Warum sind immer die Juden schuld? - Simone Paganini - E-Book

Warum sind immer die Juden schuld? E-Book

Simone Paganini

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Beschreibung

Antisemitismus ist kein Phänomen der Moderne. Bereits in der Antike wurden Juden von den Ägyptern, Persern, Griechen, Römern und schließlich auch von den Christen gehasst und verfolgt. Antike Autoren verbreiteten fantasievolle Verleumdungen: Juden galten als illoyale Parasiten oder als reiche und mächtige Verschwörer und Drahtzieher der Gesellschaft. Diese Verschwörungsmythen, die sich bis heute halten, sind auch tief in den biblischen Texten verwurzelt. Simone Paganini, Bibelwissenschaftler, beleuchtet diese antisemitischen Klischees und zeigt auf, wie sie entstanden sind – und was uns das über heutige Formen des Hasses lehrt.

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Seitenzahl: 254

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Simone Paganini

Warum sind immerdie Juden schuld?

Antisemitismus in der Bibel

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025

Hermann-Herder-Str. 4, 79104 Freiburg

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich an

[email protected]

Die Übersetzungen der Bibelzitate und der antiken Quellen sind vom Autor eigenhändig angefertigt.

Umschlaggestaltung: Christoph Pittner (Pittner-Design)

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL

ISBN Print 978-3-451-60145-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83680-0

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83685-5

„Die Welt besteht auf drei Dingen: auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit und auf Frieden.“

(Talmud, Pirqe Avot 1:18)

Für Sarah, Adriano und Laila

Selbstverständlich sollte insbesondere bei einem Buch, das sich mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Aggression befasst, auf eine möglichst inklusive Sprache geachtet werden. Um gleichzeitig jedoch die Lesbarkeit des Textes zu optimieren, wird auf die Verwendung von Sonderzeichen und Binnen-I verzichtet. Sofern beide Geschlechter gemeint sind, wird daher die männliche und die weibliche Form verwendet. Das ist natürlich nicht state of the art und unbefriedigend, weil damit nicht alle Geschlechter berücksichtigt sind, allerdings gibt die Schreibweise „Leser und Leserinnen“ (nur als Beispiel) auch einfach nicht mehr her. Wo hingegen lediglich die männliche Schreibweise steht, ist dies in der Regel aber nicht als generisches Maskulinum – das andere Geschlechter einschließt – zu verstehen, sondern als konkretes Maskulinum, da es etwa im Zusammenhang mit den biblischen Schriften nicht sinnvoll ist, die Bezeichnungen „Autorin“ oder „Redakteurin“ zu gebrauchen. Denn es liegt keine historische Evidenz vor, dass Frauen damals solche Funktionen bekleiden durften. Die Wörter „Juden“ und „Christen“ dagegen sind inklusiv zu verstehen und bezeichnen alle jüdischen bzw. christlichen Menschen unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht oder ihrer Geschlechtsidentität.

Inhalt

Warum es immer schon Antisemitismus gewesen ist: eine Einführung

Immer wieder der gleiche Antisemitismus

Erinnerungskultur – Geschichte ist mehr als bloße Daten

1. Antisemitismus, Antisemitismen und das Problem einer nicht eindeutigen Definition eines vermeintlich klaren Sachverhalts

Antisemitismus und Shoah

Immer wieder neue, aber mehr oder weniger gleiche Formen des Antisemitismus

Was ist Antisemitismus? Der Versuch einer Definition

Antisemitismusforschung und das (bleibende) Problem der Näherbestimmung

Eine weitere (Arbeits-)Definition: die EUMC-Erklärung

Schon wieder eine Arbeitsdefinition: die JDA

Jedem Menschen recht getan, ist eine Kunst, die JDA nicht kann

Anti-‚Semitismus‘: zum Ursprung eines komplexen Begriffs

‚Semitisch‘ ist eine Sprachgruppe, keine Bezeichnung für Rasse

Der Anti-Semitismus als pseudowissenschaftliche Form des Hasses gegen Juden

Der Erfolg eines neuen Begriffs mit altbekannten Inhalten

Und alle machen mit …

Vampire und Ratten: Antisemitismus trotz oder wegen der Aufklärung

Antisemitismus als unreflektiertes und allgemeingültiges Axiom

Die zahlreichen Facetten eines umfassenden Begriffs

Immer gleich und doch anders

Zur Anpassungsfähigkeit eines allerklärenden Begriffs

Sechs immer wiederkehrende Merkmale des Antisemitismus

Antisemitismus: eine unscharfe, aber durchaus brauchbare Begriffsbestimmung

2. Antisemitismus und Antisemiten in der hebräischen Bibel und in ihrer Umwelt

Von Geschichte und Geschichten: Vorbemerkungen zur „Historizität“ der Bibel

Geschichtsschreibung und das Schreiben von Geschichten

Die ersten Pogrome und ihre biblische Aufarbeitung

Die Familie Jakobs wird zum Volk Israel

Vernichtungswahn in drei Stufen: antisemitische Merkmale einer sehr alten Mustererzählung

Rassischer Antisemitismus in der antiken Welt

Jüdische Überlebensstrategien in Praxis und Theorie

Die Juden in Elephantine, König Mesha und das Pogrom in Alexandria

Juden ermorden in Elephantine

Der Versuch der Ausrottung der Juden durch Moab

Von der Ghettoisierung gut integrierter jüdischer Menschen

Von der Ghettoisierung zum Pogrom

Von den Pogromen zum ethnischen Konflikt: Verschwörungsmythen in der antiken Welt

Antisemitismus in der hellenistischen Welt und der Widerstand der Makkabäer

Der erste strukturelle Antisemitismus in hellenistischer Zeit

Griechischer Antisemitismus: religiös und rassistisch zugleich

Von konkreten Auswüchsen zu einer theoretischen Fundierung

Juden vernichten, weil sie Juden sind: Daniel und Esther

Antisemitismus im Buch Daniel

Erstmals zeigen sich klassisch gewordene Stereotype

Antisemitismus im Buch Esther

Haman: der erste Antisemit der Geschichte

Rasse und Volk: Anmerkung zu einer ethnischen Rassentheorie in der Bibel

Wie definiert man Rasse?

Rassenzugehörigkeit durch Blutslinie

Das biblische Volk Israel: rassisches Selbstverständnis

3. ‚Semitisch‘ antisemitisch: Wenn Juden antisemitische Schriften verfassen

Jesus, der Jude

Der universale Missionsauftrag

Als Christen Juden waren: innerjüdischer Zwist nach dem Tod Jesu

Die erste Generation: innerjüdische Auseinandersetzungen

Die zweite Generation: der Jude Paulus gegen die Juden

Die dritte Generation: das Markusevangelium und die Gleichgültigkeit gegenüber dem Judentum

„Sein Blut komme über uns!“ Juden als ‚das Andere‘ im Matthäus- und Lukasevangelium

Und noch ein Jude gegen die Juden: das Matthäusevangelium

Zugehörigkeit zum Evangelium statt zum Judentum: das lukanische Doppelwerk

‚Die Juden‘: neue antisemitische Töne im Johannesevangelium

‚Die‘ Juden im Johannesevangelium: Antisemitismus light

‚Die‘ Juden und das vierte Evangelium: Kollektivierung als antisemitische Grundeinstellung

Juden als Jesus-Mörder: das antisemitische Klischee des Christentums schlechthin

Das Johannesevangelium als Wiege des Antisemitismus

„Ihr seid – dem Vater nach – des Teufels“ (Joh 8,44): Ursprung und Wirkung des rassisch antisemitischen Ressentiments

Juden und Teufel: Dämonisierung als Grundmuster des antisemitischen Denkens

Synagoge und Teufel: Dämonisierung einer urjüdischen Struktur

Das erste christliche Pogrom

Zum Schluss: Antisemitismus in der Bibel: eine abschließende These

Literatur

Über den Autor

Warum es immer schon Antisemitismus gewesen ist: eine Einführung

„Antisemiten sind die anderen, die Rechten, die Nazis. Bei uns gab es nur Antijudaismus.“

Ein guter Christ im Jahre 2024

Das einleitende Zitat ist fiktiv, es bringt aber eine Grundhaltung zum Ausdruck, wie sie oftmals zwischen den Zeilen spürbar wird. Am prominentesten sicherlich in Nostra Aetate, jenem Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils über die nicht christlichen Religionen, in dem einerseits „aufgrund der religiösen Liebe des Evangeliums alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben“, beklagt werden (NA 4), andererseits jedoch lediglich – und auch das nur indirekt – die Verantwortung für die ‚antijüdische‘ Anschuldigung, die Juden hätten Jesus getötet, übernommen wird. Das Dokument wurde 1965 veröffentlicht, also 20 Jahre nach der Shoah. Eine Entschuldigung oder wenigstens ein minimales Eingeständnis der Mitverantwortung für die schweigende Rolle der Amtskirche während des Faschismus und Nationalsozialismus sucht man vergeblich.

„Antisemiten waren die anderen.“

Immer wieder der gleiche Antisemitismus

Diese Meinung ist nicht nur weitverbreitet, sondern besonders im Kontext der Shoah, der grässlichsten und verwerflichsten Art des Antisemitismus, die in der Zeit zwischen 1933 und 1945 zur Ermordung von sechs Millionen Juden geführt hat, wird sie auch gerne als eine Art Entlastungsargument gebraucht. Die Erfahrung von Auschwitz und die Reflexion, die in der Zeit danach erfolgt ist, haben maßgeblich dazu beigetragen, dass nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine ideologische Unterscheidung zwischen den Phänomenen Antijudaismus und Antisemitismus, der mit seinem rassistischen Charakter in den Nürnberger Gesetzen von 1935 konkret wurde und eine institutionalisierte Rassendiskriminierung nach sich zog, gemacht wurde. Die Argumentation der katholischen Kirche in diesem Kontext folgte dem Narrativ, man sei (partiell) zwar gegen die Juden gewesen, aber nicht als Rasse, sondern ‚nur‘ als Religion, Kultur, Weltanschauung, Lebensphilosophie. Eine solche Herangehensweise vernachlässigt jedoch, dass genau diese Elemente auch innerhalb des Nationalsozialismus als Kriterien zur Bestimmung der Rasse herangezogen wurden.

Das nationalsozialistische Verständnis von ‚Rasse‘ basierte nämlich auf einer komplexen, dabei aber inkohärenten Kombination pseudowissenschaftlicher, genetischer, aber vor allem kultureller und ideologischer Elemente, wiewohl die Definition in erster Linie auf der Grundlage der Abstammung erfolgte. So legten die Nationalsozialisten großen Wert auf die ‚Reinheit‘ der Vorfahren. Neben den biologischen und – oft nicht eindeutig zu klärenden – genealogischen Aspekten war die Festlegung der Rasse auch maßgeblich von kulturellen und ideologischen Vorstellungen geprägt. Denn die Idee des Arischen beinhaltete ganz wesentlich die Annahme einer überlegenen Kultur bzw. Zivilisation. Dabei wurde nicht nur die Abstammung berücksichtigt, sondern auch die Bereitschaft, sich aktiv an der nationalsozialistischen Gesellschaft zu beteiligen und ihre ‚Werte‘ zu verkörpern.

Das am Anfang angeführte fiktive Zitat bringt aber nicht nur eine Form der Verdrängung zum Ausdruck, sondern veranschaulicht auch, wie die sogenannte Kontinuitätstheorie, also die Vorstellung von einem ‚ewigen Judenhass‘, in Richtung einer funktionalen Erklärung mit der Annahme einer sich ständig verwandelnden Judenfeindschaft verändert wurde. Eine andere Dynamik lässt sich im Zusammenhang mit der Einstellung zum Antisemitismus beobachten. Weil der Begriff Antisemitismus erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts geprägt wurde, ist die Übertragung im Nachhinein auf andere Epochen, in denen der Begriff noch nicht existierte, als klarer Anachronismus zu deuten. Das Anliegen hinter der großzügigen Anwendung dieser Klassifikation war es, sich deutlich von den Schrecken des antisemitischen, rassistischen Nationalsozialismus und seinen verheerenden Folgen abzugrenzen. Demnach scheinen darüber hinaus auch Unterscheidungen sinnvoll zwischen antiker Judenfeindschaft und christlichem Antijudaismus, zwischen religiös motivierter Judenfeindlichkeit und rassistischem Antisemitismus sowie zwischen (berechtigter) Kritik am Staat Israel und antizionistischem Judenhass, wobei es durch die Grenzziehung selbstverständlich zu einer indirekten Bewertung der bezeichneten Phänomene kommt.

Und doch bedeuten Reflexionsprozesse wie diese nicht automatisch einen verantwortungsvollen Umgang mit dem, über das nachgedacht wird. Denn eine offizielle Stellungnahme, wie sie seitens der evangelischen Kirche im Jahr 2001 erfolgt ist – „Auch die Kirche und das Verhalten von Christinnen und Christen haben den Holocaust ermöglicht“ –, liegt im katholischen Bereich bislang nicht vor. Auch im einschlägigen Dokument des Vatikans, Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah (März 1998), sucht man vergeblich nach einem expliziten Eingeständnis der Mitschuld seitens der Kirche und ihrer Amtsträger.

Im jüngsten, zum Anlass des fünfzigjährigen Jubiläums von Nostra Aetate verfassten Dokument der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum aus dem Jahre 2015 wird lediglich auf den katholisch-jüdischen Dialog fokussiert. Es stellt damit einen Rückschritt dar, insofern die Shoah nun sogar ausgeblendet wird. Damit bleibt die einzige vage Andeutung eines Mitverschuldens der Kirche bei den nicht näher präzisierten „Verkennungen und Verfolgungen“ des jüdischen Volkes eine Nebenbemerkung von Papst Johannes Paul II. bei einer Ansprache vor dem Zentralrat der Juden in Deutschland im Jahre 1980.

Zugleich hat die akademische Forschung, die in unzähligen wissenschaftlichen Instituten bzw. in mehr oder weniger akademischen Zentren, Instituten, Vereinen und Stiftungen betrieben wird, dazu beigetragen, dass das Phänomen Antisemitismus einerseits bis ins Kleinste analysiert wurde, andererseits aber in seiner Komplexität – teils künstlich und ideologisch motiviert – auf die Spitze getrieben wurde. Eine befriedigende, konsensfähige Kontur, die den Forschungsgegenstand angemessen systematisiert, konnte bislang jedoch nicht ermittelt werden.

Wissenschaft ist darauf angewiesen, Vergleichswerte zu ermitteln, um auf diese Weise überprüfbare Erkenntnisse zu gewinnen. Allerdings birgt die Durchführung von Vergleichen das Risiko, dass diese zur Relativierung und immer wieder auch zur Verwirrung führen bzw. – in manipulativer Absicht – dazu benutzt werden. Die Beschreibung von antisemitischen Ausformungen, insbesondere nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 sowie in verstärkter Form nach dem Sechstagekrieg (1967), kann in ihrer oft kleinlichen Differenzierung als übertrieben und verzerrend bezeichnet werden. Eine Untersuchung, Analyse und Einordnung der (angeblich) antisemitischen Ereignisse in den jeweiligen Kontexten ist daher unabdingbar. Dabei wird allerdings regelmäßig außer Acht gelassen, dass Antisemitismus nicht ein ort- und zeitloses Phänomen, sondern (zuerst) eine konkrete Form von Hass ist, der sich vorwiegend in der europäischen, westlichen Gesellschaft – quasi intuitiv – gegen Juden gerichtet hat bzw. richtet und nicht zuletzt mit soziologischen Methoden quantifizierbar ist.

In einigen wissenschaftlichen Beiträgen jedenfalls wird Antisemitismus als der „längste Hass“ der Geschichte der Menschheit bezeichnet, denn er erstrecke sich über Jahrhunderte und habe eine Vielzahl unterschiedlicher Gesellschaften sowie religiöser, politischer, philosophischer Bewegungen und sogar ganze Zivilisationen infiziert. Eine solche Herangehensweise stellt aber eine unzulässige Verallgemeinerung dar, denn die Geschichte des europäischen Judentums, das keineswegs die Gesamtheit des Judentums ausmacht, ist nicht ausschließlich als eine Geschichte des Hasses, der Ablehnung und der Verfolgung zu lesen. Daher haben sich einige Mitglieder der internationalen Forschungsgemeinschaft – unter Bezugnahme auf Hannah Arendt, die wohl bedeutendste jüdische Philosophin des vergangenen Jahrhunderts – gegen die These eines ‚ewigen Antisemitismus‘ ausgesprochen. Denn bei der jüdischen Geschichte handele es sich nicht, wie Arendt konstatiert, um eine kontinuierliche Abfolge von Verfolgungen, Vertreibungen und Blutbädern, die sich vom Ende des Römischen Reiches über das Mittelalter und die Neuzeit bis in die Gegenwart ohne Unterbrechungen aneinandergereiht hätten. Vielmehr betont Hannah Arendt die Notwendigkeit einer qualitativen Differenzierung, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert aufkam. Das Ergebnis einer solchen differenzierteren Sichtweise ist, dass das jüdische Volk nicht nur aufgrund von Glauben, Überzeugungen und Bekenntnis diskriminiert wurde, sondern auch, weil es angeblich einer anderen Rasse angehörte. Des Weiteren kritisiert Arendt, dass dieses Narrativ sowohl von jüdischer als auch von antisemitischer Seite für die je eigenen Zwecke instrumentalisiert wurde. Sowohl die Annahme, Juden seien stets das passive, leidende Opfer von Verfolgungen gewesen, als auch der Verschwörungsmythos, sie seien die verborgene herrschende Macht der Welt, verfehlen die Realität der historischen Entwicklung des jüdischen Volkes weltweit.

Erinnerungskultur – Geschichte ist mehr als bloße Daten

Das folgende Zitat des spanisch-amerikanischen Philosophen George Santayana aus dem ersten Buch seines fünfbändigen Werkes The Life of Reason: The Phases of Human Progress (1905–1906) – „Those who cannot remember the past are condemned to repeat it“ (Diejenigen, die sich an die Vergangenheit nicht erinnern können, sind verdammt, sie zu wiederholen) – bezieht sich ursprünglich eigentlich auf die Bedeutung der historischen Erinnerung für das Überleben und den Fortschritt der Menschheit. Diese Worte sind dennoch vor allem an mehreren bedeutenden Erinnerungsstätten zur Zeit der Shoa abgebildet. So sind sie etwa unmittelbar am Eingang von Block 4 in Auschwitz zu lesen, aber auch am Bahnhof Charlottenburg sowie am Holocaust-Mahnmal in Berlin. Des Weiteren findet sich das Zitat an mehreren Gedenkstätten, beispielsweise in Boston, Washington, Miami sowie den ehemaligen Konzentrationslagern Dachau, Neuengamme, Bergen-Belsen und Sachsenhausen, wo das Zitat in der Regel für die Bildungsarbeit genutzt wird.

Kaum ein anderer Ausspruch hat die Erinnerungsarbeit so geprägt wie diese Worte Santayanas. Der Begriff Erinnerungskultur, der zwar erst seit den 1980er-Jahren verwendet wird, um die bewusste und kritische Auseinandersetzung mit der (eigenen) Vergangenheit zu bezeichnen, wird vor allem in Europa für die Aufarbeitung der Shoah und der Nazizeit verwendet. Als ein zentrales Element der modernen Gesellschaft beschreibt die Erinnerungskultur die Art und Weise, wie sich Kollektive – sei es auf nationaler, regionaler oder sozialer Ebene – an ihre Vergangenheit erinnern. Gemeint sind damit nicht nur Methoden, Ideen und Entwicklungen, die über eine reine, mehr oder weniger objektive Bewahrung von Fakten hinausgehen. Vielmehr geht es darum, wie Erinnerung erfolgt, wie sie interpretiert, vermittelt und weitergegeben wird. Wie das Zitat von George Santayana veranschaulicht, ist Erinnern kein Selbstzweck: Bewusstes Erinnern hat zum Ziel, dass sich dank einer möglichst differenzierten Interpretation der Vergangenheit Fehler und Unrecht nicht mehr wiederholen.

Gerade in einer Situation, in der die rasche Verbreitung von Fake News und alternativen Fakten im digitalen Raum allgemein Besorgnis auslöst, erhält aber vor allem die Frage nach einer differenzierten Interpretation der Erinnerung eine neue Relevanz. Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass Erinnerungen – und zwar die individuellen ebenso wie die kollektiven historischen – niemals neutral sind. Daher ist es als eine wesentliche Voraussetzung von gelingender Erinnerungskultur zu betrachten, dass noch vor dem konkreten Erinnern ein differenziertes Verständnis für die Grenzen von Objektivität und die Komplexität menschlicher Interpretation zu entwickeln ist.

Unter historischer Objektivität ist zunächst einmal die Dokumentation und Darstellung der Vergangenheit zu verstehen, die sich an den tatsächlichen Ereignissen orientieren. Dies erfolgt auf der Grundlage verlässlicher Quellen und unter Berücksichtigung aller verfügbaren relevanten Perspektiven, einschließlich der eigenen. In der Praxis ist es jedoch unmöglich, eine vollkommen objektive Darstellung der Geschichte zu erreichen, da jede Quelle durch den Kontext und die Sichtweise derjenigen geprägt ist, die sie geschaffen haben bzw. benutzen. So ist Erinnerung stets etwas Subjektives. Der Versuch einer möglichst unvoreingenommenen historischen Darstellung erfordert daher eine ständige kritische Auseinandersetzung mit den Quellen, einen selbstkritischen Umgang mit der eigenen Perspektive sowie das Bemühen um eine ausgewogene Präsentation der Ereignisse. Zudem ist ein bewusster Umgang mit der Herausforderung, die jede Interpretation einer Quelle mit sich bringt, erforderlich.

Die Interpretation der historischen Ereignisse stellt nämlich einen wesentlichen Aspekt der Erinnerungskultur dar, da Geschichte eben nicht nur aus Fakten besteht, sondern auch aus den Bedeutungen, die diesen Fakten zugeschrieben werden. Die Interpretation der Vergangenheit aber erfolgt stets aus der jeweiligen Gegenwartsperspektive heraus, wodurch zwangsläufig eine andere Einschätzung der Ereignisse zustande kommt als zu dem Zeitpunkt, an dem diese sich zugetragen haben.

Die Erzählung vom Auszug aus Ägypten unter der Führung Moses stellt beispielsweise in der hebräischen Bibel eine zentrale Befreiungserzählung des Volkes Israel dar. Es existieren jedoch keine eindeutigen archäologischen Befunde, die den Exodus als historisches Ereignis belegen. Für die jüdischen Autoren, die diesen Text im 9. oder 8. Jahrhundert v. Chr. bewahrten, fungierte die Erzählung vermutlich als identitätsstiftender Mythos, in dem sich das Volk als von Gott befreit definierte. In der Literatur der Propheten wird zweihundert Jahre später der Exodus als Modell für die Treue zu Gott dargestellt. Die Ereignisse werden nicht als bloße historische Fakten, sondern als Beweis für Gottes rettendes Handeln interpretiert. Die Feier des Passahfestes stellt außerdem eine kultische Erinnerung an den Exodus dar, durch welche die Ereignisse in die religiöse Praxis integriert und symbolisch neu belebt werden. In der Zeit des babylonischen Exils (587–539 v. Chr.) fungierte die Auszugtradition als Hoffnungssymbol für die eigene Befreiung und Rückkehr ins Land. Die Interpretation des historischen Ereignisses erfolgt aus der Gegenwartsperspektive eines unterdrückten Volkes. Auch im Neuen Testament im ausgehenden 1. Jahrhundert n. Chr. findet sich eine symbolische Übertragung des Exodus auf Jesus, der als „neuer Moses“ verstanden wird. Sein Tod und seine Auferstehung werden als eine Art „neuer Exodus“ interpretiert. Der Auschwitzüberlebende, Schriftsteller und Nobelpreisträger Elie Wiesel bezog sich in seinen Werken immer wieder auf den Exodus, um die Spannungen zwischen göttlichem Schweigen während der Shoa und der Hoffnung auf Erlösung zu thematisieren. Inmitten des Grauens der Shoa wurde die Exodus-Erzählung oft als Metapher für das Überleben und die zukünftige Wiederherstellung des jüdischen Volkes gedeutet.

In der heutigen theologischen Forschung wird der Auszug aus Ägypten häufig als Paradigma für die Befreiungstheologie herangezogen, insbesondere in Kontexten sozialer Ungerechtigkeit. Dabei wird der Exodus als Sinnbild für den Kampf gegen Unterdrückung und die Hoffnung auf Freiheit interpretiert. Aus geschichtswissenschaftlicher und bibelwissenschaftlicher Perspektive wird also der Exodus als eine Verschmelzung von Geschichte, Mythos und theologischen Interpretationen analysiert, wobei der Fokus auf den kulturellen und politischen Funktionen der Erzählung liegt und nicht auf der Rekonstruktion vermeintlicher historischer Daten und Fakten.

Die Herausforderung bei der Beschäftigung mit historischen Ereignissen besteht immer darin, die Vergangenheit so zu interpretieren, dass sie sowohl dem Kriterium der wohlüberlegten Darstellung als auch dem der Ausgewogenheit Genüge tut. Es gilt, nicht nur die Aspekte, die gut zu den eigenen Überzeugungen passen, sondern auch diejenigen, die einem weniger gelegen kommen, zu berücksichtigen.

Das Vorhaben dieses Buches kann als exemplarisches Beispiel für eine solche Vorgehensweise betrachtet werden.

In der wissenschaftlichen Literatur wird Antisemitismus vielfach als ein Phänomen der Moderne betrachtet: Als Topos wie als Begriff habe er sich in der westeuropäischen, weitgehend christlich geprägten Gesellschaft zur Zeit der Aufklärung durchgesetzt und habe – beeinflusst von den säkularen, also nicht religiösen Rassentheorien des 18. und 19. Jahrhunderts – in den Schrecken der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft eine radikale Ausformung gefunden. Der Begriff Antisemitismus bezeichnete ursprünglich eine judenfeindliche Gesinnung, die sich pseudowissenschaftlich legitimierte. So wurde der Antisemitismus zunächst als positiver Kampfbegriff verwendet, und zwar von Menschen, die sich sogar selbst als Antisemiten bezeichneten und lautstark die Auslöschung der jüdischen Kultur forderten.

Dies sollte durch die Marginalisierung, Diskriminierung und letztlich durch die Eliminierung jüdischer Menschen in der Gesellschaft erreicht werden. In Anbetracht der historischen Prägung des Begriffs empfehlen heute nicht wenige Forschende, Antisemitismus ausschließlich zur Kennzeichnung dieser ersten ausdrücklichen und offensichtlich rassisch konnotierten Form der Feindschaft gegen die Juden zu verwenden, die für das Deutsche Kaiserreich und die unmittelbare Zeit nach seinem Verfall bzw. während des Dritten Reichs typisch war, ungeachtet der Tatsache, dass der Begriff an sich in den Schriften des Nationalsozialismus überraschenderweise nur eine sehr marginale Rolle spielte.

Die der NS-Zeit vorangegangenen Epochen sieht man hingegen in der Regel durch Phänomene gekennzeichnet, die sich als Judenfeindlichkeit, Judenhass, Judenphobie oder ganz häufig Antijudaismus – ein Begriff übrigens, der noch jünger ist als der Begriff Antisemitismus – beschreiben lassen. Dabei wird Antijudaismus als eine Form der Judenfeindlichkeit verstanden, die sich ausschließlich aus religiösen und kulturellen Wurzeln nährt. Der Begriff des Antisemitismus dagegen umfasst – so die geläufige Ansicht – neben der sozialen Dimension auch eine rassische bzw. rassistische Komponente.

Diese scharfe Abgrenzung der Begriffe voneinander ist meines Erachtens in dieser Form jedoch nicht haltbar. Die in den folgenden Kapiteln entwickelten Überlegungen basieren daher auf einer anderen Interpretation des sich durch die ganze Geschichte erstreckenden Hasses und der Aggression gegen jüdische Menschen. Auch wenn dieser Hass, wie man insbesondere in der Antike und im Mittelalter beobachten kann, weitgehend religiös geprägt war, bezog er sich doch – so werde ich im weiteren Textverlauf zeigen – nie allein auf die Religion. Die soziale und politische Komponente spielte stets eine wesentliche Rolle. Dabei werden „dem Juden“ fast immer negative Eigenschaften zugesprochen, die als angeboren bzw. unveränderlich angesehen werden. Diese Zuschreibungen lassen sich auf verschiedenen Ebenen beobachten: der physischen, der sozialen und der kulturellen. Der Hass gegen Juden war stets auch rassistisch motiviert.

Beim Antisemitismus handelt es sich um ein historisches Phänomen, dessen Ursprünge und Entwicklungen sich einer klaren Einordnung entziehen, weshalb sich auch seine Erklärung als schwierig erweist. Eine monokausale Herleitung muss daher zu kurz greifen. Seitdem es Menschen gibt, die sich selbst als Juden verstehen bzw. als solche bezeichnet werden, lassen sich antijüdische Verhaltensweisen und Haltungen beobachten. Diese sind von Beginn an antisemitisch geprägt, auch wenn der Begriff selbst erst zu einem späteren Zeitpunkt formuliert werden sollte. In diesem Sinn liest man bei der jüdischen Publizistin Anetta Kahane: „Auch das, was Antijudaismus benannt wird, war bereits geprägt von Rassenantisemitismus.“ Der Antijudaismus ist nämlich ebenso wie der Antisemitismus durch Irrationalität und eine hohe Komplexität gekennzeichnet, sodass er sich nicht auf eine monokausale Erklärung reduzieren lässt.

Die Erkenntnis, dass die Diskriminierung, Diffamierung, Verfolgung, Vertreibung, Enteignung und Ermordung von Juden nicht nur eine Konstante in der Geschichte des europäischen Judentums darstellen, sondern – bei näherem Hinsehen – so eng mit der christlich geprägten europäischen Gesellschaft verbunden sind, dass sie in gewisser Weise als Bestandteil ihres Selbstverständnisses betrachtet werden können, ist von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung einer angemessenen, differenzierten und sachlichen Erinnerungskultur. In diesem Buch wird vor allem die biblische Tradition berücksichtigt, weil hier nämlich die Wurzeln all der genannten Ausprägungsformen des Antisemitismus liegen. Bereits in der Bibel finden sich Zeugnisse antisemitischer Positionen, wie sie in der Antike vorkamen, und außerdem die grundlegenden Elemente, auf denen diese Haltungen aufbauten bzw. mithilfe derer sie sich weiterentwickeln konnten. Und so besteht eine wesentliche Aufgabe der Erinnerungskultur darin, eine differenzierte Erinnerung an die Vergangenheit zu ermöglichen. Dies impliziert nicht nur das Zusammentragen und die Sicherstellung von Fakten, sondern auch deren kontinuierliche Überprüfung und gegebenenfalls Korrektur von Fehlinterpretationen oder Verzerrungen.

Das vorliegende Buch will durch die Analyse der ersten literarischen Verarbeitungen der Erfahrung antisemitischer Auswüchse, wie sie vor allem in biblischen Texten zum Ausdruck kommen, einen Beitrag zur Aufarbeitung eines Phänomens leisten, das bedauerlicherweise auch heute noch aktuell ist. Zudem soll das Buch auch dazu beitragen, gegenwärtige Ausformungen des Antisemitismus besser zu begreifen, dem Vergessen, der Verharmlosung und der Bagatellisierung entgegenzuwirken sowie einem Sich-von-jeder-Schuld-Freisprechen bzw. einer Verantwortungsabwehr seitens der christlich geprägten Gesellschaft gegenzusteuern.

Zwar sollen mit diesem Buch vor allem diejenigen angesprochen werden, die christlich sozialisiert worden sind. Da die Bibel aber als das Kulturbuch der europäischen Gesellschaft schlechthin zu betrachten ist, steht außer Zweifel, dass alle Mitglieder dieser Gesellschaft bewusst oder – viel häufiger – unbewusst von diesem Buch der Bücher geprägt sind. Um was es also letztlich geht, ist, die Bildung eines gesamtgesellschaftlichen Bewusstseins dafür zu entwickeln, was dem jüdischen Volk an Unrecht angetan wurde, und dann dafür auch die Verantwortung zu übernehmen.

Denn Erinnerungskultur meint nicht nur, konkrete Ereignisse aus der Vergangenheit angemessen zu erinnern, sondern auch die in der Vergangenheit liegenden Wurzeln der heute oder in der jüngeren Geschichte zu beobachtenden Phänomene in den Blick zu nehmen. Solange dies nicht geschieht, werden wir auch nicht in der Lage sein, die modernen Erscheinungsformen des Antisemitismus adäquat einzuordnen und zu verstehen. Diese Wurzeln aber lassen sich bereits in der biblischen Tradition des Volkes Israel finden – und sie werden dann wieder sichtbar in der Art und Weise, wie sich das Christentum mit ihnen auseinandergesetzt bzw. zu ihnen verhalten hat.

Genau diese Thematik ist Gegenstand der vorliegenden Publikation.

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Das vorliegende Buch ist in drei große Teile gegliedert.

Im ersten Teil wird zunächst die Begrifflichkeit des Antisemitismus beleuchtet. Um ein präziseres Verständnis für dieses komplexe Problem zu erlangen, wird die Frage erörtert, ob und gegebenenfalls in welcher Weise Antijudaismus und Antisemitismus voneinander abzugrenzen sind. Die Fülle an Literatur zu diesem Thema ist kaum noch zu überblicken, geschweige denn zu systematisieren. Was jedoch im Verlauf der Darstellung ersichtlich werden sollte, ist, dass der Begriff Antisemitismus die vielfältigen Ausprägungen der Judenfeindlichkeit – einschließlich eines oft angenommenen, de facto aber nicht existenten ‚reinen religiösen Antijudaismus‘ – adäquat erfasst und die unterschiedlichen Facetten sehr gut zusammenführt. Obwohl es zwar auf den ersten Blick klar zu sein scheint, was mit Antisemitismus gemeint ist, stellt sich doch heraus, dass es derzeit keine allgemein anerkannte Definition dieses Begriffs gibt. In diesem ersten Teil wird daher der Frage nachgegangen, was Antisemitismus bedeuten kann, ab wann der Begriff geprägt wurde und ob es legitim ist, ihn auch auf Epochen anzuwenden, die lange vor der Entstehung des heutigen Begriffs liegen. Am Ende werden wir schließlich zu einer Definition gelangen, die als Grundlage für die dann folgende Analyse und systematische Darstellung der Texte des Alten und Neuen Testaments dienen soll. Antisemitismus kann als eine Ablehnung und Ausgrenzung der Juden als Kollektiv verstanden werden, die religiös, ökonomisch und schließlich auch rassistisch motiviert sind. Bereits in der Bibel lag dieser Ablehnung und Ausgrenzung ein Weltbild zugrunde, das die Existenz der Juden als Ursache sozialer, politischer, religiöser und kultureller Probleme betrachtete. Um komplexe und oft unerklärliche gesellschaftliche Phänomene zu deuten, wurden ‚die‘ Juden zu Sündenböcken gemacht und verfolgt. Dies hing vermutlich auch mit ihrem dezidiert monotheistischen Glauben zusammen, der ihre Anpassung an die polytheistische altorientalische, griechische und römische Welt nicht nur erschwerte, sondern grundsätzlich verunmöglichte. Aber nicht nur. Die jüdische Diaspora trug dazu bei, dass Juden zwar als eigene Gruppe wahrgenommen wurden, zugleich aber als Mitglieder einer anderen Gesellschaft oder eines anderen Staates galten und es daher naheliegend war, ihnen Illoyalität gegenüber dem Staat zu unterstellen, in dem sie Aufnahme gefunden hatten. Juden galten als Angehörige einer anderen Ethnie, einer anderen Rasse. Um derartige Ressentiments bzw. in der Folge Ausgrenzung und Verfolgungen zu rechtfertigen, wurden Lügen verbreitet und Verschwörungsmythen erschaffen.

Der zweite Teil widmet sich genau diesen Dynamiken, die keine Besonderheit der modernen Welt darstellen, sondern bereits in der hebräischen Bibel erkennbar sind. Dabei soll es weniger um die bloße Wiedergabe konkreter historischer Ereignisse, sondern vielmehr um deren literarische und theologische Überarbeitung sowie die Reflexion darüber gehen. Des Weiteren soll aufgezeigt werden, wie die Bibel – die älteste Schrift, die von Juden aus der Perspektive von Juden erzählt – Antisemitismus wahrnimmt, beschreibt, auswertet und letztlich sogar selbst betreibt.

Der heutige Antisemitismus hat seine Wurzeln in den religiösen Vorurteilen und Stereotypen, die sich aus der traditionellen Ablehnung des Judentums durch das Christentum ergeben. Diese Ablehnung begann zwar als innerjüdische Auseinandersetzung, erfuhr jedoch spätestens seit der Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. eine entscheidende Wandlung. Die ersten christlichen Gemeinden knüpften zwar an die religiösen Traditionen und die heiligen Schriften des Judentums an, übertrugen jedoch bald die Erwählung Israels auf sich selbst und sprachen der jüdischen Ursprungsreligion ihre Existenzberechtigung ab.

Im dritten und abschließenden Teil des Buches werden daher Texte aus dem Neuen Testament vorgestellt, die deutlich antisemitische Elemente erkennen lassen und in der Folge eine entsprechende Wirkungsgeschichte entfalteten. Wenngleich diese Texte als „Gründungsmythen“ des Christentums gelten, spiegeln sie nicht die historische Situation zur Zeit Jesu wider, sondern vielmehr die Herausforderungen und Konflikte der christlichen Gemeinden gegen Ende des 1. Jahrhunderts. Dieser frühchristliche Antisemitismus äußert sich in einer Reihe von Motiven, die den endgültigen Bruch des Christentums mit dem Judentum verdeutlichen, wie etwa der Ablehnung jüdischer Riten, Traditionen und Feste oder dem Vorwurf, die Juden hätten Jesus Christus nicht als Messias und Erlöser anerkannt, sondern ihn stattdessen getötet. Und all dies zusammengenommen gipfelte schließlich darin, den Anspruch der Juden, das auserwählte Volk Gottes zu sein, zu bestreiten. In den hier ausgewählten Texten lassen sich daher bereits alle zentralen Elemente späterer antisemitischer Narrative erkennen.

1. Antisemitismus, Antisemitismen und das Problem einer nicht eindeutigen Definition eines vermeintlich klaren Sachverhalts

Im Sommersemester 2022 wurde an der RWTH Aachen, der Technischen Hochschule Nordrhein-Westfalens, eine Lehrveranstaltung des britisch-israelischen Historikers Ilan Pappé kurzfristig untersagt. Die Deutsch-Israelische Gesellschaft hatte bei der damaligen NRW-Kultusministerin interveniert. Bereits wenige Jahre zuvor war Ilan Pappé in München ausgeladen worden, nachdem man ihn zuvor gebeten hatte, einen Vortrag zu halten. Die Stadtverwaltung hatte nach einem Anruf der Israelitischen Kultusgemeinde beim Oberbürgermeister die Nutzung von städtischen Räumlichkeiten verweigert. Die im Rahmen der Wiener Festwochen 2024 gehaltene Rede des israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm wurde von hochrangigen Vertretern der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde und sogar vom Präsidenten des Europäischen Jüdischen Kongresses scharf kritisiert. Auch im Anschluss an die Preisverleihung bei der Leipziger Buchmesse im Jahr 2024 wurde seine Rede von Protesten jüdischer Institutionen begleitet. Und schon im Jahr 2010 war der jüdische US-amerikanische Politikwissenschaftler Norman Finkelstein, Sohn polnischer Auschwitzüberlebender, nach Protesten der jüdischen Gemeinde in Berlin zunächst aus den Räumlichkeiten der evangelischen Trinitatis-Kirche in Charlottenburg und später auch aus den Räumen der den Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung ausgeladen worden.

Die dabei vorgebrachten Begründungen waren zwar durchaus unterschiedlich, beinhalteten aber alle ein gemeinsames Element: den Vorwurf des Antisemitismus aufgrund der israelkritischen Positionen der Referenten. Der Umstand, dass die Personen, denen eine antisemitische Haltung vorgeworfen wurde, selbst Juden – bzw. manche von ihnen sogar Israelis – waren, bot ihnen offensichtlich keinen Schutz vor dem Vorwurf, „antisemitisches Gedankengut zu verbreiten“.

Der Begriff Antisemitismus wird in der öffentlichen Diskussion in der Regel dafür verwendet, die Ursachen der schrecklichen Verbrechen des Nationalsozialismus zu benennen. Darüber hinaus wird er gebraucht, wenn ganz allgemein Hass, Feindseligkeit oder die diffuse Ablehnung jüdischer Menschen und jüdischer Institutionen adressiert werden sollen bzw. – seit den 1970er-Jahren – gelegentlich auch des (jüdischen) Staates Israel.

Antisemitismus und Shoah

In der europäischen Geschichte ist der Begriff des Antisemitismus vor allem mit den grauenvollen Ereignissen assoziiert, die zur Ermordung von über sechs Millionen Juden bzw. von Menschen, die nach den Rassengesetzen als Juden kategorisiert wurden, während der Zeit des Nationalsozialismus führten. In Anbetracht der äußerst belasteten Geschichte wäre zu erwarten, dass die Definition des Begriffs allgemein akzeptiert ist. In der Tat assoziieren die meisten von uns mit diesem Wort eindeutig antisemitische Äußerungen oder Handlungen im Kontext der Shoa. Eine theoretisch-wissenschaftliche Definition von allgemeiner Gültigkeit erweist sich jedoch alles andere als eindeutig oder gar selbstverständlich. Das mag überraschen, denn die Benennung antisemitischer Phänomene erscheint auf den ersten Blick trivial, ja selbsterklärend. Die Identifikation von Manifestationen des Antisemitismus kann jedoch nicht nur komplex sein, sondern in der Praxis auch zu skurrilen Aporien führen – beispielsweise, wenn selbst jüdische Israelis, die sich kritisch gegenüber der Politik ihres Landes positionieren, als Antisemiten bezeichnet werden.