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Weihnachten war ganz anders
Kaum ein Ereignis hat die Welt so stark beeinflusst wie die Geburt Jesu. Aber: Was geschah damals eigentlich? Die Bibel erzählt Widersprüchliches. Wann Jesus geboren ist und wo das war, ist nicht so ganz deutlich. Auch andere Details sind höchst unklar: Wieso wurde Jesus als Heiland wahrgenommen? War seine Mutter wirklich Jungfrau? Und ihr Ehemann ein alter Knacker? Und was hat es mit den Engeln, Hirten und den drei Königen auf sich? Woher kamen Ochs und Esel und hat es in jener Nacht wirklich geschneit?
Bibelwissenschaftler haben viel geforscht, um Licht in das Dunkel der Heiligen Nacht zu bringen. Dieses Buch präsentiert die Ergebnisse. Sie sind ernüchternd und befreiend zugleich: Weihnachten war ganz anders und darf doch bleiben, was es ist. Ein faszinierendes Fest, das Kinderaugen zum Glänzen bringt und die Großen in den Bann seiner Botschaft schlägt.
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Seitenzahl: 164
Die ganze Wahrheit über die sonderbarste Geburt der Weltgeschichte
Die Heilige Nacht – jetzt endlich erleuchtet!
Dr. Simone Paganini, geboren 1972, studierte katholische Theologie in Florenz, Rom und Innsbruck. Nach Stationen in Wien und München ist er seit 2013 Professor für Biblische Theologie an der RWTH Aachen.
Dr. Claudia Paganini, geboren 1978, wurde nach einem Studium der Theologie und Philosophie 2005 mit einer kulturphilosophischen Arbeit promoviert. 2001 publizierte sie ihren ersten Roman, dem weitere literarische Veröffentlichungen folgten. Claudia Paganini ist derzeit an der Hochschule für Philosophie in München als Professorin für Medienethik tätig.
Claudia und Simone Paganini sind Eltern von drei jugendlichen Kindern, haben gemeinsam bereits mehrere erfolgreiche Sachbücher veröffentlicht und begeistern auf Science Slams regelmäßig ein großes Publikum.
Simone und Claudia Paganini
Von wegen Heilige Nacht!
Der große Faktencheck zur Weihnachtsgeschichte
Mit Illustrationen von Esther Lanfermann
Für Sarah
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Umsetzung E-Book: Greiner & Reichel, Köln
Covermotiv: © Esther Lanfermann
Bilder im Innenteil: © Esther Lanfermann
ISBN 978-3-641-26339-3V004
www.gtvh.de
Inhalt
»In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus einen Befehl …«
Ein paar Fragen an die Weihnachtsgeschichte
1. Das Jahr 0
oder: Die komplizierte Suche nach dem Wann der Geburt Jesu
2. Die Nacht des 24. Dezember
oder: Warum die Hirten am Feld nicht gefroren haben
3. Das Licht der »neuen« Sonne
oder: Was den Heiden recht, ist den Christen billig
4. Steuern und eine Reise von Nazareth nach Bethlehem
oder: War die Familie Jesu arm?
5. Die Römer
oder: Was haben Augustus und Quirinius mit der Weihnachtsgeschichte zu tun?
6. Bethlehem
oder: In welcher Stadt wurde Jesus geboren?
7. Maria
oder: Warum muss der Messias von einer Jungfrau geboren werden?
8. Ein »Zimmermann« aus Nazareth
oder: Welche Rolle spielte Josef im Leben seines Sohnes?
9. Die Futterkrippe in der Höhle
oder: Wo ist Jesus geboren?
10. Der Messias
oder: Auf die Windel kommt es (nicht) an!
11. Ochs und Esel
oder: Wer war bei der Geburt dabei?
12. Hirten und Engel
oder: Wie still und idyllisch war die Heilige Nacht?
13. König Herodes der Große
oder: Ein Kinderschlächter?
14. Der Weihnachtsstern
oder: Ein Komet oder eine Erfindung?
15. Die Heiligen drei Könige
oder: Wer waren die Männer aus dem Morgenland?
16. Der Weihnachtsbaum
oder: Was macht die Nordmanntanne in Palästina?
17. Die Geschichte hinter der Geschichte
oder: Warum wir heute noch Weihnachten feiern
Wenn aus Menschen Mythen werden
oder: Warum die Weihnachtsgeschichte kein Märchen ist
»In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus einen Befehl …«
Ein paar Fragen an die Weihnachtsgeschichte
Mit der Entwicklung der modernen Bibelexegese begann man, sich spätestens ab dem 18. Jahrhundert auch für den historischen Jesus zu interessieren und dafür, welche Eckdaten seines Lebens sich wissenschaftlich rekonstruieren lassen. Die Suche nach diesen realen geschichtlichen Ereignissen und wirklichen Fakten war aber von Anfang an nicht nur mühsam, sondern auch nur von geringem Erfolg gekrönt. Das gilt nicht bloß für die Zeit, in der Jesus als Wanderprediger in Galiläa tätig war, sondern auch – und vor allem – für zwei ganz wesentliche Ereignisse, die zu jeder Biographie gehören: Geburt und Tod.
Der Tod Jesu war freilich schon bei den frühen Christen im 1. Jahrhundert Gegenstand von Interesse, denn danach kam seine Auferstehung und damit ein wesentlicher Inhalt – man könnte auch sagen: das Highlight – der urchristlichen Verkündigung. In Bezug auf Jesu Geburt dagegen war die Situation komplizierter und das Interesse der ersten Christen nicht so deutlich ausgeprägt.
Alle frühchristlichen Quellen erzählen nämlich von einem letzten Abendmahl, einem vor dem römischen Statthalter Pilatus geführten Prozess, von Folter, Kreuzigung und Tod, von der Auferstehung und sogar dem Erscheinen des Auferstandenen. Manches, das hier berichtet wird, ist sogar in außerbiblischen Quellen belegt, bei Flavius Josephus, Tacitus, Plinius und Sueton, die alle von einer um einen gewissen Christus oder Chrestus zentrierten Bewegung berichten. Diese Quellen, so wie auch die Evangelien und die um 20 bis 30 Jahre früher entstandenen Briefe des Paulus, stimmen alle – trotz der Unterschiede im Detail – darin überein, dass Jesus Christus unter Pontius Pilatus getötet worden ist.
Über die Geburt Jesu dagegen berichten keine nicht-christlichen Quellen auch nur ein Wörtchen und auch die Auswertung der Erzählungen zur Herkunft des Erlösers, die in den Schriften des Neuen Testamentes zu finden sind, wirft mehr Fragen auf als sie Antworten gibt. Zwar liegen mit den Briefen des Paulus Texte vor, die zeitlich verhältnismäßig nah am Leben Jesu anzusiedeln sind, sie handeln aber – dummerweise – primär von dessen Kreuzestod. Der junge Jesus und damit auch seine Geburt spielen für Paulus so gut wie keine Rolle. Er weiß zwar, dass Jesus aus einer Frau geboren ist, den Namen seiner Mutter nennt er dennoch nicht.
Halb so schlimm, könnte man sagen, denn die christliche Tradition hat immerhin noch vier »Bücher« – Evangelien genannt –, die sich mit der Biographie Jesu beschäftigen. Natürlich wurden diese von gläubigen Christen verfasst und liefern daher eine theologische und nicht eine an der objektiven Nacherzählung der geschichtlichen Ereignisse interessierte Sicht der Dinge. Aber Quellen, die man auswerten bzw. interpretieren kann und muss, sind sie dennoch. Leider tun es aber zwei dieser Texte dem Paulus gleich und erwähnen die Ereignisse rund um die Geburt des Gottessohnes mit keinem Wort. Alle vier Evangelien stimmen darin überein, dass Jesus engen Kontakt mit Johannes dem Täufer hatte, und sie sind einer Meinung, wenn es darum geht, manche Gleichnisse oder Wundererzählungen wiederzugeben. Tod und Auferstehung sind selbstredend immer mit dabei. Von der Geburt des kleinen Jesus wird dagegen nur im Lukas- und im Matthäusevangelium berichtet. Das Markusevangelium und das Evangelium nach Johannes schweigen darüber.
Und damit fangen die Probleme erst an! Denn beim Lesen der beiden biblischen Geburtserzählungen stellt man schnell fest, dass es zwar um dasselbe Kind geht, das seine Mutter jungfräulich empfangen und dass die Geburt in Bethlehem stattgefunden hat. Sehr viel mehr Gemeinsamkeiten sind aber nicht auszumachen. Die beiden Evangelien präsentieren nämlich nicht nur eine unterschiedliche Abfolge der Ereignisse, sondern sie sind auch von sehr unterschiedlichen theologischen Absichten geprägt. So wird Jesus im Lukasevangelium von Beginn an als der erwartete Messias dargestellt. Im Matthäusevangelium hingegen ist er der Verfolgte, den sein Volk nicht erkennt.
Den Kern des Matthäustextes bilden ein Stammbaum und fünf relativ lose aneinandergereihte Episoden, die in ihrer Summe eine Art Lehrerzählung bilden. Es geht um die Herkunft Jesu aus dem Stamm David (also: rechtmäßiger Anspruch auf die Messias-Rolle), um seine wundersame Rettung von Herodes (also: Polemik gegen das jüdische Volk, das den Messias nicht erkannt hat) und um den Besuch der Weisen aus dem Osten (also: Verbreitung der Botschaft Jesu in die ganze Welt und Akzeptanz seiner Messias-Rolle bei den Heiden). Dieses Evangelium richtete sich vermutlich an gebildete Menschen mit einem jüdischen Hintergrund, die man für das Christentum gewinnen wollte, denn um die Vielzahl der Anspielungen zu verstehen, muss man die jüdische Bibel – christlich: das Alte Testament – sehr gut kennen. Das Lukasevangelium dagegen baut seine Erzählung deutlich durchdachter auf: Die Schilderung der Geburt hat einen chronologischen Aufbau, der genau 70 Wochen, also 490 Tage, umfasst. Schon diese Zahl deutet darauf hin, dass wir es mit einer höchst symbolischen Darstellung zu tun haben. Und obwohl die Autor*innen – ja, die Evangelien sind höchstwahrscheinlich Gemeinschaftswerke der frühchristlichen Gemeinden – am Beginn der Geschichte betonen, dass der Bericht auf Quellen beruhe, leisten sie sich gerade bei der Geburtserzählung massive historische Fehler. Denn egal, wie man die Geschichte dreht und wendet: Zwischen dem Tod des Herodes und der Zeit, als Quirinius Statthalter in Syrien war, liegen z. B. mehr als 10 Jahre. Es ist daher schlichtweg unmöglich, dass die historischen Angaben über die Geburt Jesu stimmen können. Auch die berühmteste Volkszählung der Kulturgeschichte kann darum heute nicht mehr genau datiert werden.
Wer von den Erzählungen dann Details und blumige Ausschmückungen erwartet, wird enttäuscht. Die Schilderung von den Ereignissen in der Heiligen Nacht ist in beiden Evangelien recht karg. Das Matthäusevangelium überspringt die nächtlichen Ereignisse sogar ganz und widmet sich lieber dem bis zu zwei Jahre später stattfindenden Besuch der Magier. Das Lukasevangelium liefert zwar eine etwas ausführlichere Beschreibung, doch auch bei ihm ist die Zurückhaltung deutlich spürbar.
Von daher überrascht es auch nicht, dass in den folgenden Jahrhunderten zahlreiche Autor*innen Motive und Anspielungen, die im Matthäus- bzw. Lukasevangelium eine Rolle spielten, aufgenommen, überarbeitet, erweitert und ausgeschmückt haben. Auf diese Weise entstanden die sogenannten apokryphen Kindheitsevangelien. Wie viele solche Texte es in der Frühzeit des Christentums gab, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Irgendwann nämlich hörte man auf, sie händisch von Pergamentblatt auf Pergamentblatt zu kopieren, und damit gingen die Texte nach und nach verloren. Erhalten geblieben sind nur das Protoevangelium des Jakobus, das Evangelium des Pseudo-Matthäus und zwei weitere Kindheitsevangelien, von denen eines auf Syrisch und eines auf Armenisch verfasst ist. Außerdem ist in diesem Kontext das Kindheitsevangelium nach Thomas zu nennen, das von Episoden aus der Kindheit Jesu berichtet, nicht aber von seiner Geburt. Die in den kanonischen Evangelien schon unscharfen historischen Verweise jedenfalls werden in diesen jüngeren Darstellungen noch undeutlicher. Streng genommen spielt in den Apokryphen das Bestreben, historische Tatsachen weiterzugeben, kaum mehr eine Rolle. Es geht vielmehr darum, Neugierde zu stillen und offene Fragen über Jesus, Maria und Josef zu beantworten. Das, was »wirklich« war, wird von dem, was hätte sein können oder sollen bzw. von dem, was man gerne gesehen hätte, völlig überwachsen. Die Autor*innen dieser späteren Schriften waren gläubige Menschen, die für andere gläubige Menschen Texte geschrieben haben. Ihr Ziel war dementsprechend nicht historische Genauigkeit, sondern eine Stärkung und Bestätigung im Glauben. Das ist vermutlich der Grund, warum sich die Neugierde der modernen Leser*innen mithilfe der mitunter etwas sonderbaren Vorstellungen der Apokryphen nur teilweise stillen lässt.
Aber Fragen rund um Geburt und Familie Jesu gibt es viele. Man könnte direkt ein Buch darüber schreiben – und genau: Dieses Buch halten Sie in den Händen. Natürlich wird es nicht alle Fragen und Probleme, die mit der Geburt Jesu zusammenhängen, klären. Was es aber leisten kann, ist, eine strukturierte Bestandsaufnahme all jener Vorstellungen zu liefern, die seit den frühen Tagen des Christentums über das In-die-Welt-Kommen Jesu kursieren, diese weiter zu diskutieren und auch ein wenig ihre Bedeutung für die Gegenwart zu befragen.
Kaum ein historisches Ereignis jedenfalls hat die Entwicklung Europas – und dann der Welt – in den vergangenen 2000 Jahren so stark beeinflusst wie die Geburt Jesu. Angesichts dessen sind die nach wie vor bestehenden Unsicherheiten bezüglich der Geschehnisse in der bzw. um die Heilige(n) Nacht zumindest erstaunlich. Aller kirchlichen Tradition und wissenschaftlichen Aufarbeitung zum Trotz weiß man bis heute nicht, wann genau Jesus geboren ist, und auch die Frage nach seinem Geburtsort wird heftig diskutiert. Ähnlich ambivalent werden in der Forschung die Herrscher der damaligen Zeit – die Römer – bewertet, ebenso der König, unter dem Jesus geboren wurde – Herodes. Das gesicherte Wissen ist dabei überschaubar. Wieso wurde Jesus als Messias wahrgenommen? Wer war seine Mutter? Wer war ihr Ehemann? Was war mit den Engeln, Hirten und den drei Königen? Woher kamen Ochs und Esel, und ist es in jener Nacht wirklich kalt gewesen?
Die Antworten auf diese und andere Fragen sind nicht einfach zu finden und selten sind sie eindeutig. Wohl aber haben Archäologie, historische Forschung und nicht zuletzt moderne Bibelwissenschaft, welche die biblischen Texte mit unterschiedlichen literarischen, historischen und sprachwissenschaftlichen Methoden untersuchen, in den letzten Jahrzehnten einiges geleistet. Manche Fragen kann man heute beantworten, an andere sich annähern, wieder andere sind nach wie vor offen. Sie werden sehen.
Eines sei aber hier schon vorweggenommen: Trotz aller Hintergrundinformationen und komplexen Überlegungen wird Weihnachten am Ende dieses Buches noch immer das sein, was es für die meisten Menschen immer schon – zumindest seitdem das Fest der Geburt Jesu gefeiert wird – gewesen ist: ein faszinierendes Geheimnis, das jedes Jahr Kinderaugen zum Glänzen bringt und in dessen Bann sich auch der erwachsene Mensch ganz gerne immer wieder aufs Neue begibt.
1.Das Jahr 0
oder: Die komplizierte Suche nach dem Wann der Geburt Jesu?
Ein unter Historiker*innen beliebter, aber weder ganz neuer noch besonders lustiger Witz handelt von einem Archäologen, der auf einer großen internationalen Tagung stolz einen kleinen runden Gegenstand aus Bernstein präsentiert und behauptet, die Münze stamme aus dem Juli des Jahres 857 v. Chr. und sei somit das älteste mit Sicherheit datierbare Geldstück der Menschheitsgeschichte. Während das Gros der anwesenden Kollegen begeistert klatscht und gratuliert, wagt eine Studentin aus der letzten Reihe die Frage aller Fragen zu stellen: »Woher wissen Sie, dass die Münze aus dem Jahre 857 v. Chr. stammt?« Der Archäologe mustert das Fräulein herablassend und antwortet gönnerhaft: »Na schauen Sie, das Datum ist doch eingraviert.«
Für Fachleute hat dieser Witz eine dreifache Pointe. Zunächst einmal kann eine Gravur »v. Chr.« selbstverständlich nur eine Fälschung sein, denn wer hätte schon im Vorhinein wissen können, dass ein gewisser Jesus von Nazareth einmal geboren werden und so wichtig werden sollte, dass man sogar die Zeitrechnung nach seinem Geburtsjahr ausrichten würde. Zu der Zeit, die wir heute als 9. Jahrhundert v. Chr. bezeichnen, war außerdem die Vorstellung, Zeit verlaufe linear, den Menschen außerdem noch ganz fremd. Man kannte nur den an der Natur orientierten zyklischen Zeitverlauf im Wechsel der Jahreszeiten oder Sternbilder. Und schließlich lässt auch die Erwähnung des »Juli« den Historiker schmunzeln. Julius Cäsar, dem zu Ehren ein Monat den Namen »Juli« bekam, lebte nämlich im 1. Jahrhundert vor Christi Geburt. Es ist daher gar nicht möglich, dass es bereits 857 v. Chr. einen Monat namens »Juli« gegeben haben könnte.
Doch was hat es mit der christlichen Jahreszählung eigentlich auf sich? Historisch belegt ist, dass es in den Mythen der antiken Welt viele verschiedene Vorstellungen darüber gab, wie und vor allem wann die Zeit entstanden sei. Die Bibel und ihre Schöpfungserzählungen nehmen da zunächst keinen Sonderstatus ein. Stellt man komplizierte Berechnungen an und kombiniert die Genealogien aus dem Buch Genesis mit den Zeitangaben anderer alttestamentlicher Texte, findet man heraus, dass Gott am 6. Oktober 3761 vor Christi Geburt und zwar, genau genommen, um 23 Uhr 11 das Licht erschaffen haben »muss«. Freilich setzt eine solche Berechnung ein sehr naives Verständnis der biblischen Texte voraus. Man muss sie als Tatsachenberichte begreifen, und auch der Umstand, dass die Sonne, die ja irgendwie als eine entscheidende Voraussetzung für das Vorhandensein von Licht gelten kann, erst am vierten Schöpfungstag vom Schöpfer ans Firmament gehängt wurde, darf einen nicht stören. Unabhängig vom »exakten« Jahr des göttlichen Schöpfungshandelns hat sich in der christlichen Tradition aber bereits im frühen Mittelalter die Vorstellung durchgesetzt, die Zeit sei mit der Erschaffung der Welt (mit)entstanden.
Ansonsten orientierte man sich bei der Bestimmung von Zeit(perioden) in den Kulturen der Antike meist an den wechselnden Machthabern. Immer, wenn ein neuer Herrscher übernahm, begann man wieder von vorn zu zählen. Anhand der Beobachtung von regelmäßigen Mondphasen und/oder des Laufs der Sonne bestimmte man zudem eine (unterschiedlich lange) Einheit, für die sich allmählich die Bezeichnung »Jahr« etablierte. In Ägypten waren diese Herrscher die Pharaonen, bei den Assyrern und den Babyloniern waren es die jeweiligen Könige, die so die Zeit immer wieder neu beginnen ließen. Auf das letzte Jahr des Königs X folgte, meistens nach dessen mehr oder weniger natürlichem Tod, das erste Jahr des Königs Y. Die Römer hatten dagegen eine etwas andere Methode, zumindest theoretisch. Sie zählten die Zeit ab urbe condita, also von der legendären Gründung Roms durch Romulus und Remus an. Tatsächlich führten sie aber vor allem Listen von Konsuln, auf deren Basis sie ihre Zeitrechnung organisierten. Die Griechen schließlich berechneten die Zeit anhand der Anzahl der Perioden zwischen den Olympischen Spielen. In den außereuropäischen Kulturen ging es ähnlich zu: So verfügten die zahlreichen indischen Reiche über unterschiedliche Systeme der Zeitrechnung und gingen von jeweils unterschiedlichen Anfängen aus. Im Buddhismus zählt man die Zeit ab dem Tod Buddhas im 6. Jahrhundert v. Chr. und in islamischen Ländern beginnt die Zeit auch heute noch mit dem Jahr der Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina. Das Jahr 622 der christlichen Zeitrechnung ist darum das Jahr 1 in der islamischen Welt.
Als der Mönch Dionysius Exiguus im 6. Jahrhundert n. Chr. mit komplizierten Berechnungen den Termin für das Osterfest ermitteln wollte, legte er das Jahr 754 nach der Gründung Roms als Geburtstermin Jesu fest. Dieses Jahr entspricht »unserem« Jahr 1 nach Christus, das Jahr 0 dagegen wurde als solches, aufgrund mathematischer Berechnungen, erst 1202 eingeführt. In der westlichen Welt hat sich jedenfalls die christliche Zeitrechnung durchgesetzt, allerdings erst relativ spät: ab dem 8. Jahrhundert nämlich. Beda Venerabilis (672–735) war der erste Historiker, der in seinen Werken konsequent zwischen »vor Christi Geburt« und »nach Christi Geburt« unterschied. Unter Karl dem Großen (747–814) verbreitete sich diese Praxis dann, interessanter Weise entschied sich die katholische Kirche aber erst um das Jahr 965, diese neue Zeitrechnung anzunehmen; in Spanien wurde sie gar erst im 14. Jahrhundert durchgesetzt. Aus praktischen Gründen wird sie heute auch in Ländern gebraucht, die keine christliche Tradition haben, meist parallel zu anderen Systemen. Mittlerweile unüblich ist es allerdings, den ursprünglichen Wortlaut zu gebrauchen, der nämlich lautete: »vor oder nach der Fleischwerdung Christi«. Aber gleichgültig ob mit oder ohne Fleischwerdung setzt eine solche Zeiteinteilung natürlich voraus, dass man weiß, wann Jesus geboren ist. Aber zu bestimmen, wann genau das Jesuskind bei Ochs und Esel in die Krippe gelegt wurde, ist bei näherem Hinsehen gar nicht so einfach.
Wann also war das? Die meisten Menschen werden auf diese Frage vielleicht ziemlich freimütig antworten: »Im Jahr 0«. Aber dieses Datum ist weder historisch, noch sonst wie belegt.
Die Suche nach dem »Wann« der Geburt Jesu ist nämlich kompliziert, ja geradezu abenteuerlich. Die einzigen Hinweise in nicht-christlichen Schriften, die wir auf den sogenannten historischen Jesus, d. h. den konkreten Menschen, besitzen, stehen bei den römischen Autoren Tacitus, Sueton sowie Plinius dem Jüngeren. Außerdem erwähnt der römisch-jüdische Historiker Josephus Flavius einen Jeshua, wobei aber eine spätere christliche Überarbeitung dieser Quelle nicht ganz ausgeschlossen ist. Wie auch immer: Diese Textzeugen belegen klar, dass Jesus gestorben ist. Wenn er aber gestorben ist, dann – so die erste, zugegebenermaßen recht banale, allerdings nicht unwesentliche Schlussfolgerung für die Frage nach der Geburt – muss er irgendwann auch geboren sein.
Die einzigen Angaben zu dieser Geburt stammen nun aus den »kanonischen«, also offiziell von der Kirche anerkannten, Evangelien am Beginn des Neuen Testamentes, zu denen noch eine ganze Reihe von jüngeren, nicht in den biblischen Kanon aufgenommenen »apokryphen« Evangelien hinzukommen. Historisch brauchbare Informationen zum Zeitpunkt der Geburt findet man nur in den Evangelien nach Matthäus und nach Lukas: Jesus wurde demnach geboren, als Kaiser Augustus regierte [] Die Römer, s. S. 49–52]. Zu diesem Augustus nun gibt es glücklicherweise eine Fülle von römischen Quellen. Es handelt sich bei ihm um Gaius Octavius, später (zumindest laut Cicero) Octavianus, den ersten Kaiser des Römischen Reiches, der unter dem Ehrentitel »Augustus« (auf Latein »der Erhabene«) vom Jahr 37 v. Chr. bis zum Jahr 14 n. Chr. regierte. Neben der Nennung des Augustus stimmen die Geburtserzählungen der Evangelien noch darin überein, dass Jesus zu Lebzeiten von König Herodes dem Großen [] König Herodes der Große, s. S. 112–119], als Quirinius Gouverneur der Provinz Syrien war []