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Sind wir nur die Gestrandeten am Rand eines kalten, stumpfsinnigen Universums und das Produkt absurden Zufalls? Mark Hathaway und Leonardo Boff arbeiten in diesem Buch gründlich die Ergebnisse der neuen Kosmologie, der Quantenphysik, der Chaostheorie, der Biologie und der Geowissenschaften auf. Sie zeigen, dass der Prozess der Entwicklung des Kosmos selbst einen Sinn offenbart, dass unser Geist, unsere Liebesfähigkeit und unsere Empfindsamkeit im Kosmos selbst tief verankert sind. Der alten, deterministischen "Kosmologie der Herrschaft" setzen sie ein neues Verständnis des Kosmos selbst entgegen, dessen Tendenzen und Sinnstrukturen unser eigenes Ringen um eine lebensfreundliche Welt unterstützt. Kein geringerer als Fritjof Capra setzt sich für dieses Buch entschieden ein und hat ein ausführliches Vorwort beigesteuert. Der österreichische Physiker und Philosoph Capra lebt in Berkeley, Kalifornien, und ist einer der entscheidenden Brückenbauer zwischen Naturwissenschaften, Ökologie und Mystik. Etliche seiner zahlreichen Bücher (u.a. "Wendezeiten", "Das Lebensnetz", "Das Tao der Physik") wurden Weltbestseller.
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Seitenzahl: 1006
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Meiner Tochter Janila und meiner Frau Maritza,
die mich auf diesem Weg mit ihrer Liebe und ihrer Aufmunterung
unterstützt haben;
allen meinen Lehrern,
die mich mit ihrem Einsichtsvermögen und ihrer Weisheit inspiriert haben;
und dem lebendigen Kosmos,
dessen sich entfaltende Schönheit mich mit Ehrfurcht erfüllt.
Mark Hathaway
Mirian Vilela und Steven Rockefeller
für ihre tiefe Liebe zur lebendigen Erde
und für ihren wesentlichen Beitrag zur Verfassung der Erdcharta.
Leonardo Boff
Originalausgabe:
Mark Hathaway / Leonardo Boff, The Tao of Liberation. Exploring the Ecology of Transformation, Maryknoll, Orbis Books, New York 2009
© 2009 by Mark Hathaway and Leonardo Boff
Die E-Book-Ausgabe entspricht im Wesentlichen der ungekürzten Originalausgabe.
„Orientierung durch Diskurs“
Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Michael Albus, Christine Hober, Bruno Kern, Tobias Licht, Cornelia Möres, Susanne Sandherr und Marc Witzenbacher
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
E-Book (Mobi): ISBN 978-3-7666-4306-3
E-Pub: ISBN 3-978-3-7666-4304-9
© 2016 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer,
Deutschland, www.bube.de
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagabbildung: © ilcondor – Fotolia.com
Umschlaggestaltung: Christoph Kemkes, Geldern.
Satz: Schröder Media GbR, Dernbach
Printed in Germany
Inhalt
Vorwort (Fritjof Capra)
Über das Tao Te King
Prolog
1. In einer Zeit der Krise nach Weisheit streben
Die Krise der Erde: Eine kosmische Perspektive
Das Streben nach Weisheit
Die Erkundung der Hindernisse
Tiefer eintauchen: Kosmologie und Befreiung
Die Ökologie der Veränderung
Teil I: Erkundung der Hindernisse
2. Ein pathologisches System entlarven
Krankheitssymptome
Krebsartiges Wachstum
Verzerrte Entwicklung
Herrschaft der Konzerne
Ein parasitäres Finanzsystem
Monokultur des Geistes
Macht als Herrschaft
Von der Krankheit zur Gesundheit
3. Jenseits der Herrschaft
Tiefenökologie
Ökofeminismus
Die Ursprünge von Patriarchat und Anthropozentrismus
Der globale Kapitalismus: Ein androzentrisches System
Macht neu denken
4. Die Lähmung überwinden und die Psyche erneuern
Die Dynamik der Ohnmacht
Systemische Verstärkungen
Tiefer eintauchen: Perspektiven der Ökopsychologie
Von der Lähmung zur Wiederherstellung der Verbindung
Teil II: Kosmologie und Befreiung
5. Die Neuentdeckung der Kosmologie
Traditionelle Kosmologien
Der Verlust der Kosmologie im Westen
Kosmologie und Veränderung
6. Die Kosmologie der Herrschaft
Vom Organismus zur Maschine: Der Tod des lebendigen Kosmos
Das Ganze auf Teile reduzieren: Atomistischer Materialismus
Die Natur unterwerfen: Das Streben nach Kontrolle
Ewigkeit, Determinismus und Sinnverlust
Privater Vorteil, Fortschritt und das Überleben der am besten Angepassten
Eine Kosmologie der Ausbeutung und Verzweiflung
Jenseits des Mechanismus
7. Die Materie überschreiten: Der ganzheitliche Mikrokosmos
Dinglosigkeit
Radikale Relationalität
Die schwangere Leere
Die Immanenz des Geistes
Der holografische Kosmos
Quantenholismus
8. Komplexität, Chaos und Kreativität
Erkundung der Systemtheorie
Das Entstehen von Kreativität und Geist
Komplexität und Veränderung
9. Gedächtnis, morphische Resonanz und Emergenz
Der Widerhall des Gedächtnisses
Jenseits des genetischen Determinismus
Von ewigen Gesetzen zu sich entwickelnden Gewohnheiten
Kreativität und Veränderung
Morphische Resonanz und verändernde Praxis
10. Der Kosmos als Offenbarung
Kosmogenese
Die Entfaltung des Lebens
Gaia: Die lebendige Erde
Ein Gespür für Sinn
Die Weisheit des Kosmos
Das Menschsein neu erfinden
Die Erd-Charta als ein gemeinsamer Rahmen
Teil III: Das Tao der Befreiung
11. Spiritualität für das Ökozoikum
Spiritualität verstehen
Ökologie, Spiritualität und die christliche Tradition
Die Rolle der Religionen
12. Die Ökologie der Veränderung
Handeln im Gleichklang mit dem Tao
Eine neue Vision entwerfen
Ein vierfacher Pfad zur Befreiung
Die Reise fortsetzen
Literatur
Vorwort
Im Laufe unseres Jahrhunderts werden zwei Entwicklungen das künftige Wohl der Menschheit besonders stark beeinflussen. Die eine ist der Aufstieg des globalen Kapitalismus, und bei der anderen handelt es sich um die Schaffung nachhaltiger Gemeinschaften auf der Grundlage der Praxis des ökologischen Designs.
Der globale Kapitalismus hat es mit elektronischen Netzwerken des Finanz- und Informationsflusses zu tun, während sich das Ökodesign mit ökologischen Netzwerken des Energie- und Materialflusses beschäftigt. Das Ziel der globalen Wirtschaft in ihrer derzeitigen Form ist die Maximierung von Reichtum und Macht ihrer Eliten. Das Ziel des Ökodesigns hingegen ist es, die dauerhafte Tragfähigkeit des Lebensnetzes in höchstmöglicher Weise zu entwickeln. Diese beiden Szenarien befinden sich derzeit auf Kollisionskurs.
Die neue Ökonomie, die aus der informationstechnischen Revolution der letzten drei Jahrzehnte hervorging, organisiert sich weitgehend um Netzwerke von Finanzströmen. Hoch entwickelte Informations- und Kommunikationstechniken versetzten das Finanzkapital in die Lage, sich auf seiner rastlosen Suche nach Investitionsmöglichkeiten mit hoher Geschwindigkeit rund um den Globus zu bewegen. Das System stützt sich auf Computersteuerung, mit deren Hilfe die außerordentliche Komplexität bewältigt werden kann, wie sie aus der schnellen Deregulierung und einer verwirrenden Vielfalt neuer Finanzinstrumente heraus entstanden ist.
Diese Art von Ökonomie ist so komplex und von Turbulenzen geprägt, dass eine herkömmliche ökonomische Analyse an ihr scheitert. Die Zocker in diesem Kasino sind keine geheimnisvollen Spekulanten, sondern größere Investmentbanken, Pensionsfonds, transnationale Konzerne und Investmentfonds, die ausdrücklich zum Zweck der Finanzmanipulation geschaffen wurden. Der sogenannte globale Markt ist streng genommen überhaupt kein Markt, sondern vielmehr eine Maschine, die auf einen einzigen Zweck hin programmiert wurde, der alle anderen Werte ausschließt: Geld zu machen. Das heißt, dass die wirtschaftliche Globalisierung systematisch alle ethischen Dimensionen des Geschäftslebens ausgeblendet hat.
In den letzten Jahren wurden die sozialen und ökologischen Auswirkungen der Globalisierung von Wissenschaftlern und für das Gemeinwesen Verantwortlichen ausgiebig diskutiert. Deren Analysen machen deutlich, dass die neue Ökonomie eine Vielzahl miteinander verflochtener schädlicher Folgen hervorbringt. Sie hat einer Weltelite von Finanzspekulanten, Unternehmern und High-Tech-Spezialisten zu Reichtum verholfen. Ganz oben ist es zu einer bislang noch nie da gewesenen Akkumulation von Wohlstand gekommen. Doch insgesamt waren die sozialen und ökologischen Folgen katastrophal. Und wie wir an der Finanzkrise des Jahres 2008 erkennen konnten, hat diese neue Ökonomie auch den finanziellen Wohlstand der Menschen überall auf der Welt gefährdet.
Der neue globale Kapitalismus führte zu einer wachsenden sozialen Ungleichheit und zu gesellschaftlicher Ausgrenzung, zu einem Niedergang der Demokratie, zu einer noch schnelleren und immer weiter um sich greifenden Verschlechterung der natürlichen Lebensgrundlagen, zu wachsender Armut und Entfremdung. In der ganzen Welt hat er lokale Gemeinschaften bedroht und zerstört, und indem er eine falsch verstandene Biotechnik förderte, hat er sich an der Heiligkeit des Lebens selbst vergriffen: Er hat versucht, Vielfalt in Monokultur zu verwandeln, Ökologie zum Engineering verkommen zu lassen und das Leben selbst zur Ware zu degradieren.
Es ist zunehmend deutlich geworden, dass der globale Kapitalismus in seiner derzeitigen Gestalt weder sozial noch ökologisch, ja nicht einmal in finanzieller Hinsicht nachhaltig ist und von Grund auf umgestaltet werden muss. Das ihm zugrunde liegende Prinzip, dass das Geldmachen den Vorrang vor Menschenrechten, Demokratie, Schutz der Umwelt und jeglichem anderen Wert haben soll, ist ein Programm, das direkt in die Katastrophe mündet. Doch dieses Prinzip kann verändert werden. Es ist kein Naturgesetz. Dieselben elektronischen Netzwerke des Finanz- und Informationsflusses könnten im Sinne von anderen Werten programmiert werden. Der entscheidende Punkt ist nicht die Technik, sondern die Politik. Die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts wird darin bestehen, das der globalen Wirtschaft zugrunde liegende Wertesystem so zu ändern, dass es mit den Erfordernissen der Würde des Menschen und der ökologischen Nachhaltigkeit vereinbar ist.
Der Prozess der Umgestaltung der Globalisierung hat faktisch bereits begonnen. Zur Jahrhundertwende hat sich eine eindrucksvolle weltweite Koalition von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) genau zu diesem Zweck herausgebildet. Diese Koalition, die auch weltweite Bewegung für soziale Gerechtigkeit genannt wird, hat eine Reihe von erfolgreichen Protestveranstaltungen anlässlich der Treffen der WTO (Welthandelsorganisation), der G 7 und der G 8 organisiert und mehrere Weltsozialforen – meistens in Brasilien – veranstaltet. Bei diesen Treffen arbeiteten die NGOs eine ganze Reihe von Vorschlägen für eine alternative Handelspolitik aus, die auch konkrete und radikale Forderungen zur Umstrukturierung der globalen Finanzinstitutionen beinhalteten, welche den Charakter der Globalisierung tiefgreifend verändern würden.
Diese weltweite Bewegung für soziale Gerechtigkeit ist ein Beispiel für eine neue Art von politischer Bewegung, wie sie für unser Informationszeitalter typisch ist. Die professionelle Nutzung des Internets ermöglicht es den NGOs, sich miteinander zu vernetzen, Informationen auszutauschen und ihre Mitglieder in so kurzer Zeit wie nie zuvor zu mobilisieren. Aufgrund dessen wurden die neuen weltweiten NGOs zu effektiven politischen Akteuren, die unabhängig von den herkömmlichen nationalen oder internationalen Institutionen sind. Sie bilden einen neuen Typus der globalen Zivilgesellschaft.
Um den politischen Diskurs innerhalb einer systemischen und ökologischen Perspektive zu verorten, stützt sich die globale Zivilgesellschaft auf ein Netzwerk von Wissenschaftlern, Forschungsinstituten, „think tanks“ und Studienzentren, die weitgehend außerhalb unserer führenden akademischen Institutionen, kommerziellen Organisationen und von der Regierung abhängigen Trägern tätig sind. Heute gibt es Dutzende solcher Forschungs- und Studieneinrichtungen auf der ganzen Welt. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ihre Arbeit innerhalb eines ausdrücklich formulierten Rahmens gemeinsamer zentraler Werte durchführen.
Die meisten dieser Forschungseinrichtungen bilden Gemeinschaften von Wissenschaftlern und Aktivisten gleichermaßen, die sich in einer Vielzahl unterschiedlicher Projekte und Kampagnen engagieren. Dabei scheinen sich die größten und aktivsten Koalitionen an der Basis auf drei Themenbereiche zu konzentrieren. Der eine betrifft die Umgestaltung der herrschenden Spielregeln und Institutionen der Globalisierung; einen weiteren bildet der Widerstand gegen genetisch manipulierte Nahrungsmittel und die Förderung einer nachhaltigen Landwirtschaft; und der dritte ist das ökologische Design, das heißt ein konzertiertes Bemühen darum, unsere Infrastruktur, die Städte, die Technologien und Industrien so umzugestalten, dass sie ökologisch nachhaltig werden.
Im weitesten Sinne meint Design die Gestaltung von Energie- und Materialströmen für die Zwecke des Menschen. Ökologisches Design ist ein Prozess, im Verlauf dessen unsere menschlichen Zwecksetzungen sorgfältig mit den umfassenderen Mustern und Strömen der Natur verknüpft werden. Die Prinzipien des ökologischen Design bilden die Organisationsprinzipien ab, welche die Natur entwickelt hat, um das Gewebe des Lebens dauerhaft zu erhalten: ein steter Kreislaufstrom der Materie, die Nutzung von Sonnenenergie, eine Abkehr vom Bestreben herauszufinden, was wir der Natur entnehmen können, und eine Hinwendung zu dem, was wir von ihr lernen können.
In den letzten Jahren nahmen die Praktiken und Projekte eines ökologisch orientierten Designs einen enormen Aufschwung; sie alle sind inzwischen gut dokumentiert. Dazu zählen eine weltweite Renaissance ökologischer Landwirtschaft; die Neuorganisation verschiedener Industriezweige zu Einheiten, innerhalb derer der Abfall des einen die Ressource des anderen bildet; die Abkehr von einer am Produkt orientierten Wirtschaft hin zu einer an Dienstleistungen und Stoffströmen orientierten Wirtschaft, in welcher die industriellen Rohmaterialien und technischen Komponenten beständig zwischen Herstellern und Verbrauchern zirkulieren; Gebäude, die so gestaltet sind, dass sie mehr Energie erzeugen als verbrauchen (Passivenergiehäuser), keinen Abfall produzieren und ihren Betrieb aus eigenen Ressourcen aufrechterhalten; Autos mit Hybridantrieb, die gegenüber herkömmlichen Autos eine um ein Vielfaches effizientere Nutzung des Treibstoffs aufweisen, etc.
Diese Techniken und Projekte des Ökodesign setzen allesamt die Grundprinzipien der Ökologie um und weisen deshalb einige wesentliche Gemeinsamkeiten auf. Es sind tendenziell Projekte kleinen Zuschnitts, die eine reichhaltige Vielfalt aufweisen, die Energie effizient nutzen, keine Verschmutzung verursachen, am Gemeinwesen orientiert und arbeitsintensiv sind und damit eine Menge Arbeitsplätze schaffen. Die heute verfügbaren Techniken liefern den schlagenden Beweis dafür, dass der Übergang zu einer nachhaltigen Zukunft kein technisches oder konzeptionelles Problem mehr darstellt. Er ist lediglich eine Frage von Werten und des politischen Willens.
Es hat den Anschein, als hätte dieser politische Wille in den letzten Jahren bedeutend zugenommen. Ein bemerkenswertes Anzeichen dafür ist Al Gores Film Eine unbequeme Wahrheit, der für die Förderung des ökologischen Bewusstseins eine wichtige Rolle gespielt hat. Im Jahr 2006 hat Al Gore persönlich zwölfhundert Freiwillige darin geschult, seine berühmte Dia-Show vorzuführen und die Botschaft weltweit zu verbreiten. Bis 2008 hatten sie fast zweitausend Präsentationen durchgeführt und damit ein Gesamtpublikum von zwei Millionen Menschen erreicht. In der Zwischenzeit hatte das Klima-Projekt, Gores Organisation, über tausend in gleicher Weise engagierte Personen in Australien, Kanada, Indien, Spanien und Großbritannien geschult. Sie verfügen nun über 2600 Referenten und haben weltweit ein Publikum von mehr als vier Millionen Menschen erreicht.
Eine weitere wichtige Entwicklung stellt das Erscheinen des Buches Plan B 3.0. So retten wir die Welt von Lester Brown, dem Gründer des Worldwatch Institute und einem der einflussreichsten ökologischen Vordenker dar. Der erste Teil von Browns Buch ist eine detaillierte Darstellung der grundlegenden wechselseitigen Verflochtenheit unserer hauptsächlichen Probleme. In einer Klarheit, die nichts zu wünschen übrig lässt, zeigt er auf, wie der Teufelskreis von Bevölkerungsdruck und Armut zur Erschöpfung der Ressourcen führt ‒ zu sinkenden Grundwasserspiegeln, versiegenden Quellen, schrumpfenden Wäldern, schwindenden Fischbeständen, Bodenerosion, Ausbreitung von Wüsten usw. – und wie diese Erschöpfung von Ressourcen, die durch den Klimawandel noch verschärft wird, gescheiterte Staaten hervorbringt, deren Regierungen ihren Bürgern keine Sicherheit mehr gewährleisten können. Von diesen werden einige aus purer Verzweiflung Terroristen.
Dieser erste Teil ist – wie nicht anders zu erwarten – deprimierend. Der zweite Teil hingegen, ein detaillierter Wegweiser zur Rettung der Zivilisation, ist optimistisch und höchst spannend. Er enthält die Beschreibung mehrerer gleichzeitiger Aktionen, die sich wechselseitig verstärken und damit die wechselseitige Abhängigkeit der Probleme, auf die sie reagieren, abbilden. Jeder einzelne der Vorschläge kann mithilfe von bereits vorhandenen Techniken umgesetzt werden, und tatsächlich werden auch alle Vorschläge anhand von erfolgreichen Beispielen irgendwo auf der Welt illustriert. Browns Buch ist möglicherweise der klarste Aufweis der Tatsache, dass wir über das Wissen, die Techniken und die finanziellen Mittel verfügen, um die Zivilisation zu retten und eine nachhaltige Zukunft aufzubauen. […] Es bleiben jedoch einige grundlegende Fragen. Warum hat es so lange gedauert, bis wir die ernsthaften Gefährdungen des Überlebens der Menschheit erkannten? Warum sind wir so furchtbar langsam darin, unsere Wahrnehmung, unser Denken, unseren Lebensstil und unsere Institutionen zu ändern, die die Ungerechtigkeit und die Zerstörung der Fähigkeit unseres Planeten, Leben dauerhaft zu beherbergen, beharrlich fortschreiben?
Diese Fragen bilden die Hauptthemen dieses Buches. Die Autoren – einer kommt aus dem Süden des Globus, der andere aus dem Norden ‒ haben beide sehr gründlich über theologische Fragen sowie Fragen um das Thema Gerechtigkeit und Ökologie nachgedacht. Ihre Antwort auf die oben gestellten Fragen ist, dass die grundlegende Herausforderung in viel mehr besteht als in der Verbreitung von Wissen und in der Veränderung von Gewohnheiten. Aus ihrer Perspektive sind all die Bedrohungen, mit denen wir konfrontiert sind, Symptome einer tiefer liegenden kulturellen und spirituellen Krankheit, von der die Menschheit befallen ist. Dem System, das zurzeit herrscht und unsere Welt ausplündert, wohnt – so behaupten sie – eine tief sitzende Krankheit inne. Armut und Ungleichheit, Raubbau an der Erde und die Vergiftung des Lebens stellen sie als die drei Hauptsymptome dieser Krankheit heraus, und sie stellen fest, dass „dieselben Kräfte und Ideologien, welche die Armen ausbeuten und ausgrenzen, auch die gesamte Lebensgemeinschaft der Erde verwüsten“.
Die Überwindung dieser tief sitzenden Erkrankung erfordert nach Meinung der Autoren eine grundlegende Veränderung des menschlichen Bewusstseins. „In einem sehr realen Sinne“, schreiben sie, „sind wir dazu aufgerufen, uns selbst als Art neu zu erfinden.“ Diesen Prozess tiefer Veränderung bezeichnen sie als „Befreiung“. Sie verwenden diesen Ausdruck in dem Sinn, in dem er innerhalb der Tradition der Theologie der Befreiung benutzt wird, das heißt sowohl im persönlichen Sinne spiritueller Entfaltung oder Erleuchtung als auch im kollektiven Sinne eines Volkes, das danach strebt, sich selbst aus der Unterdrückung zu befreien. Meiner Ansicht nach verleiht dieser zweifache Gebrauch des Terminus „Befreiung“ dem Buch seinen einzigartigen Charakter. Denn er versetzt die Autoren in die Lage, die gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche, ökologische, emotionale und spirituelle Dimension der gegenwärtigen globalen Krise im Zusammenhang zu bedenken.
Wie Hathaway und Boff im Prolog feststellen, ist das „Tao der Befreiung“ ein Streben nach der Weisheit, die nottut, um tiefgehende befreiende Veränderungen in unserer Welt zustande zu bringen. Im Bewusstsein, dass eine solche Weisheit letztlich nicht in Worte gefasst werden kann, haben sie sich dazu entschlossen, sie mithilfe des alten chinesischen Wortes Tao („der Weg“) zu beschreiben. Dieses meint sowohl einen individuellen spirituellen Weg als auch die Art und Weise, wie sich das Universum entfaltet. Der taoistischen Tradition zufolge erreichen wir spirituelle Erfüllung dann, wenn wir in Einklang mit der Natur handeln. Mit den Worten des chinesischen Klassikers Huai Nan zu formuliert: „Diejenigen, die der natürlichen Ordnung folgen, treiben im Strom des Tao.“
Die Weisheit, die nötig ist, um von einer von unbegrenztem Wachstum und materiellem Konsum besessenen Gesellschaft zu einer auf Dauer lebensförderlichen Zivilisation des Gleichgewichts zu gelangen, setzt in diesem Buch zwei Schritte voraus. Der erste Schritt besteht darin, die sehr konkreten Hindernisse zu verstehen, die sich einer befreienden Veränderung in den Weg stellen. Der zweite Schritt ist die Ausformulierung einer „Kosmologie der Befreiung“ – eine Zukunftsvision, die – wie es der im Buch zitierte Thomas Berry herausstellt – „attraktiv genug ist, um uns in dem jetzt sich vollziehenden Veränderungsprozess des Projektes Mensch zu halten“.
Die vielfältigen und miteinander verquickten Hindernisse, wie sie Hathaway und Boff erkunden, haben ihre Ursache in unseren politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Sie werden von einer mechanistischen und deterministischen Weltanschauung noch verstärkt und durch Ohnmachtsgefühle, Verleugnung und Verzweiflung verinnerlicht. Die äußeren, „systemischen“ Hindernisse werden ausführlich besprochen. Sie umfassen die Illusion unbegrenzten Wachstums auf einem endlichen Planeten, übermäßige Macht transnationaler Konzerne, ein parasitäres Finanzsystem und eine Tendenz, Wissen zu monopolisieren und – wie es Vandana Shiva ausdrückt – eine geistige Monokultur durchzusetzen. Die Autoren erläutern, dass diese äußeren Hindernisse durch unterdrückerische Erziehungssysteme, die Manipulation der Massenmedien, einen alles durchdringenden Konsumismus und künstliche Umwelten (besonders im städtischen Raum), die uns von der lebendigen Natur isolieren, verstärkt werden.
Um die verinnerlichte Ohnmacht zu überwinden, die die Gestalt von Abhängigkeit und Gier, Verleugnung, psychische Abstumpfung oder Verzweiflung annehmen kann, müssen wir – so schlagen die Autoren vor – unseren Selbst-Sinn erweitern. Wir müssen unsere Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, Gemeinschaft aufzubauen und Solidarität zu üben, verstärken, unser Empfinden dafür, dass wir der Erde angehören, von Neuem wecken und dadurch unser „ökologisches Selbst“ wiederentdecken. Sie schlagen vor, dass wir „uns auf die Dinge konzentrieren sollen, die uns wirklich erfreuen, die uns tatsächlich Vergnügen bereiten: Zeit mit unseren Freunden verbringen, spazieren gehen, Musik hören oder sich über eine einfache Mahlzeit freuen“. Das Meiste von dem, was uns wirklich Freude bereitet, so betonen sie, kostet wenig oder gar kein Geld.
Doch um wirklich aufzuwachen und die Verbindung von Neuem herzustellen, bedarf es auch eines neuen Verständnisses von der Wirklichkeit und eines neuen Bewusstseins vom Platz der Menschheit innerhalb des Kosmos. Wir brauchen „eine lebendige und vitale Kosmologie“. Die Autoren benutzen den Ausdruck „Kosmologie“ im Sinne einer gemeinsamen Weltanschauung, die unserem Leben Sinn verleiht, und sie stellen eine gegenwärtig entstehende „Kosmologie der Befreiung“ einer „Kosmologie der Herrschaft“ gegenüber, die eine „Ersatzkosmologie des Erwerbs und Konsums“ beinhaltet, welche zurzeit unsere modernen Industriegesellschaften in Bann hält.
Die Autoren behaupten, dass ein neues Verständnis des Kosmos nun aus der modernen Wissenschaft hervorgeht, die auf vielfache Weise frühere autochthone Kosmologien in Erinnerung ruft. Doch im Gegensatz zu den meisten von ihnen nimmt die neue wissenschaftliche Weltsicht ein sich entwickelndes Universum in den Blick und stellt deshalb einen geeigneten begrifflichen Rahmen für die befreiende Veränderung dar, deren wir bedürfen. Zur Untermauerung dieser These schöpfen Hathaway und Boff aus einem riesigen Fundus zeitgenössischer Denker: Philosophen, Theologen, Psychologen und Naturwissenschaftler. Innerhalb des breiten Spektrums von Gedanken, Modellen und Theorien, die sie diskutieren, sind nicht alle miteinander vereinbar. Einige wenige sind esoterischer Natur und bewegen sich definitiv außerhalb des wissenschaftlichen Konsenses. Und manchmal ziehen die Autoren Schlussfolgerungen, die über den gegenwärtigen Stand der Wissenschaften hinausgehen. Doch es gelingt ihnen auf bewundernswerte Weise, die Entstehung eines neuen, in sich stimmigen Wirklichkeitsverständnisses aufzuzeigen.
Die Pioniere der heutigen Naturwissenschaften betrachten das Universum nicht mehr als eine Maschine, die sich aus elementaren Bauteilen zusammensetzt. Wir haben entdeckt, dass die materielle Welt letztlich ein Netzwerk untrennbarer Muster von Beziehungen ist; dass der Planet als ganzer ein lebendiges, sich selbst regulierendes System ist. Die Auffassung vom Körper als einer Maschine und vom Geist als einer davon getrennten Entität wurde ersetzt von einer Sichtweise, die nicht nur das Gehirn, sondern auch das Immunsystem, die Gewebearten des Körpers, ja sogar jede einzelne Zelle als lebendige, kognitive Systeme betrachtet. Die Evolution wird nicht mehr als der Wettkampf ums Überleben aufgefasst, sondern als kooperativer Tanz, in dem Kreativität und das ständige Auftreten von Neuheit die treibenden Kräfte darstellen. Und mit dem neuen Akzent auf Komplexität, Netzwerke und Organisationsmuster entwickelt sich langsam eine neue „Wissenschaft der Qualität“.
Die Autoren vertreten auch – zu Recht, wie ich meine – die Auffassung, dass die im Entstehen begriffene wissenschaftliche Kosmologie in völlige Übereinstimmung mit der spirituellen Dimension der Befreiung gebracht werden kann. Sie erinnern die Leser daran, dass innerhalb ihrer eigenen christlichen Tradition die ursprüngliche Bedeutung von Geist – ruha im Aramäischen, ruach auf Hebräisch – der Atem des Lebens ist. Dies ist auch die ursprüngliche Bedeutung von spiritus, anima, pneuma und anderer antiker Ausdrücke für „Seele“ oder „Geist“. Spirituelle Erfahrung ist demzufolge zuerst und in erster Linie eine Erfahrung des Lebendig-Seins. Ihr zentraler Bewusstseinsinhalt besteht zahlreichen Zeugen zufolge in einem tiefen Empfinden der Einheit mit Allem, einem Empfinden dafür, dem Universum als ganzem anzugehören.
Dieses Gespür für die Einheit mit der natürlichen Welt wird durch die neue Auffassung vom Leben in den modernen Naturwissenschaften völlig bestätigt. Sobald wir begreifen, wie die Wurzeln des Lebens tief in die Grundlagen der Physik und Chemie hineinreichen, wie die sich entfaltende Komplexität lange vor der Entstehung der ersten lebenden Zellen ihren Anfang nahm und wie sich das Leben im Laufe von Milliarden von Jahren entwickelt hat, indem es immer wieder auf dieselben Grundmuster und Prozesse zurückgriff, werden wir gewahr, wie eng wir mit dem gesamten Gewebe des Lebens verbunden sind.
Das Bewusstsein davon, mit der gesamten Natur verbunden zu sein, ist besonders stark innerhalb der Ökologie. Verbundenheit, Beziehung und wechselseitige Abhängigkeit sind Grundbegriffe der Ökologie. Und Verbundenheit, Beziehung und Zugehörigkeit bilden auch das Wesen der spirituellen Erfahrung. So scheint die Ökologie die ideale Brücke zwischen Wissenschaft und Spiritualität zu sein. Und in der Tat plädieren Hathaway und Boff für eine „ökologische Spiritualität“, der es in erster Linie um die Zukunft des Planeten Erde und der Menschheit insgesamt geht.
Sie zeigen auf, dass jede Religion einzigartige ökologische Einsichten und Zugänge aufweist, und sie ermutigen uns dazu, diese Vielfalt von Lehren nicht als eine Bedrohung, sondern vielmehr als eine Stärke zu betrachten. „Jeder von uns muss von Neuem in die jeweils eigene religiöse Tradition hineinschauen“, schlagen die Autoren vor, „und die Einsichten darin aufspüren, die uns zu einer Ehrfurcht vor allem Leben, zu einer Ethik des Teilens und der Fürsorge, zu einer Vision des im Kosmos inkarnierten Heiligen hinführen.“
Das Tao der Befreiung beinhaltet auch viele konkrete Vorschläge für Ziele, Strategien und politisches Handeln für effektive Veränderung, die zu einer gerechten und ökologisch nachhaltigen Gesellschaft führt. Zwei Bezugsrahmen, die detailliert besprochen werden, sind der Bioregionalismus, der auf der Idee beruht, eine tiefe Verbundenheit mit der Natur auf lokaler Ebene wiederzuerlangen, und die Erdcharta, „ein wahrhaft befreiender Traum für die Menschheit“, die als ihr erstes Prinzip die Achtung und Sorge für die Gemeinschaft des Lebens anführt.
Da wir an einem Scheideweg in der Geschichte der Menschheit angelangt sind, werden die Leser in diesem Buch einen Reichtum an Ideen und tiefen Einsichten zu einem grundlegenden Bewusstseinswandel und einer radikalen Veränderung in unserer Welt finden, auf die es jetzt ankommt. Unter all diesen Gedanken ist der wichtigste und tiefste vielleicht der, der im Zentrum der Bemühungen der Autoren steht. Anstatt den Übergang zu einer nachhaltigen Gesellschaft in erster Linie als Begrenzungen und Einschränkungen zu begreifen, plädieren Hathaway und Boff eindringlich für eine neue und überzeugende Auffassung von Nachhaltigkeit als Befreiung.
Berkeley, am Ersten internationalen Tag der Mutter Erde, 22. April 2009
Fritjof Capra
Über das Tao Te King
Wir haben uns dazu entschlossen, das Tao Te King, einen antiken chinesischen Text, der etwa vor 2500 Jahren geschrieben worden ist, als Quelle der Inspiration für dieses Buch zu benutzen. Der Text wird in der Überlieferung Lao Tse zugeschrieben, einem Weisen, der von etwa 551 bis 479 v. Chr. gelebt haben soll. Doch die meisten Gelehrten meinen, dass er in Wirklichkeit eine Sammlung von Sprüchen aus der Überlieferung aus einer Vielzahl von Quellen ist. Der Text wurde vermutlich zwischen dem siebten und zweiten Jahrhundert v. Chr. verfasst.
Jonathan Star zufolge können wir die Bedeutung des Titels Tao Te King folgendermaßen verstehen:
Tao ist die höchste Wirklichkeit, das alles durchdringende Substrat; es ist das ganze Universum und die Art und Weise, wie das Universum wirkt. Te ist die Gestalt und Macht von Tao; es ist die Art und Weise, wie sich das Tao zeigt; es ist das Tao, das sich in einer Form oder Kraft konkretisiert. Tao ist die transzendente Wirklichkeit; Te ist die immanente Wirklichkeit. King meint ein Buch oder ein klassisches Werk. Also meint Tao Te King wörtlich „Das klassische Buch der höchsten Wirklichkeit (Tao) und seiner vollkommenen Erscheinung (Te)“, „Das Buch des Weges und seiner Kraft“, „Das klassische Buch von Tao und seiner (moralischen) Kraft“. (2001, 2)
Nach der Bibel ist das Tao Te King der am stärksten verbreitete Text der Welt. Es gibt unzählige Übersetzungen davon, einige eher wissenschaftliche und am Wortsinn orientierte, andere eher poetische. Das alte Chinesisch ist eine Begriffssprache. Deshalb ruft jedes Wort des Textes tatsächlich eine Menge Bilder ins Bewusstsein, die in vielfacher Weise übersetzt werden können. Deshalb gelingt es keiner Übersetzung, den gesamten Atem oder die Tiefe des Textes ganz zu erfassen. In gewissem Sinne ist jede Übersetzung eines solchen Textes eine Art der Interpretation, und keine liefert und das vollständige Bild dessen, was darin ausgesagt wird.
Da wir keinerlei Art von akademischer Abhandlung über den Text verfassen wollen, haben wir uns dazu entschlossen, auf eine Vielfalt von Übersetzungen zurückzugreifen; die meisten davon sind eher poetischer Natur. Diese fügten wir zu einer Version zusammen, die gut zu dem Kapitel passt, dem ein bestimmter Textabschnitt als Einleitung dient. Hierfür haben wir die Übersetzungen von Mitchell (1988), Muller (1997) sowie Feng und English (1972) benutzt und dabei die hervorragende wörtliche Übersetzung von Jonathan Star in Gemeinschaft mit C. J. Ming als allgemeinen Leitfaden herangezogen.1
1 Aufgrund dieser Vorgehensweise der Autoren hat der Übersetzer die Passagen aus dem Tao Te King aus dem Englischen rückübersetzt, dabei aber von den zahlreichen deutschen Ausgaben herangezogen: Laotse 1978 und Lao-Tse 1995; d. Übers.
Prolog
Es gab etwas, gestaltlos und vollkommen,
chaotisch und vollendet zugleich.
Es war da, noch vor Himmel und Erde.
Still, endlos, leer und einsam,
alles durchdringend, stets in Bewegung,
alles in seinem Dasein haltend, und dennoch nie erschöpft.
Es ist die Mutter des Kosmos.
Da ich keinen besseren Namen weiß,
nenne ich es das Tao.
Es fließt durch alle Dinge hindurch,
innen und außen,
und kehrt zurück zur Quelle von allem …
Die Menschen folgen der Erde.
Der Himmel folgt dem Tao.
Das Tao folgt allein sich selbst.
(Tao Te King § 25)
Das Tao der Befreiung ist ein Streben nach Weisheit, jener Weisheit, die wir brauchen, um tiefgreifende Veränderungen in unserer Welt zustande zu bringen. Wir haben uns dazu entschlossen, diese Weisheit mithilfe des alten chinesischen Wortes Tao zu beschreiben. Es bedeutet einen Weg oder Pfad, der zur Harmonie, zum Frieden und zu rechter Beziehung hinführt. Das Tao kann als ein Ordnungsprinzip verstanden werden, das die allem gemeinsame Grundlage des Kosmos bildet. Es ist sowohl die Art und Weise, wie das Universum funktioniert, als auch die fließende kosmische Struktur, die nicht beschrieben, sondern lediglich verkostet werden kann.2 Das Tao ist die Weisheit im Herzen des Universums selbst, das seinen Sinn und seine Zielrichtung in sich birgt.
Wir benutzen das Bild des Tao und die Texte des alten Tao Te King, doch dieses Buch handelt dennoch nicht vom Taoismus als solchem. Der Gedanke, auf den wir mit der Benutzung des Wortes Tao verweisen, geht in gewissem Sinne über jede existierende Philosophie oder Religion hinaus. Ähnliche Gedanken finden sich auch in anderen Traditionen. So bedeutet zum Beispiel das Dharma im Buddhismus „die Art und Weise, wie Dinge funktionieren“ oder „sich in geordneter Weise selbst entfalten“ (Macy 1991 a, XI). In ähnlicher Weise bedeutet das von Jesus benutzte aramäische Wort, das üblicherweise mit „Königreich“ oder „Reich“ übersetzt wird – malkuta – „die leitenden Prinzipien, die unser Leben zur Einheit hinführen“, und es evoziert „das Bild eines ‚fruchtbaren Arms‘, der sich zur Schöpfung anschickt, oder einer Sprungfeder, die bereit ist, das gesamte grünende Potenzial der Erde freizusetzen“ (Douglas-Klotz 1990, 20). Sowohl Dharma als auch Malkuta bringen dies auf unterschiedliche Art auf den Begriff, doch für die Absicht dieses Buches können wir sie in dem Sinne auffassen, dass sie auf dieselbe Wirklichkeit verweisen wie das Tao – eine Realität, die sich letztlich einer prägnanten und kurzen Beschreibung entzieht, sondern nur auf einer tieferen Ebene intuitiv erfasst werden kann.
Das chinesische Zeichen für das Tao vereint die Begriffe für Weisheit und für das Gehen miteinander und beschwört so das Bild eines Prozesses herauf, der Weisheit in das Handeln, oder mit anderen Worten in eine Form von Praxis umsetzt. Im „Tao der Befreiung“ suchen wir nach dieser Art von „voranschreitender Weisheit“, wie sie dem Gefüge des Kosmos selbst innerlich ist.
Auf der Suche nach dieser Weisheit ziehen wir Einsichten und Erkenntnisse aus so unterschiedlichen Gebieten wie Wirtschafswissenschaften, Psychologie, Kosmologie, Ökologie und Spiritualität heran. In gewissem Sinne bleibt es dennoch unmöglich, die Gestalt des Tao der Befreiung vollständig zu entwerfen. Das Tao ist eine Kunst, keine exakte Wissenschaft. In einem sehr realen Sinne ist das Tao ein Geheimnis. Wir können Wegweiser anbieten, doch wir können keine detaillierte Landkarte zeichnen.
Wir suchen nach Weisheit in der Hoffnung, Einsichten zu finden, welche die Menschheit in die Lage versetzen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gewohnheiten und Systeme hinter sich zu lassen, welche Ungerechtigkeit und die Zerstörung der Fähigkeit unseres Planeten, auf Dauer Leben zu beherbergen, fortschreiben. Wir hoffen dabei neue Lebensweisen zu finden, die es möglich machen, die Bedürfnisse aller Menschen mit den Bedürfnissen und dem Wohlbefinden der umfassenderen planetarischen Gemeinschaft und auch des Kosmos selbst in Einklang zu bringen.
Wir benutzen das Wort Befreiung für diesen Prozess der Veränderung. Bis jetzt wurde dieser Begriff entweder im personalen Sinne der spirituellen Verwirklichung oder im kollektiven Sinne für ein Volk benutzt, das sich aus unterdrückerischen politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Strukturen befreit. Bei unserer Verwendung dieses Begriffs sind beide Dimensionen mit einbezogen, aber gleichzeitig in einen weiteren ökologischen, ja sogar kosmologischen Kontext gestellt. Für uns ist Befreiung der Prozess in Richtung einer Welt, in der alle Menschen in Würde und in Harmonie mit der umfassenderen Gemeinschaft der Daseinsformen leben können, die Gaia, die lebendige Erde, bilden. Befreiung meint von daher, den schrecklichen Schaden wiedergutzumachen, den wir einander und der Erde zugefügt haben. Auf einer tieferen Ebene erkennt Befreiung die Fähigkeit der Menschen als schöpferische, das Leben fördernde Beteiligte an der weitergehenden Entwicklung Gaias.
Wir können Befreiung sogar innerhalb einer kosmischen Perspektive als den Prozess auffassen, im Verlauf dessen das Universum sein Potenzial zu verwirklichen versucht, indem es nach einem je höheren Grad an Ausdifferenzierung, Verinnerlichung (Interiorisation oder Selbstorganisation) und Gemeinschaft strebt. Innerhalb eines solchen Kontextes werden Menschen und Gesellschaften in dem Maße befreit, in dem sie:
– vielfältiger und komplexer werden und die Unterschiede wahrhaftig respektieren und freudig begrüßen;– den Aspekt der Innerlichkeit und des Bewusstseins vertiefen, indem sie kreative Prozesse der Selbstorganisation stärken und– die Bande der Gemeinschaft und der Verwiesenheit aufeinander stärken, einschließlich ihrer Verbundenheit mit der umfassenderen planetarischen Gemeinschaft des Lebens.Dieses Buch setzt mit der Frage ein: Wie geschieht Veränderung? Oder vielleicht etwas genauer: Warum ist es so schwierig, die Veränderungen auf den Weg zu bringen, die wir so dringend brauchen, um Gaia, die lebendige Gemeinschaft der Erde, deren Teil wir sind, zu retten? Ein wesentlicher Beitrag dieses Buches mag im Kontext bestehen, in den diese Frage eingeordnet wird. Hoffentlich kann unser Text als ein Ausgangspunkt für andere dienen, die nach neuen, schöpferischen Zugängen zu befreiender Veränderung suchen.
Was wir geschrieben haben, stellt den Zusammenfluss der Denkströme zweier Autoren dar. Einer davon kommt aus dem Süden, der andere aus dem Norden.3 Leonardo Boff ist wahrscheinlich vielen unserer Leser gut bekannt. Als Theologe hat er über Fragen der Befreiung und der Ökologie gründlich nachgedacht und darüber mehr als hundert Bücher publiziert. Viele Jahre lang hat er in seinem Heimatland Brasilien sowie in anderen lateinamerikanischen und europäischen Ländern Theologie gelehrt. Im Jahr 2001 hat er auch den Right Livelihood Award (auch als „alternativer Nobelpreis“ bekannt; d. Übers.) verliehen bekommen.
Mark Hathaway hat in den letzten zwanzig Jahren in der Erwachsenenbildung gearbeitet und sich dabei für die Themen Gerechtigkeit und Ökologie engagiert. Acht Jahre davon waren der Arbeit als Volkserzieher und Pastoralreferent in einer armen Nachbarschaftsgemeinschaft in Chiclayo, einer Stadt an der Nordküste Perus, gewidmet. Im Lauf der Jahre hat er Mathematik, Physik, Theologie, Schöpfungsspiritualität und Erwachsenenbildung studiert und in katholischen, ökumenischen und interreligiösen Initiativen für Gerechtigkeit und Ökologie gearbeitet. Zurzeit lebt er in Kanada, seinem Heimatland, wo er als Koordinator des Südamerika-Programms der Vereinigten Kirche Kanadas und als freischaffender „Ökologe“ arbeitet, der über die Zusammenhänge zwischen Ökologie, Wirtschaft, Kosmologie und Spiritualität forscht und schreibt.
Das ursprüngliche Herzstück dieses Buches bildete eine Abhandlung, die Mark für die Erlangung seines Magistertitels aus Erwachsenenbildung schrieb. Sie trug den Titel: „Verändernde Erziehung“. Während Leonardos Besuch in Toronto im Jahr 1996 bot sich für die beiden die Gelegenheit zur persönlichen Begegnung. Nachdem Leonardo die Abhandlung gelesen hatte, schlug er vor, in Zusammenarbeit ein Buch zu verfassen, das auch die lateinamerikanischen Perspektiven mit einbeziehe. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis dieser gemeinsamen Anstrengung.
Zwei zentrale Bezugspunkte des Textes sind die vorrangige Option für die Armen und die vorrangige Option für die Erde. Wir betrachten diese beiden Optionen als grundlegend miteinander verknüpft: Dieselben Kräfte und Ideologien, die die Armen ausbeuten und ausgrenzen, zerstören auch die gesamte Lebensgemeinschaft auf der Erde. In diesem Buch gehen wir den Beziehungen zwischen den verschiedenen Faktoren nach, die eine echte Veränderung behindern. Gleichzeitig bemühen wir uns um ein besseres Verständnis dessen, wie sich Veränderung in der Welt auf natürliche Weise vollzieht. Zusammengenommen können diese Einsichten als Leitfaden für diejenigen dienen, die um lebenfördernde Veränderungen kämpfen.
Wir haben uns von einem breiten Spektrum von Perspektiven und Einsichten inspirieren lassen. Diese stammen von vielen unterschiedlichen Personen und spirituellen Traditionen, und wir empfinden all denen gegenüber große Dankbarkeit, die ihre Weisheit mit uns geteilt haben. Wir hoffen, dass diese Fäden im Verlauf des Schreibens zu einem Wandteppich zusammengeknüpft werden, der klar und voller lebendiger Farben zugleich ist. In vieler Hinsicht stellt dieses Unterfangen eine Herausforderung dar. Wir haben uns eher für die Weite der Vision und nicht so sehr für eine engere und gründlichere Analyse der einzelnen Teile entschieden. Damit hoffen wir, den Lesern Dimensionen zu erschließen, die sie selber tiefer erkunden können.
Die Art und Weise, wie der Text zustande kam, möchten wir mit dem Bild der Spirale zum Ausdruck bringen. Zeitweise wird es ohne Zweifel so scheinen, als ob dieselben Themen wieder aufgegriffen würden, doch von einer anderen Perspektive aus. Wenn wir dem Weg der Spirale tiefer folgen, werden es uns diese unterschiedlichen Perspektiven ermöglichen, das Ganze zu erfassen, das größer ist als die Summe seiner Teile, das gewebte Bild, das sich nur zeigt, wenn wir einen Schritt zurücktreten und von einer Analyse einzelner Fäden aus der Nähe Abstand nehmen. Wir hoffen, dass sie dabei das Strömen und die Textur des Tao der Befreiung auf einer tiefen Ebene der Intuition erspüren werden, wo seine geheimnisvolle Weisheit ihr Handeln im Kampf für die Erneuerung der Welt leiten möge.
2 Die Definition des Tao beziehen wir von Dreher 1990; Heider 1986; Feng und English 1989 sowie Star 2001.
3 Im Verlauf dieses Buches werden wir oftmals den Ausdruck „Norden“ (oder der „globale Norden“) benutzen, um damit die überentwickelten Gesellschaften mit einem hohen Konsumniveau anzusprechen, die vorwiegend im Norden zu finden sind, und „Süden“ (bzw. „globaler Süden“) meint dann entsprechend die armgemachten Gesellschaften, wie sie vorwiegend im Süden zu finden sind, besonders in den tropischen und subtropischen Breiten des Globus.
1. In einer Zeit der Krise nach Weisheit streben
Wenn die Besten unter denen,
die nach Weisheit streben, vom Tao hören,
dann geben sie sich sofort Mühe, es zu verwirklichen.
Wenn durchschnittliche Weisheitssucher vom Tao hören,
dann folgen sie ihm zuweilen, und zuweilen vergessen sie es wieder.
Wenn Weisheitssucher ohne Verstand vom Tao hören,
dann lachen sie lauthals.
Lachten sie nicht,
dann wäre es nicht das Tao.
Darum heißt es:
Der Weg im Licht erscheint dunkel,
der Pfad, der nach vorn führt, scheint rückwärts zu laufen,
der gerade Weg scheint krumm zu sein,
die größte Kraft erscheint schwach,
die echteste Reinheit scheint beschmutzt,
wahrer Überfluss scheint nicht genug zu sein,
auf echte Standhaftigkeit scheint kein Verlass zu sein.
Der weiteste Raum kann nicht ausgefüllt werden,
das größte Talent braucht lange, um zu reifen,
der höchste Ton ist schwer zu hören,
die vollkommene Gestalt kann nicht leibhaftig werden.
Das Tao ist nirgends zu finden.
Und doch ernährt es alle Dinge und führt sie ihrer Erfüllung zu.
(Tao Te King § 41)
Heute stehen wir wahrscheinlich vor der wichtigsten Entscheidung in der Geschichte der Menschheit und wahrhaftig auch der Erde selbst. Die sich gegenseitig verstärkenden Entwicklungen einer wachsenden Armut und einer sich beschleunigenden Verschlechterung der ökologischen Bedingungen verursachen einen heftigen Strudel der Verzweiflung und Zerstörung, aus dem zu entrinnen zunehmend schwerer wird. Wenn es uns nicht gelingt, energisch, rasch und weise genug zu handeln, dann werden wir uns bald zu einer Zukunft verdammt sehen, in der die Möglichkeiten für ein sinnvolles, hoffnungserfülltes und schönes Leben in starkem Maß dahingeschwunden sind.
Für die Mehrzahl der Menschen, die sich an den Rändern der Weltwirtschaft abmühen, scheint sich das Leben bereits jetzt am Rand des Absturzes zu bewegen. Jedes Jahr nimmt die Kluft zwischen Arm und Reich noch stärker zu. In einer Welt, in der die Illusionen einer Konsumgesellschaft feilgeboten werden, müssen die meisten einen harten Kampf bestehen, nur um das erforderliche Minimum zum Überleben zu bekommen. Der Traum von einem einfachen, aber dennoch würdevollen Leben bleibt dauerhaft kaum erreichbar. Für viele wird das Leben Jahr für Jahr schwieriger.
Die anderen Lebewesen, die diesen Planeten mit der Menschheit teilen, machen sogar noch eine schwerere Krise durch. Da sich die Menschen einen immer größeren Teil der Gaben der Erde angeeignet haben, bleibt für andere Lebensformen immer weniger übrig. Da wir die Luft, das Wasser und das Land mit Chemikalien und Abfall verpesten, wird das komplexe System, welches das Gewebe des Lebens aufrecht erhält, zunehmend unterminiert. Viele Arten verschwinden für immer. Unser Planet erlebt in der Tat eine der größten Massenvernichtungen aller Zeiten.
Natürlich gibt es Zeichen der Hoffnung. Unzählige einzelne Personen und Organisationen setzen sich mit Fantasie und Mut für eine Veränderung ein. Einige haben Bewegungen ins Leben gerufen, die heute weltweit aktiv sind. Ihre Anstrengungen bewirken sehr konkrete Veränderungen auf lokaler Ebene in der ganzen Welt. Gleichzeitig ermöglichen neue Kommunikationsmittel den Dialog zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen. Die Möglichkeiten, Weisheit und Erkenntnisse miteinander auszutauschen, sind deshalb wahrscheinlich größer als jemals zuvor. Viele Menschen haben ein stärker ausgeprägtes Bewusstsein von ihren grundlegenden Rechten und verteidigen diese aktiver. Auf Gebieten wie Gesundheitsvorsorge und Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wurden echte Fortschritte erzielt. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein hinsichtlich der ökologischen Problematik, und viele Gemeinden bemühen sich, in Harmonie mit der Natur und nicht gegen sie zu arbeiten. All diese Trends eröffnen neue Möglichkeiten für die Erneuerung der Welt.
Doch das sind bloß kleine Lichtblicke inmitten der Dunkelheit. Immer noch gibt es wenige Anzeichen für ein effektives, abgestimmtes Handeln in einer solchen Größenordnung, dass es in der Lage wäre, die zunehmende Armut und den ökologischen Niedergang tatsächlich zu stoppen oder gar einen Prozess in Gang zu setzen, um die Gemeinschaft des Planeten wieder gesunden zu lassen. Institutionen auf Weltebene, insbesondere Regierungen und Konzerne, beziehen in ihr Handeln die dringende Notwendigkeit nach wie vor nicht ein, die Art und Weise, wie wir in dieser Welt leben, von Grund auf zu ändern. Im Gegenteil: Die Grundideen, Motive, Gewohnheiten und politischen Strategien, die so viel Verwüstung und Ungerechtigkeit verursacht haben, beherrschen nach wie vor unser politisches und ökonomisches System. Michail Gorbatschow stellte im Jahr 2001 fest:
„Obwohl es eine wachsende Zahl von mutigen Initiativen von Verantwortlichen in Regierungen und Unternehmen gibt, die Umwelt zu schützen, sehe ich nicht, dass eine politische Führung und der Wille entstehen, Risiken in der Größenordnung einzugehen, die notwendig wäre, um der gegenwärtige Situation gerecht zu werden. Obwohl es eine wachsende Zahl von Menschen und Organisationen gibt, die sich der Bewusstseinsbildung widmen und Änderungen in der Art und Weise, wie wir die Natur behandeln, herbeiführen wollen, erkenne ich immer noch keine klare Vision und keine gemeinsam abgestimmte Vorgehensweise, die die Menschheit rechtzeitig zu einer Kurskorrektur inspirieren könnten.“ (Gorbachev 2001,4)
Joanna Macy und Molly Brown (1998) bezeichnen die zentrale Herausforderung unserer Zeit, nämlich den Wechsel von industriellem Wachstum hin zu einer lebenerhaltenden Zivilisation, als die „Große Wende“. Leider haben wir keine Gewähr dafür, dass wir diese wesentliche Veränderung rechtzeitig hinbekommen, um die Auflösung des sorgfältig geknüpften Netzes zu verhindern, welches das komplexe Leben trägt und erhält. Sollten wir uns als unfähig erweisen, eine solche Veränderung zu bewerkstelligen, dann nicht, weil es an der entsprechenden Technik, an genügend Information oder etwa an schöpferischen Alternativen mangelt, sondern vielmehr, weil es an politischem Willen fehlt und weil die uns drohenden Gefahren so schwer zu ertragen sind, dass sie viele von uns aus Angst schlicht aus ihrem Bewusstsein verbannen.
Wir sind dennoch fest davon überzeugt, dass der gegenwärtige Kreislauf von Verzweiflung und Zerstörung durchbrochen werden kann, dass wir immer noch die Chance haben, effektiv zu handeln und den Kurs zu ändern. Es ist noch Zeit, die Große Wende einzuleiten und unseren Planeten zu heilen. In diesem Buch suchen wir nach einem Weg zur Veränderung, zu einem Wandel, der uns zu einer neuen Weise, in der Welt zu sein, herausfordert – einer Weise des In-der-Welt-Seins, die gerechte und harmonische Beziehungen innerhalb der menschlichen Gesellschaft und innerhalb der größeren planetarischen Gemeinschaft umfasst. Wir suchen nach einer Weisheit – dem Tao ‒, das uns zu einer ganzheitlichen Befreiung hinführt.
Wir sind davon überzeugt, dass die Kraft für diese Veränderungen bereits unter uns vorhanden ist. Sie ist als Keim bereits im menschlichen Geist da. Sie ist im Evolutionsprozess Gaias, unserer lebendigen Erde, am Werk. Sie ist in Wahrheit bereits in den Stoff des Kosmos selbst hineingewoben, in das Tao eingelassen, das durch alles und in allem fließt. Wenn es uns gelingt, einen Weg zu finden, uns auf das Tao einzustellen und uns mit seiner Energie zu verbinden, dann werden wir den Schlüssel für wahrhaft revolutionäre Veränderungen finden, die zu einer echten Befreiung hinführen. Doch das Tao ist keineswegs etwas, dessen wir uns bemächtigen und das wir kontrollieren könnten. Wir müssen es vielmehr zulassen, dass es durch uns wirkt, indem wir uns seiner verändernden Energie öffnen, damit die Erde geheilt werden kann. Mit den Worten von Thomas Berry ausgedrückt:
„Die dynamischen Kräfte, die wir brauchen, um die Zukunft zu gestalten, fehlen uns nicht. Wir schwimmen, über alle Vorstellbarkeit hinaus, in einem Meer von Energie – aber diese Energie wird zur unsrigen letztlich nicht durch Beherrschung, sondern durch Anrufung.“ (2011, 175)
Bevor wir diese Aufgabe in Angriff nehmen, müssen wir die sehr konkreten Hindernisse verstehen, die einer befreienden Veränderung im Weg stehen. Vielleicht ist der erste Schritt in Richtung Weisheit einfach der, dass wir die Notwendigkeit der Veränderung einsehen. Viele von uns wissen die Größe und Schwere der Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, noch nicht angemessen einzuschätzen. Zu einem großen Teil rührt dies daher, dass unsere Wahrnehmung der Realität so deformiert ist, dass sie das verbirgt, was ansonsten offen zutage läge. Wir tendieren dazu, die Welt aus einem sehr eingeschränkten Blickwinkel heraus zu betrachten, sowohl was die Zeit, als auch was den Raum betrifft. Wir blicken selten über unsere unmittelbare Vergangenheit oder Zukunft bzw. über unsere eigene Gemeinde oder Region hinaus.
Teilweise rührt diese verkürzte Sichtweise auch daher, dass viele der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, nur allmählich schlimmer werden, vor allem im Vergleich zu unserer relativ kurzen eigenen Lebensspanne. Wir tendieren dazu, uns sehr schnell an neue Realitäten zu gewöhnen – wenigsten in einem oberflächlichen Sinn ‒, und deshalb erkennen wir den Ernst der Krisen nicht, die uns bevorstehen. Ein einleuchtendes Beispiel dafür ist ein Frosch, der steigenden Temperaturen ausgesetzt wird: Wenn man einen Frosch in kochendes Wasser wirft, dann wird er sofort zu entkommen versuchen. Wenn man ihn hingegen in kaltes Wasser setzt und dieses langsam erhitzt, dann wird er die Gefahr erst bemerken, wenn es bereits zu spät ist, und er wird an der Hitze zugrunde gehen.
Die Krise der Erde: Eine kosmische Perspektive
Um die Schwere der Krise zu ermessen, mit der wir konfrontiert sind, wollen wir deshalb einen Schritt zurücktreten, von unserer alltäglichen Wahrnehmung für einige Augenblicke der Wirklichkeit Abstand gewinnen und eine eher „kosmische“ Perspektive einnehmen. Stellen wir uns vor, dass die gesamte, 15 Milliarden Jahre lange Geschichte des Kosmos auf ein einziges Jahrhundert verdichtet wird.4 Mit anderen Worten: Jedes „kosmische Jahr“ entspricht 150 Millionen irdischen Jahren.5
So gesehen entstand die Erde im siebzigsten Jahr des kosmischen Jahrhunderts, und überraschend bald danach entstand in ihren Ozeanen das Leben, nämlich im Jahr 73. Fast zwei kosmische Jahrzehnte lang beschränkte sich das Leben weitgehend auf einzellige Bakterien. Doch diese Organismen tragen viel zum Wandel des Planeten bei, indem sie seine Atmosphäre, seine Ozeane und seine geologischen Verhältnisse so radikal verändern, dass diese komplexere Lebensformen dauerhaft erhalten können.
Im Jahr 93 beginnt eine neue Phase der Kreativität sowohl durch die Entstehung der sexuellen Fortpflanzung als auch durch den Tod der einzelnen Exemplare. In diesem neuen Stadium beschleunigt sich der Evolutionsprozess rasant. Zwei Jahre später, also im Jahr 95, tauchen die ersten mehrzelligen Organismen auf. Das erste Nervensystem entwickelt sich im Jahr 96 und die ersten Wirbeltiere nicht einmal ein Jahr später. Säugetiere tauchen zur Mitte des Jahres 98 auf, zwei Monate nach dem ersten Auftreten der Dinosaurier und der ersten Blütenpflanzen.
Vor fünf Monaten schlug ein Asteroid auf der Erde ein und zerstörte viele Lebensarten, darunter die Dinosaurier. Doch der Planet erholte sich innerhalb kurzer Zeit und übertrifft nun tatsächlich noch seine vergangene Schönheit. Diese Epoche – das Känozoikum – weist eine überbordende Fülle und Vielfalt des Lebens auf, wie es sie noch nie zuvor gegeben hat.
In diesem atemberaubend schönen Zeitalter entstehen Menschen. Vor zwölf Tagen begannen unsere ersten Vorfahren, aufrecht zu gehen. Sechs Tage danach fängt der Homo habilis an, Werkzeuge zu benutzen, und gestern zähmte der Homo erectus das Feuer. Die modernen Menschen von der Spezies des Homo sapiens sind vor zwölf Stunden geboren worden.
Den Großteil des Nachmittags und Abends dieses kosmischen Tages lebten wir in Einklang mit der Natur, waren mit ihren Rhythmen und Gefahren vertraut. Unser Dasein hatte tatsächlich wenig Einfluss auf die größere Gemeinschaft des Lebens – bis wir vor vier Minuten mit der Erfindung des Ackerbaus das erste Mal Pflanzen kultivierten und Tiere züchteten. Das Ausmaß unserer Eingriffe nahm immer stärker zu, wenn auch langsam, bis dann vor zwanzig Minuten einige von uns damit begannen, Städte zu bauen und in ihnen zu wohnen. Gerade mal vor zwei Minuten wurde der Einfluss der Menschheit auf die Ökosysteme um ein Vielfaches größer, als Europa sich zu einer Technologiegesellschaft zu entwickeln begann und seine eigene Macht durch koloniale Ausbeutung ausdehnte. Genau in dieser Zeit begann auch die Kluft zwischen Arm und Reich schnell zu wachsen.
In den letzten zwölf Sekunden (seit 1950) hat sich der Rhythmus von Ausbeutung und ökologischer Zerstörung dramatisch beschleunigt. In diesem kurzen Augenblick vollzog sich all dies:6
– Wir haben fast die Hälfte aller größeren Wälder der Erde, der grünen Lunge unseres Planeten, zerstört. Viele der wichtigsten und größten Waldgebiete – darunter die großen borealen Wälder, die Regenwälder in gemäßigten Zonen und die tropischen Regenwälder – unterliegen immer noch einem Prozess beschleunigter Zerstörung. Jedes Jahr wird eine Waldfläche, die größer ist als Bangla Desh, abgeholzt.– Wir haben riesige Mengen Kohlendioxid und andere Treibhausgase in die Atmosphäre freigesetzt, was einen gefährlichen Kreislauf globaler Erwärmung und Instabilität des Klimas in Gang setzte. Die weltweite Temperatur hat im Durchschnitt bereits um 0,5 Grad Celsius zugenommen und könnte im Verlauf der nächsten zwanzig kosmischen Sekunden um zwischen 2 und 5 Grad Celsius ansteigen.7– Wir haben in der Ozonschicht, der schützenden Haut unseres Planeten, die die schädliche UV-Strahlung herausfiltert, ein gigantisches Loch verursacht. In der Folge hat die UV-Strahlung Rekordwerte erreicht und bedroht die Gesundheit vieler lebender Organismen.– Wir haben die Fruchtbarkeit der Böden und ihrer Fähigkeit, Pflanzen zu ernähren, ernsthaft gefährdet. 65 % des einst bebaubaren Landes sind inzwischen bereits verloren gegangen, davon etwa die Hälfte in den letzten neun kosmischen Sekunden, und weitere 15 % der Landoberfläche des Planeten werden zur Wüste. Während der letzten fünf kosmischen Sekunden hat die Erde eine solche Menge an Boden verloren, wie sie der kultivierten Fläche von Frankreich und China zusammengenommen entspricht. Zwei Drittel aller Ackerflächen wurden durch Erosion und Versalzung mäßig bis schwer geschädigt.– Wir haben Zehntausende von neuen chemischen Stoffen in die Luft, den Boden und das Wasser des Planeten eingebracht. Bei vielen von ihnen handelt es sich um langlebige giftige Substanzen, die die Lebensprozesse schleichend vergiften.– Wir haben tödlichen nuklearen Abfall erzeugt, der über Hunderttausende von Jahren hindurch in gefährlicher Weise radioaktiv sein wird. Das ist eine Zeitspanne, die weitaus länger ist als diese zwölf kosmischen Stunden, in denen der moderne Mensch existiert.– Wir haben Hunderttausende von Pflanzen- und Tierarten zerstört. Jährlich verschwinden etwa 50.000 Arten, und die meisten davon aufgrund von menschengemachten Ursachen. Man schätzt, dass die Rate des Aussterbens zehntausendmal größer ist als vor dem Auftauchen des Menschen auf dem Planeten. Und man nimmt an, dass wir derzeit die größte Massenvernichtung der Erdgeschichte durchmachen. Wissenschaftler sagen voraus, dass 20 bis 50 % aller Arten im Verlauf der nächsten dreißig Jahre (das entspricht sieben kosmischen Sekunden) verschwunden sein werden, wenn die derzeitigen Trends anhalten.– Die Menschen verbrauchen bzw. verschwenden zurzeit 40 % aller Energie, die für alle auf dem Land lebenden Lebewesen auf der Erde zur Verfügung steht (dies wird als die Nettoprimärproduktion, NPP, des Planeten bezeichnet). Und wenn wir fortfahren wie bisher, werden wir innerhalb der nächsten acht kosmischen Sekunden (das sind fünfunddreißig irdische Jahre) 80 % in Anspruch nehmen und nur 20 % allen anderen Lebewesen übriglassen.So viel Zerstörung in so kurzer Zeit! Und wofür? Die „Wohltaten“ dieses Prozesses kamen nur einem sehr kleinen Teil der Menschheit zugute: Die reichsten 20 % der Weltbevölkerung verdienen zurzeit etwa zweihundertmal mehr als die ärmsten 20 %.8 Zu Beginn des Jahres 2009 hatten die 793 Milliardäre der Welt zusammen ein Nettovermögen im Wert von 2,4 Billionen US-Dollar (Pitts 2009) – das ist mehr als das jährliche Einkommen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung zusammen. (Zu Beginn des Jahres 2008, bevor die gegenwärtige Wirtschaftskrise einsetzte, gab es 1195 Milliardäre mit einem Gesamtvermögen von 4,4 Billionen US-Dollar; das ist etwa doppelt so viel, wie die ärmsten 50 % im Jahr verdienen!) Und wenn man die Einkommen vergleicht, dann erhält das eine Prozent der Reichsten so viel wie die 57 % der ärmeren Weltbevölkerung.9
Unser Planet, das Ergebnis von vier Milliarden Jahren kosmischer Evolutionsgeschichte, wird von einer relativ kleinen Minderheit der Menschheit verschlungen, und selbst diese privilegierte Gruppe kann nicht darauf setzen, dass dieser Ausbeutungsprozess noch lange andauern kann. Es überrascht daher kaum, dass eine Gruppe von sechshundert Wissenschaftlern, darunter mehr als hundert Nobelpreisträger, anlässlich eines Treffens im Jahr 1992 eine „Warnung an die Menschheit“ veröffentlichten:
„Es bleiben nur noch ein oder wenige Jahrzehnte, bevor die Gelegenheit zur Abwendung der Bedrohungen, vor denen wir heute stehen, verloren ist und die Aussichten für die Menschheit enorm abgenommen haben […] Wir brauchen eine neue Ethik ‒ eine neue Bereitschaft zur Einlösung unserer Verantwortung, sorgsam mit uns selbst und der Erde umzugehen. Aus dieser Ethik muss eine große Bewegung entspringen, die widerstrebende Politiker und Regierungen davon überzeugt, die erforderlichen Veränderungen vorzunehmen.“ (Brown 1994, 40)
Inzwischen sind seit dieser Warnung, während wir dies niederschreiben, siebzehn Jahre ins Land gegangen. Auch wenn einige auf Weltebene einflussreiche Persönlichkeiten die Probleme von Armut und ökologischer Zerstörung ernster nehmen, gibt es immer noch keine miteinander abgestimmte Bewegung, um die Energien der Menschheit zu mobilisieren und der bevorstehenden Krise entgegenzutreten. Tatsächlich wird dem sogenannten Krieg gegen den Terrorismus (der weitgehend ein Krieg zur Sicherung der Ölquellen und des „Weiter so wie bisher“ ist) weitaus mehr Energie gewidmet als den Bedrohungen, die das Leben in einem bisher noch nie da gewesenen Ausmaß zerstören.
Das Streben nach Weisheit
Zum ersten Mal in der Entwicklung der Menschheit sind alle größeren Krisen, mit denen wir es zu tun haben – die Zerstörung der Ökosysteme, die bedrückende Armut von Milliarden Menschen aufgrund von Gier und aufgrund von systembedingter Ungerechtigkeit und die weiterhin bestehende Bedrohung durch Militarismus und Krieg – von uns selbst verursacht. Zusammengenommen haben diese Krisen das Potenzial, nicht nur eine bestimmte Kultur oder eine einzelne Region der Welt, sondern die menschliche Zivilisation als ganze und wahrlich auch die Integrität des gesamten Lebensnetzes auf unserem Planeten zu zerstören. Nicht nur die gegenwärtige, sondern auch die künftigen Generationen der planetarischen Gemeinschaft sind bedroht.
Verständlicherweise erzeugen die Gefahren, denen wir ins Auge sehen, Angst. Es ist wichtig, dass wir beides wahrnehmen: die Situation als solche, und die Gefühle, die sie in uns hervorruft. Wenn wir die der Krise angemessene Dringlichkeit betonen, dann ist es deshalb auch entscheidend, apokalyptische Warnungen zu vermeiden, die nur die Lähmung der Verzweiflung auslösen. Wir müssen uns darauf besinnen: Die Tatsache, dass die Krise von uns verursacht ist, bedeutet gleichzeitig, dass es Hoffnung gibt, sie in sinnvoller Weise zu bewältigen. Tatsächlich haben viele Menschen mit Einsicht und Fantasie hart daran gearbeitet, praktische Alternativen aufzuzeigen, die es der Menschheit ermöglichen könnten, in Würde zu leben, ohne die Gesundheit der Ökosysteme der Erde zu gefährden.
Wir sind davon überzeugt, dass wir über den Großteil der Information und der Kenntnisse verfügen, die wir brauchen, um unsere gegenwärtige Krise zu überwinden. Macy und Brown stellen mit Recht fest:
„Wir können das Leben wählen. Ungeachtet unheilsschwangerer Vorhersagen können wir immer noch handeln, um eine Welt zu erhalten, in der man leben kann. Entscheidend ist es, sich über Folgendes klar zu sein: Wir können unsere Bedürfnisse befriedigen, ohne das System zu gefährden, das Leben ermöglicht. Wir haben das technische Wissen und die Kommunikationsmittel, um das zu leisten. Wir haben genügend Grips und Ressourcen, um genügend Nahrungsmittel zu erzeugen, eine saubere Luft und sauberes Wasser sicherzustellen und die nötige Energie mithilfe von Sonne, Wind und Biomasse zu erzeugen. Wenn wir nur wollen, dann haben wir die Mittel, das Bevölkerungswachstum zu kontrollieren, Waffensysteme abzubauen und Kriege abzuwenden und in demokratischer Selbstverwaltung jedem eine Stimme zu geben.“ (1998, 1)
Natürlich werden harte Arbeit, aufeinander abgestimmtes gemeinsames Handeln und Organisation erforderlich sein, um diese Alternativen in die Praxis umzusetzen. Doch zu allererst bedürfen wir der Energie, der Vision, des Sensoriums und der Weisheit, die unserem verändernden Handeln den Weg weisen – wir bedürfen eines echten Tao, das zur Befreiung führt. Wir müssen die verschiedenen Dimensionen der globalen Krise und die Kräfte verstehen, die sich vereint haben, um sie zu verewigen. Wir brauchen ein immer tieferes Verständnis der Wirklichkeit selbst, gerade auch davon, welcher Art die Veränderung ist. Und wir müssen unser Gespür schärfen und unser Wahrnehmungsvermögen entwickeln, damit es imstande ist, in schöpferischer und effektiver Weise zu reagieren.
Im Streben nach dieser Art von Weisheit müssen wir zuerst erkennen, dass all die Bedrohungen, mit denen wir konfrontiert sind, in gewisser Weise als Symptome einer tiefer liegenden kulturellen und spirituellen Krankheit sind, von der die Menschheit befallen ist, insbesondere jene 20 % der Menschen, die den Großteil des Wohlstands der Welt konsumieren. Das veranlasst uns dazu, unsere Kulturen, unsere Werte, unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme und uns selbst genauer zu betrachten. Der Psychologe Roger Walsh bemerkt, dass die Krisen, mit denen wir es zu tun haben, dazu dienen können, „unsere Schutzpanzer abzulegen und uns dabei zu helfen, uns sowohl mit dem wahren Zustand der Welt als auch mit unserer Rolle dabei zu konfrontieren“ (1984, 77). Sie haben das Potenzial, uns zu wirklich tiefgreifenden Veränderungen unserer Lebensweise, unseres Denkens und Handelns, ja tatsächlich auch der Art und Weise, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen, hinzuführen.
Krisenzeiten können schöpferische Zeiten sein, Zeiten, in denen neue Visionen und neue Möglichkeiten entstehen. Das chinesische Zeichen für Krise, wei-ji, setzt sich aus den beiden Zeichen für Gefahr und Chance zusammen (sie werden von einem nicht aufzuhaltenden Speer und einem undurchdringbaren Schild repräsentiert). Das ist nicht einfach ein Widerspruch oder ein Paradoxon. Die Gefahr selbst, der wir ins Auge sehen, spornt uns dazu an, tiefer zu sehen, nach Alternativen zu suchen und Chancen zu ergreifen. Unser eigenes Wort Krise kommt vom altgriechischen Verb krinein, was „trennen, unterscheiden“ bedeutet. Damit ist eine Wahl zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten angesprochen. Wenn wir nicht handeln, um die Situation der sich verschlimmernden Armut und ökologischen Zerstörung zu verändern, dann entscheiden wir uns dafür, den Weg fortzusetzen, der in den Abgrund der Verzweiflung führt.
Doch es gibt auch die Möglichkeit einer anderen Wahl: Wir haben die Chance, uns für eine neue Weise, auf unserem Planeten zu leben, eine neue Weise, miteinander und mit den anderen Kreaturen der Erde zu leben, zu entscheiden. Es gibt viele Inspirationsquellen für eine veränderte Welt. Einige davon sind alt und entstammen dem Erbe verschiedener Kulturen und spiritueller Traditionen. Andere entstehen aus Strömungen wie etwa der Tiefenökologie, dem Feminismus, dem Ökofeminismus und der neuen Kosmologie, die von den Naturwissenschaften ausgeht. Eine neue Sichtweise der Wirklichkeit, eine neue Weise des In-der-Welt-Seins wird möglich. Macy und Brown bemerken zu Recht:
„Das auffallendste Merkmal der derzeitigen historischen Situation auf Erden ist nicht, dass wir dabei sind, unsere Welt zu zerstören – das ist tatsächlich schon eine ganze Weile der Fall. Es besteht vielmehr darin, dass wir gerade wie aus einem tausend Jahre langen Schlaf aufwachen und empfänglich werden für eine neue Beziehung zu unserer Welt, zu uns selbst und zueinander. Dieser neue Bezug zur Wirklichkeit macht die Große Wende möglich.“ (1998, 37)
Die Erkundung der Hindernisse
Wenn eine echte Veränderung, die in eine Welt auf der Grundlage einer neuen Vision mündet, als schwierig erscheint, dann ist das weitgehend darauf zurückzuführen, dass eine ganze Reihe von miteinander zusammenhängenden Hindernissen einen Wandel unmöglich erscheinen lassen. Ein wichtiger Schritt auf der Suche nach einem Tao der Befreiung besteht daher darin, die ganz konkreten Faktoren zu begreifen, die einem Wechsel im Weg stehen. Um dies deutlicher zu sehen, werden wir die Hindernisse, mit denen wir konfrontiert sind, von drei unterschiedlichen Perspektiven aus in den Blick nehmen. Bildlich kann man sich das etwa als einen Prozess vorstellen, in dessen Verlauf mehrere Schichten abgetragen werden. Wir werden bei Gelegenheit wieder auf dasselbe Hindernis zurückkommen, um es von einer anderen, oftmals subtileren Ebene aus zu betrachten. Doch in gewissem Sinne sind all diese unterschiedlichen Schichten oder Perspektiven einander ergänzende Weisen, eine einzige Wirklichkeit zu sehen.
Aus einem bestimmten Blickwinkel heraus sind die von uns in Augenschein genommenen Hindernisse systemischer Natur. Die politischen und wirtschaftlichen Strukturen der Welt zerstören die Erde aktiv und verhindern gleichzeitig ein effektives Handeln zur Lösung der Probleme. In zunehmendem Maße hat eine kleine Anzahl von transnationalen Konzernen die Macht inne, die von demokratischen Instanzen immer weniger zur Verantwortung gezogen werden können. Die Wirtschaft des globalen Kapitalismus hat eine Ideologie des Wachstums und des quantitativen Fortschritts zur Grundlage. Ein immer größerer Teil des Profis wird mittels Spekulation erzielt, während den wirklich produktiven Tätigkeiten der Natur und der Sozialökonomie wenig Wert beigemessen wird. Immer weniger Menschen profitieren von diesem System, während ein immer größerer Teil der Menschheit schlicht ausgeschlossen wird. Das Leben der Natur und das Leben der Armen werden in lebloses Kapital in Form von Geld verwandelt – Geld, das von seinem Wesen her eine abstrakte Größe ist und keinen Wert in sich hat. Da dies kein nachhaltiges System ist, kann nicht einmal jene Minderheit der Menschen, die zurzeit davon profitiert, hoffen, dass dies auch in Zukunft der Fall sein wird. Kurz: Unsere Welt wird von einem krankhaften System außerhalb jeder Kontrolle beherrscht, das, sich selbst überlassen, die Erde selbst zu zerstören droht.
Indem wir dieses krankhafte System untersuchen, wollen wir seine Dynamik klarer verstehen und seinen von Grund auf ungesunden Charakter aufzeigen. Dabei werden wir sehen, wie der transnationale Kapitalismus seine Wurzeln sowohl im Patriarchat (der Beherrschung der Frauen durch die Männer) als auch im Anthropozentrismus (der Beherrschung der Natur durch den Menschen) hat. Die Herausforderung, eine Alternative zu entwickeln, besteht zum Teil darin, das Wesen von Macht neu zu fassen, und zwar nicht als Kontrolle, sondern als schöpferisches Potenzial, das in die Beziehungen des wechselseitigen Einflusses hineinverwoben ist.
Aus einer zweiten Perspektive gesehen verbinden sich die Strukturen globaler Ausbeutung und Herrschaft, um unsere Fähigkeit zur Veränderung auf einer psychisch-spirituellen