Auslese - Dagmar Dornbierer - E-Book

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Dagmar Dornbierer

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Beschreibung

Geschichten von der Vorzeit bis zur Gegenwart. Buntschriftstellerei nennt man eine literarische Gattung, die Wissenswertes aus unterschiedlichen Sachgebieten in einer sogenannten bunten Form darlegt. Was die Muse Clio in ihre Bücher schrieb. Kontinuität, ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Aus vorgeschichtlicher Zeit zur Zeitenwende, vom Mittelalter bis zur Renaissance. Warum der Dichter Petrarca den Mont Ventoux nie bestieg. Barocke Kontraste. Erzählfragmente. Geschichte als Ganzes betrachtet.

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VON DER AUTORIN SIND AUCH ERSCHIENEN:

Jan Hus – Der Wahrheit WillenBetrachtungen, Essays und ein Schauspiel (2015) ISBN-9783734754517

„Lieber Jan… Milý Jane…“Ein fiktiver Brief an Jan Palach – 2005/2017 Deutsch und Tschechisch, ergänzt mit Vorwort und Erklärungen ISBN 9783743166301

Das Buch der gespiegelten Zeit – Inspirierte ErzählungenKurzgeschichten (2016) ISBN-9783837044881

ImpressionenPoesie aus vier Jahrzehnten und in drei Sprachen (2016) ISBN-9783837045017

Frauen mittendrin Teil I. – Eliane und ihre GeschiCHtenGegenwartsliteratur, Vergnügliches aus der Schweiz (2016) ISBN-9783837044799

Frauen mittendrin Teil II. – Marcelas stille IntegrationGegenwartsbiographie, Tschechoslowakische Emigration in die deutsch-sprachige Schweiz 1968 (2017) ISBN 9783837045215

Spätlese – Geschichten über GeschichtenEssays, Gedanken, Satiren (2018) ISBN 9783752839555

2392 – Enthüllte WirklichkeitenSci-fi / Mystery (2022) ISBN 9783755797319

BarockzeitBd. 1 / Reihe: Für mich mit Bild (2022) ISBN 9 783756 809271

Schokolade Der Interessenkonflikt des Bon-Joseph DacierHistorische Novelle / Fakten und historische Neuentdeckung (2023) ISBN 9783756881437

Zur Autorin:

Die Themen, über die Dagmar Dornbierer schreibt sind vielfältig. Bei der Themenwahl lässt sie sich durch aktuelles und historisches Geschehen inspirieren. Oft entstehen am Rande umfangreicher Werke kleinere Fragmente. Das sind Essays, Artikel, Ausschnitte, aber auch Satiren, die ein eigenständiges Leben führen.

Zum Buch:

Der Begriff „Buntschriftstellerei“ stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts. Man bezeichnete damit literarische Sammlungen, worin unterschiedliche Werke zusammengefasst wurden, die „Wissenswertes in einer bunter Form präsentierten.“

Dieser Band ist auf seine Art die Fortsetzung des Buches „Spätlese – Geschichten über Geschichten“ (2018). In der Zwischenzeit entstanden weitere Kurz- und Langgeschichten mit oder ohne Ende, die nun als „Auslese“ folgen.

Inhalt

Zu Beginn… Clio und Kalliope

Kontinuität – Ein zutiefst menschliches Bedürfnis und ein Instrument der Manipulation

AUS VORGESCHICHTLICHER ZEIT

Platons Mysterien

Die Hüterin des Feuers

Insel Malta, mehrere Tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung – Ein Romanentwurf

Weitere Gedanken zu Gesellschaftsformen des Matriarchats und Patriarchats

ZEITENWENDE

Donau – Danuvius – Dunaj – Istros – Die skythischen Thraker

VOM MITTELALTER BIS ZUR RENAISSANCE

Ein von Hand geschriebenes Buch lebt

Der Gral und sein Mysterium – und viele Märchen

Die Festlegung der Zeit – Die Söhne

Mont Ventoux – der Heilige Berg der Winde und warum ihn der Dichter Petrarca niemals bestieg

Jeronýms Streit mit den Welschen

BAROCKE KONTRASTE

Chiaro-scuro – Das Hell-Dunkel des Barockzeitlaters

Das Bild der „Liegenden Pittura“

Die Preziösen – Paris anno domini 1659

Nächtliche Geschäftsstrategien

ZEIT DER GEGENWART

Athen

FRAGMENTE

Festgehaltene Gedanken

Zu Beginn…

Clio und Kalliope – Tatsachen und Unterhaltung

Die folgenden Geschichten und Überlegungen sind Fragmente mit oder ohne Ende. Weitere Spiegelungen der Zeit. Das Ende ist dabei nicht so wichtig, denn die Zeit selbst kennt kein Ende. Manche Geschichten werde ich vielleicht später weiterspinnen, andere wiederum werden offen bleiben so wie sie sind. Möglicherweise werden sie in Zukunft von anderen Erzählern zu Ende fabuliert werden. Hauptsache bleibt, dass sie erzählt wurden. Hauptsache bleibt, dass der bewusste Unterschied zwischen Tatsachenbericht oder Essay und Unterhaltungslektüre erkennbar bleibt.

Obwohl sich der Begriff „Buntschriftstellerei“ leicht anhört, sind die Essays und Geschichten in diesem Buch nicht immer nur leichte Kost. Die gibt es darin auch, doch zuallererst wollte ich ein Buch für gedanklich Fortgeschrittene schreiben. Das Buch kann Gedanken auslösen – in dieser Hinsicht birgt es eine gewisse Gefahr.

Die Gestalt der griechischen Muse Clio, die für die Geschichtsschreibung verantwortlich war, begleitet auch dieses Buch. Clio hatte sich schon in einem meiner früheren Bücher vorgestellt – im „Buch der gespiegelten Zeit“. Ihre Präsenz, wenn man so will, ist immer da. Clio wird als die neutrale Berichterstatterin geschildert, als Jene, die dem Geschehen einfach nur zusieht, um es später schriftlich festzuhalten. Sie nimmt nichts weg, sie fügt nichts hinzu, sie beschreibt nur und registriert. Dadurch ist sie offensichtlich im Reich des Mythos zu Hause und nicht im modernen Journalismus mit dessen Manövern.

Das Hinzufügen, Weglassen, umformuliert Wiedergeben, das ist die Aufgabe von Clios „Musen-Kollegin“ Kalliope. In Kalliopes olympischer Abteilung werden die Bereiche bearbeitet: Epische Dichtung, Rhetorik, Philosophie und Wissenschaft. Interessant an dieser Zusammenstellung ist, dass wir, Menschen des 21. Jahrhunderts, nicht auf die Idee kämen diese Begriffe zusammenzufassen. Für uns gehört Philosophie zu den Wissenschaften, Rhetorik wird in Seminaren für Manager eingeübt, und epische Dichtung heisst kreatives Schreiben, Unterhaltung – und damit möchten sich ernsthafte Wissenschaftler wohl nicht identifizieren. Wir trennen bewusst Berichterstattung und Tatsachen von Kreativität. Wir lesen zwar Romane und sehen uns Filme an, die manchmal auch geschichtliche Tatsachen als Grundlage haben, doch wir sind uns bewusst, dass es nur Romane und Filme zu unserer Unterhaltung sind. Es würde uns nie in den Sinn kommen, solche Unterhaltung als wahr anzunehmen. Doch dem war nicht immer so.

Gemäss unseres Rechtsverständnisses gelten ausgestellte Urkunden, deren Inhalt nicht den Tatsachen entspricht oder verfälscht wurde, als im besten Fall ungültig, sonst jedoch als Betrug. Auch dem war auch nicht immer so.

Bis weit ins späte Mittelalter galt ein anderes Verständnis von Wahrheit und Rechtskraft. Als wahr galt, was plausibel war, wenn es hätte sein können. Demzufolge konnten auch offensichtlich gefälschte Urkunden ins Rechtssystem integriert werden. Deshalb konnten Erzählungen, die allein der Fantasie entsprangen, als historische Tatsachenbeweise gelten. Man sollte sich dies immer vor Augen halten, wenn es um Geschichte und Geschichtsschreibung geht.

Clio und Kalliope. Tatsachenberichte und Unterhaltung. Die Welt hat sich dahingehend entwickelt, dass wir dies als zwei sehr unterschiedliche Dinge betrachten und das ist gut so. Doch steht uns unsere moderne Denkweise im Weg, wenn wir uns mit früherer Geschichtsschreibung befassen. Mittlerweile ist es denn auch in Fachkreisen zulässig, dass man von gewissen literarischen Werken als Erfindungen, schönen Worte, guter Unterhaltung spricht, obwohl man sie noch unlängst für bare Münze und lautere Wahrheit nahm. Dies gilt vor allem für die Autoren der Renaissance und ihre überaus vielen „Funde“ angeblich antiker Literatur. Heute ist es immer noch sehr schwierig zu überblicken, was tatsächlich aus der Zeit vor unserer Zeitrechnung stammt, und was die äusserst kreativen Autoren des Mittelalters „im Stil von….“ geschrieben haben. Hier waren Francesco Petrarca und später Poggio Bracciolini und Kollegen in der Tat sehr produktiv. All die Reden von Cicero und die Korrespondenz dazu, die Petrarca scheinbar in einer Bibliothek in Padua fand, stammen aus Petrarcas Feder – und vielleicht von jemandem, den Petrarca damit beauftragt hatte. Ausgerechnet Padua. Wie praktisch für Petrarca, der dort zu jener Zeit gerade lebte…

Davor betrafen schriftliche „Zeugnisse“ vor allem Urkunden, die Besitzverhältnisse zu erheblichen Gunsten von jemandem regelten, der etwas haben wollte, was ihm nicht zustand. Hier sticht ganz besonders der tschechische Aristokrat Oldřich II. von Rožmberk hervor mit seinen unzähligen Falsifikaten aus der Zeit der Hussitenkriege im 15. Jahrhundert. Jene Falsifikate beschäftigen die Historiker, und es werden ihnen sogar Ausstellungen gewidmet. Ein anderes Falsum höchster Güte war das sogenannte „Privilegium maius“ der Habsburger aus dem 14. Jahrhundert, das jenem Geschlecht zu Unrecht die Würde von „Pfalz-Erzherzögen“ zusprach. Hierbei wurden sogar echte kaiserliche Siegel an absichtlich gefälschten „Urkunden“ angebracht – etwas, das unser Rechtsverständnis als kriminelle Handlung mit Strafen belegen würde – es gelten Freiheitstrafen bis zu fünf Jahren. Selbst der Versuch ist strafbar. Doch damals konnte sogar der kluge Kaiser Karl IV., gegen den sich der Betrug richtete, nicht verhindern, dass sich dieser Humbug als Tatsache festsetzte. Der Habsburger „Erzherzog“ war nur ein Fantasietitel, den sich der Fälscher des „Privilegium maius“, Rudolf von Habsburg ausgedacht hatte. Er liess im Zeitraum von 1358-59 sogar mehrere „Urkunden“ als Beweise für seine hauptsächliche Fälschung herstellen. Klar – wenn es derart viele schriftliche Zeugnisse gibt, dann muss doch etwas dran sein… Man weiss zwar mittlerweile, dass eine Lüge nicht plötzlich zur Wahrheit mutiert, nur wenn sie oft genug und laut genug wiederholt wird, doch auch in der Gegenwart wird oft mit Gegendarstellungen um die Wahrheit gerungen. Allerdings – wenn etwas einmal durch die Presse sickerte, dann ist es sehr schwierig eine falsche Meldung als solche völlig verschwinden zu lassen.

Clio und Kalliope – sie stehen für Berichterstattung und Unterhaltung. Es ist zu Wünschen, dass dieser Unterschied immer und überall beachtet wird.

Kontinuität – ein zutiefst menschliches Bedürfnis und ein Instrument der Manipulation

Kontinuität ist mit dem allermenschlichsten Wunsch verbunden, dass „es weiter gehen möge“ – das Leben, die Gewohnheiten, der Jahreslauf, die Ernten, einfach gesagt, alles was das menschliche Dasein betrifft. Kontinuität gibt Sicherheit. Aus dem unbewussten Gedanken an Kontinuität stehen wir morgens auf, machen uns an die Arbeit und planen die Zukunft.

Wenn es keine Kontinuität gäbe, würden wir uns nicht um den morgigen Tag kümmern. Kontinuität ist Gewohnheit und Gewohnheiten werden zu Kontinuität, dem „fortwährend Andauernden“. Deshalb bereitet den meisten Menschen die These vom „ewigen Jetzt“ einiges Magengrimmen. Wie geht man mit dem „ewigen Jetzt“ um? Wie denkt man in einer fortwährend andauernden Gegenwart? Welchen Platz haben oder hätten in einem solchen Fall die Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft? Gäbe es sie noch? Würden wir nicht vieles verlieren, was wir heute „Kultur“ nennen, oder wäre es ständig um uns herum und wir darin eingetaucht? Was heisst Ewigkeit?

Kontinuität verbindet – sowohl Menschen untereinander als auch Menschen mit ihren Vorfahren und Nachkommen. Wenn Kontinuität unterbrochen wird, entstehen Chaos und Anarchie. Unvorhersehbare Ereignisse wie Seuchen, Terror, menschengemachte Kriege, Naturkatastrophen – mit all ihren verheerenden Folgen, unterbrechen die Kontinuität und treffen das menschliche Sein an der empfindlichsten Stelle. Die Menschen reagieren dann auf die äusseren Einflüsse, die ihnen den Boden unter den Füssen wegreissen, mit sofortiger Flucht in irgendeine Art der Kontinuität, die noch verbleibt. Das sind kleine Gewohnheitsstrukturen, die unter den Umständen möglich sind. Danach setzen Selbstheilungskräfte ein, welche Körper und Geist wieder handlungsfähig machen, d.h. das menschliche Gedächtnis beginnt zu vergessen, auszublenden was unerträglich und existenzbedrohend ist. Der Entzug von Kontinuität kann in den Wahnsinn treiben.

Kontinuität muss wieder hergestellt werden – manchmal um jeden Preis. Besonders nach unerwarteten Katastrophen, wie zum Beispiel Erdbeben, werden diese Selbstschutzmechanismen des menschlichen Geistes mobilisiert. Wenn buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen bleibt, werden alle Kräfte in Bewegung gesetzt, um wieder Normalität zu erreichen – Kontinuität. Es wird aufgebaut – oft an derselben Stelle, ohne wissen zu wollen, ob dies ratsam sei. Es wird renoviert und neu errichtet, damit der Alltag, die Fortführung der Kontinuität, so schnell wie möglich wieder einsetzen kann. Danach wird das Ereignis ausgeblendet, oder es werden nur bruchstückhafte Erinnerungen zugelassen.

Dies geschah während des gesamten 14. Jahrhunderts in Europa. Die nachstehende Tabelle zeigt nur einige Daten von historisch belegter Erdbebentätigkeit, wie sie von Prof. Arno Borst in seinen historischen Beiträgen zur Katastrophenforschung aufgezeichnet wurden. (Siehe: Das Erdbeben von 1348; in „Barbaren Ketzer und Artisten“, Piper Verlag, Welten des Mittelalters, 1988) Eine bekannte Katastrophe dieser Art ist für uns das grosse Erdbeben von Basel aus dem Jahr 1356. Doch schon vorher gab es Erderschütterungen in fast allen Teilen Europas. Vor allem das grosse Beben im Jahr 1348 in der Steiermark, in Kärnten, Italien, und auf den Gebieten des heutigen Sloweniens und Kroatiens. Wären die Ereignisse nicht aufgezeichnet worden, hätte man schon hundert Jahre später nichts mehr davon wissen wollen. Sogar Francesco Petrarca schrieb darüber. Das Beben begann am 25. Januar 1348 mit Epizentrum in Villach, es hatte zahlreiche Nachbeben (angeblich bis zu zwanzig Erdstössen pro Tag), und das Ganze dauerte bis zum 5. März 1348. Danach schwächte es sich ab, war aber noch spürbar. Ein allerletzter Stoss wurde sogar erst am 5. August des folgenden Jahres 1349 aufgezeichnet. Geschätzte Magnitude vom 25. Januar 1348: 7, Intensität: IX d.h. Bodenspalten, mehrere Bergstürze, Totalzerstörung von Mauerwerk. Länge der Hauptschadenzone: ca. 25 km, Durchmesser des Schüttergebietes über 600 km, spürbar von der Pfalz bis nach Ungarn, von Ravenna bis Prag – dies ist die gesamte Mitte Europas. In jenem Jahr 1348 wurde die Universität Prag eingeweiht und nahm ihren Betrieb auf…

Zurück zur Kontinuität. Nach der Katastrophe wurden in manchen Städten Häuser und Kirchen sogar mehrmals am gleichen Ort wiederaufgebaut und erneut durch später folgende Erdstösse zerstört. Als wollte man mit dem Kirchenbau Gott zwingen, das ihm geweihte Gotteshaus zu beschützen – oder noch schlimmer: Man traute dem bösen Teufel zu, das Haus Gottes in Schutt und Trümmer gelegt zu haben – und stellte so den Teufel über die Allmacht Gottes…

Eine ähnliche Sachlage stellte sich fast gleichzeitig mit dem Auftreten der Beulenpest in Europa, des Schwarzen Todes, der innerhalb weniger Jahre die europäische Bevölkerung drastisch reduzierte. Die Seuche fand in der nach dem Erdbeben geschwächten Bevölkerung ein einfaches Ziel. Vielleicht hätte sich die Krankheit weniger schnell, weniger intensiv oder gar nicht verbreitet, hätte sie auf eine körperlich, geistig und seelisch gesunde, starke und hoffnungsvoll eingestellte Bevölkerung getroffen. Dies war so kurz nach der Katastrophe und nach bereits vorangegangenen Umwelt- und Klimaverschlechterungen nicht der Fall.

Einige Jahre später, als die Pestpandemie abgeklungen war, setzten die Schutzmechanismen des menschlichen Geistes ein. Das grosse Vergessen folgte dem grossen Sterben auf dem Fuss. Diejenigen, die überlebt hatten, suchten Kontinuität, doch einige Mutigere mochten sich neue Identitäten aufgebaut haben, vielleicht sogar an neuen Orten. Es war möglich zu Wohlstand zu kommen, Belastendes oder Unangenehmes zu verschweigen, dem gesellschaftlichen Stand und der gesellschaftlichen Prägung zu entfliehen. Eine neue Existenz konnte befreiend sein, losgelöst von belastenden oder sogar gefährlichen Verbindungen. Wer wollte es den Menschen vorwerfen, dass sie die Gelegenheit ergriffen? Menschen, die nicht mehr negativ auffallen wollten, die sich auf diese Art eine normale, kontinuierliche Identität erschaffen wollten und konnten. Die Ereignisse um die Mitte des 14. Jahrhunderts waren von solch grosser Tragweite, dass nicht nur die Erde durchgeschüttelt wurde, sondern auch die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, die Hierarchiestufen und sogar die Schranken von Religionen.

Unverzeihlich sind und waren lediglich Bemühungen, die von Besitzgier und Machtwillen getrieben wurden. Ein unehrenhaftes Beispiel hierzu ist tschechische Hochadlige Oldřich II. von Rožmberk (Rosenberg / 13. 1. 1403 – 28. 4. 1462), dessen während der Hussitenkriege massenhaft produzierten Falsifikate sogar eigens dafür angefertigte Museumsvitrinen füllten (Ausstellung „Corpus delicti“, von 2011, über die „Rosenberger Falsifikate“ und weitere Expositionen in Český Krumlov, CZ). Eine zwiespältige Gestalt war dieser Mann, der sich von seinen Zeitgenossen „Herrscher“ („vladař“) nennen liess. Er wurde von den Hussiten gehasst und von den Katholiken mit leisem Argwohn betrachtet. In seinem betrügerischen Bestreben nach Kontinuität ging Oldřich II. von Rožmberk so weit, dass er seine Familie als einen Nebenzweig der römischen Orsini ausgab und dies mit seinem Wappenbild der fünfblättrigen Rose begründete. Oldřich II. von Rožmberk wollte an die zu seiner Zeit sehr stark propagierte Rom-Zentriertheit der Katholiken anknüpfen und sich im Glanz eines alteingesessenen Römer Geschlechts sonnen. Es wurde ihm von den Orsini unter Androhung von Strafen klipp und klar untersagt.

Kontinuität bedeutet Sicherheit des Lebens. Kontinuität bedeutet aber auch, Anrechte auf materielle und immaterielle Werte zu stellen. Gottes heilige Geometrie, die symmetrisch ist – wie oben so unten, die Wurzeln eines Baumes entsprechen der Grösse seiner Krone, etc., etc. Auf menschliche Ansprüche angewendet bedeutet dies, dass die Mächtigen und die Herrscher dieser Welt immer versuchen Kontinuität herzustellen, aus der sie ihre Ansprüche ableiten und ihre Macht damit begründen. Dabei gilt: Wer die längere Kontinuität vorweisen kann, hat das stärkere Anrecht. Hier wird Kontinuität missbraucht. Eine Flut von angeblichen Beweisen – am besten verbrieft und gesiegelt – setzt ein, um etwaige Gegner im Anspruch auf Kontinuität auszustechen. Widmungsschreiben, Erklärungen, Zeittafeln, Chroniken und Stammbäume sollen Kontinuität schaffen – auch dort, wo keine ist und niemals eine war. Westliche Stammbäume reichen in die Vergangenheit über die Merowinger, die antiken Helden wie Äneas oder Herkules bis zu Noahs Söhnen nach der Sintflut. Östliche Stammbäume beziehen sich wiederum auf dortige sagenhafte Heldengestalten, auf Götter und Halbgötter. Das Muster bleibt dasselbe – nur die Namen ändern. Es ist auch eine charakteristische Eigenschaft patriarcher Gesellschaften. Väter und Vorväter – nicht Männer im Allgemeinen – bestimmen über die Kontinuität eines Geschlechts, einer Sippe, eines Volkes. Dies geschieht im Sinne der Wiederherstellung der Göttlichen Ordnung, Verankerung der eigenen Gegenwart und der daraus folgenden Zukunft, in einer logischen Vergangenheit.

Heute spricht man gerne von Fälschungen, Missbrauch von Urkunden, Vorspiegeln falscher Tatsachen. Doch damals, in noch nicht allzu ferner Vergangenheit, „ergänzte“ man lediglich die fehlenden Stellen im chronologischen Ablauf. Man stellte eine gottgewollte Struktur wieder her nach dem Motto: „So muss es gewesen sein“ und „Dies ist im Sinne der Gottgewollten Ordnung und Geometrie“. Man könnte von harmlosen Schummeleien sprechen, doch wenn von solchen kontinuitäts-geometrischen Ergänzungen die Schicksale ganzer Länder und Völker abhängen, hört jede Schummelei auf harmlos zu sein.

Durch „plötzlich auftauchende“ schriftliche Beweise oder gar passende Gegenstände, durch Festhalten an Geschichten, die bald schon zur Überlieferung werden, durch ständiges Wiederholen, falscher oder richtiger Inhalte, wird in jedem Fall Kontinuität geschaffen. Wer kann schon den Wahrheitsgehalt restlos überprüfen? In der Vergangenheit war es sehr schwierig. Heute wähnen wir uns mit unserer modernden Kommunikationstechnik auf der sicheren Seite, doch sind wir es nicht. Auch in der Gegenwart ist es für Aussenstehende unmöglich die vollständige Wahrheit hinter politischen Entscheidungen oder Ereignissen zu recherchieren – Entscheidungen, die uns alle betreffen. Dass die heutigen Medien – seien sie dem Mainstream oder der alternativen Strömung zuzuordnen – jederzeit nur wahre Inhalte verbreiten, das glauben wohl nur noch sehr Wenige. Welche Kontrollmittel stehen uns denn zur Verfügung? Über welche Kontrollmittel verfügten die Menschen in früheren Jahrhunderten?

Diese und ähnliche Fragen lassen sehr viel Raum für Spekulation und Fantasie. Doch manchmal übertreffen die Antworten darauf alle Vorstellungen – und genau hier, an dieser Stelle, wird es spannend. Dann setzten sich Bilder in Bewegung, entstehen Erzählungen, Romane, Fiktion. Darüber zu spekulieren, was wahr und was erfunden ist – und aus welchen Gründen dies geschah – brachte mich dazu, mich mit der Materie der Fälschungen zu befassen – und genau aus diesen Fäden ist meine Erzählung gewoben: Die Handschrift.

Einige Auszüge & Daten aus dem Aufsatz:Das Erdbeben von 1348 Arno Borst: „Barbaren, Ketzer und Artisten“, Piper, 1988

1222

Beben am Weihnachtsmorgen in ganz Oberitalien zwischen Genua und Venedig. Die Stadt Brescia wird völlig zerstört.

1280

Beben von Wiener Neustadt

1289

Beben von Srassburg

1342

Beben und Unwetter in der Steiermark und Kärnten

1348

Das grosse europäische Erdbeben ausgehend von Kärnten, gefolgt von Pest, Hungersnöten, Tod und Niedergang.

1349

Beben in Rom und in Teilen der Toscana

1356 – 1357

Beben im ganzen Rheintal, vor allem in der Stadt Basel – gefolgt von kleinen Nachbeben bis nach Strassburg, Dauer von Oktober bis Mai; Reste der Trümmer konnten noch um 1430 am Basler Konzil von den Teilnehmern besichtigt werden!

1363

Erneutes Beben in Strassburg

1372

Noch einmal Beben in Strassburg

1443

Beben in Schlesien

1456

Beben von Benevento

Aus vorgeschichtlicher Zeit

Platons Mysterien

Den Aufstieg zum Schönen wies die Seherin dem Schüler, den Aufstieg zur Erkenntnis, die in der Schönheit ruht.

Weise sprach sie von der Einsicht, die der sieben Schlüssel bedarf: Sieben Schlüssel öffnen sieben Tore. Siebenmal gilt es hindurch zu schreiten. Sieben Aufgaben zu lösen sind. Sieben Opfer erbringe am Altar der Wahrheit.

Siebenmal Hoffnung empfand der Schüler. Siebenmal Verzweiflung, Furcht und Not. Siebenmal ins Leben geboren schritt er die sieben Stufen hinauf unter Schmerz, bis aus siebenmal sieben Opferschalen am Ende stieg der Weihrauch empor.

Die Hüterin des Feuers

“Unabsehbare Wege des Schicksals. Wege, die sich kreuzen, Wege die sich niemals hätten kreuzen sollen – und auf einmal entsteht ein neues Universum... unerforschbar, unabwendbar, unbezähmbar.“

Die Priesterin erteilte einer neuen Schülerin Unterricht, so wie sie schon unzählige Schülerinnen vor ihr unterrichtet hatte. Die Vorbereitung heranwachsender Frauen zur Einweihung war ihre Lebensaufgabe. Sie erfüllte sie seit vielen Jahrzehnten gewissenhaft.

„Meine Schülerin, du musst wissen, dass jede Frau einen Mann sucht, der ihr vollkommenes Gegenpart und ihre Ergänzung darstellt. Es ist das grosse Mysterium, meine Schülerin, dass beide – Frau und Mann – sich in ihrer Eigenart ergänzen müssen. Um eine solche Ergänzung zu vollenden und ein geeintes Paar zu bilden, ist es unentbehrlich, dass sowohl die Frau als auch der Mann zwei individuelle Wesen sind. Auf diese Weise formen sie eine Gesamtheit ihrer schöpferisch fruchtbaren Kräfte.

Die Frau hat die angeborene Fähigkeit alle Teile ihres Wesens bewusst unterscheiden zu können. Eine Frau ist immer gleichzeitig die Jungfrau, die Mutter, die Weise.

Die Frau ist die Inspiration und der Geist. Der Mann ist der Anfang der Schöpfung, die Initiation. Deshalb ist das Leben eine gemeinsame Einheit – ein Fortschreiten entstehender, geschaffener und vollendeter Werke. Ob nun ein Kind gezeugt, ein Tempel erbaut oder ein Feld bestellt wird, für all dies braucht es schöpferische Kraft, die zwingend weiblich und männlich sein muss. Durch beide Kräfte, die zu einander finden und sich gemeinsam