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Arundhati Roy ist eine der faszinierendsten Romanautorinnen Indiens und eine seiner mutigsten Frauen. Unbeirrt und mit Verve führt sie uns vor Augen, wie es unter der glänzenden Oberfläche des Subkontinents wirklich aussieht – fernab mystischer Verklärung und den bunten Lichtern Bollywoods. Mit leidenschaftlicher Überzeugung, gründlicher politischer Analyse und einer wunderbar poetischen Sprache spricht sie in ihren Essays über religiöse und politische Ausgrenzung, über kulturelle wie wirtschaftliche Missstände. Kühn stellt sie sich den aktuellen Ereignissen der letzten Jahre – wie dem Pogrom gegen die Muslime in Gujarat 2002 oder den gewalttätigen Ausschreitungen in Mumbai 2008.
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Seitenzahl: 368
Arundhati Roy
Aus der Werkstatt der Demokratie
Essays
Fischer e-books
{5}Für alle, die gelernt haben,Hoffnung und Vernunft zu trennen
Wohin sollen wir gehen nach den letzten Grenzen, Wo sollen die Vögel fliegen nach dem letzten Himmel, Wo schlafen nach dem letzten Luftzug die Pflanzen? »Die Erde wird zu eng für uns« Mahmud Darwish
Die internationalen Grenzen auf dieser Karte von Indien sind nur eine Annäherung und nicht exakt im Sinne der Direktiven des Survey of India. Die Karte ist nicht maßstabsgetreu.
Das schwindende Licht der Demokratie
Während wir noch darüber streiten, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, können wir eine weitere Frage aufs Tapet bringen? Gibt es ein Leben nach der Demokratie? Was für eine Art Leben wird es sein? Mit Demokratie meine ich nicht Demokratie als Ideal oder angestrebtes Ziel. Ich meine das Arbeitsmodell: die westliche liberale Demokratie und ihre Varianten.
Also, gibt es ein Leben nach der Demokratie?
Versuche, diese Frage zu beantworten, enden oft mit einem Vergleich unterschiedlicher Regierungsformen und einer etwas gereizten, kämpferischen Verteidigung der Demokratie. Sie hat ihre Mängel, sagen wir. Sie ist nicht vollkommen, aber sie ist besser als alles andere, was zu haben ist. Unweigerlich wird jemand sagen: »Afghanistan, Pakistan, Saudi-Arabien, Somalia … wäre euch das lieber?«
Ob die Demokratie das Utopia ist, das sich alle »Entwicklungsländer« zum Ziel setzen sollten, ist eine ganz andere Frage. (Ich denke, sie sollten. Die frühe, idealistische Phase kann ziemlich berauschend sein.) Die Frage nach einem Leben nach der Demokratie richtet sich an alle, die bereits in einer Demokratie leben oder in Ländern, die {10}vorgeben, demokratisch zu sein. Sie zielt nicht darauf ab, dass wir auf ältere, verrufene Modelle totalitärer oder autoritärer Staatsführung zurückgreifen sollten. Sie soll vielmehr darauf hinweisen, dass das System repräsentativer Demokratie – zu viel Repräsentation, zu wenig Demokratie – struktureller Anpassungen bedarf.
Die eigentliche Frage lautet, was haben wir der Demokratie angetan? Was haben wir aus ihr gemacht? Was passiert, wenn die Demokratie verbraucht ist? Wenn sie ausgehöhlt und aller Bedeutung entleert ist? Was passiert, wenn alle ihre Institutionen sich zu etwas Gefährlichem aufgebläht haben? Was passiert jetzt, da die Demokratie und die freie Marktwirtschaft zu einem einzigen Raubtier verschmolzen sind, dessen dürftige, beschränkte Phantasie nahezu ausschließlich um die Frage der Profitmaximierung kreist? Ist es möglich, diesen Prozess rückgängig zu machen? Kann etwas, was mutiert ist, wieder werden, was es einmal war?
Was wir heute brauchen, damit unser Planet überlebt, sind langfristige Visionen. Sind Regierungen, deren eigenes Überleben abhängig ist von sofortigem, kurzfristigem Gewinn, dazu in der Lage? Kann es sein, dass die Demokratie, die heilige Antwort auf unsere kurzfristigen Hoffnungen und Gebete, die Schutzpatronin unserer individuellen Freiheiten und die Hebamme unserer habgierigen Träume, sich als das Endspiel der menschlichen Rasse erweisen wird? Ist es denkbar, dass die Demokratie bei uns modernen Menschen eben deshalb so beliebt ist, weil sie unsere größte Dummheit spiegelt – unsere Kurzsichtigkeit? Unsere Unfähigkeit, völlig in der Gegenwart zu leben (wie die meisten Tiere), kombiniert mit unserer Unfähigkeit, weit in die Zukunft zu blicken, macht uns zu merkwürdigen Zwischenwesen: Wir sind weder Tiere noch Pro{11}pheten. Unsere erstaunliche Intelligenz scheint unserem Überlebensinstinkt den Rang abgelaufen zu haben. Wir plündern die Erde und hoffen, dass der materielle Mehrwert, den wir anhäufen, jenes tiefe, unergründliche Etwas, das wir verloren haben, kompensiert.
Es wäre arrogant zu behaupten, dass die Aufsätze in diesem Buch Antworten auf diese Fragen enthielten. Sie demonstrieren nur, manchmal bis ins Detail, die Tatsache, dass es so aussieht, als würde das Leuchtfeuer erlöschen und die Demokratie vielleicht nicht länger jener verlässliche Garant für Gerechtigkeit und Stabilität sein, den wir uns erträumt haben. Alle Aufsätze wurden geschrieben als dringliche, öffentliche Verlautbarungen zu kritischen Zeitpunkten in Indien – während des vom Staat gedeckten Genozids an Muslimen in Gujarat; kurz vor dem festgesetzten Tag, an dem Mohammad Afzal, der des Anschlags auf das indische Parlament am 13. Dezember 2001 beschuldigt wird, gehenkt werden sollte; während des Besuchs von US-Präsident Bush in Indien; während des Massenaufstands in Kaschmir im Sommer 2008; nach den Anschlägen in Mumbai am 26. November 2008. Oft waren sie keine Reaktion auf ein Ereignis, sondern eine Reaktion auf Reaktionen.
Als Schriftstellerin, Romanschriftstellerin, habe ich mich oft gefragt, ob der Versuch, immer präzise zu sein, alles faktisch richtig darzustellen, das epische Ausmaß dessen, was gerade geschieht, schmälert. Verschleiert er womöglich eine größere Wahrheit? Ich sorge mich, dass ich mich dazu verleiten lasse, prosaische faktische Präzision anzubieten, wo wir vielleicht einen wilden Schrei bräuchten oder die alles verändernde Kraft und wahre Präzision der Poesie. Etwas an der listig-verzwickten, brahmanisch-bürokratischen, aktenverliebten »Halten Sie sich an den Dienstweg«-Natur des Regierens und Unterwerfens in Indien scheint eine Buchhalterin aus mir gemacht zu haben. Meine einzige Entschuldigung ist, dass ungewöhnliche Mittel nötig sind, um das Labyrinth aus Ausflüchten und Bigotterie zu durchdringen, in dem sich die Fühllosigkeit und die kalte, kalkulierte Gewalttätigkeit der neuen Lieblingssupermacht der Welt verbirgt. Repression »auf dem Dienstweg« stößt manchmal auf Widerstand »auf dem Dienstweg«. Ich weiß, was Widerstand anbelangt, ist das nicht genug. Aber mehr habe ich im Moment nicht zu bieten. Vielleicht wird daraus eines Tages das Fundament für Poesie und für den wilden Schrei.
»Die Heuschrecken fallen ein« war ein Vortrag, den ich im Januar 2008 in Istanbul hielt, am Jahrestag der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink. Er wurde auf der Straße vor seinem Büro erschossen, weil er sich eines in der Türkei verbotenen Themas angenommen hatte – des {13}Völkermords an den Armeniern 1915, bei dem mehr als eine Million Menschen getötet wurden. Mein Vortrag behandelte die Geschichte von Völkermord und Verleugnung und die alte, nahezu organische Beziehung zwischen »Fortschritt« und Genozid.
Die Tatsache, dass die politische Partei in der Türkei, die den Völkermord an den Armeniern veranlasste, sich »Komitee für Einheit und Fortschritt« nannte, hat mich schon immer erstaunt. Die meisten Essays in dieser Sammlung haben die zeitgenössische Korrelation zwischen Einheit und Fortschritt oder, wie man heutzutage sagt, zwischen Nationalismus und Wachstum zum Thema – diese unantastbaren Zwillingstürme der modernen Demokratie und der freien Marktwirtschaft. In ihrer extremen Form beinhalten die beiden das Potential zu ultimativer, apokalyptischer Zerstörung (Atomkrieg, Klimawandel).
Zwar wurden die Aufsätze zwischen 2002 und 2008 geschrieben, doch der unsichtbare Wendepunkt ist das Jahr 1989, als der Kapitalismus in den zerklüfteten Bergen von Afghanistan den Glaubenskrieg gegen den sowjetischen Kommunismus gewann. (Das Rad dreht sich natürlich weiter. Womöglich wird in denselben Bergen gerade der Kapitalismus zu Grabe getragen. Es ist zu früh, um es mit Sicherheit sagen zu können.) Innerhalb weniger Monate nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Falls der Berliner Mauer vollführte Indien, einst eine führende Nation der Bewegung der Blockfreien Staaten, einen rasanten Purzelbaum und schloss sich rückhaltlos den Vereinigten Staaten an, dem Monarchen der neuen unipolaren Welt.
Die Spielregeln veränderten sich plötzlich und radikal. Millionen Menschen, die in abgelegenen Dörfern oder tief in unberührten Wäldern lebten und von denen viele noch {14}nie von der Sowjetunion oder Berlin gehört hatten, hätten nicht geglaubt, dass Ereignisse in diesen weit entfernten Regionen ihr Leben beeinflussen würden. Der Prozess ihrer Enteignung und Vertreibung hatte bereits in den frühen fünfziger Jahren begonnen, als Indien für ein Entwicklungsmodell nach sowjetischem Vorbild optierte, wonach riesige Stahlwerke (Bhilai, Bokaro) und monumentale Staudämme (Tausende Dämme) die »Kommandohöhen« der Ökonomie einnahmen. Die Ära der Privatisierung und strukturellen Anpassungen beschleunigte diesen Prozess in schwindelerregendem Tempo.
Heute können Wörter wie »Fortschritt« und »Wachstum« beliebig ersetzt werden mit wirtschaftlichen »Reformen«, Deregulierung und Privatisierung. »Freiheit« bedeutet »Wahlfreiheit«. Sie hat weniger mit geistiger Freiheit zu tun als mit verschiedenen Deodorantmarken. »Markt« ist nicht mehr der Ort, zu dem man geht, um einzukaufen. Der »Markt« ist ein Raum ohne Territorium, in dem gesichtslose Konzerne Geschäfte machen und »Futures« kaufen und verkaufen. »Gerechtigkeit« ist jetzt gleichbedeutend mit »Menschenrechten« (und davon, heißt es, »reichen ein paar wenige«). Dieser Sprachdiebstahl, diese Technik, sich Wörter anzueignen und sie wie Waffen einzusetzen, sie zu gebrauchen, um die eigenen Absichten zu verschleiern, sie so zu benutzen, dass sie das Gegenteil von dem bedeuten, was sie traditionellerweise bedeutet haben, war der brillanteste strategische Sieg der Zaren dieses neuen Zeitalters. Er hat ihnen gestattet, ihre Gegner zu marginalisieren, ihnen die Sprache zu nehmen, in der sie ihre Kritik vorbringen könnten, und sie als »fortschrittsfeindlich«, »wachstumsfeindlich«, »reformfeindlich« und natürlich als »antinational« abzustempeln – als Negativisten der schlimmsten Sorte. Wenn man davon spricht, einen {15}Fluss zu retten oder einen Wald zu schützen, heißt es: »Glaubst du nicht an den Fortschritt?« Zu Leuten, deren Land in einem Stausee versinkt oder deren Häuser von Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht werden, sagen sie: »Habt ihr ein alternatives Entwicklungsmodell?« Und wer daran glaubt, dass eine Regierung die Pflicht hat, für Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit ihrer Bürger zu sorgen, bekommt zu hören: »Bist du gegen den Markt?« Und wer außer einem Idioten ist schon gegen den Markt?
Um diese gestohlenen Wörter zurückzuerobern, bedarf es Erklärungen, die zu langatmig sind für eine Welt mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne und zu teuer in einer Zeit, in der sich die Armen das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht mehr leisten können. Dieser Sprachraub wird vielleicht den Ausschlag für unser Verderben geben.
Zwei Jahrzehnte dieser Art von »Fortschritt« haben in Indien eine große Mittelschicht geschaffen, die vollkommen berauscht ist von ihrem plötzlichen Wohlstand und dem damit einhergehenden unerwarteten Respekt – und eine viel, viel größere, verzweifelte Unterschicht. Millionen Menschen wurden enteignet und mussten ihr Land infolge von Überschwemmungen, Dürren und Wüstenbildung verlassen. Dies sind die Folgen willkürlicher Umweltzerstörung und massiver Infrastrukturprojekte, darunter Staudämme, Förderanlagen für Bodenschätze und Sonderwirtschaftszonen. Das alles erfolgt angeblich zugunsten der Armen, tatsächlich jedoch bedient es die steigende Nachfrage der neuen Aristokratie.
Der Kampf um das Land bildet das Kernstück der »Entwicklungsdebatte«. Bevor er Indiens Finanzminister wurde, war P. Chidambaram der Anwalt von Enron und Mitglied des Aufsichtsrats von Vedanta, eines multinatio{16}nalen Bergbaukonzerns, der im Augenblick die Niyamgiri-Hügelkette in Orissa zerstört. Vielleicht hat sein Karriereverlauf seine Weltsicht beeinflusst. Oder umgekehrt. In einem Interview sagte er vor einem Jahr, seine Vision sei, dass 85 Prozent der indischen Bevölkerung in Städten leben sollten.[1] Diese »Vision« zu verwirklichen würde sozialtechnische Maßnahmen in einem unvorstellbaren Ausmaß erfordern. Es würde bedeuten, eine halbe Milliarde Menschen davon zu überzeugen oder dazu zu zwingen, vom Land in die Städte überzusiedeln. Dieser Prozess hat bereits eingesetzt und verwandelt Indien rasant in einen Polizeistaat, in dem Menschen, die ihr Land nicht freiwillig aufgeben, mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen werden. Vielleicht hatte P. Chidambaram deswegen keinerlei Schwierigkeiten, übergangslos das Amt des Finanzministers mit dem des Innenministers zu tauschen. Die Geschäftsbereiche sind nur durch eine osmotische Membrane getrennt. Diesem Albtraum, der sich als »Vision« geriert, liegt das Vorhaben zugrunde, weite Landstriche und die gesamten natürlichen Ressourcen Indiens zur Plünderung durch Privatfirmen freizugeben. Das heißt, die Landreformen, die nach der Unabhängigkeit durchgeführt wurden, werden rückgängig gemacht.
Wälder, Berge und Wassersysteme werden bereits von marodierenden multinationalen Konzernen ausgebeutet, unterstützt von einem Staat, der wild drauflos agiert und ein Verbrechen begeht, das man nur als »Ökozid« bezeichnen kann. Im Osten Indiens werden Bauxit und Eisenerz abgebaut, intakte Ökosysteme werden dabei zerstört, und fruchtbares Land wird in Wüste verwandelt. Im Himalaya sind Hunderte hoher Dämme geplant, die nur zu Katastrophen führen können. In den Ebenen haben Deiche, die Überschwemmungen angeblich unter Kontrolle bringen {17}sollten, dazu geführt, dass die Flussbetten jetzt höher liegen, was noch schlimmere Überschwemmungen, Vernässungen und Versalzungen landwirtschaftlicher Flächen verursacht und Millionen Menschen die Lebensgrundlage raubt. Die meisten der heiligen Flüsse Indiens, darunter der Ganges, wurden zu unseligen Kloaken und führen mehr privaten und industriellen Giftmüll als Wasser. Kaum ein Fluss folgt noch seinem natürlichen Verlauf und mündet ungehindert ins Meer.
Ausgehend von der absurden Annahme, dass ein ins Meer fließender Fluss eine Verschwendung von Wasser ist, hat der Oberste Gerichtshof in einem Akt unglaublicher Hybris willkürlich angeordnet, dass Indiens Flüsse miteinander verbunden werden müssen wie ein künstliches Bewässerungssystem. Wollte man dies umsetzen, müssten Berge und Wälder mit Tunneln durchzogen, natürliche Flusslandschaften mit ihren Abflusssystemen verändert, Deltas und Mündungen zerstört werden. Mit anderen Worten, das ökologische Gleichgewicht des gesamten Subkontinents würde zerstört. (B. N. Kirpal, der Richter, der diese Entscheidung fällte, wurde nach seiner Pensionierung Mitglied des Umweltrats von Coca-Cola. Schöner Zug!)
Das Regime der freien Marktwirtschaft wird verantwortet von Leuten, die in seliger Unwissenheit vom Schicksal jener Zivilisationen leben, die zu abhängig wurden von künstlicher Bewässerung, und es hat eine besorgniserregende Veränderung in der Landwirtschaft zur Folge. Feldfrüchte, die eine nachhaltige Bewirtschaftung ermöglichten und angepasst an die lokale Bodenbeschaffenheit und das Mikroklima waren, wurden durch wasserschluckende, hybride, genmanipulierte, nur für den Verkauf bestimmte Pflanzensorten ersetzt, die chemische Düngemittel, Pestizide, Bewässerungskanäle und eine hemmungslose Aus{18}beutung des Grundwassers erfordern, abgesehen davon, dass sie gnadenlosen Marktschwankungen unterliegen. Da schlecht bewirtschaftete landwirtschaftliche Anbauflächen, die noch dazu mit Chemikalien gesättigt sind, allmählich ausgelaugt und unfruchtbar werden, steigen die Investitionskosten, und die Kleinbauern geraten in die Schuldenfalle. In den letzten Jahren begingen über 180 000 indische Bauern Selbstmord.[2] Während die staatlichen Kornspeicher übervoll sind und die Vorräte im Zweifelsfall verrotten, nähern sich die Zahlen der Hungertoten und Unterernährten denen von Schwarzafrika an.[3] Neun Prozent Wirtschaftswachstum erscheinen in diesem Licht wahrlich wie eine Abwärtsspirale. Je größer diese Art von Wachstum, umso schlechter die Prognose. Jeder Onkologe wird das bestätigen.
Es ist, als würde eine uralte Gesellschaft, auf der das Gewicht von Feudalismus und Kastenwesen lastet, in einer großen Maschine durchgeschüttelt. Dieser Vorgang hat das alte Geflecht der Ungleichheiten zerrissen, ein paar davon neu ausgerichtet, die meisten jedoch verstärkt. Die alte Gesellschaft ist wie Milch gestockt und hat sich geteilt in eine dünne Schicht fetter Sahne – und eine Menge Wasser. Die Sahne ist Indiens »Markt« vieler Millionen Konsumenten (von Autos, Mobiltelefonen, Computern, Karten zum Valentinstag), das Objekt der Begierde der internationalen Geschäftswelt. Das Wasser ist zu vernachlässigen. Es kann verspritzt und in Becken gestaut werden, und schließlich kann man es abfließen lassen.
Das denken sie zumindest, die Männer in den Anzügen. Nicht auf der Rechnung hatten sie den brutalen Bürgerkrieg, der im Herzen Indiens ausgebrochen ist: in Chhattisgarh, Jharkhand, Orissa, Westbengalen.
{19}Zurück ins Jahr 1989. Als wollte sie den Zusammenhang zwischen »Einheit« und »Fortschritt« illustrieren, begann die rechtsgerichtete Bharatiya Janata Partei (BJP), damals in der Opposition, genau zur gleichen Zeit, als die Kongressregierung den indischen Markt für ausländisches Kapital öffnete, ihre giftige Kampagne für den Hindu-Nationalismus (allgemein bekannt als »Hindutva«). 1990 reiste ihr Führer, L. K. Advani, durch das Land, hetzte zum Hass gegen die Muslime auf und forderte, dass die Babri Masjid, eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert, die auf einem umstrittenen Platz in Ayodhya stand, zerstört und stattdessen ein Ram-Tempel errichtet würde. 1992 schritt ein von Advani aufgewiegelter Mob zur Tat und zerstörte die Moschee. Anfang 1993 wütete ein Mob in Mumbai gegen Muslime und brachte fast eintausend Menschen um. Als Vergeltung kam es zu einer Serie von Bombenanschlägen in der Stadt, bei denen ungefähr zweihundertfünfzig Menschen starben.[4] Getragen von der religiösen Raserei, die sie hervorgerufen hatte, besiegte die BJP, die 1984 nur zwei Sitze im Parlament hatte, 1998 die Kongresspartei und übernahm die Regierung.
Es ist kein Zufall, dass die Hindutva in dem historischen Augenblick erfolgreich war, als Amerika den Kommunismus als Erzfeind aufgab und mit dem Islam ersetzte. Die radikalen islamistischen Mudschahedin – die Präsident Reagan einst im Weißen Haus empfangen und mit den amerikanischen Gründervätern verglichen hatte – galten plötzlich als Terroristen. Die Liveberichterstattung von CNN über den Golfkrieg von 1990/91 – Operation Wüstensturm – schaffte es in Indien bis in die Wohnzimmer der städtischen Eliten, der erste Nervenkitzel des Satellitenfernsehens. Nahezu zur gleichen Zeit wurde die indische Regierung, einst ein unverbrüchlicher Freund der Palästi{20}nenser, zu Israels »natürlichem Verbündeten«. Jetzt halten Indien und Israel gemeinsam Militärübungen ab, tauschen Geheimdienstinformationen und wahrscheinlich auch Erfahrungen aus, wie man besetzte Gebiete am besten verwaltet.
Als die BJP1998 die Regierung übernahm, war das Projekt »Fortschritt« durch Privatisierung und Liberalisierung ungefähr acht Jahre alt. Obwohl sie im Wahlkampf vehement Stellung gegen die wirtschaftlichen Reformen bezogen und behauptet hatte, sie seien Akte der »Plünderung durch Liberalisierung«, stürzte sich die BJP, kaum hatte sie die Macht übernommen, begeistert auf die freie Marktwirtschaft und stellte sich mit ihrem ganzen Gewicht hinter riesige Firmen wie Enron. (In repräsentativen Demokratien kann niemand verhindern, dass Volksvertreter, kaum sind sie gewählt, ihre Versprechen brechen und es sich anders überlegen.)
Wenige Wochen nach der Regierungsübernahme ließ die BJP eine Reihe Atomtests durchführen. Obwohl Indien bereits 1975 in den nuklearen Ring gestiegen war, waren die Tests von 1998 von einer ganz anderen politischen Größenordnung. Die Orgie triumphalen Nationalismus, mit der die Tests gefeiert wurden, führte eine abschreckende neue Sprache der Aggression und des Hasses in den öffentlichen Diskurs ein. Nichts von dem Gesagten war neu, doch das früher nicht Hinnehmbare wurde jetzt plötzlich gefeiert. Seitdem haben sich der Hindu-Chauvinismus und der nukleare Nationalismus über die Ideologien der Parteien geschoben. Das Gift wurde direkt in unseren Blutkreislauf injiziert. Und mit diesem Gift – mit all seiner Brutalität und Banalität – müssen wir jetzt in unserem Alltag leben, gleichgültig, ob sich unsere Regierung »säkular« nennt oder nicht. Die Muslime sind wirtschaft{21}lich rasant abgestiegen und befinden sich jetzt zusammen mit den Dalits und den Adivasis am Boden der sozialen Pyramide.[5]
Manche Ereignisse im Leben einer Nation ziehen die Vorhänge auf und erlauben gewöhnlichen Menschen einen Blick in die Zukunft. Die Nukleartests von 1998 waren so ein Ereignis. Man musste nicht prophetisch veranlagt sein, um vorhersagen zu können, welche Richtung Indien einschlagen würde. Es folgt ein Auszug von »Das Ende der Illusion«, einem Aufsatz (nicht in dieser Sammlung), den ich nach den Atombombentests schrieb:
»Wir sind wieder wer«, »Auf dem Weg nach oben«, »Ein Augenblick des Stolzes«, so lauteten an den Tagen nach den Atomtests die Schlagzeilen. …
»Nicht nur die Atombombe, die ganze Nation steht hier auf dem Prüfstand«, hieß es.
Immer wieder wurde es uns eingehämmert. Die Bombe ist Indien, Indien ist die Bombe. Nicht einfach nur Indien, das hinduistische Indien. Seid deshalb gewarnt, Kritik trifft nicht nur die Nation, sondern auch den Hinduismus. … Das ist ein unerwarteter weiterer Vorteil der Atombombe. Die Regierung kann damit nicht nur dem Feind drohen, sie kann dem eigenen Volk den Krieg erklären. Uns. …
Warum kommt einem das alles so vertraut vor? Weil sich die Wirklichkeit, noch während man hinsieht, auflöst und nahtlos in die stummen Schwarzweißbilder alter Filme verwandelt – Bilder von Menschen, die aus ihrem Leben gejagt, zusammengetrieben und in Lager gesperrt werden. Von Massakern, blutigem Chaos, endlosen Schlangen gebrochener Menschen auf dem Weg ins Nichts. Warum gibt es keinen Ton? Warum ist es im {22}Saal so still? Habe ich zu viele Filme gesehen? Bin ich verrückt? Oder habe ich recht? Sind diese Bilder vielleicht der unausweichliche Höhepunkt dessen, was wir in Gang gesetzt haben? Entwickelt sich unsere Zukunft in rasendem Tempo zu unserer Vergangenheit?[6]
Das Uns bezog sich auf diejenigen von uns, die sich nicht zur »Hindu«-Mehrheit zählen oder sich mit ihr identifizieren. Mit Vergangenheit meinte ich die Teilung Indiens 1947, als sich über eine Million Hindus und Muslime gegenseitig umbrachten und acht Millionen zu Flüchtlingen wurden.
Nachdem achtundfünfzig Hindu-Pilger bei ihrer Rückkehr aus Ayodhya in einem Eisenbahnwaggon lebendig verbrannten, fand im Februar 2002 unter den Augen der BJP-Regierung in Gujarat, angeführt von Chefminister Narendra Modi, ein sorgfältig geplanter Völkermord an den Muslimen in diesem Bundesstaat statt. Die Angst vor dem Islam infolge der Anschläge vom 11. September 2001 blies der BJP den Wind in die Segel. Die Staatsmaschinerie von Gujarat sah tatenlos zu, während über zweitausend Menschen massakriert wurden.[7] Frauen wurden mehrfach vergewaltigt und lebendig verbrannt. Einhundertfünfzigtausend Muslime wurden aus ihren Häusern vertrieben. Sie wurden und werden ghettoisiert, sozial und wirtschaftlich an den Rand gedrängt. Gujarat war schon immer ein von religiösen Spannungen geprägter Staat. Es hatte früher schon Ausschreitungen gegeben. Aber dies waren keine Ausschreitungen. Es war ein Völkermord, und auch wenn die Opferzahl unbedeutend erscheinen mag im Vergleich mit Ländern wie Ruanda, Sudan oder dem Kongo, war das {23}Blutbad in Gujarat als öffentliches Spektakel geplant, dessen Zweck unmissverständlich war. Es war eine öffentliche Warnung an die Muslime Indiens von der Regierung der Lieblingsdemokratie der Welt.
Nach dem Massaker setzte Narendra Modi Neuwahlen durch. Die Menschen in Gujarat wählten ihn erneut an die Macht. Fünf Jahre später wiederholte sich sein Erfolg: Er absolviert gerade seine dritte Amtszeit als Chefminister, hochgeschätzt von der Wirtschaft für seinen Glauben an die freie Marktwirtschaft. Um fair zu den Menschen in Gujarat zu sein, muss festgehalten werden, dass die einzige Alternative zu Narendra Modis (nuklearer) Version von Hindutva der Kandidat der Kongresspartei war, Shankarsinh Vaghela, ein missgestimmter ehemaliger BJP-Chefminister. Er hatte lediglich seine eigene Version von Hindutva zu bieten (Light & Konfus). Kein Wunder, dass er es nicht schaffte.
Der Genozid im Gujarat ist das Thema des ersten Aufsatzes dieser Sammlung, »Demokratie: Die indische Variante«, geschrieben im Mai 2002, als der mörderische Mob noch immer sein Unwesen auf den Straßen trieb, Muslime bedrohte und tötete. Ich habe die Essays vorsätzlich nicht auf den neuesten Stand gebracht, weil der genaue Blick auf die systemische Natur dessen, was geschieht, häufig eine Vorhersage zukünftiger Ereignisse ermöglicht – und das schien mir rückblickend interessant zu sehen. Statt die Aufsätze zu aktualisieren, habe ich neue Anmerkungen angefügt. Ein Absatz in dem Aufsatz über Gujarat lautet folgendermaßen:
Wird nächstes Jahr ein Jahrestag gefeiert werden? Oder wird bis dahin jemand anders das Objekt des Hasses sein? In alphabetischer Reihenfolge: Adivasis, Buddhis{24}ten, Christen, Dalits, Parsen, Sikhs? Die, die Jeans tragen oder Englisch sprechen oder dicke Lippen oder Locken haben? Wir werden nicht lange warten müssen.
Ein von führenden Mitgliedern der Kongresspartei aufgewiegelter Mob hatten bereits 1984 Tausende von Sikhs abgeschlachtet als Rache für die Ermordung Indira Gandhis durch die Sikhs ihrer Leibgarde. Im Januar 1999 hatte ein Schlägertrupp der Bajrang Dal, einer Hindu-Miliz, den australischen Missionar Graham Staines und seine zwei kleinen Söhne angegriffen und bei lebendigem Leib verbrannt.[8] Im Dezember 2007 waren Angriffe von Hindu-Milizen auf Christen keine Einzelfälle mehr. In mehreren Bundesstaaten – Gujarat, Karnataka, Orissa – wurden Christen attackiert und Kirchen zerstört. In Kandhamal im Staat Orissa wurden mindestens sechzehn christliche Dalits und Adivasis von »hinduistischen« Dalits und Adivasis umgebracht.[9] Zehntausende Christen leben jetzt in Flüchtlingslagern oder verstecken sich in Wäldern und wagen es nicht, sich um ihre Felder und die Ernte zu kümmern. Die »Hinduisierung« von Dalits und Adivasis sowie das Ausspielen dieser beiden Gruppen gegeneinander und gegen Muslime und Maoisten sind im Augenblick die wichtigsten Aufgaben des Hindutva-Projekts. (Und wieder ist es kein Zufall, dass diese Gemeinschaften in Wäldern und auf Bodenschätzen leben, auf die Firmen ein Auge geworfen haben und die die Regierungen gern unbesiedelt hätten. Deswegen stellen die Hindutva-»shivirs« [Lager], die die Menschen angeblich dem Schoß des Hinduismus zuführen sollen, de facto eine Möglichkeit dar, sie unter Kontrolle zu halten.)
Unter dem Schutz der ersten BJP-Regierung, die in einem Bundesstaat im Süden Indiens gewählt wurde, begannen Schlägertrupps der Hindu-Bürgerwehren im De{25}zember 2008 in Bangalore und Mangalore – den Zentren der indischen IT-Industrie – Frauen anzugreifen, die Jeans und westliche Kleidung trugen.[10] Die Bedrohung hält an. Hindu-Milizen haben geschworen, aus Karnataka ein zweites Gujarat zu machen. Dass die BJP in Staaten wie Karnataka und Gujarat, beides Vorreiter der Globalisierung, hat Wurzeln schlagen können, illustriert wiederum die organische Beziehung zwischen »Einheit« und »Fortschritt«. Oder, so man will, zwischen Faschismus und dem Freien Markt.
Im Januar 2009 wurde diese Beziehung bei einer öffentlichen Veranstaltung mit einem Kuss besiegelt. Die Geschäftsführer von zwei der größten indischen Konzerne, Ratan Tata (von der Tata Group) und Mukesh Ambani (von Reliance Industries), nahmen den Gujarat Garima (Stolz des Gujarat)-Preis entgegen, feierten die Wirtschaftspolitik von Narendra Modi, Architekt des Genozids in Gujarat, und empfahlen ihn wärmstens als zukünftigen Kandidaten für das Amt des Premierministers.
Jetzt, da dieses Buch in Druck geht, ist die nahezu zwei Milliarden Dollar teure Wahl des indischen Parlaments 2009 gerade entschieden.[11] Das Budget ist wesentlich größer als das der US-Präsidentschaftswahlen. Einigen Medienberichten zufolge betrug die ausgegebene Summe eher zehn Milliarden Dollar.[12] Darf man fragen, woher das Geld stammt?
Die Kongresspartei und ihre Verbündeten, die United Progressive Alliance (UPA), haben eine komfortable Mehrheit gewonnen. Interessanterweise haben über neunzig Prozent der unabhängigen Kandidaten, die sich zur Wahl stellten, verloren. Ohne Sponsoren ist es schwer, eine {26}Wahl zu gewinnen. Und unabhängige Kandidaten können keinen subventionierten Reis, keine kostenlosen Fernsehgeräte und kein Bargeld für Stimmen versprechen, diese demütigenden Akte vulgärer Wohltätigkeit, auf die die Wahlen reduziert wurden.[13]
Sieht man sich das Kalkül hinter diesem Wahlergebnis näher an, erweisen sich Worte wie »komfortabel« und »Mehrheit« als irreführend, wenn nicht nachgerade als unzutreffend. So votierten bei diesen Wahlen nur 10,3 Prozent der Bevölkerung für die UPA! Es ist interessant, wie die schlau gestufte Mathematik der Demokratie aus einer winzigen Minderheit einen eindeutigen Regierungsauftrag macht.[14] Wie auch immer, entscheidend ist, dass nicht L. K. Advani, die Verkörperung des Hasspredigers, sondern der säkulare Dr.Manmohan Singh, der sanftmütige Architekt der Marktreformen, ein Mann, der in seinem Leben noch keine Wahl wirklich gewonnen hat, ein zweites Mal Premierminister der größten Demokratie der Welt sein wird.
Im Vorfeld der Wahlen herrschte parteiübergreifend ein absoluter Konsens über die ökonomischen »Reformen«. Govindacharya, ehemals Chefideologe der BJP, Stammvater der Ram-Janamabhoomi-Bewegung, schlug sarkastischerweise vor, dass der Kongress und die BJP eine Koalition bilden sollten.[15] In manchen Bundesstaaten haben sie das bereits getan. So bildet die BJP in Chhattisgarh zum Beispiel die Regierung, während Kongresspolitiker die Salwa Judum leiten, eine rücksichtslose, von der Regierung gestützte »Volks«-Miliz. Die Judum und die Regierung machen gemeinsam Front gegen die Maoisten in den Wäldern, die einen brutalen und oft tödlichen bewaffneten Kampf gegen Zwangsumsiedlungen und Landerwerb durch Konzerne führen, die ihrerseits nur darauf warten, Stahlwerke zu errichten und Eisenerz, Zinn und all die {27}anderen Bodenschätze abzubauen. In Chhattisgarh wird uns auf bemerkenswerte Weise vorgeführt, wie die beiden größten politischen Parteien Indiens eine Allianz bilden gegen die Adivasis von Dantewara, die ärmsten und verletzlichsten Menschen in Indien. 644 Dörfer wurden bereits geräumt. Fünfzigtausend Menschen sind in Lager der Salwa Judum gezogen. Dreihunderttausend verstecken sich in den Wäldern und werden entweder maoistische Terroristen genannt oder als ihre Sympathisanten bezeichnet. Der Kampf wütet, und die Konzerne warten.
Es ist kein Zufall, dass Indien zu den Ländern gehörte, die eine europäische Initiative in der UNO blockierten, bei der eine internationale Kommission untersuchen sollte, ob die Regierung von Sri Lanka während der letzten Offensive gegen die Tamil Tigers Kriegsverbrechen begangen hat.[16] Regierungen in diesem Teil der Welt halten Israels Strategie in Gaza für eine gute Möglichkeit, um mit dem »Terrorismus« fertig zu werden: Haltet die Medien fern und zingelt die Beute ein. So müssen sie sich keine großen Sorgen machen, wer wirklich ein »Terrorist« ist und wer nicht. Das hat vielleicht kurz internationale Empörung zur Folge, aber die legt sich schnell wieder.
Es sieht nicht gut aus für die Waldbewohner von Chhattisgarh.
Beruhigt von der »konstruktiven« Zusammenarbeit, dem Konsens zwischen den politischen Parteien, war kaum jemand begeisterter von den Wahlen als ein paar der großen Konzerne. Sie scheinen begriffen zu haben, dass nur eine demokratisch gewählte Regierung ihre Raubzüge wirklich legitimieren kann. Mehrere Konzerne ließen extravagante Werbespots im Fernsehen schalten, manche mit Bollywood-Stars, die die Menschen, jung und alt, arm und reich, drängten, zur Wahl zu gehen. Geschäfte und Restau{28}rants im Khan Market, Delhis schickstem Markt, boten Preisnachlässe für diejenigen, deren Zeigefinger nach dem Wählen mit nicht abwaschbarer Tinte markiert war. Demokratie war plötzlich cool. Man kennt das ja: Die Chinesen sind sportlich, deswegen bekamen sie die Olympischen Spiele; Indien ist demokratisch, deswegen hatten wir eine Wahl. Beides sind großzügig gesponserte, fernsehtaugliche Events für immense Zuschauermassen.
Die BBC mietete einen Waggon eines Zuges – den India Election Special –, in dem Journalisten aus aller Welt eine Sightseeingtour machten, um das Wunder der indischen Wahlen zu bezeugen. Auf dem Wagen prangte ein Slogan: Werden Indiens Wähler die Wirtschaft der Welt wiederbeleben?[17] In einem Café bei mir um die Ecke hing ein Poster der BBC Hindi. Darauf abgebildet war ein Hundertdollarschein (mit Benjamin Franklin), der in einen Fünfhundertrupienschein (mit Gandhi) überging. Darauf stand: Kya India ka vote bachayega duniya ka note? (Werden Indiens Stimmen die Währungen der Welt retten?) Auf diese schamlose und unverfrorene Weise wird die Wählerschaft zum Markt, werden Wähler zu Konsumenten degradiert und wird die Demokratie untrennbar mit dem freien Markt verknüpft. Ergo: Die, die nicht konsumieren können, sind bedeutungslos.
Was bedeutet der Sieg der UPA bei dieser Wahl? Offensichtlich Myriaden von Dingen. Die Debatte ist eröffnet. Eine indische Wahl zu interpretieren, ist eine so exakte Wissenschaft wie Hexerei. Das Wahlverhalten ist auf komplizierte Weise mit lokalen Belangen und der Zugehörigkeit zu Kasten und Religionsgemeinschaften verbunden, die buchstäblich von Wahllokal zu Wahllokal variieren können. Es gibt keine verlässliche »Große Schlussfolgerung«. Aber es gibt etwas, worüber man nachdenken sollte.
{29}Um die Verwüstungen infolge ihrer Wirtschaftspolitik zu mildern, verabschiedete die letzte Kongressregierung während ihrer Amtszeit drei fortschrittliche (Kritiker nennen sie populistische und umstrittene) Gesetze. Den Forest Rights Act (der Waldbewohnern das Recht auf Land und die traditionelle Nutzung der Waldprodukte zugesteht), den Right to Information Act (der den Bürgern das Recht auf Information und Zugang zu Akten staatlicher Behörden einräumt) und, am wichtigsten, den National Rural Employment Guarantee Act (NREGA). Der NREGA garantiert jeder auf dem Land lebenden Familie einhundert Tage Arbeit pro Jahr (harte, körperliche Arbeit) zum Mindestlohn, der im Durchschnitt 8000 Rupien (ungefähr 115€) pro Familie im Jahr beträgt. Genug für ein gutes Essen in einem Restaurant, einschließlich Wein und Dessert. Man bedenke, wie höllisch die Zeiten sein müssen, dass dieser kleine Betrag eine Erleichterung darstellt für Millionen von Menschen, die unter dem Verlust ihres Landes und ihrer Lebensgrundlage leiden. (Krumen, die vom Tisch fallen. Aber wer bringt es schon übers Herz oder hat das Recht zu behaupten, dass keine Krumen besser sind als ein paar Krumen? Oder dass keine Wahlen besser sind als bedeutungslose Wahlen?) Den NREGA umzusetzen, dafür zu sorgen, dass die Krumen tatsächlich den Menschen zukommen, für die sie bestimmt sind, hat während der letzten Jahre die ganze Zeit und Energie von einigen der bewundernswertesten und engagiertesten Sozialaktivisten Indiens in Anspruch genommen. Sie mussten gegen Kartelle korrupter Regierungsbeamter, Strippenzieher und Mittelsmänner ankämpfen. Sie wurden bedroht und angegriffen. In Jharkhand verbrannte sich ein Aktivist aus Zorn und Frustration über die Ungerechtigkeiten selbst.
{30}Ironischerweise wurde der NREGA im Parlament nur verabschiedet, weil die Left Front und, es muss gesagt werden, Sonia Gandhi Druck auf die UPA-Regierung ausübten. Er wurde durchgeboxt gegen den Widerstand der Verfechter des Freien Marktes innerhalb der Kongresspartei. Die konzerngeführten Medien waren mehr oder weniger einhellig gegen das Gesetz. Aber während des Wahlkampfs wurde der NREGA selbstverständlich ein großes Vorzeigethema der Kongresskampagne. Es besteht kaum ein Zweifel, dass sich das Wohlwollen, das er bei den Armen hervorrief, in Stimmen für den Kongress auszahlte. Doch jetzt, da die Wahlen vorbei sind, wird der Sieg genau der Politik zugeschrieben, deren Auswirkungen der NREGA lindern sollte. Die Industriekapitäne verlieren keine Zeit und beanspruchen den »Regierungsauftrag des Volkes« für sich. »Freie Fahrt den Märkten«, titelte die Wirtschaftspresse am Morgen danach. »Ein Wahlsieg für die Reformen, sagt die Indien AG.«[18]
Doch die Ironie lässt sich noch steigern: Der Left Front ist wie allen politischen Parteien im Parlament Doppelzüngigkeit zur zweiten Natur geworden, weswegen sie einen starken Rechtskurs eingeschlagen hat. Noch während sie die Wirtschaftspolitik der Regierung kritisierte, versuchte sie, eine vergleichbare Politik in Westbengalen durchzusetzen. Sie kündigte an, aus dem Distrikt Nandigram ein Zentrum für die chemische Industrie machen, in Singur eine Produktionsstätte für den Tata Nano und in den Wäldern von Lalgarh in Purulia ein Jindal-Stahlwerk bauen zu wollen. Sie begann Land, überwiegend fruchtbares Ackerland, zu erwerben, de facto mit vorgehaltener Pistole. Die folgenden massiven militanten Aufstände ließ sie mit Kugeln und Lathis niederschlagen. Lumpenmilizen der »Partei« liefen Amok unter den Demonstranten, vergewaltigten {31}Frauen und brachten Menschen um. Doch schließlich siegte die Kombination aus Massenmobilisierung und Militanz. Die Bevölkerung gewann alle drei Schlachten und zwang die Regierung zum Rückzug. Die Tatas mussten mit ihrem Nano-Projekt nach Gujarat, in dieses Labor des Faschismus, der ein »gutes Investitionsklima« bot. In den zurückliegenden Wahlen wurde die (westbengalische) Left Front zum ersten Mal seit dreißig Jahren nicht mehr in die Lok Sabha gewählt.
Aber das ist noch nicht das Ende der Ironie. In einem teuflisch schlauen Handstreich wird die Niederlage der Linken ihrer Obstruktionspolitik und ihren wachstumsfeindlichen Maßnahmen zugeschrieben. »Konzernkapitäne fühlen sich erleichtert ohne die Linke«, schrieben die Zeitungen.[19] Der Aktienmarkt schoss in die Höhe in Erwartung eines »Sommers der Freude«. Wirtschaftsführer feierten im Fernsehen die »Befreiung« der Regierung von der Linken. Nachrichtenmoderatoren gaben mit erhobenem Zeigefinger bekannt, dass die UPA von nun an keine Ausrede mehr habe, um die »Reformen« nicht durchzusetzen, außer natürlich es versteckten sich »heimliche Sozialisten« in ihrer Mitte.
Das ist das Wunderbare an der Demokratie. Sie kann sein, was immer sie sein soll.
Das Fehlen einer echten linken Partei in der Politik ist kein Grund zum Feiern. Doch die parlamentarische Linke kann die Schuld für diese Demütigung nur sich selbst zuschreiben. Es ist keine Tragödie, dass sie zurechtgestutzt wurde. Vielleicht schafft dies Raum für wirklich fortschrittliche Politik.
Akzeptieren wir einmal um des Argumentes willen die Absurdität und nehmen an, dass die Indien AG und die Industriekapitäne recht haben und Indiens Millionen tat{32}sächlich dafür gestimmt haben, die »Marktreformen« zu beschleunigen. Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht? Sollten wir die Tatsache feiern, dass Millionen Menschen, von denen die Welt etwas lernen könnte, die über eine andere Vorstellungskraft, eine andere Weltsicht und einen nachhaltigeren Lebensstil verfügen, beschlossen haben, sich einer in Misskredit geratenen Ideologie anzuschließen, einer Ideologie, die unseren Planeten in eine Krise gestürzt hat, von der er sich möglicherweise nicht mehr erholen wird?
Was nützen Waldrechte, wenn es keine Wälder mehr gibt? Was nützt das Recht auf Information, wenn der entstandene Schaden nicht wieder behoben werden kann? Was nützen Flüsse ohne Wasser? Was nützen Ebenen ohne Berge, die ihnen Wasser zuführen und sie erhalten? Es ist, als würden wir in einem Bus ohne Bremsen einen steilen Abhang hinunterrasen und darüber streiten, welches Lied wir singen sollen.
»Jai Ho!« vielleicht?[20]
Die Wahlen 2009 haben dafür gesorgt, dass das Projekt »Fortschritt« weiterläuft. Es wäre jedoch ein schwerwiegender Fehler anzunehmen, dass das Vorhaben »Einheit« am Wegesrand liegengeblieben wäre.
Während des Wahlkampfs wurde in den Medien über zwei Dinge mit großer Ausführlichkeit berichtet. Das eine war der Tata Nano, der indische »Volkswagen« für 100 000 Rupien (1400€), der aus Modis Gujarat rollt. (Die Vergünstigungen und Subventionen, die Modi den Tatas einräumte, haben ihm die herzliche Unterstützung von Ratan Tata eingebracht.[21]) Das zweite war die Hasspredigt des monströsen Debütanten der BJP, Varun Gandhi (ein wei{33}terer Sprössling der Nehru-Dynastie), der sogar Narendra Modi moderat und zurückhaltend klingen ließ. In einer öffentlichen Ansprache forderte Varun Gandhi, dass Muslime zwangsweise sterilisiert werden sollten. »Das hier wird eine Bastion der Hindus sein, kein ***Muslim wage es, hier den Kopf zu heben«, sagte er und benutzte einen abfälligen Ausdruck für jemanden, der beschnitten ist. »Ich will keine einzige Muslim-Stimme.«[22]
Varun Gandhi ist ein moderner Politiker, der innerhalb des demokratischen Systems agiert und alles in seiner Macht Stehende tut, um sich eine Mehrheit zu beschaffen und sich eine Stammwählerschaft aufzubauen. Ein Politiker braucht verlässliche Stammwähler, wie ein Konzern einen Massenmarkt braucht. Beide brauchen Hilfe von den Massenmedien. Konzerne kaufen diese Hilfe, Politiker müssen sie sich verdienen. Manche verdienen sie kraft harter Arbeit, andere kraft gefährlicher Zirkusnummern. Varun Gandhis Hassansprache brachte ihm landesweite Schlagzeilen ein. Sein kurzer Gefängnisaufenthalt (weil er gegen den Verhaltenskodex der Wahlkommission verstoßen hatte; verkürzt dank eines Gerichtsbeschlusses) machte ihn augenblicklich zu einem Märtyrer. Von den Parteiälteren wurde er für sein Ungestüm milde getadelt – öffentlichkeitswirksam im Fernsehen. Doch dann durfte er wie Narendra Modi in einem Hubschrauber als Starwahlkämpfer der BJP durch die Wahlkreise fliegen, um sein widerliches Anliegen zu verbreiten.
Varun Gandhi gewann sein Mandat mit großem Stimmenvorsprung. Man fragt sich – haben »die Leute« immer recht? Es ist besorgniserregend sich vorzustellen, was für Schlussfolgerungen die BJP aus ihren wenigen entscheidenden Siegen und vielen entscheidenden Niederlagen in dieser Wahl ziehen wird. In mehreren Wahlkreisen, in de{34}nen sie gewonnen hat, waren ihre Hassreden (und -taten) von Vorteil. Sie ist bei weitem noch immer die zweitstärkste politische Partei, eine gewaltige landesweite Präsenz, die einzige Herausforderung für den Kongress. Sie wird wieder an Wahlen teilnehmen. Die Frage ist, ob sie noch extremer oder zahmer werden wird.
Es wäre allerdings lächerlich, der BJP alle Schuld für diese polarisierende Politik in die Schuhe zu schieben. Ob es um die Atomtests geht, die Zerstörung der Babri Masjid oder die Kultur, die Gesellschaft zu spalten, Kasten und Religionsgemeinschaften gegeneinander aufzuhetzen und rückschrittliche Gesetze zu verabschieden, der Kongress war immer schon da und hat sich nie davor gescheut, das Spiel am Laufen zu halten. In der Vergangenheit haben beide Parteien aus Massakern politischen Vorteil geschlagen. Manchmal profitieren sie indirekt davon, manchmal werfen sie sich gegenseitig Massenmord vor. Bei dieser Wahl stellten sowohl der Kongress wie die BJP unverfroren Kandidaten auf, die im Verdacht stehen, an öffentlicher Lynchjustiz und Massenmorden beteiligt gewesen zu sein. Keine der beiden Parteien hat je dafür Sorge getragen, dass die Schuldigen bestraft werden oder Gerechtigkeit durchgesetzt wird. Trotz des boshaften öffentlichen Austausches von Anschuldigungen arbeiten sie bislang zusammen, wenn es darum geht, sich gegenseitig vor ernsten Konsequenzen zu schützen.
Irgendwann verschwinden die Massaker im Labyrinth des indischen Justizsystems, wo sie vor sich hin brodeln und fermentieren, bevor sie im nächsten Wahlkampf wieder hervorgeholt werden. Man könnte sagen, dass das alles ein struktureller Bestandteil der indischen Demokratie ist. Aus einem Zugfenster lässt sich das jedenfalls schwer erkennen. Ob die Infusion jungen Blutes in den Kongress {35}die alten Methoden der Partei ändern wird, bleibt abzuwarten.
Aus den Aufsätzen dieses Bandes wird ersichtlich, dass die altersgrauen Institutionen der indischen Demokratie – das Justizwesen, die Polizei, die »freie« Presse und natürlich die Wahlen – keineswegs als einander kontrollierende Instanzen funktionieren. Im Gegenteil, sie geben einander Deckung, um die übergeordneten Interessen von Einheit und Fortschritt zu befördern. Dabei erzeugen sie eine solche Konfusion und Kakophonie, dass warnende Stimmen einfach in den Lärm integriert werden. Und das wiederum hilft, das Bild der toleranten, schwerfälligen, bunten, etwas chaotischen Demokratie zu bestärken. Das Chaos ist real. Aber der Konsens ist es auch.
Apropos Konsens, es gibt da noch die kleine, aber stets präsente Sache mit Kaschmir. Was Kaschmir anbelangt, ist der Konsens in Indien beinhart. Er gilt für das gesamte Establishment – darunter die Medien, die Bürokratie, die Intelligenzija und sogar Bollywood.
Der Krieg im Tal von Kaschmir dauert jetzt fast zwanzig Jahre und hat ungefähr siebzigtausend Menschenleben gekostet. Zehntausende wurden gefoltert, Tausende sind »verschwunden«, Frauen wurden vergewaltigt und tausendfach zu Witwen gemacht. Eine halbe Million indischer Soldaten sind in Kaschmir stationiert, es ist damit das am höchsten militarisierte Gebiet der Welt. (Die Vereinigten Staaten hatten während der Hochzeit der Besatzung einhundertfünfundsechzigtausend Soldaten im aktiven Dienst im Irak stationiert.) Die indische Armee behauptet, dass sie den militanten Widerstand in Kaschmir größtenteils gebrochen hat. Vielleicht stimmt das. Aber heißt militärische Überlegenheit auch Sieg?
{36}Wie rechtfertigt eine Regierung, die sich demokratisch nennt, eine militärische Besetzung? Natürlich indem sie regelmäßig Wahlen abhält. Wahlen in Kaschmir haben eine lange und faszinierende Geschichte. Die eklatant manipulierte Wahl 1987 war der Anlass für den bewaffneten Aufstand, der 1990 begann. Seitdem sind Wahlen zu einem fein gestimmten Instrument der militärischen Okkupation geworden, ein finsterer Spielplatz für Indiens Staat im Staate. Geheimdienste haben politische Parteien und Politikerattrappen geschaffen, sie haben beliebig politische Karrieren aufgebaut und zerstört. Sie sind es, mehr als alle anderen, die das Ergebnis jeder Wahl bestimmen. Und nach jeder Wahl erklärt das indische Establishment, dass Indien von den Menschen in Kaschmir ein populäres Mandat erhalten hat.
Im Sommer 2008 wuchs sich der Streit um Land, das dem Amarnath Shrine Board zugewiesen wurde, zu einem massiven, gewaltlosen Aufstand aus. Tag für Tag boten Hunderttausende den Soldaten und Polizisten – die in die Menge schossen und zahllose Personen töteten – die Stirn und gingen auf die Straße. Von früh morgens bis spät abends riefen sie »Azadi! Azadi!« (»Freiheit! Freiheit!«). Obstverkäufer wogen Obst und sangen »Azadi! Azadi!«, Ladenbesitzer, Ärzte, Hausbootbesitzer, Fremdenführer, Weber, Teppichverkäufer – alle waren mit Plakaten auf der Straße, alle skandierten »Azadi! Azadi!«. Die Proteste dauerten mehrere Tage an.
Sie waren massiv. Sie waren demokratisch, und sie waren gewaltlos. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten zeigten sich Risse in der öffentlichen Meinung Indiens.[23] Die indische Regierung geriet in Panik. Unsicher, wie sie mit diesem massenweisen zivilen Ungehorsam umgehen sollte, befahl sie ein hartes Durchgreifen. Sie verhängte die schärfste {37}Ausgangssperre seit Menschengedenken und erließ Befehl, auf jeden zu schießen, der sich nicht daran hielt. Sie sperrte praktisch Millionen Menschen tagelang in einen Käfig. Die wichtigen Anführer der Freiheitsbewegung wurden unter Hausarrest gestellt, andere wurden festgenommen. Bei Hausdurchsuchungen wurden Hunderte verhaftet. In der Jama Masjid durfte sieben Wochen lang kein Freitagsgebet abgehalten werden, was es noch nie zuvor gegeben hatte.
Kaum war die Rebellion unter Kontrolle, tat die Regierung etwas Ungewöhnliches – sie ordnete Wahlen in Kaschmir an. Politische Führer, die für die Unabhängigkeit Kaschmirs eintraten, riefen zum Boykott der Wahl auf. Sie wurden erneut verhaftet. Nahezu alle waren überzeugt, dass die Wahl für die indische Regierung nur blamabel ausgehen konnte. Die Sicherheitsdienste wurden paranoid. Ihr ausgetüfteltes Netzwerk von Spionen, Überläufern und »eingebetteten« Journalisten begann mit neuer Energie zu pulsieren. Jedes Risiko wurde ausgeschlossen. (Sogar ich, die überhaupt nichts mit den Ereignissen dort zu tun hatte, wurde für zwei Tage in Srinagar unter Hausarrest gestellt.)
Wahlen abzuhalten war ein großes Risiko. Doch das Wagnis lohnte sich. Die Menschen gingen massenweise zur Wahl. Es war die höchste Wahlbeteiligung seit Beginn des bewaffneten Kampfes. Es half, dass die Wahl etappenweise stattfand und als Erstes in den am meisten militarisierten Distrikten in Kaschmir gewählt wurde.
Kein einziger von Indiens Analysten, Journalisten und Wahlforschern machte sich die Mühe und fragte, warum Menschen, die noch vor wenigen Wochen alles riskiert hatten, auch das eigene Leben, es sich plötzlich anders überlegten. Keine der prominenten Kapazitäten des großen Demokratiefestivals – die praktisch in den Fernsehstudios {38}leben, wenn in Indien gewählt wird, und jede Prognose, jede Umfrage vor den Wahllokalen und jede noch so winzige Wählerwanderung sezieren – sprach davon, was es heißt, unter massiver, ganzjähriger Militärpräsenz zur Wahl zu gehen. (Auf zwanzig Zivilisten kommt ein bewaffneter Soldat.) Niemand spekulierte über das geheimnisvolle Auftauchen Hunderter unbekannter Kandidaten aus dem Nirgendwo, die in Kaschmir bislang nicht präsente Parteien vertraten. Woher kamen sie? Wer finanzierte sie? Niemand wollte es wissen.
Niemand sprach von der Ausgangssperre, den Massenverhaftungen, der Abriegelung der Wahlkreise. Nur wenige erwähnten, dass die Politiker im Wahlkampf alles taten, um den Anschein zu erwecken, als hätten »Azadi« und der Kaschmirkonflikt nichts mit den Wahlen zu tun, bei denen es angeblich nur um kommunale Belange ging – Straßen, Wasser, Elektrizität. Niemand sprach davon, warum Menschen, die seit Jahrzehnten unter militärischer Besatzung leben – wo Soldaten zu jeder Tages- und Nachtzeit in Häuser eindringen und jemanden mitnehmen können –, vielleicht irgendjemanden brauchten, der ihnen zuhörte, der sich ihrer Sache annahm, der ihre Interessen vertrat.[24]
Kaum war die Wahl vorbei, erklärten das Establishment und die Mainstream-Medien wieder einmal den Sieg (für Indien). Die besorgniserregendste Konsequenz war, dass die Menschen in Kaschmir begannen, die Einschätzung ihrer Kolonisatoren nachzuplappern und sich selbst als ein etwas erbärmliches Volk zu betrachten, das sein Schicksal verdiente. »Vertrau niemals einem Kaschmiri«, rieten mir mehrere Kaschmiris. »Wir sind wankelmütig und unzuverlässig.« Psychologische Kriegsführung war schon immer eine Methode der offiziellen Kaschmirpolitik. Ihre über {39}die Jahrzehnte zersetzende Wirkung – der Versuch, das Selbstwertgefühl der Menschen zu zerstören – ist der unbestreitbar schlimmste Aspekt der Besatzung.