3,99 €
Weihnachten in London: das Glitzern von Weihnachtskugeln, das Flackern von Kerzenlicht, der Geruch von Tannennadeln und der erste Schnee – für viele die romantischste Zeit des Jahres. Doch Alison Bennett wünscht sich nichts sehnlicher, als die schmerzlichen Erfahrungen der letzten Monate vergessen zu können. Denn nachdem ihr Freund Will ums Leben gekommen ist, hat Alison ihr Lächeln verloren. Ihre Freunde setzen alles daran, sie aufzumuntern, doch niemand dringt zu ihr durch. Bis eines Tages Liam, Wills Bruder und Alisons bester Freund, vor der Tür steht. Endlich kann Alison sich öffnen, denn die beiden teilen den gleichen Schmerz. Und schon bald erkennt sie, dass Liam ihr mehr bedeutet als ein Freund. Aber ist sie schon bereit für eine neue Liebe? Und kann Liam Alisons Weihnachtsfest retten? Von Sandra Baunach sind bei Forever erschienen: Perfectly Royal - Eine Liebe gegen jede Regel Back to You - Eine Christmas-Love-Story
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Die AutorinSandra Baunach, geboren 1982 in Koblenz, wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in der Vordereifel. Schon während der Schulzeit schrieb sie kleine Geschichten, die sie in der Schülerzeitung veröffentlichte. Inzwischen ist sie Erzieherin und leitet eine Kindertagesstätte. Neben dem Schreiben hat sie noch eine zweite Leidenschaft, die Tortenkunst. Wenn sie in ihrer Freizeit nicht gerade Texte verfasst, backt sie leckere Kuchen und kreiert wahre Tortenkunstwerke.
Das Buch
Weihnachten in London: das Glitzern von Weihnachtskugeln, das Flackern von Kerzenlicht, der Geruch von Tannennadeln und der erste Schnee – für viele die romantischste Zeit des Jahres. Doch Alison Bennett wünscht sich nichts sehnlicher, als die schmerzlichen Erfahrungen der letzten Monate vergessen zu können. Denn nachdem ihr Freund Will ums Leben gekommen ist, hat Alison ihr Lächeln verloren. Ihre Freunde setzen alles daran, sie aufzumuntern, doch niemand dringt zu ihr durch. Bis eines Tages Liam, Wills Bruder und Alisons bester Freund, vor der Tür steht. Endlich kann Alison sich öffnen, denn die beiden teilen den gleichen Schmerz. Und schon bald erkennt sie, dass Liam ihr mehr bedeutet als ein Freund. Aber ist sie schon bereit für eine neue Liebe? Und kann Liam Alisons Weihnachtsfest retten?
Von Sandra Baunach sind bei Forever erschienen:Perfectly Royal - Eine Liebe gegen jede RegelBack to You - Eine Christmas-Love-Story
Sandra Baunach
Back to you
Eine Christmas-Love-Story
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Dezember 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95818-154-0 Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Es war merklich kühler geworden. Der Wind pfiff durch die Blätter, die sich schon gelb verfärbt hatten. Ich saß auf einer Parkbank im Hyde Park mitten in London und beobachtete die Menschen, die gemütlich über die asphaltierten Wege spazierten. Paare, die sich an den Händen hielten. Kinder, die durch das vertrocknete Laub liefen und sich gegenseitig lachend damit bewarfen. Männer in Anzügen, die mit dem Handy am Ohr an mir vorbeihasteten. Auf der Wiese liefen Hunde Stöckchen hinterher, um sie ihren Herrchen zu bringen. Nur um erneut den Stöcken nachzurennen.
Nur noch ein paar Wochen, dann war wieder Weihnachten. Beim Gedanken an Weihnachten zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Nein, bloß nicht daran denken.
Das Glitzern von Weihnachtskugeln blitzte vor meinem inneren Auge auf. Das Flackern von Kerzenlicht. Der Geruch von Tannennadeln zog mir in die Nase. Ich schloss meine Augen. Bitte nicht daran denken, flehte ich mich selber an.
Schnell öffnete ich wieder meine Augen. Lenkte meinen Blick und meine Gedanken auf eine junge Frau in einem knallroten Mantel. Ich versuchte mir vorzustellen, welchen Beruf sie hatte, wo und wie sie wohnte. Wie ihr Leben aussah.
Ja, das half. Ein wenig. Es half leider nicht immer. Nein, manchmal half gar nichts. Und dann ertrank ich im Schmerz. Meinem eigenen, persönlichen Schmerz. Den ich zu ertragen hatte. Es war meine Strafe. Ich wurde bestraft, weil ich lebte. Und um zu leben, weiterzumachen, ganz alleine. Das war zugleich meine Strafe. Aber ich hatte sie verdient.
Denn ich, Alison Grace Bennett, lebte. Und Will Connor war tot.
Alison:
Zu Hause legte ich meinen Schlüssel auf die Anrichte neben der Haustür. Ich hängte meine Jacke an die Garderobe und schlenderte den Flur entlang in die Küche. Katie hockte vor dem Backofen und schaute immer wieder auf ihre Armbanduhr. Sie hob den Kopf, als ich den Raum betrat. Ihre kastanienroten Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. An ihrer Stirn klebte Mehl.
»Hi, Alison!«, begrüßte sie mich und betrachtete mich mit gerunzelter Stirn.
»Hallo, Katie! Was machst du?«, fragte ich und setzte mich an unsere Küchentheke.
»Ich backe Kekse, zumindest versuche ich es.«
Sie richtete sich auf, klopfte sich das Mehl von ihrer Jeans
und kam auf mich zu. Kurz umarmte sie mich. Hauchte mir einen Kuss auf die Wange.
»Wie war dein Tag?«, flötete sie, während sie sich auf einen der Hocker an der Küchentheke setzte. Jeden Tag fragte sie mich das. Wie ein Ritual.
»Gut«, antwortete ich, wie jeden Tag. Wer wollte schon ein Ritual durchbrechen?
»Was hast du so gemacht?«, hakte sie nach, auch wie jeden Tag. Ihre braunen Augen blickten mich neugierig an.
»Ich war in der Uni, langweilige Vorlesung. Dann war ich im Park. Ich wollte ein wenig fotografieren.«
Ich ging nur noch unregelmäßig zu meinen Vorlesungen. Aber heute war ich tatsächlich mal da gewesen. Katie sah etwas argwöhnisch zum Backofen. Als ob er vielleicht absichtlich die Kekse verbrennen würde, nur um sie zu ärgern.
»Und? Hast du interessante Motive gefunden?«, wollte sie wissen, ohne den Blick vom Backofen zu nehmen.
»Nein, nichts Interessantes«, antwortete ich tonlos und schaute ebenfalls zum Backofen. Die Kekse bräunten sich langsam, es roch wirklich gut. Katie drehte den Kopf wieder zu mir, und ohne hinzusehen, wusste ich, dass sich auf ihrer Stirn eine Furche bildete. Genauso wie ich wusste, dass sie dasselbe dachte wie ich.
Ich hatte seit neun Monaten kein Foto mehr gemacht. Seit diesem Tag. Dem Tag, als sich mein Leben veränderte. Als ich mein und sein Leben zerstört hatte.
Ich erinnerte mich ganz genau an mein letztes Foto. Ich hatte es von Will gemacht.
Er hatte auf meinem Bett gelegen und ein Buch für die Uni gelesen. Irgendetwas war sehr lustig gewesen, denn er fing an zu lachen. Und wie er mich angelacht hatte! Seine graugrünen Augen strahlten mich an. Seine kurzen blonden Locken umrahmten sein Gesicht. Niemand konnte so lächeln wie er. Ich liebte sein Lächeln. Er drehte sich gerade zu mir um, und ich machte den Schnappschuss. Mein letztes Foto.
Ich hatte es immer noch nicht entwickelt. Hatte noch nicht den Mut dazu gehabt. Der Film lag in meiner Schreibtischschublade, ganz nach hinten geschoben. Ich öffnete die Schublade nie so weit, dass ich die kleine schwarze Dose sehen könnte. Aber ich wusste, dass sie da war.
Nur Stunden nach dem Foto gab es Will nicht mehr.
Katie sprang vom Stuhl hoch und auf den Backofen zu. Sie schnappte sich die Topflappen, riss die Ofentür auf, und zog das erste Blech heraus. Sie legte es auf zwei Untersetzern ab und zog das zweite Blech heraus. Mit ihrer Hüfte schubste Katie die Ofentür zu und legte das heiße Ofenblech auf dem Herd ab.
»Yeah, ich kann doch backen!« Triumphierend sah sie mich an. Ich lächelte schwach.
»Wer soll die denn alle essen?«, fragte ich und wies auf die unzähligen Kekse, die in der ganzen Küche verteilt waren. Einige mit Schokolade und Zuckerguss verziert, andere noch pur. Katie backte scheinbar schon den ganzen Tag, und hatte Unmengen an Keksen und Plätzchen produziert. Sie verzog kurz, wie ertappt, das Gesicht.
»Ähm, die anderen kommen gleich vorbei.«
»Oh!« Mehr bekam ich nicht raus, so überrumpelt war ich.
»Alison.« Katie umrundete flink die Theke und kam auf mich zu.
»Ich glaube, ich muss noch was für die Uni morgen vorbereiten.« Ich rutschte vom Hocker und machte einen Schritt nach hinten. Es war ein eher halbherziger Versuch, den Abend zu umgehen. Denn Katie ließ das natürlich nicht zu. Bestimmt dachte sie, sie hätte es schon zu lange zugelassen. Sie fasste mich am Arm und zog mich ins Esszimmer.
»Alison, nein! Das sind unsere Freunde. Du wirst heute nicht verschwinden. Vergiss es! Und wenn ich dich am Stuhl festbinden muss.« Katie zog ihre dunklen Augenbrauen hoch, und ihre braunen Augen blitzten mich an. Obwohl sie sonst sehr friedlich war, traute ich ihr zu, ihre Drohung wahr zu machen. Doch heute hatte ich keine Kraft zum Diskutieren. Und ich wollte Katie nicht verärgern. Ich brauchte sie. Wahrscheinlich mehr, als ich mir eingestehen wollte.
Also blieb ich auf meinem Stuhl sitzen, während Katie durch die Wohnung wuselte. Sie säuberte die Küche, richtete den Esstisch her und verzauberte sich selbst in die perfekte Gastgeberin.
Obwohl Wills Tod auch sie sehr getroffen hatte, führte Katie doch ihr Leben weiter. Ging ihren Weg. Katie hatte sehr darunter gelitten, aber sie war nicht alleine. Dominic, ihr Freund, hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes aufgefangen. Sie waren füreinander da gewesen. Hielten sich gegenseitig, stützten sich. Ihre Liebe war nur noch stärker geworden, wenn das überhaupt möglich war. Natürlich vermissten sie Will auch und dachten bestimmt oft an ihn. Aber sie hatten gelernt, damit umzugehen. Und so konnten und durften sie beide glücklich weiterleben. Denn das waren sie. Glücklich miteinander. Sie hatten es verdient. Beide waren gute Menschen. Die besten. Wie Will.
Ich hatte sie nicht verdient.
Es klingelte, und Katie tänzelte Richtung Flur. Ich hörte ein großes Hallo und Wiedersehensfreude. Ich atmete tief ein. Okay, ich würde diesen Abend durchstehen. Seit Wills Tod hatte ich an zwei oder drei Treffen unserer Clique teilgenommen. Vor den meisten Begegnungen hatte ich mich drücken können. Und zu sagen, ich hätte teilgenommen, okay, das war vielleicht zu viel. Ich war eher anwesend. Mehr nicht. Schaute mit leerem Blick in mein Glas und blendete alles aus. Meistens reichte das den anderen. Und wenn ich diesen Abend geschafft hätte, wäre Katie wieder ein paar Wochen beruhigt.
Also würde ich tapfer sein. Katie zuliebe. Aber später würde ich mich in mein Bett verkriechen, und vergeblich versuchen, mal eine Nacht ohne Albträume zu haben.
Ich hörte näher kommende Schritte und vertraute Stimmen. Noch einmal schloss ich meine Augen, atmete tief ein. Unter größter Anstrengung zwang ich mir ein Lächeln auf mein Gesicht, öffnete meine Augen und drehte mich zur Tür.
Alison:
Die Tür zum Flur öffnete sich, und als Erste kam Katie wieder herein. Sie zog Dominic hinter sich her. Katie und er waren schon seit über zwei Jahren zusammen. Schon im ersten Semester hatten sie sich kennen- und lieben gelernt und seitdem kaum einen Tag ohne den anderen verbracht. Dominic lächelte mich freundlich an.
»Hallo, Alison!«, begrüßte er mich mit ruhiger Stimme. Dominic war das komplette Gegenteil von Katie. Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Katie, die ständig plappernde, wohlgerundete Rothaarige. Und Dominic, groß, schlank, mit kurzen braunen Haaren. Katies Ruhepol, der sie so liebte, wie sie war. Manchmal wirkte Dominic auf mich wie ein Planet, der ruhig seine Bahnen durchs Universum zog, und Katie war der kleine Mond, der um ihn herum kreiste.
Ich erhob mich vom Stuhl, begrüßte Dominic und auch Rebecca, die nach ihm durch die Tür kam. Sie umarmte mich, hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Rebecca war der Inbegriff der klassischen Schönheit. Schwarze lange Locken, und ein bildschönes Gesicht mit grünen Augen. Ich kannte sie schon seit unserer gemeinsamen Schulzeit. Rebecca war ein guter Mensch, sie war für ihre Freunde da und verteidigte sie wie eine Löwin. Aber sie war auch die klassische Ballkönigin, die alle bewunderten, der alle nacheiferten. Ich war die graue Maus. Hellbraune, schulterlange Haare, braune Augen in einem ovalen Gesicht. Die Freundin, die keiner sah. Neben Rebecca und auch Katie war ich unscheinbar, wurde nicht mal wahrgenommen.
Erst durch Will veränderte sich etwas. Ich veränderte mich. Ich war nicht länger unsichtbar. Wills Liebe erfüllte mich, ließ mich von innen heraus strahlen. Durch ihn fühlte ich mich vollkommen. Und nun war ich zerbrochen. In tausend Stücke. Wie eine Vase, die man achtlos fallen gelassen hatte.
Hinter Rebecca kam Kevin, ein unheimlich großer Kerl. Der einzige »Nicht-Student« unter uns. Kevin arbeitete als Kfz-Mechaniker in der Stadt. Letzten Herbst fuhr Rebecca ihren, von Papa gesponserten BMW–Z3 zur Inspektion in Kevins Werkstatt. Ich konnte es genau vor mir sehen, wie Kevin mit ölverschmierten Händen, das T-Shirt eng um seine Muskeln gespannt, auf Rebecca zuging. Was anfangs pure Leidenschaft war, wurde bald zu inniger Liebe und zu Rebeccas bisher längster Beziehung. Damit kannte Kevin Will am kürzesten von uns allen.
Ganz im Gegenteil zu demjenigen, der nun das Esszimmer betrat. Liam. Ich senkte meinen Blick, konnte ihm nicht in die Augen schauen. Aus Angst vor dem, was ich sehen könnte. Nach Wills Beerdigung hatte ich Liam vielleicht dreimal gesehen. Auch er versuchte anscheinend, diese Treffen unserer alten Clique zu vermeiden. Wer konnte ihm das verübeln? Hatte er doch mit Will einen der wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren. Seinen Bruder. Und genau deshalb konnte ich ihn nicht anschauen. Ich wich ihm aus, ging ihm, so gut es ging, aus dem Weg. Schwänzte unsere gemeinsamen Vorlesungen. Und das, obwohl er doch mein bester Freund war. Oder es zumindest früher gewesen war. Durch Liam hatte ich Will erst kennengelernt. Wahrscheinlich wünschte Liam sich heute, er hätte uns nie bekannt gemacht. Dann würde Will heute vielleicht noch leben. Aber so war es eben nicht gewesen.
Liam und ich hatten uns erst in der Uni kennengelernt und einige Vorlesungen zusammen besucht. Mit der Zeit wurde er, neben Katie, zu meinem besten Freund, und unser kleiner, feiner Freundeskreis immer größer. Erst Katie, Rebecca und ich, dann Dominic, Liam und Kevin. Und schließlich Will. Nachdem Will es endlich geschafft hatte, an derselben Uni wie sein Bruder einen Studienplatz zu erhalten. Ich lernte Will kennen und lieben. Auf den ersten Blick.
Meine Gedanken flogen zu dem Moment, als ich Will das erste Mal erblickt hatte. Auf der Geburtstagsparty von Dominic. Ich konnte ihn immer noch genau vor mir sehen. In Jeans und weißem Hemd. Ein ansteckendes Grinsen auf den Lippen. Graugrüne, blitzende Augen. Blonde Locken. Ich glaube, ich habe ihn damals wirklich mit offenem Mund angestarrt. Und es war kaum zu glauben, aber er sah mich. Nur mich. Nicht Rebecca oder eine der anderen hübschen Studentinnen, die sich auf der Party tummelten. Nachdem Liam uns vorgestellt hatte, tanzten wir den ganzen Abend zusammen, blendeten die Welt um uns aus. Nur wir beide. Ich konnte noch immer seinen Atem auf mir fühlen, sein Parfüm riechen. Ich spürte immer noch den Stoff seines Hemdes unter meinen Händen. Und ich hörte immer noch seine Antwort auf meine geflüsterte Frage:
»Wo bist du nur gewesen?«
»Auf der Suche nach dir!«
Ich kniff mit verzerrtem Gesicht meine Augen zu. All dies ging mir durch den Kopf, als Liam den Raum betrat. Vielleicht war das Teil meiner Strafe. Immer wieder an Will erinnert zu werden.
Alle setzten sich, und Katie, ganz die perfekte Gastgeberin, verteilte Wein und Kekse. Es war noch zu früh für ein Abendessen, aber ich ahnte schon, dass der Abend mit Pizza auf dem Sofa enden würde.
Liam schien sich auch etwas unbehaglich zu fühlen. Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. In unbeobachteten Momenten warf ich immer wieder einen vorsichtigen Blick auf ihn. Er sah ganz anders aus als sein Bruder. Er hatte dunkelbraune Haare, die ihm in die hellblauen Augen fielen. Irgendwann mal hatte er mir erzählt, dass seine Frisur Short Shag Style genannt werde, und sein Bruder hatte ihn dann geneckt, er sei ein eitler Pfau. Und wie immer hatte es in einem Gerangel geendet. Ich verlor mich in der Erinnerung. Sah, wie beide miteinander kämpften, und lachten. Liam hatte das gleiche ansteckende Lachen wie Will. Ich sehnte mich sehr nach diesem Lachen. Und nach meinem besten Freund. Ich vermisste Liam fast so sehr wie Will.
Liam schaute plötzlich auf. Und ich war mal wieder zu sehr in Gedanken versunken, um zu reagieren. Er blickte mich ruhig an. Ich sah schnell weg. Schloss meine Augen und atmete tief ein. Nein, heute war Schluss. Wenn Liam die Kraft hatte, hierherzukommen, sich mit mir an einen Tisch zu setzen und mich anzuschauen, dann war ich es ihm wohl auch schuldig, ihm in die Augen zu sehen und alles zu ertragen.
Ich öffnete meine Augenlider, und begegnete Liams Blick. Ich erwartete die geballte Wucht an Gefühlen. Seine unbändige Wut, seinen tiefen Schmerz. Aber stattdessen blickte ich in traurige, aber auch besorgte Augen. Besorgt? Um wen? Um sich? Mich?
Verwirrt und sehr aufgewühlt erhob ich mich, riss mich von seinem fesselnden Blick los, und verschwand durch die Balkontür. Die Gespräche verstummten, und ich wusste, alle sahen mir hinterher. Ich hörte nur noch Katies Stimme:
»Ich schaue mal nach.«
Ich stand am Balkongeländer, krallte mich fest, suchte Halt. Die kalte Luft strömte in meine Lungen, kühlte mein erhitztes Gesicht. Ich blickte mit offenen Augen in die Dunkelheit. Jemand öffnete leise die Tür und schloss sie fast lautlos. Schon erwartete ich Katies Hand auf meiner Schulter und ihre helle Stimme. Doch mein Herz blieb fast stehen, als eine tiefe, immer noch sehr vertraute Stimme mich ansprach.
»Alison?«
Oh mein Gott! Von all meinen Freunden musste ausgerechnet ER mir hinterhergehen. Ich schluckte hart, schaute weiterhin in die Dunkelheit.
»Wie geht es dir?«, fragte Liam mit samtiger Stimme. Ich zögerte, drehte ihm aber dann doch meinen Kopf zu. Besorgt sah er mich an. MICH! Die doch an allem schuld war. Einen kurzen Moment war ich wütend. Ich hatte seine Fürsorge nicht verdient. Doch mein Herz lechzte nach Zuwendung. Es war zu lange alleine gewesen. Mit all meinem Schmerz und meiner Trauer.
»Gut.« Die Lüge ging mir inzwischen locker von den Lippen. Und die wenigsten fragten wirklich nach der Wahrheit. Die meisten wollten lieber die bequeme Lüge hören, damit sie zur Tagesordnung übergehen konnten. Doch Liam konnte ich nicht belügen. Er durchschaute mich. Vor allem aber gab er sich nicht mit der Lüge zufrieden. Liam zog seine Augenbraue hoch, und fragte nochmals mit Nachdruck: »Wie geht es dir?«
Innerlich musste ich über seine Hartnäckigkeit lächeln. Wie sehr ich das vermisst hatte. Wie sehr ich ihn vermisst hatte. Und mein verkümmertes Herz regte sich etwas, als mir bewusst wurde, dass er wirklich um mich besorgt war. Dabei schmerzte sein Herz doch mindestens genauso.
Ich seufzte tief, und antwortete leise: »Wie dir. Ein schwerer Tag nach dem anderen.« Liam nickte wissend. Er stellte sich dicht neben mich an das Balkongeländer, legte seine Hände auf das Holz und schaute hinaus in den Abend. Sein Atem hinterließ kleine Wolken in der Kälte. Ich betrachtete sein Profil, seine gerade Nase, seine geschwungenen Lippen. Seine kleine Narbe über der linken Augenbraue, die er sich als Kind zugezogen hatte, als er auf seinem Bett rumgehüpft war, bis er sich seinen Kopf am Nachttisch aufgeschlagen hatte.
»Ich vermisse ihn«, flüsterte er so leise, dass ich ihn kaum verstand, aber dennoch gingen seine Worte mir tief ins Herz. Liam sah mich an. Abwartend, traurig. Ich senkte meinen Blick.
»Ich auch«, flüsterte ich zurück. Hektisch blinzelte ich mit den Augenlidern, um die Tränen zurückzudrängen. »Vermissen« beschrieb nicht mal annähernd meine Gefühle, oder eben auch Nicht-Gefühle. Denn ganz oft fühlte ich nichts mehr. War wie leer.
Liam drehte sich um, lehnte sich gegen die Balkonbrüstung, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute durch die Balkontür zu unseren Freunden. Ich drehte meinen Kopf und folgte seinem Blick. Rebecca saß auf Kevins Schoß, lachte Katie an. Ihre Hand ruhte auf seinem Nacken, kraulte ihn sanft. Mit seinem typischen Grinsen blickte Kevin in die Runde und amüsierte sich scheinbar köstlich. Dominic und Katie saßen ihnen gegenüber, dicht nebeneinander, Dominic hatte Katie den Arm umgelegt, und sie ihre Hand auf seinem Oberschenkel. Sie sahen alle sehr glücklich aus.
Wieder durchfuhr mich ein Gefühl. Neid. Wieso musste ausgerechnet mein Freund sterben? Wieso war ich diejenige, die hier draußen stand? Voller Trauer und Schuldgefühlen? Warum musste mich das Schicksal so treffen? Mit voller Wucht? Wie ein Schnellzug?
»Besonders an solchen Abenden wie heute.« Liams Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Wortlos starrte ich ihn an. Wartete darauf, dass er fortfuhr.
»Will hat solche Abende geliebt. Alle auf einem Haufen und er mittendrin.«
Ich lächelte leicht bei dem Bild, das vor meinem inneren Auge erschien. Ja, Will war gerne unter Menschen, vor allem unter seinen Freunden. Liam wandte sich vom Anblick der anderen ab, stellte sich wieder neben mich. Ganz nah. Unsere Arme berührten sich fast. Er lachte auf. Und ich beneidete ihn darum.
»Weißt du noch? Letztes Silvester? Als er auf seinem Stuhl rumhampelte, bis schließlich die Rückenlehne abgebrochen ist?« Oh ja, das wusste ich natürlich noch! Will war nach hinten vom Stuhl gefallen und mit dem Kopf an den Schrank geknallt. Er hatte sich eine Platzwunde am Hinterkopf zugezogen, die im Krankenhaus genäht werden musste. Und so erlebten wir Neujahr auf der Notaufnahme, zwischen Ärzten, Kranken-schwestern und anderen Patienten. Will fand das alles sehr lustig und meinte zu mir, die nicht sehr amüsiert war, dass ich auch eines Tages darüber lachen würde.
Nun, ich lachte zwar nicht, aber zum ersten Mal seit Monaten verzogen sich meine Lippen zu einem leichten Grinsen. Liam lächelte mich an. Ich wusste nicht, ob er es wegen der Erinnerung an Will machte oder weil er mich zum Grinsen gebracht hatte. Aber dankbar legte ich meine Hand auf seine. Obwohl er genau wie ich nur einen Pullover trug waren seine Finger warm, im Gegensatz zu meinen. Die waren eiskalt. Liam schaute hinab.
»Danke«, hauchte ich. Noch immer blickte er auf unsere Hände, ehe er sprach.
»Weißt du, was Will mal zu mir sagte?« Er stockte und wirkte plötzlich sehr unsicher. Es war eine rhetorische Frage, also wartete ich ab.
»Er sagte, dass es unsere ›Brüder-Aufgabe‹ sei, auf dich aufzupassen. Ich als dein bester Freund und Will als dein …« Er ließ den Satz unbeendet, und ich war ihm dankbar dafür. Liam hob seinen Kopf, sah mich eindringlich an.
»Ich habe meine Aufgabe in den letzten Monaten etwas vernachlässigt. Aber das werde ich nun ändern.«
Er drehte rasch seine Hand unter meiner, umfasste meine Finger und hielt sie fest. Langsam wurden sie wärmer. Ich lehnte mich an ihn und legte meinen Kopf an seine Schulter. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit, hatte ich das Gefühl, dass ich vielleicht doch ein wenig glücklich werden könnte. Denn mein bester Freund war wieder bei mir.
Liam:
Der gestrige Abend spukte mir noch durch den Kopf. Dabei hatte ich eigentlich gar nicht mitgewollt. Aber Katie konnte wirklich hartnäckig sein. Sie brachte Dominic dazu, mich abzuholen und mitzuschleifen. Als ich schließlich durch den Flur marschierte, ins Esszimmer von Katie und Alison, dachte ich nur daran, diesen Abend schnell hinter mich zu bringen. Aber dann sah ich Alison. Dieses Häufchen Elend. Sie wollte mir nicht in die Augen schauen. Oder konnte es nicht? Dabei wollte ich so gerne in ihre braunen Augen sehen. Denn dann würde ich wissen, wie es ihr geht. Den ganzen Abend suchte ich ihren Blick, doch sie wich mir ständig aus. Alison beteiligte sich nicht an den Gesprächen, starrte teilnahmslos auf den Fleck vor sich auf dem Tisch und warf nur hin und wieder einen vorsichtigen Blick zu mir. Jedes Mal senkte sie schnell wieder ihre Augen, versteckte sich hinter ihren schulterlangen braunen Haaren. Doch irgendwann hatte ich sie. Erschrocken sah sie mich an. Dann schob sie plötzlich ihren Stuhl nach hinten und verschwand zum Balkon hinaus. Katie wollte ihr nachgehen, aber ich kam ihr zuvor.
Auf dem Balkon stellte ich mich zu Alison. Schon lange war ich ihr nicht mehr so nahe gewesen. Ich konnte ihr Shampoo riechen. Ihre Trauer fühlen, die wie kleine Wellen von ihr ausgestrahlt wurde. Ich wollte wissen, wie es ihr geht. Wollte sie zum Reden bringen. Und sie log mich an. Ich glaube, sie hat mich noch nie belogen. Sie war so leicht zu durchschauen. Und das zeigte ich ihr auch.
Doch Alison zeigte mir auch, wie leicht ich zu durchschauen war. Sie hielt mir den sprichwörtlichen Spiegel vor. Und so standen wir da, endlos traurig. Nebeneinander, ganz nah und doch alleine. Ich hatte es so satt, alleine zu sein. Ich wollte endlich wieder mit Alison reden. Ihrer Stimme lauschen, dem Klang ihres Lachens. Mir fehlt ihre Nähe.
Ich hatte unsere Freunde betrachtet, die lachten und Spaß hatten. Wir standen wie Außenseiter draußen. Für die anderen ging das Leben weiter. Unseres stand still. In diesem Moment beschloss ich, dass wir wieder dazugehören sollten. Auch wir sollten wieder lachen dürfen. Ich wollte Alison zum Lachen bringen. Oder wenigstens zum Lächeln. Ich brauchte es so sehr, sie lächeln zu sehen. Ich wusste, wenn sie lächeln würde, würden wir es auch schaffen.
Und so erinnerte ich mich und sie an eine wirklich lustige Situation mit Will. Scheu grinste sie mich an. Die Erinnerung an Wills »Silvester-Stuhlsturz« war aber auch zu komisch. Alison musste grinsen, und ich tat es ihr gleich. Ich fühlte, wie das vernachlässigte Band zwischen uns wieder fester wurde.
Alison legte ihre Hand auf meine, und ich starrte nur erstaunt darauf. Noch zu Beginn des Abends konnte sie mich nicht ansehen, und nun berührte sie mich. Ich erzählte ihr von Wills »Brüder-Aufgabe«, und dass ich mich nun daran halten würde. Will hatte es damals anders ausgedrückt, als ich ihr gegenüber behauptete. Er hatte nicht von »aufpassen« gesprochen, sondern von »lieben«. Will hatte wohl doch irgendwie geahnt, dass ich mehr für Alison empfand, als gut für mich war.
Zurück bei den anderen lachten wir natürlich noch nicht mit. Zu tief saß noch der Schmerz. Aber die Heilung hatte endlich begonnen. Bei uns beiden. Wir schauten uns zwischendurch wissend an, ab und zu huschte ein verschwörerisches Lächeln über unsere Lippen.
Heute Morgen war ich seit langem mal wieder pünktlich auf dem Weg zur Uni. Ich hatte Alison gestern beim Abschied das Versprechen abgerungen, mit mir zur Vorlesung zu kommen.
Es hatte heute Nacht noch geregnet. Die Wege waren mit nassem Laub bedeckt. Es war so ein Tag, an dem es nicht richtig hell wurde. An dem man das Gefühl hatte, gar nicht richtig wach zu werden. Ich lief die Stufen zum Uni-Gebäude hoch. Und da stand sie. In ihre schwarze Jacke gehüllt, die Kapuze auf dem Kopf, die Tasche auf der Schulter, und suchte die Studentenmenge ab. Als Alison mich entdeckte, lächelte sie erleichtert.
»Hi!«, begrüßte ich sie, als ich bei ihr ankam.
»Hi!« Sie lächelte immer noch, und ich saugte es wie ein Lebenselixier auf.
»Sollen wir?« Ich wies Richtung Eingang. Alison nickte und hakte ihren Arm bei mir unter.
Punkt 1 »Mit Alison wieder zur Vorlesung gehen« erfüllt!
Letzte Nacht hatte ich mir geschworen, Alison nicht mehr so alleine zu lassen, so wie die letzten Monate. Ich hatte mir verschiedene Dinge überlegt, die ich tun wollte, um ihr zu helfen, um auch mir zu helfen. Vielleicht hoffte auch ein kleiner Teil in mir, ihr darüber näherzukommen. Aber ich wollte nicht so sehr über diesen Aspekt meiner Gefühle für Alison nachdenken. Denn ich konnte meinen Gedanken und Gefühlen nicht dorthin folgen. Denn ich wusste, wenn mein Bruder noch leben würde, dann wäre er mit Alison zusammen. Und nicht ich. Ich verachtete mich selbst für meine Liebe zu Alison. Es war, als würde ich meinen Bruder hintergehen.
Ich musste meine Zuneigung zu ihr in einem kleinen Teil meines Herzens einschließen. Damit ich der Freund sein konnte, den Alison brauchte.
Wir folgten der Vorlesung und gingen auch noch zur nächsten. Mittags aßen wir etwas in der Cafeteria, diskutierten über das eben Gehörte. Es war fast wie früher. Jeder Außenstehende würde das sehr wahrscheinlich genauso sehen. Nur wer genau hinschaute, konnte die kleinen Risse in der Fassade entdecken, wenn Alisons Augen leer wurden und sie ganz abwesend wirkte. Wenn ihr Lächeln verschwand und die Trauer zu großwurde. Dann nahm ich ihre Hand und holte sie wieder zurück. Aus dem Schmerz zurück zu mir.
Nachmittags schleifte ich Alison in die Bibliothek zu unserer ehemaligen Lerngruppe. Mark, Ben und Christina freuten sich, uns zu sehen. Und nahmen uns selbstverständlich wieder in die Gruppe auf. Wir hatten einiges nachzuholen, doch die drei versprachen, uns zu helfen. So hatten wir den Rest des Nachmittages keine Zeit mehr für Trauer. Alison arbeitete fieberhaft mit, sie war ehrgeizig bei der Sache. Ich freute mich über ihre Anstrengung, aber auch ich hatte nicht weniger aufzuholen.
Es war zwar erst halb sechs, als wir die Uni-Bibliothek verließen, aber der Himmel schon dunkel. Es hatte wieder angefangen zu regnen, so dass wir alle unsere Kapuzen oder Regenschirme rauszogen. Wir verabschiedeten uns von unseren Kommilitonen.
Alison hakte sich bei mir unter, damit ich zu ihr unter den Regenschirm konnte. Eine Weile liefen wir schweigend über das Unigelände. Die Regentropfen fielen vom Schirm auf unsere Schultern.
»Und?«, fragte ich sie.
»Was und?«, kam auch schon prompt die Gegenfrage.
»Wie war dein Tag?« Ich hatte ein Lächeln auf meinen Lippen. Zaghaft lächelte sie zurück.
»Gar nicht so schlimm«, gab sie schließlich zu, schaute wieder vor sich auf den Boden.
»Ein Schritt nach dem anderen.«, murmelte ich. Ich zögerte vor meiner nächsten Frage, da ich ihre Reaktion diesmal überhaupt nicht einschätzen konnte.
»Ähm.« Ich räusperte mich, und sie sah mich wieder an. Fragend, mit gerunzelter Stirn.
»Alison?« Wieder stockte ich.
»Ja?«, hakte sie nach und lächelte mich ermutigend an.
»Meine Eltern haben nach dir gefragt.« Jetzt war es raus. Alison blieb ruckartig stehen. Entsetzt sah sie mich an. Okay, das war vielleicht doch zu früh gewesen.
»Was?«, hauchte sie kaum hörbar. Ich nahm schnell ihre Hand und drückte sie sachte.
»Ist schon okay. Sie wollen nur wissen, wie es dir geht«, versuchte ich sie zu beruhigen. Ich sah die Panik in ihren braunen Augen.
»Oh, äh …« Sie fing an zu stottern.
Mit meiner Hand umfasste ich ihr Kinn und zwang sie, mich anzusehen. »Alison. Es ist okay. Alles ist okay.«
»Ich kann nicht. Noch nicht.« Ihre Stimme war nur ein Flüstern.
»Das ist okay. Du musst ja auch nicht. Sie haben aber wohl noch ein paar Dinge von Will, die für dich bestimmt sind.« Sie versteifte sich.
»Du kannst sie haben, wann immer du willst. Wenn du bereit dafür bist«, fuhr ich fort. Alison nickte heftig, während sie diese Information in sich aufnahm. Ich legte ihr meinen Arm um und zog sie weiter. Schweigend gingen wir weiter durch die Stadt.
»Was sind das für Dinge?«, flüsterte sie plötzlich.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheits-gemäß. Den restlichen Weg bis zu ihrer Wohnung schwiegen wir. Sie zog ihre Wohnungsschlüssel aus der Jacke, stieg eine Stufe zur Tür hinauf.
»Gute Nacht, Alison!«
Sie sah mich nachdenklich an. Zögernd. »Sind sie böse auf mich?«, kam die Frage, die sie wohl die ganze Zeit beschäftigt hatte.
»Böse? Auf dich? Wieso sollten sie auf dich böse sein?«
Alison blieb mir die Antwort schuldig, und so fuhr ich fort: »Sie sind lediglich um dich besorgt. Du hast dich nicht bei ihnen gemeldet. Reagierst nicht auf ihre Anrufe.«
In Alisons Augen sammelten sich Tränen. Ich folgte ihr auf die Treppe und nahm sie in den Arm.
»Scht. Ist doch gut. Das sollte kein Vorwurf sein. Wirklich nicht. Sie wollen dich nur mal gerne wiedersehen«, flüsterte ich ihr ins Ohr. Alison schniefte kurz.
»Ich weiß nicht, ob ich das schon kann«, flüsterte sie zurück.
»Hey, ich komme mit. Ich bin bei dir. Okay?« Alison nickte kurz. Dann beschloss ich, ihr keine Rückzugsmöglichkeit zu lassen. Dachte, dass ein Sprung ins kalte Wasser vielleicht nicht schlecht wäre, und fuhr fort.
»Wie wäre es, wenn wir übermorgen zu ihnen fahren?« Alison zuckte in meinen Armen. Ich konnte ihre Angst spüren.
»Oh, ich weiß nicht. Übermorgen?« Sie drehte ihren Kopf zu mir, wischte sich mit dem Handrücken eine Träne von der Wange.
»Alison, ich bin bei dir. Ich passe auf dich auf. Hab ich doch versprochen.« Prüfend sah sie mir in die Augen, dann nickte sie langsam.
»Okay. Übermorgen.«
Ich gab ihr einen Kuss auf die Haare und ließ sie dann los. Wenn auch sehr unwillig. Aber ich war irgendwie stolz auf sie. Und den Besuch bei meinen Eltern würde sie auch schaffen. Da war ich mir sicher. Sie ging die drei Stufen hoch zur Tür, öffnete sie und drehte sich noch mal zu mir um.
»Gute Nacht, Liam!«
»Gute Nacht, Alison!« Sie verschwand im Haus. Und ich sah ihr mit klopfendem Herzen und ihrem Duft in der Nase hinterher.
Alison:
Je näher wir unserem Fahrtziel kamen, umso mehr klopfte mein Herz. Meine Magengegend war schon die reinste Schlangengrube. Immer tiefer versank ich im Leder des Autositzes. Am liebsten wäre ich umgekehrt. Wahrscheinlich hatte Liam mich durchschaut und deshalb darauf bestanden, dass er fuhr. Ich spürte seine prüfenden Blicke immer wieder auf mir. Aber ich schaute stur aus dem Wagenfenster, beobachtete, wie die Welt an uns vorüberflog. Hing meinen Gedanken nach. Ich versuchte mich darauf vorzubereiten, gleich Wills Eltern gegenüberzustehen. Aber es gelang mir nicht wirklich. Jane und Carl waren wirklich sehr liebe Menschen, und ich hatte mich immer wohlgefühlt bei ihnen. Doch war ich ihnen seit Wills Beerdigung nicht mehr gegenübergetreten. Ich wusste, dass sie mich damals bei der Planung des Begräbnisses mit einbeziehen wollten. Aber ich konnte es einfach nicht. Ich war ehrlich nicht in der Lage dazu gewesen.
Damals war ich ein Wrack. Mir hatte alles wehgetan. Meine roten Augen, meine aufgesprungenen Lippen, mein Kopf. Aber vor allem mein Herz. Ich hatte so viel geweint. Ununterbrochen. Ich hatte einfach nicht aufhören können. Ich versteckte mich in meinem Zimmer. Katie hatte von Zeit zu Zeit zaghaft an meine Tür geklopft, mich über Anrufe meiner Eltern, der Connors, informiert. Sie hatte mir Taschentücher und Suppe gebracht. Und immer wieder hatte sie einfach nur bei mir gesessen, mir über den Arm, den Rücken oder den Kopf gestrichen. Die ersten Nächte hatte Katie bei mir im Bett geschlafen. Sie weckte mich nachts, wenn Albträume mich plagten. Hielt mich im Arm, während mein Körper unter immer mehr Tränen erzitterte.
Am Tag der Beerdigung standen Katie und Rebecca in meinem Zimmer. Zerrten mich unter die Dusche, steckten mich in ein schwarzes Kleid und schleppten mich zum Friedhof. Dort hatte ich mich dann aber geweigert, mich nach vorne zu setzen. So hockte ich in der letzten Reihe zwischen Katie und Rebecca und lauschte dem Priester, der über Will sprach. Meinen Will. Er sprach über seine Lebensfreude, seinen Optimismus, sein Lächeln. Mein geliebtes Lächeln, welches ich immer noch vor Augen hatte, sobald ich sie schloss.
Nachdem alle weg waren, starrte ich in dieses Loch. Ich starrte den braunen Sarg an. Der Sarg, in dem Will lag. Und alles in mir hatte sich danach gesehnt, mich zu ihm zu legen. Seine Locken aus dem Gesicht zu streichen. In seine Augen zu sehen. Mich zerriss es bei dem Gedanken daran, dass er ganz alleine darin lag. Und gleichzeitig fühlte auch ich mich so entsetzlich alleine. Während ich auf die Blumen blickte, die im Schatten der Grube auf dem Sarg lagen, versiegten meine Tränen. Als wäre ich leer geweint. Ich hatte es geschafft, meine Gefühle tief in meinem Herzen zu verschließen.
Seitdem ging ich als scheinbar gefühlloser Zombie durch die Welt. Und es gab nur wenige Menschen, die das durchschauten. Meine Mum, Katie, manchmal Rebecca und natürlich Liam.