Baklava und andere Gelegenheiten - Sandra Busch - E-Book

Baklava und andere Gelegenheiten E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Integration. Das ist, was Samis Vater will. Deswegen sucht sich Sami in der Schule ein bevorzugtes Mobbing-Opfer, das er ungestraft piesacken kann – Chris. Dass sein Vater selbst nicht weiß, ob er sich wie ein Deutscher oder wie ein Türke verhalten soll und daher einen kunterbunten Mischmasch pflegt, macht es für Sami nicht leichter. Dagegen haben Chris‘ Eltern ein ganz anderes Ziel: Ein aufrechter Deutscher soll Chris werden, hart wie Kruppstahl und bloß nicht von der deutschen Norm abweichen. Wenn seine Eltern herausfänden, dass er schwul ist, wäre die Hölle los. Die Lawine beginnt zu rollen, als ein Brief von einem Notar eintrudelt und Chris erfährt, dass auch seine Eltern Geheimnisse vor ihm haben. Ca. 77.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ca. 375 Seiten.

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Integration. Das ist, was Samis Vater will. Deswegen sucht sich Sami in der Schule ein bevorzugtes Mobbing-Opfer, das er ungestraft piesacken kann – Chris.

Dass sein Vater selbst nicht weiß, ob er sich wie ein Deutscher oder wie ein Türke verhalten soll und daher einen kunterbunten Mischmasch pflegt, macht es für Sami nicht leichter.

 

Dagegen haben Chris‘ Eltern ein ganz anderes Ziel: Ein aufrechter Deutscher soll Chris werden, hart wie Kruppstahl und bloß nicht von der deutschen Norm abweichen.

Wenn seine Eltern herausfänden, dass er schwul ist, wäre die Hölle los.

Die Lawine beginnt zu rollen, als ein Brief von einem Notar eintrudelt und Chris erfährt, dass auch seine Eltern Geheimnisse vor ihm haben.

 

Ca. 77.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ca. 375 Seiten.

 

 

 

 

 

 

 

 

Baklava

und andere

 

Ein Roman von Sandra Gernt und Sandra Busch

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

 

 

 

 

Das schrille Klingeln war wie eine Erlösung, denn es läutete die Freiheit ein. Herr Wedeknecht, der sie eben noch hinsichtlich des zweiten Reichseinigungskrieges 1866 mit dem Sieg Preußens unter Bismarck mit geschichtlichen Daten gequält hatte, gab geschlagen auf, als Stühle verrückt und Bücher in Taschen gestopft wurden.

Morgen würde er Biologie unterrichten, was immerhin besser als Geschichte war. Fand jedenfalls Sami. Auch er packte seine Bücher ein und vergewisserte sich, dass sein Bruder Murat bereits auf dem Weg zur Tür war.

Murat war der Liebling ihres Vaters, der Vorzeigesohn. Er war zwei Jahre älter als Sami, dafür zweimal in der Grundschule sitzengeblieben. Sami empfand für seinen arroganten Bruder keine große Liebe, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Nach Hause würde Murat jetzt nicht gehen, sondern sich mit seinen dubiosen Freunden bei der Spielhalle treffen, wo sie mit ihren Markenklamotten von Amstaff und Fubu angeben würden und sich einfach bloß geil fanden.

Mit der Flut der anderen Schüler ließ sich Sami aus dem Gebäude treiben. Auf dem Schulhof verlief sich die Meute schnell. Einige würden die Eisdiele aufsuchen, andere wurden von ihren Eltern abgeholt und die nächsten wollten sofort ins Freibad, ehe es dort zu voll wurde. Für Mitte September war es noch richtig warm und sommerlich, lange würde das sicherlich nicht mehr vorhalten.

Sami musste nach Hause. Auf ihn wartete die Familie mit dem Mittagessen. Dagegen durfte Murat tun und lassen, was er wollte. Sami ging das gegen den Strich.

Vor ihm plumpste die Tasche eines Mitschülers zu Boden, als dieser über einen vereinsamten Turnschuh stolperte, den irgendjemand verloren hatte. Sami grinste, als er das wilde Armrudern beobachtete, und sein Grinsen wurde breiter, als er Chris erkannte, der sich ebenfalls in seinem Jahrgang befand. Chris, Außenseiter, Streber und sein beliebtes Ziel für kleine Späße. Schon bückte sich Chris nach seiner dunklen Ledertasche, doch Sami war schneller, bekam das gute Stück am Riemen zu packen und riss es an sich. Furchtsame Augen unter langen hellblonden Haarfransen richteten sich auf ihn.

„Du hast deine Tasche verloren, Opfer.“ Unsanft knallte er sie Chris vor die Brust, dass der ein paar Schritte rückwärts taumelte.

„D...d...danke“, stotterte der und presste die Tasche an sich.

„Du darfst mir auf Knien danken.“ Er hatte heute seinen großzügigen Tag.

Chris starrte ihn entgeistert an. „Bitte?“, fragte er nach.

Genervt verzog Sami das Gesicht, packte Chris am Kragen des hellblauen T-Shirts und stieß ihn gleich neben dem Rosenspalier des Hausmeisterhäuschens gegen die Wand.

„Du hast keine Ahnung, wie man sich richtig entschuldigt? Opfer, muss ich dir denn erst alles beibringen?“ Er trat näher an Chris heran, wohl wissend, dass sein trainierter Körper und die drohende Haltung sein Gegenüber einschüchterten. Tatsächlich lag bereits ein panisches Flackern in den tiefblauen Augen. Es waren ziemlich schöne Augen, wie Sami plötzlich feststellte. Verwirrt runzelte er die Stirn. Da traf ihn völlig unerwartet ein Knie zwischen den Beinen. Chris hatte sich erstmalig gewehrt. Zum Glück viel zu zaghaft, es tat kaum weh. Und am meisten schien sich Chris selbst über diese Tat zu erschrecken, denn er wurde von einer Sekunde auf die andere leichenblass.

„Opfer“, knurrte Sami. Er entriss Chris die Tasche, trat einen großen Schritt zurück und schleuderte sie auf das Dach des Hausmeisterhäuschens. Nun würde der Streber am Rosenspalier emporklettern müssen, wenn er sie zurückhaben wollte. Das war durchaus zu schaffen, er war selbst schon auf dem Dach gewesen. Lediglich die pikenden Dornen waren recht lästig.

„Du kannst echt froh sein, dass ich einen guten Tag habe, ansonsten wäre dein Kopf in der Kloschüssel gelandet“, brüllte er Chris an, der weiterhin leicht geduckt und zitternd vor ihm stand. Niemand griff ein. Die Lehrer waren um diese Zeit auf dem Weg zum Parkplatz und die Schüler, die wie er und sein Opfer den Hinterausgang der Schule nutzten, legten sich lieber nicht mit einem Türken an.

Deutscher, korrigierte sich Sami verbittert stumm. Schließlich war er in Deutschland geboren und hatte die deutsche Staatsangehörigkeit. Aber alle sahen in ihm nur den Türken. Er schenkte Chris einen letzten wütenden Blick und marschierte dann davon. Das Mittagessen wartete und sein Vater war nicht für seine Geduld bekannt.

 

 

„Hast dich rumgetrieben?“, begrüßte ihn sein Vater vorwurfsvoll, kaum dass er die ordentliche Wohnung betreten hatte. Ali Atakan saß bereits am Tisch und auch Samis jüngerer Bruder Alper hockte wartend auf seinem Platz. Als Sami an seinem Vater vorbeieilte, erhielt er einen unsanften Klaps gegen den Hinterkopf.

„Die Deutschen sind stets pünktlich“, erklärte sein Vater streng. „Ihr müsst euch integrieren.“

Integration!

Dass Sami nicht lachte. Er musterte das bunte Kopftuch seiner Mutter, die bloß schlechtes Deutsch sprach, weil Alper und er es ihr heimlich beigebracht hatten. Sein Vater war nämlich der Meinung, dass seine Mutter kein Deutsch können musste. Immerhin stand er der Familie vor und würde alle wichtigen Angelegenheiten regeln. Und nach ihm Murat, sein Liebling. Der integrierte sich ganz wunderbar, indem er jedes deutsche Mädchen poppte, das so dumm war, auf sein falsches Lächeln hereinzufallen. Dabei wartete in der Türkei bereits eine sechzehnjährige Braut darauf volljährig zu werden, um Murat heiraten zu dürfen. Sami hatte bisher lediglich ein Foto von Jelüde gesehen. Murat war dagegen nach Istanbul geflogen und von dort aus nach Karabük gefahren, um die Tochter des besten Freundes ihres Vaters kennenzulernen. Sie war ein hübsches Mädchen, schlank und zart wie ein Reh. Auch seine Mutter Ezgi war in ihrer Jugend schlank gewesen. Jetzt hockte sie in der Küche und wartete darauf, dass sie mit der Mahlzeit aus Hähnchenschlegel und Reis fertig wurden, damit sie selbst essen konnte.

Integration!

Seine Mutter war dick geworden. Zu viele Naschereien und zu wenig Bewegung. Seinem Vater gefiel es. Es zeigte schließlich jedem, dass er für seine Frau sorgen konnte. Sie durfte nur in Begleitung eines Mannes hinaus und in der Regel führte der Weg sie in den Supermarkt. Und zweimal die Woche fuhr der Vater sie zu ihren Freundinnen, die genauso dick wie Samis Mutter waren. Dann saßen sie in deren Küchen zusammen. Er hätte gerne gewusst, worüber sich die Frauen den ganzen Tag über unterhielten. Als die Freundinnen mal bei ihnen waren, hatte er an der Küchentür gelauscht und sich dafür von Murat eine eingefangen. Weiberkram hätte ihn nicht zu interessieren. So war das.

Integration!

Neben Murat, der sich jede Freiheit erlauben durfte, war Alper der glücklichere der Geschwister. In ihn wurden noch keine großen Erwartungen gesetzt. Alper war gut in der Schule, gut im Fußballverein, zu Hause still und folgsam. Er hatte ein paar deutsche Freunde, mit denen er sich prima verstand – was ihr Vater nicht wusste. Mit Türken traf er sich dagegen gar nicht – was ihr Vater ebenfalls nicht wusste.

Sami hatte seit der Grundschule überhaupt keine Freunde. Vor einem Jahr hatte er sich einige Male mit einem Schüler aus der Parallelklasse getroffen. Murat hatte Ole allerdings auf Geheiß seines Vaters schnell vertrieben.

„Brauchst keinen Deutschen. Gibt genügend Türken hier!“, hatte er lautstark getobt.

Integration!

Danach hatte sein Vater mehrmals versucht, ihn mit den Söhnen seiner Kumpel zusammenzubringen, die besser zu Murat gepasst hätten. Daher war es nicht verwunderlich, dass es von beiden Seiten kein Interesse an einem Wiedersehen gab. Irgendwann hatte sein Vater zum Glück aufgegeben.

 

 

„Pünktlichkeit ist eine Tugend.“ Wie Zinnsoldaten thronten Chris‘ Eltern am Esstisch, zwischen ihnen die riesige Suppenterrine mit dem zarten violetten Blümchenmuster.

„Entschuldigt. Ich bin sofort da. Ich muss bloß schnell die Hände waschen.“ Chris eilte ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Die Flüssigseife brannte in den zahlreichen Kratzern auf seinen Händen. Das Rosenspalier war die Hölle gewesen. Nach dem Essen würde er sich unbedingt ein paar Dornen aus den Handflächen operieren müssen, ehe sich die Stellen entzündeten. Auch sein Gesicht und der Hals hatten Schrammen davongetragen. Himmel! Er sah aus, als wäre er von einem Rasenmäher überfahren worden.

Opfer ...

Unwillkürlich zuckte er zusammen. Gott sei Dank war nicht mehr passiert. Sami hätte auch ganz anders reagieren können, als er ihn getreten hatte. Was war bloß in ihn gefahren? Sein Peiniger bestand lediglich aus Muskeln und Sehnen. Sein Körper war schlank, die Bauchmuskeln deutlich definiert. Ein herrlicher Anblick, wenn Schweißtropfen über den Waschbrettbauch rannen. Von dieser Szene träumte Chris seit einer Woche jede Nacht, nachdem er sie im Fitnessstudio live hatte erleben dürfen. Eindeutig zu erotisch. Und irgendwie pervers, wenn man bedachte, dass er Samis bevorzugtes Mobbingopfer war. Entweder hatte er einen ernstzunehmenden Schaden oder akuten Notstand, jungfräulich, wie er in fast jeder Hinsicht war.

Sami ging viermal die Woche trainieren. Chris inzwischen auch. Er hatte ein Jahr freie Mitgliedschaft bei einer Tombola gewonnen und war mittlerweile ziemlich froh darüber. Sein schlaksiger Körper hatte sich gefestigt, seine dürren Arme waren kräftiger geworden und er geriet nicht mehr so schnell aus der Puste. Nur sein Verstand schien seitdem gelitten zu haben, oder warum hatte er sich alle Mühe gegeben, Samis Eier zu zerquetschen?

Das Training hatte einen weiteren wunderbaren Effekt: seine Eltern waren zum ersten Mal wirklich stolz auf ihn. Weil er nämlich langsam wie ein richtiger deutscher Kerl aussah.

„Hart wie Kruppstahl müssen deutsche Männer sein“, pflegte sein Vater zu sagen. Wenn seine Eltern wüssten, dass er hauptsächlich gern ins Studio ging, weil es dort vor aufregenden Männerkörpern wimmelte, würden sie sehr, sehr erstaunt sein. Denn Chris war schwul. Seitdem er in die Pubertät gekommen war und er neben Joschi die Schulbank drücken musste, war ihm diese Tatsache bewusst. Mit Joschi hatte er die ersten zaghaften Küsse getauscht. Schon ein Jahr später war seine Knutschbeziehung weggezogen und damit die Möglichkeit weitere experimentelle Stufen zu erklimmen. Chris war mit seiner Homosexualität allein. Und sollten seine Eltern davon erfahren, würden sie auf der Stelle tot umfallen.

Als er von der Realschule in die Oberstufe der hiesigen Gesamtschule gewechselt war, hatte er sich diesen Schritt als Neuanfang vorgestellt. Weg von dem konservativen Mief seiner Eltern. Erwachsen werden. Coming Out. Erste Beziehungen. Erster Sex. Neue Freunde finden. Seine Zukunft planen. Endlich durchstarten!

Stattdessen hatte er nun gar keine Freunde mehr, weil die wenigen alten Kumpel Ausbildungen begonnen hatten oder in andere Schulen gingen. Er war achtzehn und von einem Coming Out weiter entfernt als von einem Sieg bei einem Marathonlauf. An seiner neuen Schule wurde er größtenteils ignoriert, mit Ausnahme von Sami. Nun gut, der ignorierte ihn auch größtenteils, doch alle paar Wochen fiel er über ihn her und schubste ihn herum. Kein schlimmes, wirklich unerträgliches Mobbing. Sami zerstörte nie sein Eigentum und verletzte ihn auch nicht körperlich. Ihm genügte es, ihn zu demütigen. Ihm zu zeigen, was Hilflosigkeit war. Chris hasste es aus tiefstem Herzen und dieser dämliche Idiot konnte ihm sowieso gestohlen bleiben!

Leider war Sami kein völliger Idiot, er hatte gute Noten. Nicht so gute wie Chris, aber er hatte keinen Leistungseinbruch gehabt wie viele andere, die mit dem Kopf noch in der Mittelstufe stecken geblieben waren. Die glaubten, dass Lehrer verpflichtet wären sie dran zu nehmen, auch wenn sie selbst nicht aufzeigten. Die Hausaufgaben für ein Angebot hielten, das man ablehnen konnte. Sie machten das dreizehnjährige Abitur, worüber Chris recht glücklich war. Der Stress-, Lern- und Hausaufgabenpegel war auch so hoch genug und es zeichnete sich bereits ab, dass es in der zwölften Klasse deutlich schlimmer als in der elften werden würde. Auf einem Gymnasium mit lediglich zwölf Jahren hätte er jedenfalls eher keine Zeit, noch nebenher mehrmals wöchentlich zum Sport zu gehen oder sonstige Freizeitaktivitäten zu pflegen. Nicht, dass er irgendwelche andere Hobbys hätte … Außer lernen, lesen, noch mehr lernen, noch mehr lesen und Computerspiele hatte er nichts. Sein Vater ging regelrecht kaputt daran. Schon allein, dass er das Abitur machen musste, empfand er als Schande. Sein Vater war Arbeiter in einem Aluminiumwerk gewesen, bis er mit kaputten Knochen berufsunfähig wurde. Mit Ende Vierzig hockte er nun den ganzen Tag zu Hause, schaute Fernsehen und trauerte der Zeit hinterher, als er noch aktiv Fußball gespielt und im Kegel- und Kleingärtnerverein gewesen war. Natürlich könnte er weiterhin dorthin gehen, aber er war ja krank. Da ging man nicht mehr kegeln, sondern höchstens zur alljährlichen Weihnachtsfeier, um zu viel Bier zu trinken und über die Schmerzen zu jammern. Dass Sport eine gute Methode gegen diese Schmerzen wäre, wollte er nicht hören.

Und Abitur, das war etwas für Professorenkinder. Für Idioten, die zwar in vier Sprachen Gedichte analysieren und rezitieren, dafür keinen Nagel gerade in die Wand schlagen konnten. Seiner Vorstellung nach gehörte ein Junge auf den Bau, in eine Fabrik oder aufs Feld. Vielleicht auch aufs Schlachtfeld. Ehrliche Arbeit für ehrliche Männer! Salz der Erde! Ärzte und Anwälte und all das Pack, das war eine Welt für sich. Da gehörte sein Sohn nicht rein, auch wenn der sich irgendwie durchgemogelt und für die Oberstufe qualifiziert hatte. Chris’ Mutter hatte mit sanften Tönen und erdrückendem Verständnis erklärt, dass die Zeiten sich geändert hatten. Dass eine Hauptschule nicht mehr wie damals zu ihren Zeiten funktionierte und man selbst als Schreiner oder Maler heutzutage am besten das Abi haben musste, um gute Chancen zu bekommen.

„Das liegt an all dem Ausländerpack und diesem EU-Scheiß! Die ganzen Polen und Ungarn und südländischen Betrüger, die kommen nach Deutschland, machen unsere Preise und die ehrliche deutsche Arbeit kaputt! Unser Geld wollen die haben, diese Blutsauger, diese dreckigen, sonst nichts!“

Endlose solcher Schimpftiraden hatte es gekostet, bis Chris den väterlichen Segen erhalten hatte, weiterlernen zu dürfen. Wofür genau, wusste er noch nicht. Seine guten Noten stammten vom Fleiß. Wirklich herausragende Talente besaß er keine. Sprachen lagen ihm mehr als Naturwissenschaften, studieren wollte er sie nicht. Kunst war nicht sein Ding, genauso wenig wie Handwerk. Sport auch nicht, obwohl er recht flink und beweglich sein konnte, wenn er musste. Mit Menschen arbeiten wollte er nicht wirklich, darum schieden alle medizinischen und sozialen Berufe aus. Irgendwann sollte er ein Ziel ins Auge fassen. Ein anderes außer möglichst schnell von seinen Eltern wegzukommen.

Noch hatte er etwas Zeit. Zum Glück.

Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und setzte sich still auf seinen Platz.

„Du musst wirklich sehen, dass du pünktlicher nach Hause kommst. Wir warten immer mit dem Essen auf dich, trotz deines ständig wechselnden Unterrichtsplans.“ Der leise Tadel seiner Mutter war schmerzlicher als das ewige Gepoltere seines Vaters. Die Kratzer kommentierte sie nicht, falls sie diese überhaupt bemerkte.

„Ich hab ja schon einmal gesagt, dass ihr ruhig ohne mich essen könntet“, murmelte Chris hoffnungslos. Seine Mutter glaubte fest daran, dass das Abendland unterging, wenn eine Familie nicht täglich eine warme Mahlzeit gemeinsam einnahm. „Manchmal muss ich länger bleiben. Referate und Gemeinschaftsarbeiten absprechen und so. Das wird auch in der zwölf nicht weniger werden.“ Stimmte zwar nicht, weil sie kaum noch Gruppenreferate machen mussten, aber das wollte er nicht bei Tisch erörtern. Sein Vater hasste es, von diesen neumodischen Unterrichtsmethoden zu hören. Damals hatte es schließlich auch bloß Frontalunterricht gegeben und vielleicht einmal im Jahr eine Gruppenarbeit. In Religion, das zählte nicht.

Ein Satz, auf den Chris’ Mutter jedes Mal zuverlässig ansprang. Immerhin arbeitete sie ehrenamtlich für die katholische Gemeinde, besuchte alte Leute, half ihnen beim Einkaufen, bei Arzt- und Behördengängen, schmückte die Kirche für Hochzeiten, organisierte Wohltätigkeitsbasare und sonstige Veranstaltungen mit. In dieser Arbeit ging sie so stark auf, dass sie manchmal kaum daheim war. Chris konnte es ihr nicht verübeln, er würde auch jede Ausrede nutzen, um nicht von früh bis spät mit seinem Vater zusammenhocken zu müssen.

„Gehst du bitte gleich zu Oma rüber?“, fragte seine Mutter in diesem Moment. „Natascha hat um fünfzehn Uhr einen Friseurtermin, erinnerst du dich? Roland, du musst beim Arzt vorbei, dein Rezept abholen.“ Chris nickte seufzend. Natascha war eine Pflegekraft, die rund um die Uhr dafür sorgte, dass seine Großmutter keinen Unsinn anstellen konnte. Sie stammte aus Polen – Natascha, nicht die Oma – und war darum erheblich billiger als eine deutsche Krankenschwester. Nicht, dass man deutsche Kräfte finden würde, die in ein vollgekramtes Zimmer im chaotischen Haus einer schwer demenzkranken, wenn auch noch recht mobilen alten Dame einziehen würden. Dennoch fand Chris es lustig, dass sein Vater dieses Arrangement überhaupt in Betracht gezogen hatte. Wo polnische und ungarische und sonstig ausländische Betrüger doch ausschließlich lebten, um ehrliche deutsche Arbeiter ausbluten und verhungern zu lassen.

„Gehst du nachher wieder zum Sport?“, fragte sein Vater zwischen zwei Löffeln Kartoffelsuppe. Mit viel Speck, wie er es liebte. Es tat seiner Figur nicht gut, die in den letzten Jahren stetig weiter verfallen war. Sein Diabetes freute sich keineswegs darüber, genauso wie über das Bier, das zu jedem Mittag- und Abendessen dazu gehörte. Zwei Flaschen pro Tag, nicht mehr und nicht weniger. Kontrollierte Sucht. Ideal würde anders aussehen.

„Ja, ich wollte gegen zwanzig Uhr hin.“ Eine Uhrzeit, zu der Sami in den allermeisten Fällen bereits verschwunden war. Chris legte überhaupt keinen Wert darauf, mit diesem Angeber zusammenzustoßen. Zum Glück hatte der ihn noch nie bemerkt, da er sich gerne an den Hanteln und Kraftmaschinen austobte, während Chris nach möglichst kurzem Pflichtprogramm hinsichtlich Muskelaufbau mit Vorliebe wahlweise einen den Ellipsentrainer oder das Laufband besetzte. Hanteln waren nicht wirklich sein Ding, egal wie sehr er davon träumte, sich einen muskulösen Body zu zaubern. Na ja, es half auf jeden Fall, dass er ausdauernder und schneller wurde und vom Ellipsentrainer aus hatte er den besten Blick auf harte, schwitzende Kerle, die Gewichte stemmten.

„Junge, Frau Lengerling hat nach dir gefragt, ob du nicht vielleicht doch wieder in den Kirchenchor eintreten würdest“, murmelte seine Mutter. Sie hasste anhaltendes Schweigen beim Essen.

„Sorry, Mama, leider gar keine Zeit, du weißt ja.“ Chris schenkte ihr ein müdes Lächeln. Sie war klein, hager, zäh, ihre schwarzen Haare gefärbt, damit niemand die grauen Altersspuren sah. Das Blond hatte Chris von seinem Vater geerbt, das sanfte Wesen von ihr. Hätte schlimmer sein können …

„Du hattest früher Spaß am Chor.“ Ein zarter Vorwurf, damit kam er klar.

„Lass den Jungen, Barbara!“, polterte sein Vater. „Singerei ist nichts für einen Mann. Als er noch jünger war, okay, aber jetzt? Schlimm genug, dass er die halbe Zeit die Nase in die Bücher steckt wie ein Priesterzögling. Hab ich auch nicht und aus mir ist trotzdem was geworden!“

Yupp. Ein rassistischer, kleingeistiger Krüppel, der nur noch motzt und schimpft, alles schlecht und falsch findet und noch schlimmer an der Vergangenheit festklammert als seine demente Mutter. Diesen Gedanken sprach Chris selbstverständlich nicht laut aus. Stattdessen aß er auf, räumte den Tisch ab, stellte das Geschirr in die Spülmaschine, bevor er mit seinen Geschichts- und Mathehausaufgaben unterm Arm zum Anbau hinüberstiefelte. Während des Oma-Sittings würde er sicherlich Zeit für Geschichtsanalysen und Integralberechnung finden.

 

 

„Gunther, bist du das?“ Die zittrige, dünne Stimme von Oma Marianne klang verängstigt. Sie war ein junges Mädchen gewesen, als der zweite Weltkrieg ihre Familie auseinandergerissen und sie zur zweimaligen Flucht durch ganz Deutschland gezwungen hatte. Ihre Krankheit war inzwischen so stark fortgeschritten, dass sie bis auf sehr seltene Lichtmomente ausschließlich in dieser Vergangenheit lebte. Eine Vergangenheit, die von Angst und Hunger geprägt war. Ihr die Gegenwart aufzuzwingen war dumm und brachte nichts, darum rief Chris: „Ja, ich bin’s, keine Sorge.“ Gunther war der zwei Jahre ältere Bruder seiner Oma gewesen, der in den letzten Kriegstagen an der Front gefallen war. Davon wusste sie nichts mehr, darum entspannte sie sich in ihrem Fernsehsessel. Das gewaltige Möbelstück inmitten des kleinen, vollgestopften Raumes wirkte, als wolle es die winzige, knochige alte Frau in ihrem blauen Kittelkleid auffressen. Zu groß, zu wuchtig und vollkommen sinnlos war dieses Ding, da seine Oma wirklich nie den Fernseher anschaltete. Sie ertrug keine bunten, bewegten Bilder, seit sie erkrankt war. Aus irgendeinem Grund hatte Chris’ Vater geglaubt, dass seine Mutter diesen Sessel zu einem modernen Flachbildschirm dringend benötigte, darum hatte er beides gekauft. Vielleicht war es auch bloß dazu gedacht gewesen, Natascha einzuschüchtern, was ebenfalls eine schwachsinnige Idee wäre. Seine Oma konnte manchmal sehr agil sein und völlig normal wirkende Unterhaltungen führen. Dann blitzte ihre alte Persönlichkeit durch, die einer starken Frau, die gelernte Näherin gewesen war, mit Leib und Seele gekocht und gebacken, gesungen und getanzt hatte. Die Chris als kleinen Jungen Märchen vorgelesen, ihm bei Handarbeitsaufgaben für die Schule geholfen und gemeinsam mit ihm jeden Advent Plätzchen gebacken hatte. Die ihr Haus mit Porzellan und Vasen, Blumen, Büchern, Kissen, selbstgenähten Patchworkdecken und Sammelfiguren bis in die kleinste Ecke gefüllt hatte. Die meiste Zeit aber saß sie einfach still in diesem Sessel, starrte ins Leere und rührte sich nicht, außer um ohne erkennbaren Grund zu schreien, zu weinen oder sinnlose Dinge zu rufen. Heute schien sie einen guten Tag zu haben. Sie nestelte an ihren Kittelknöpfen herum und machte einen recht lebhaften und anwesenden Eindruck.

„Gut, dass du da bist. Immer pünktlich!“ Natascha war größer als er, kräftig, blond und notorisch fleißig. Sie wuschelte liebevoll durch Chris’ Haare, als wäre er ein Fünfjähriger, während sie ihre Sachen zusammenpackte und dabei vor sich hinschwätzte.

„Deine Oma hat Schläfchen gemacht. Braves Mädchen. Gut gegessen. Sie isst immer gut, egal, was ich koche. Immer zufrieden, immer lieb. Ich beeil mich, ja? Nur kurz Friseur und einkaufen. Kuchen ist im Kühlschrank, du müssen mehr essen. Machst noch Sport, ja? Bist dünner geworden in die Gesicht, sieht krank aus. Musst essen, du wächst ja noch! Nicht zu viel lernen, viel Sonne! Jungs brauchen Sonne und Bewegung. Gib deiner Oma von die roten Tee, sie trinken nicht genug. So, tschüss, Marianne, sei braves Mädchen!“ Sie gab seiner Oma einen herzhaften Kuss auf die Stirn, die sich das mit einem weltvergessenen Lächeln gefallen ließ, wuschelte Chris noch einmal durchs Haar und stürmte dann mit genug Elan aus dem Haus, als wolle sie zur Eroberung Frankreichs schreiten. Mindestens.

„Ist sie weg?“, flüsterte Oma im Verschwörerton.

„Die Luft ist rein“, flüsterte Chris zurück, tätschelte seiner Oma die knochige, faltige und altersbefleckte Hand und schlug sein Geschichtsbuch auf.

„Hoffentlich verrät sie uns nicht bei der SS.“

Chris schaute von seinem Buch auf. „Warum sollte sie?“

„Wegen der Kohlen“, erklärte Oma, als wäre das selbstverständlich und er hätte selbst darauf kommen können.

„Kohlen?“

„Es wird kalt. Der Winter wird dieses Jahr garantiert richtig kalt. Da kommen ein paar zusätzliche Scheffel Kohlen gerade recht.“

„Ich glaube nicht, dass Natascha noch Extrakohlen benötigt. Magst du einen Tee?“

Oma schüttelte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Sie beobachtete, wie die Wolken vorbeizogen. Das tat sie gerne. Chris konzentrierte sich auf seine Hausaufgaben. Bestimmt eine Viertelstunde las er den öden Text, den der Wedeknecht ihnen aufgedrückt hatte.

„Gunther?“

„Hm?“

„Meinst du, ich könnte ein Marmeladenbrot essen?“

Chris erhob sich. „Soll ich dir eines schmieren?“

Oma kicherte. „Lass Mama nichts merken. Und mach dir auch eines.“

„Geht klar.“ Chris marschierte in die Küche und suchte sich Brot, Butter und die Marmelade zusammen. Oma naschte so gut wie gar nicht. Nur bei Marmeladenbroten wurde sie schwach. Da er ebenfalls Lust auf eines hatte, machte er sich ein Brot mit, schenkte den von Natascha vorbereiteten Tee in eine Tasse und brachte alles ins Wohnzimmer rüber. Dort hatte sich Oma Marianne sein Geschichtsbuch geschnappt und las aufmerksam darin. Dazu musste sie das Buch dicht vor die Augen halten, weil ihre Brille auf dem Schränkchen neben der Tür lag.Sie hatte einen wirklich guten Tag, eindeutig.

„Die Zeitung ist heute früh da. Es steht viel Interessantes darin“, erklärte sie fröhlich. „Endlich mal keine Propaganda. Wir können ja tauschen, wenn du den Teil dort durch hast, in Ordnung?“ Sie deutete auf das Mathebuch. Chris stellte Brote und Tee ab, holte ihr die Brille und küsste sie auf die faltige Wange. „Das ist Mathematik, Oma.“ Es sah so aus, als würde er Bismarcks glorreiche Stunden auf später verschieben müssen.

„Bah, in diesem Fall kannst du den ollen Wirtschaftsteil behalten. Ich bin ohnehin mehr für Klatsch und Tratsch.“ Oma nahm sich das Marmeladenbrot, biss winzige Happen davon ab und las munter weiter. Chris musterte sie eine Weile. Eigentlich könnte sie auch zum Friseur. Die bläuliche Tönung gehörte aufgefrischt und bestimmt tat ihr ein Spaziergang an der frischen Luft mal wieder gut.

„Oma?“

„Was gibt es denn, Gunther?“

„Magst du eine Runde raus?“

 

 

Mit der Sporttasche über der Schulter lief Sami durch den Park. Auf den Bus hatte er keine Lust gehabt, dazu war das Wetter einfach zu schön. Und sein Fahrrad hatte sich Murat genommen. Ungefragt. Wahrscheinlich ließ er es wie so oft irgendwo unabgeschlossen stehen und Sami durfte es dann in der ganzen Stadt suchen. Falls es geklaut wurde, würde er sich von seinem Vater eine einfangen. Nicht, weil Murat es sich genommen, sondern weil er es schon im Keller nicht abgeschlossen hatte. Dabei wusste doch jeder, dass die Deutschen wie verrückt in Keller einbrachen und Räder klauten. In Deutschland wurde viel geklaut. Klar, weil es in Karabük nichts gab, dachte Sami rebellisch. Alper hatte ihm sein Rad angeboten, das er aus Trotz abgelehnt hatte. Laufen war eh deutlich gesünder.

Plötzlich stockte er mitten im Schritt. War der helle Schopf, der sich da näherte, nicht Chris? Beinahe hätte er geschmunzelt, denn eingehakt in Chris‘ Arm lief eine alte Frau neben ihm her. Sie trug ein blaues Kleid und hatte ein gehäkeltes weinrotes Tuch um ihre Schultern gelegt. Ihr runzliges Gesicht strahlte in kindlicher Fröhlichkeit und sie machte Chris immer wieder auf eine der gepflanzten Veilchen aufmerksam. Chris hatte ein paar Kratzer auf der Stirn und weitere zierten seine Handrücken. Samis schlechtes Gewissen meldete sich. Er hatte seinen Mitschüler lediglich ein bisschen ärgern, aber nicht verletzen wollen. Da hatte er mit der Schultasche und dem Rosenspalier womöglich etwas übertrieben. Na ja, der Kleine würde es überleben.

Noch hatte ihn sein Lieblingsopfer nicht bemerkt, denn sie kamen einen anderen Weg entlangspaziert. Irgendwie niedlich, wie Chris mit sanften Gesten auf die Omi da einging. Sami lief ein Stück zurück, wo ihn ein ausladendes Gebüsch halb verbarg. Von hier aus konnte er die beiden eine kleine Weile beobachten.

Eine Gruppe Jugendlicher kam Chris und seiner Oma entgegen. Sie schubsten sich lachend hin und her. Sami runzelte die Stirn. Das war doch Murat, der Idiot, mit seinen dämlichen Freunden. Prompt rempelten sie bei ihrem Gerangel die Omi an, dass die beinahe gefallen wäre, wenn Chris sie nicht geistesgegenwärtig aufgefangen hätte. Sami verließ seinen Beobachtungsposten und begann zu laufen, denn wie vorhergesehen beschwerte sich Chris.

„Murat!“, brüllte Sami in der Hoffnung, seinen Bruder ablenken zu können. Vergeblich. Schon lag Chris am Boden und hielt sich die Nase, während Cemal hässlich lachte. Die Oma stand erschrocken daneben. Sami ließ seine Tasche fallen und rannte. Bevor Murat sein Lieblingsopfer treten konnte, sprang er ihn an. Im nächsten Moment rangelten sie miteinander, bis Murat ihn erkannte.

„Spinnst du?“, wurde er angeblafft. Erst jetzt mischten sich Cemal und Hakan ein und zogen sie auseinander.

„Was schubst du alte Omas herum?“, schnauzte Sami zurück und schüttelte sich von Cemal frei. „Das gehört sich nicht. Außerdem haue höchstens ich dem Kleinen eine in die Fresse. Such dir also einen anderen zum Fertigmachen. Und wo hast du mein Fahrrad gelassen?“

Murat klopfte sich den Staub von seiner stylischen Baggy. Er wirkte wie ein Riesenproll.

„Ey Mann, nerv nicht.“

Sami wurde geschubst und taumelte ein paar Schritte zurück, während Murats Freunde ihn blöde angrinsten. „Baba würde es nicht gutheißen, wie du mit alten Leuten umgehst.“ Das würde ihr Vater ganz sicher nicht. In der Türkei wurden alte Leute respektiert. Integration bedeutete nicht, dass man deutsche Omis anrempelte. Hinter ihm stöhnte Chris leise.

„Du meine Güte, Gunther! Ich glaube, wir haben Fliegeralarm.“

Alle drehten sich zu der Oma um, die sich ihr Häkeltuch über den Kopf gezogen hatte und sich duckte. Sie wirkte, als wollte sie gleich auf die nächste Bank zusprinten und sich darunter verkriechen.

„Komm, ziehen wir ab.“ Hakan packte Murat am Arm und zerrte ihn weiter. Sicherlich gingen sie zur Brücke, wo man lustige bunte Pillen erwerben konnte. Hakan war dafür bekannt, dass er Drogen vertickte. Wieso war Murat mit ihm zusammen? Sami konnte darüber nicht weiter nachdenken, denn Chris rappelte sich auf.

„Hey! Was ist nun mit meinem Rad?“, schrie Sami Murat hinterher – und bekam selbstverständlich keine Antwort.

„Ist dir was passiert, Oma?“ Chris zog ihr das Tuch vom Kopf und zuppelte es einhändig in die richtige Position zurück.

„Nein, nein. Der stattliche Soldat dort hat uns gerettet. Bedank dich recht schön, Gunther.“

Sami drehte sich zu den beiden um. Wer war Gunther?

Chris‘ Nase blutete leicht. Er fischte gerade in seiner Hose nach einem Taschentuch, das er sich ins Gesicht drückte. Die tiefblauen Augen schauten ihn über dem weißen Tempo hinweg mit einigem Erstaunen an.

„Ist sie gebrochen?“, fragte Sami.

Langsam schüttelte Chris den Kopf. „Möchtest du das nachholen?“

„Immer diese Soldaten“, schimpfte die Oma. „Ständig betrinken sie sich und ziehen hinterher pöbelnd durch die Straßen. Heutzutage darf ein anständiges Fräulein nicht mehr alleine auf die Straße. Gut, dass du da warst, Gunther. Wer ist denn der nette Herr?“

„Das ist Sami, Oma.“ Chris nuschelte es hinter dem Taschentuch hervor.

„Warum nennt sie dich Gunther?“, wollte Sami wissen.

„Sie ist demenzkrank. Was ist los mit dir, Sami? Hast du nicht Lust, das fortzusetzen, was dein Bruder angefangen hat? Bleibt doch in der Familie.“

So betrachtet hatte Chris recht. „Möchtest du etwa vermöbelt werden?“Die Oma blickte verwirrt zwischen ihnen hin und her.

„Natürlich nicht.“

„Murat soll sich hübsch von dir fernhalten. Du bist mein Opfer, dass das mal klar ist. Wenn dir einer Beine macht, dann ich. Verstanden?“

Chris starrte ihn an. Die Oma auch.

„Willst du mir den hübschen Soldaten nicht vorstellen? Vielleicht mag er heute Abend mit zum Tanzen kommen?“

„Ich glaube nicht, Oma.“

Plötzlich umfasste die Oma Samis Arm. „Aber auf ein Stückchen Kuchen können wir Sie sicherlich einladen? Bevor der nächste Alarm kommt?“

Die Oma hatte die gleichen blauen Augen wie Chris. Nur klimperte der ihn nicht mit seinen langen Wimpern an. Sollte er eventuell mal probieren. Sami schob den Gedanken hastig beiseite.

„Halt mir deine Oma vom Leib. Ich will zum Training“, zischte er in Chris‘ Richtung. Der löste folgsam Omas Hand von seinem Arm.

„Oma, was hältst du davon, wenn wir zu Hause noch ein Marmeladenbrot naschen, bevor Natascha zurück ist? Und ich muss noch die Zeit… die Matheaufgaben machen. Der Sami hat zu tun.“

„Ach, Sie müssen zurück an die Front, nicht wahr? Bleiben Sie gesund. Und ziehen Sie sich dicke Socken an. Es soll sehr kalt in Russland sein.“

Äh!

Ja!

Die Oma hatte bestimmt recht.

„Ignoriere es einfach“, flüsterte Chris durch das Taschentuch hindurch, das inzwischen einige rote Flecke aufwies.

„Leg den Kopf besser zwischen die Knie“, brummte Sami.

„Warum?“ Irritiert sah Chris ihn an.

„Damit das Nasenbluten aufhört und du morgen in die Schule kannst. Dann bekomme ich die Gelegenheit, deine Tasche erneut aufs Dach zu werfen. Denk daran, dir dicke Handschuhe einzupacken. Wegen der Dornen“, fügte Sami hinzu, drehte sich um und ließ den entgeisterten Chris samt seiner sonderbaren Oma zurück.

„Müssen wir die Natascha jetzt aus dem Bunker abholen?“, hörte er die Omi fragen.

„Nein, die ist doch beim Friseur. Komm, Oma, wir gehen.“

Sami hob seine Sporttasche auf und widerstand der Versuchung, sich zu den beiden umzudrehen. Stattdessen marschierte er endlich in Richtung Fitnessstudio. Während er ein paar Hanteln stemmte, konnte er sich Gedanken machen, wie er an sein Fahrrad kam. Und wie er Murat zukünftig von Chris fernhielt. Chris gehörte ihm. Er war sein höchstpersönliches Opfer.

Basta!

 

 

Chris setzte Oma Marianne gerade rechtzeitig in ihren Riesensessel, bevor Natascha zurückkehrte. Mit frisch geschnittenem Pony und deutliche fünf Zentimeter kürzer präsentierte sich die Blondine wie ein Model, eine Hand in die Hüften gestemmt, bevor sie sich einmal im Kreis drehte.

„Und? Finden hübsch?“

Chris nickte. „Der Pony steht dir.“

„Was mit Marianne? Warst du brav?“ Natascha tätschelte Oma die Hand.

„Wo ist meine Wolle, Mädchen? Und die Stricknadeln?“

„Im Handarbeitskorb. Willst du etwa stricken?“

„In Russland werden Füße schnell kalt“, informierte Oma sie. Ratsuchend wandte sich Marianne an Chris, der sich an die Matheaufgaben gesetzt hatte. „Wir waren spazieren und haben einen Klassenkameraden getroffen. Sie glaubt, er ist jetzt zurück an die russische Front“, berichtete Chris mit einem Seufzen.

„Und deine Nase wurde auch in Russland verbeult?“

Automatisch fasste er sich ins Gesicht. „Fällt es auf?“

Natascha lächelte. „Nicht sehr. Bringe dir gleich Eisbeutel. Gut?“

Chris nickte dankbar.

„Gunther, bist du das?“, brabbelte seine Oma mit geschlossenen Augen. Der Spaziergang hatte sie sicherlich sehr erschöpft, sie hielt sich meistens in ihrer kleinen Wohnung auf.

„Ich bin hier, alles ist bestens, Oma.“

„Ich finde Anna nicht. Wo ist Anna? Anna!“ Das war eine Freundin von ihr gewesen. Zwischen zwei Fliegeralarmen hatte Anna sich mit einer Tante in den Kopf gesetzt, Pfannkuchen backen zu müssen. Auf dem Land gab es noch ausreichend Mehl und wer eigene Hühner besaß, hatte auch Eier. Eine Woche lang waren sie fast ununterbrochen im Bunker eingesperrt gewesen und dort beinahe durchgedreht. Als die Tiefflieger zurückkehrten, kam der Alarm zu spät. Diejenigen, die lediglich frische Luft geschnappt und den Regen als Abwechslung genossen hatten, schafften es mühelos zurück in Sicherheit. Anna und ihre Tante hingegen wurden später in dem zerbombten Haus gefunden, unter Trümmern verschüttet. Seine Oma hatte im Gegensatz zu vielen anderen alten Leuten, die die grauenhaften Ereignisse von damals lieber totschwiegen, immer und immer wieder erzählt. Oft genug mit Tränen in den Augen, weil sie sich nie wirklich davon lösen konnte. Chris hatte ihr stets zugehört, auch wenn er die Geschichten schon auswendig kannte. Es half ihm nun einzuordnen, was sie mit ihrem Gebrabbel meinte. Er wünschte, sie hätte eine schönere Kindheit und Jugend erleben dürfen. Eine, bei der es nicht so schmerzlich war, darin feststecken zu müssen.

Hoffentlich würde es ihm im hohen Alter nicht ähnlich ergehen wie ihr. Auf ewig in der Erinnerung an seine Eltern festzustecken, wäre Höchststrafe!

Doch im Moment sorgte er sich mehr um die Gegenwart. Murat hatte ihn noch nie beachtet. Vermutlich hätte er ihn auch weiterhin ignoriert, selbst nach dem Zusammentreffen im Park vorhin. Sami mit seinem Besitzanspruch an ihn hatte dafür gesorgt, dass Murat sich ab sofort extrem für ihn interessieren würde. Allein schon, um seinem kleinen Bruder nichts zu gönnen. Und Sami selbst … Dieser Blick, mit dem er ihn gemustert hatte.

Du bist mein Opfer, dass das mal klar ist. Wenn dir einer Beine macht, dann ich. Verstanden?

Dieser Spinner! Ein Schauder lief über Chris’ Rücken. Natürlich würde Sami sich jetzt mit sehr viel mehr Ehrgeiz um ihn kümmern. Um seinem älteren Bruder zu zeigen, dass niemand ihm seinen Besitz wegnahm. Was der Besitz davon hielt, umkämpft zu werden, danach fragte niemand. Schlimmstenfalls standen ihm nun wirklich heftige Jahre bis zum Schulabschluss bevor.

Ach was, wird nicht weiter tragisch werden. Murat findet in zwei Tagen etwas Neues, was er interessanter findet, wie üblich. Und die Zwölf packt er sowieso nicht, der springt spätestens zum Halbjahresende komplett ab. Hat ja schon die elfte Klasse kaum geschafft. Und Sami …

Hastig schob Chris sämtliche Gedanken an diesen arroganten, muskelprotzigen Angeber beiseite. Nein, er wollte sich nicht ausmalen, was diese kräftigen Hände mit ihm anstellen könnten. Was er selbst auf den Knien liegend so alles anstellen könnte. Er wollte kein Besitz sein. Von BDSM und ähnlichem Zeug hielt er gar nichts und er wollte keinen Freund, der ihn mit Gewalt zu irgendetwas zwang. Der ihn anbrüllte wie sein Vater und Ohrfeigen verteilte. Er wollte einen sanften Lover, der sich um ihn bemühte. Mit dem er auf einer Augenhöhe stand.

Trübsinnig starrte er auf sein Mathebuch herab. Zugegeben, er war sexuell verzweifelt. Sein Körper platzte vor Hormonen. Einen anderen Grund konnte es nicht geben, dass er Samis straffen Hintern mitsamt dem restlichen Wahnsinnsbody nicht aus den Gedanken bekam. Dass er auf seine dunkle Stimme abfuhr und irgendein archaischer Teil von ihm es absolut erregend fand, wie sich dieser Kerl für ihn mit seinem verhassten Bruder angelegt hatte.

Sport, dachte er resignierend. Es war höchste Zeit für Sport. Sami war mit Sicherheit längst fertig im Studio, er konnte sich also gefahrlos auspowern gehen und anschließend schön kalt duschen.

 

 

Ein weiterer Schultag war überstanden. Chris amtete erleichtert auf. Sami hatte seinen Stuhl mit Kreide eingerieben, sodass er nach dem Hinsetzen weiße Flecken auf dem Hosenboden gehabt hatte. Ein geradezu lächerlicher Streich, der auf ein dickes Ende schließen ließ. Und Murat hatte glatte zwei Schulstunden damit verbracht, ihn mit Papierkügelchen zu bewerfen, von denen er bestimmt die Hälfte in den Kragen seines T-Shirts bekommen hatte. Zum Glück hatten sie recht wenige Kurse gemeinsam. Mit Murat traf er an zwei Tagen in der Woche zusammen, bei Sami waren es leider mehr Übereinstimmungen. In der Pause hatte Murat ihm dann ein Bein gestellt und beinahe hätte er sich tatsächlich auf die Schnauze gelegt. Mehr, als dass er sein Pausenbrot in den Dreck hatte fallen lassen, war zum Glück nicht passiert. Denn in diesem Moment war Sami aufgetaucht und hatte Murat eine Szene wegen irgendeinem Fahrrad gemacht. Beinahe wäre diese Auseinandersetzung in einer Schlägerei geendet, wenn Murat nicht die Pausenaufsicht bemerkt hätte, die aufmerksam geworden war.

Chris hätte immer gerne selbst Geschwister gehabt und lange Jahre diejenigen beneidet, die einen Bruder oder eine Schwester hatten. Wenn er allerdings Murat und Sami beobachtete, war er direkt froh, ein Einzelkind zu sein. Alper, der ebenfalls auf ihre Schule ging, war viel netter und aufgeschlossener. Bestimmt war der nur aus Versehen in diese Familie geraten.

Umständlich räumte Chris seine Schreibutensilien in die Ledertasche. Er war längst der Letzte, der noch im Klassenraum verweilte. Wenn er Glück hatte, waren alle gefährlichen Personen bereits auf dem Nachhauseweg. Vorsichtig streckte er den Kopf durch die Tür und spähte nach rechts und links, bevor er sich regelrecht zur Treppe schlich und dem Schulhof zustrebte. Eine Traube Schüler stand hinter dem Zaun, der das Schulareal von der Straße trennte, und warteten dort auf den Bus. Die Fahrradständer waren beinahe leer, die letzten Schüler holten sich da gerade ihre Drahtesel ab. Sami war nicht darunter. Er ging meistens zu Fuß zur Schule, wie Chris wusste. Die Hälfte des Weges hätten sie gemeinsam gehen können, wenn Sami nicht ein Arsch wäre. Zugegeben, er war ein attraktiver Arsch, aber immerhin ein Arsch! Und wieso dachte er schon wieder darüber nach, wie gut der Idiot aussah?

Chris schaute auf die Uhr. Er würde sich beeilen müssen, damit er nicht ein weiteres Mal zu spät nach Hause kam. Wie er seine Eltern kannte, hockten die längst am Tisch und starrten auf ihre leeren Teller. Er schulterte seine Tasche und marschierte los.

„Opfer!“

Oh nein!

Chris blieb stehen, drehte sich nicht um. Er biss sich verzweifelt auf die Unterlippe. Sami löste sich von der Wand des Hausmeisterhäuschens, an der er gelehnt hatte. Er hatte um die Ecke gestanden und dort in aller Seelenruhe auf ihn gewartet. Und er hatte seine Wachsamkeit aufgegeben, sich in Tagträume geflüchtet und war prompt in die Falle gelaufen.

„Scheiße“, flüsterte Chris.

„Was hast du gesagt, Opfer? Ich habe dich nicht verstanden.“ Sami trat an seine Seite und nahm ihm die Tasche ab. Chris überließ sie ihm ohne Gegenwehr. Was hätte ihm das eingebracht, außer ein paar zusätzliche blauen Flecken oder Kratzer?

„Murat ist schon weg. Cemal hat ihn abgeholt.“

Aha. Spannend. Sollte ihn das interessieren, mit wem Murat abhing? Ach so! Er brauchte demnach wohl nicht zu befürchten, dass Murat hinter der übernächsten Hausecke stand und auf ihn lauerte.

„Gunther? Schläfst du im Stehen?“

„Nenn mich nicht Gunther. Oma hat ihren Bruder sehr geliebt und er ist an der Front gefallen. Tote verhonepipelt man nicht.“

Sami schwieg dazu, ließ aber zu seiner Überraschung die Ledertasche fallen. Sie plumpste neben Chris‘ Füße auf den Asphalt.

„Strickt sie mir ein Paar Socken?“, fragte Sami ruhig.

Chris schüttelte den Kopf. „Sie geht gerne spazieren, ist anschließend aber jedes Mal völlig erschöpft. Sie sieht nicht, was wir sehen, sondern lebt in ihrer eigenen Welt. Dort herrscht jeden Tag Krieg.“

„Das ist bestimmt sehr anstrengend.“

Misstrauisch musterte Chris sein Gegenüber. Versuchte Sami etwa Anteil zu nehmen?

„Meine Großeltern leben in Karabük in einer Hochhaussiedlung. Sie kommen uns einmal im Jahr besuchen, um Neujahr mit uns zu feiern. Dann mäkeln sie dauernd daran herum, dass mein Vater nach Deutschland gegangen ist, wir es mit Ramadan nicht ganz so genau halten und wir zu Hause nicht ständig türkisch sprechen. Ich bin jedes Mal froh, wenn sie nach Hause fliegen.“

„Ich dachte, ihr Türken haltet es mit dem Fasten so akribisch.“

„Meine Eltern tun es auch. Murat, Alper und ich sollen allerdings vernünftig essen, damit wir in der Schule nicht schlappmachen.“

„Das tut Murat doch eh. Ob er nun fastet oder nicht“, brummte Chris.

Sami grinste. „Wenn er nicht bald zu pauken beginnt, kann er im Aldi die Regale einräumen.“

Vorsichtig bückte sich Chris nach seiner Tasche und hob sie auf. Sami erhob keine Einwände, was ihm komisch anmutete. Sie standen hier beieinander, als wären sie gute Freunde, unterhielten sich sogar. War das gerade verkehrte Welt?

„Ich … ich muss nach Hause. Meine Eltern …“

„Chris! Wo bleibst du?“

Wenn man vom Teufel sprach … Wie von Mr. Spock herbeigebeamt stand sein Vater am Zaun und starrte zu ihnen herüber. „Vertrödelst du deine Zeit mit dem Kanaken? Deine Mutter wartet. Beeil dich gefälligst.“

„Hat der mich gerade einen Kanaken genannt?“ Sami zischte vor Empörung. Dagegen begann Chris zu laufen, direkt auf seinen Vater zu, den er schnell am Arm packte und mit sich zog.

„Danke sehr. Ich kann noch alleine laufen. Du darfst mir in ein paar Jahren über die Straße helfen“, knurrte sein Vater unwirsch und machte sich los.

„Wie kannst du ihn bloß einen Kanaken nennen, Papa? Ich muss mit ihm noch eine Weile zur Schule gehen.“

„Das ist unerhört, dass anständige deutsche Kinder mit dem Ausländerpack in eine Klasse gesteckt werden. Die ziehen euch nur auf ihr billiges Niveau runter, fressen den lieben langen Tag Knoblauch und verstehen ohnehin nicht, was euer Lehrer von euch will. Am Ende landen die eh alle in einer Dönerbude und verkaufen diese merkwürdigen Teigtaschen. Und mit so jemandem treibt sich mein Sohn herum.“

Chris wurde unsanft am Ohr gepackt. „Au! Was soll das?“

„Du lässt deine Eltern mit dem Mittagessen warten, weil du dich mit diesem Kanaken abgibst. Hast du denn überhaupt keinen Respekt mehr? Ein aufrechter Deutscher beachtet diese Asylanten nicht einmal.“

Sein Ohr wurde schmerzhaft verdreht. Chris hob beinahe auf die Zehenspitzen ab. „Du tust mir weh“, keuchte er.

„Es wird noch viel mehr weh tun, wenn du dich wieder verspätest. Pünktlichkeit ist eine Tugend. Deine Mutter und ich haben versucht, dir unsere Werte beizubringen. Ich will nicht glauben, dass wir versagt haben. Vielleicht solltest du doch zu Frau Lengerling in den Kirchenchor gehen. Sie ist von deiner Stimme wirklich begeistert und versteht überhaupt nicht, warum du nicht mehr singen willst. Das wäre auf jeden Fall eine bessere Beschäftigung als das Fitnesscenter.“

Endlich wurde Chris losgelassen. Es war wirklich demütigend, am Ohr an den ganzen Passanten vorbeigezerrt zu werden. Wütend rieb er sich die schmerzende Stelle. „Das Fitnesscenter habe ich beim Kirchenbasar gewonnen“, erklärte er aufgebracht. „Also kann es ja so schlecht nicht sein. Außerdem hast du selbst gesagt, dass ich langsam Muskeln ansetze. Gestern hast du es jedenfalls noch gut gefunden.“

Sie waren zu Hause angekommen. Sein Vater schubste ihn in den Hauseingang und holte den Schlüssel hervor, um zu öffnen.

„Glaubst du, mit einem Spargeltarzan könnte man einen Krieg gewinnen?“, fragte er und gab ihm einen Wink voranzugehen.

„Krieg?“, brummelte Chris. „Was denn für einen Krieg? Reicht es nicht, dass Oma noch im Krieg ist? Ich bin Pazifist.“ Dabei schlug er dauernd irgendwelche Schlachten. Die gegen seine Eltern, gegen Murat, gegen Sami und gegen furchtbar erotische Träume. Vielleicht strickte Oma Marianne ihm Socken, damit er an die russische Front auswandern konnte.

 

 

Sami donnerte die Tür von seinem Spind zu, steckte den Schlüssel in die Tasche seiner Sporthose und verließ die Umkleide.

---ENDE DER LESEPROBE---