des Christentums wurden die Erzählungen über Jesus und seine Lehrsprüche immer wieder aktualisiert, umgestaltet und an veränderte gesellschaftspolitische Umstände angepasst. Das Jesusbild, das auf diese Weise entstand, hat – wenig überraschend – nur noch bedingt mit konkreten Eigenschaften des historischen Jesus zu tun, sondern hängt vor allem damit zusammen, dass man aus dem Messias im Lauf der Zeit einen – von Gott Vater »ungetrennt«, zugleich aber auch »unvermischt« zu denkenden – Gottessohn gemacht hatte. Was an diesem Heiland als allzu menschlich erschien, wurde geglättet, weggelassen oder uminterpretiert.
Deutlich spannender sind daher jene Texte, die noch vor dieser theologischen Entwicklung oder »Überformung« verfasst wurden und eben noch keine Neu-Interpretation erfahren hatten. Solche Darstellungen, wie sie sich sowohl in den kanonischen als auch in den apokryphen Evangelien finden, bilden die Basis für dieses Buch. Es geht dabei nicht darum, Menschen in ihrem Glauben zu irritieren oder diesen gar zu zerstören, indem das von der Kirche überlieferte Jesusbild infrage gestellt oder gar »als Fälschung entlarvt« wird. Vielmehr sollen weniger bekannte Texte ins Spiel gebracht werden, die – mit Blick auf ihre Wirkungsgeschichte – als ursprünglicher bzw. näher am historischen Jesus gelten können und die daher möglicherweise wertvolle Hinweise darauf liefern, wie er gelebt hat und was für ein Mensch er war. Durchgesetzt haben sich diese »Erinnerungen« in der christlichen Tradition allerdings nicht.
Nach einem kurzen ersten Abschnitt, in dem grundlegende Fragen und Methoden der Bibelauslegung behandelt werden, gliedert sich das Buch in zwei weitere Teile. Im ersten Teil geht es um Jesus vor Beginn seines öffentlichen Wirkens und um seine Familie. Der zweite Teil beschäftigt sich dann mit Jesus als erwachsenem Mann und Wanderprediger in Galiläa und Jerusalem.
Die drei Texte des ersten an die Thematik heranführenden Teils sind für einen richtigen Umgang mit den ausgewerteten Quellen wichtig und sollten daher tatsächlich gelesen bzw. als Erstes gelesen werden. Die weiteren Einzelkapitel sind zwar chronologisch und thematisch angeordnet, bauen aber nicht aufeinander auf und können daher in beliebiger Reihenfolge gelesen und natürlich auch übersprungen werden.
Das Bild von Jesus von Nazareth, das sich auf diese Weise ergibt, muss angesichts der mangelhaften Quellenlage unvollständig bleiben. In der Spannung zu dem allgemein bekannten traditionellen Bild der christlichen Überlieferung mag es aber zu einer neuen und – wie wir hoffen – durchaus etwas realistischeren Wahrnehmung einer trotz allem durchaus außergewöhnlichen Persönlichkeit führen.
Tirol, im Frühling 2024
Claudia und Simone Paganini
TEIL A
Einführende Fragen
Bevor einige verborgene, unerwartete und manchmal auch irritierende Eigenschaften des Jesu von Nazareth präsentiert werden, erscheint es von Bedeutung, die eine oder andere grundlegende Frage zu klären.
Die erste betrifft die Gestalt des Gottessohnes selbst: Bei ihm handelt es sich nämlich zugleich um eine historische Person, also um einen konkreten Menschen, der wirklich einmal gelebt hat, als auch um eine religiöse Figur, die im Zentrum des Glaubens von mehr als zwei Milliarden Menschen steht. Wenn man im Alltag – z. B. beim Bibelkreis, in der Liturgie oder in den normalen Gesprächen – von Jesus redet, meint man meistens beides zugleich. Das ist auch in Ordnung, aber eben nur so lange, wie man keinen wissenschaftlichen Blick auf Jesus wirft. Dieser muss nämlich die beiden Ebenen trennen und sich – aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen – entweder auf den einen oder den anderen Jesus richten.
Wenn dies ein Stück weit im Hinterkopf bleibt, wird beim Lesen dieses Buches auch nicht der Eindruck entstehen, es sollten darin Glaubensinhalte »dekonstruiert« oder es sollte gar gegen den christlichen Glauben argumentiert werden. Tatsächlich nämlich wird der Focus ausschließlich auf den historischen Jesus gelegt und versucht, mithilfe von literarischen Quellen zu rekonstruieren, was für ein Mensch (!) er gewesen sein könnte bzw. an was für einen Menschen sich die Gläubigen der ersten Jahrhunderte erinnert haben.
Das zweite »Problem« betrifft die Quellenlage zu Jesus. Diese ist nämlich alles andere als unproblematisch. Neben den Evangelien des Neuen Testaments kennt die Forschung zwar zahlreiche weitere alte Werke, die sich mit Jesus und mit seiner Botschaft auseinandersetzen, sie alle sind aber mit einem ganz anderen Verständnis von Geschichtsschreibung entstanden, als es heute üblich ist. Welche Quellen stehen also überhaupt zur Verfügung, wenn man die Fragestellung dieses Buches beantworten will? Worauf ist zu achten, wenn mit ihnen argumentiert und auf sie Bezug genommen wird? Auch diese Fragen sollen im ersten Teil des Buches geklärt werden.
Eine historische Gestalt wird »historisiert«
»Die Vielfalt der Jesusbilder legt den Verdacht nahe, Jesus-Darstellungen seien in Wirklichkeit Selbstdarstellungen ihrer Autoren«, so kommentieren Gerd Theissen und Annette Merz, die Autoren eines monumentalen Werkes über den historischen Jesus, die letzten 300 Jahre wissenschaftlicher Forschung über die vielleicht bekannteste Person der Menschheitsgeschichte: Jesus von Nazareth.
Blickt man auf die letzten Jahrzehnte zurück, so trifft diese Aussage durchaus auch auf nicht-wissenschaftliche Kontexte zu: In den 1968er-Jahren etwa wurde ein pazifistischer Jesus mit Sandalen und langem Haar zur Ikone der Flower-Power-Bewegung. Dreißig Jahre zuvor hatten nationalsozialistisch geprägte Christen noch einen arischen Jesus, hochgewachsen, blond und mit ernsthaften blauen Augen, verehrt, dessen jüdische Wurzeln man großzügig verschwieg, genauso wie den Umstand, dass ein in Palästina geborener Mann eher dunkelhäutig gewesen sein dürfte, mit schwarzem Haar und braunen Augen. Und gerade, weil die Strukturen der christlichen Kirchen oft als starr, konservativ und wenig innovationsfreudig empfunden wurden, hat man immer wieder einen rebellischen Jesus propagiert, der sich zu Randgruppen hingezogen fühlte und den damaligen Institutionen bzw. ihren Autoritäten kritisch gegenüberstand. Zuletzt hat sogar ein Papst dazu beigetragen, ein ansprechendes neues Jesusbild zu entwerfen, was mehr oder weniger den Geist der Zeit trifft. Mit großer Gelassenheit im Blick auf die historischen Quellen und weitgehend voreingenommen bzw. interessengeleitet skizzierte Benedikt XVI. in seiner Buchtrilogie »Jesus von Nazareth« die Gestalt des Messias, wie sie für ihn stimmig war und hat ihn damit zum Begründer einer (modernen) christlichen – oder besser gesagt: katholischen – Dogmatik gemacht.
Die Liste der Beispiele ließe sich beinahe beliebig fortsetzen: Jesus, der Philosoph; Jesus, der Ethiker; Jesus, der jüdische Rabbiner; Jesus, der christliche Priester; Jesus, der Essener; Jesus, der Abenteurer; Jesus, der Sozialist; Jesus, der Lebenskünstler; Jesus, der Kirchengründer; Jesus, der Asket; Jesus, der Draufgänger; Jesus, der Revoluzzer; Jesus, der Anarchist; Jesus, der politische Intrigant; Jesus, der Religionskritiker; Jesus, der Queere …
Jesus von Nazareth war zweifelsohne eine herausragende historische Persönlichkeit, sein Einfluss auf die Geschichte der Menschheit ist unbestritten. Seine Lehren von Liebe, Mitgefühl und Vergebung haben unzählige Menschen inspiriert und sind immer noch inspirierend. Seine Botschaft von Nächstenliebe und Frieden legt den Grundstein für ein – religiös motiviertes – moralisches Handeln und zeigt, wie ein respektvolles Zusammenleben gelingen kann. Doch dass Jesus gelebt hat, ist auch schon – mehr oder weniger – das Einzige, was man mit Sicherheit über jene Person sagen kann, die den frühen Christen als Messias und den christlichen Kirchen bald schon als Gottessohn gelten sollte.
Es gibt nämlich kein »richtiges« Jesusbild – im Sinn von: historisch zuverlässig oder objektiv. Das hängt damit zusammen, dass die Quellenlage äußerst dürftig ist. Nichtchristliche Quellen sind zwar vorhanden, aber insofern nicht besonders hilfreich, als sie lediglich belegen, dass es schon sehr früh christliche Gemeinden gab und dass diese sich in ihrer Lehre und Praxis an einem gewissen Christus orientierten. Einzelheiten über das Leben und Wirken des christlichen Heilands findet man darin nicht.
Die christlichen Quellen sind dagegen ausführlicher, jedoch nicht objektiv und bisweilen auch schwer zu interpretieren. Außerdem sind sie teilweise erst zwei bis drei Generationen nach dem Wirken des historischen Jesus entstanden. Das mindert in gewisser Weise ihre »Qualität«, denn in dieser langen Zeit, wo die Erinnerungen mündlich überliefert wurden, kann natürlich vieles dazugedichtet oder uminterpretiert worden sein. Eine erfreuliche Ausnahme stellen hier die Briefe des Paulus dar, die etwa 20 Jahre nach dem Tod Jesu verfasst wurden. Dummerweise interessiert sich Paulus aber kaum für den sogenannten »irdischen« Jesus. Die Evangelien dagegen, die mindestens 30 Jahre später niedergeschrieben wurden, enthalten sehr konkrete historische Überlieferungen, die auf mündliche Traditionen zurückgehen, welche möglicherweise sogar älter sind als die des Paulus. Zumindest aber sind sie frei von der für Paulus typischen philosophischen Deutungstendenz und von seinem Bestreben, in Jesus eine mythische, präexistente Gestalt erkennen zu wollen, die schlussendlich nur noch wenig mit jenem Wanderprediger zu tun hatte, der als jüdischer Aufrührer von den Römern hingerichtet wurde.
Sowohl für die paulinische Briefliteratur als auch für die übrigen Schriften des Neuen Testaments gilt aber, dass sie alle aus ein und demselben Milieu stammen und ein ähnliches Publikum ansprechen wollen, genauer gesagt: Sie wurden von Anhängern Jesu für andere Anhänger Jesu geschrieben. Diese hatten natürlich ein klares Interesse daran, ihren Lehrer und Heiland positiv darzustellen. Liest man jedoch die alten Texte über das Leben des Gottessohnes aufmerksam, und zwar die biblisch-kanonischen ebenso wie die sogenannten »apokryphen«, so stellt man fest, dass die literarische Jesus-Gestalt auch problematische Züge trägt. Das ist durchaus irritierend, denn in den letzten 2.000 Jahren wurde diese Gestalt von der christlichen Tradition durchweg positiv dargestellt.
Da aber die Autoren der Evangelien Jesus natürlich sehr wohlgesonnen waren, hatten sie keinen Anlass, negative Charaktereigenschaften oder Verhaltensweisen zu »erfinden«. Das hätte für Schriften, die dafür gedacht waren, die frühen Christen in ihrem Glauben zu stärken und nach außen ein gutes Bild von der Glaubensgemeinschaft bzw. ihrem Begründer zu vermitteln, einfach keinen Sinn gemacht. Deshalb kann bzw. muss man davon ausgehen, dass gerade den »negativen« Aspekten, also all dem, was nicht so recht ins harmonische Bild passt, ein hohes Maß an historischer Glaubwürdigkeit und Wahrheit zukommt. Der einzige Grund, solche wenig vorteilhaften Episoden auch noch schriftlich zu verbreiten, ist nämlich, dass diese sich tatsächlich so zugetragen haben und zugleich der Allgemeinheit so bekannt waren, dass man sie nicht einfach unter den Teppich kehren konnte. Bei näherem Hinsehen zeigen also gerade diese durchweg positiv gedachten Quellen an jenen Stellen, wo sie negative oder widersprüchliche Charaktereigenschaften durchscheinen lassen, dass auch Jesus kein Mensch ganz ohne Schattenseiten war.
Da sich dieses Buch mit den – bisher kaum beachteten – unbekannteren und sperrigen Seiten des Messias beschäftigt, wird auf diese Weise notgedrungen ein einseitiges Bild von Jesus gezeichnet werden. Dieses Bild soll aber auch nicht für sich allein stehen bleiben, sondern in erster Linie eine Art Korrektur zu einer 2.000 Jahre alten Tradition der positiven Verzerrung darstellen und damit Jesus von Nazareth ein Stück weit entmythisieren. Auf diese Weise kann man dennoch dem historischen Jesus näherkommen. Die öffentliche Wahrnehmung verträgt nach so vielen Jahrhunderten positiver Schlagseite auch ein wenig Fokus auf das Gegenteil. Als – wiederum positives – Nebenprodukt von diesem Unterfangen, wird jedoch Jesus menschlicher und damit vielleicht auch glaubwürdiger erscheinen.
Auf der Suche nach (brauchbaren) Quellen
Um ein Buch über Jesus von Nazareth zu schreiben, kann man grundsätzlich zwei – wenn man so will – Materialsammlungen heranziehen: zum einen die (kanonischen) Evangelien, die Teil des Neuen Testaments – also des biblischen Kanons – geworden sind, zum anderen alle anderen sehr frühchristlichen außerbiblischen Schriften, die sich mit der Gestalt Jesu befassen und die man der Einfachheit halber »apokryphe« Evangelien nennt. Zwar gibt es auch einige wenige nichtchristliche Quellen wie zum Beispiel den jüdischen Talmud oder Texte von den antiken Autoren Josephus Flavius, Sueton, Tacitus oder Plinius dem Jüngeren; sie sind für die Fragestellung dieses Buches aber nicht wirklich ergiebig, denn sie liefern – mit Ausnahme einiger rabbinischer Belege, die immer wieder einbezogen werden – so gut wie keine Information über den konkreten Menschen Jesus.
Die vier Evangelien des Neuen Testaments sind auf Grundlage älterer mündlicher – und vielleicht auch schriftlicher – Überlieferungen etwa zwischen 70 und 120 n. Chr. als Gemeinschaftswerke – sie stammen also nicht, wie die spätere Tradition weitergegeben hat, von einem einzelnen Autor – niedergeschrieben worden. Das Markusevangelium stammt aus den frühen 70er-Jahren des ersten Jahrhunderts, ist das älteste und wurde von den Verfassern des Matthäus- und des Lukasevangeliums als Vorlage für ihre Werke verwendet. Das Johannesevangelium schließlich setzt die anderen drei Evangelien voraus und interpretiert das Wirken Jesu in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts aus einer vertieften theologischen Perspektive.
In der theologischen Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte sich die bis heute weithin akzeptierte These, dass es eine strikte Trennung zwischen der »urchristlichen Literatur« und allen anderen profanen Formen der Weltliteratur gebe. Im Protestantismus betonte man vor allem die Andersartigkeit der als »kleine Literatur« bezeichneten Evangelien gegenüber der klassischen griechischen und römischen Hochliteratur der Antike. Im katholischen Bereich entwickelte sich darüber hinaus die Vorstellung, dass ausschließlich in der Bibel universale Wahrheiten zu finden seien, wohingegen die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft nur insofern zu akzeptieren seien, als sie nicht im Widerspruch zur christlichen Lehre stünden. Die Vorstellung, die Evangelien seien etwas Einzigartiges, ein gegenüber äußeren Einflüssen erhabenes Werk, ist seitdem quasi ein Dogma der katholischen Kirche. Damit wurden Form und Inhalt der Bibel jeder Diskussion und – vielleicht auch kritischen – Nachfrage entzogen. Die Evangelien und die übrigen Texte des Neuen Testaments liefern, so war man überzeugt, eine nicht zu hinterfragende Wahrheit, wobei diese Wahrheit freilich immer mit dem konform ging, was der Kirche gerade zu lehren gefiel. Die Gestalten von Jesus, Paulus, Maria und den anderen Aposteln galten unhinterfragt als Vorbilder und Verkörperung von Weisheit, sittlicher Güte und untadeliger Frömmigkeit.
Seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat sich jedoch mit der Entwicklung redaktionsgeschichtlicher Zugänge zum biblischen Text, innerhalb derer sowohl linguistische als auch sprachwissenschaftliche Methoden angewendet wurden, die Haltung der Forschung gegenüber den Evangelien grundlegend verändert. Diese werden nun – zumindest von den historisch-kritisch arbeitenden Bibelwissenschaftlern – primär als literarische Schriften verstanden, die in einem bestimmten Kulturkreis entstanden sind, nämlich im Spannungsfeld zwischen urchristlichen Gruppierungen und der römisch-hellenistischen Gesellschaft der römischen Kaiserzeit. Ein solcher Ansatz ermöglicht es dem Historiker und Literaturwissenschaftler, einerseits bestimmte Muster in den Evangelien zu erkennen und auszuwerten, andererseits aber auch die Kreativität und die innovativen Akzentsetzungen der Texte herauszuarbeiten.
Als Referenz für die Evangelien, sprich: als Quellen, die sich für einen Vergleich eignen, kommen vor allem die sehr umfangreich überlieferten hellenistisch-römischen Biografien – lateinisch vitae, griechisch bíoi – in Frage. Diese Gattung erlebte um die Zeitenwende eine regelrechte Blüte. Der römische Schriftsteller Varro soll im ersten Jahrhundert v. Chr. mehr als 700 vitae verfasst haben, sein Zeitgenosse Cornelius Nepo immerhin 400, und auch aus Suetons Sammelwerk ein halbes Jahrhundert später sind zwölf Kaiserbiografien erhalten. Plutarch verglich zu Beginn des zweiten Jahrhunderts n. Chr. in 50 Biografien römische und griechische Persönlichkeiten – oi bíoi parálleloi (Die parallelen Biografien) – und auf Philo von Alexandrien geht eine monumentale Moses-Biografie zurück.
In der Regel wurde das Leben von berühmten Feldherren und Königen, aber auch von Dichtern, Philosophen, Geschichtsschreibern oder Staatsmännern beschrieben. Diese vitae sind aber keine Biografien im modernen Sinn, vielmehr geht es den Autoren darum, Beispiele einer vorbildlichen moralischen Lebensführung zu geben. Aber auch Probleme, Konflikte und – vor allem in den jüdisch geprägten Texten – das Verhältnis zu Gott werden thematisiert.
Die kanonischen Evangelien – vor allem das Markusevangelium – lassen sich ziemlich eindeutig der Gattung vita zuordnen. Das Lukasevangelium und das Matthäusevangelium spielen außerdem mit der Erzählung vom göttlichen Ursprung Jesu auf Herrscherbiografien an. Auch antiken Herrschern wurde nämlich gerne eine besondere Nähe zur göttlichen Sphäre nachgesagt, um auf diese Weise die Legitimität ihrer Herrschaft zu begründen. Das Johannesevangelium schließlich präsentiert Jesus seinen Lesern als Vorbild für eine fromme Lebensführung. Ein unbedeutender Mann aus einfachen Verhältnissen kommt ganz groß heraus, weil Gott ihn auserwählt hat. Am tiefsten Punkt seines scheinbaren Scheiterns vollzieht sich dann die überraschende Wende und eine neue »Dynastie« entsteht: die Kirche.
Neben den vier Evangelien des Neuen Testaments wurden schon relativ früh zahlreiche weitere Schriften über Jesus verfasst. Diese werden oft als »apokryphe«, d. h. auf Griechisch »verborgene« Evangelien, bezeichnet. In ihnen finden sich Episoden aus dem Leben Jesu, die zwar an die kanonischen Evangelien erinnern, aber deutlich über sie hinausgehen, Lücken füllen, offene Fragen klären.
Als Irenäus, der Bischof von Lyon, gegen Ende des zweiten Jahrhunderts sein Hauptwerk Adversus Haereses (Gegen die Häresien) verfasste, gab er sich offensichtlich große Mühe, die Überlegenheit der vier Evangelien, die heute am Anfang des Neuen Testaments stehen, zu begründen. Seine Ausführungen machen zum einen deutlich, dass die Autorität genau dieser vier Evangelien zu seiner Zeit alles andere als unumstritten war, und zum anderen, dass es andere Evangelien gab, die ebenso alt oder sogar älter waren und von manchen Christen als zuverlässiger angesehen wurden. So wissen wir beispielsweise auch, dass Bischof Serapion von Antiochien Ende des zweiten Jahrhunderts in einer Stadt seiner Diözese eine Schrift – heute Petrusevangelium genannt – fand, es jedoch ablehnte, überprüfen zu lassen, ob man den Text in der Gemeinde verwenden könne. Er begründete seine Entscheidung damit, dass dieser nicht der apostolischen Tradition entspreche. Bis dahin war das Evangelium aber sehr wohl in der Liturgie in Gebrauch gewesen.